🦋🤖 Robo-Spun by IBF 🦋🤖
🍂🏚️🪪 Haymatlos 🍂🏚️🪪
Über Almancı-Hass (Numerische Diskurse) 🎙️
Hassrede gegen “gurbetçiler” auf Twitter: Umfang und Facetten (Stand August 2025)
(link)
Einleitung: Hass als Symptom eines gebrochenen Narrativs
In den letzten Jahren ist in der Türkei ein alarmierender Trend zu beobachten: ein zunehmender gesellschaftlicher Hass auf sogenannte „Almancılar“ – gemeint sind damit die in Deutschland (und analog in Österreich) lebenden oder geborenen Menschen mit türkischen Wurzeln. Einst galten sie als Boten des Fortschritts und brachten dringend benötigte Devisen ins Land; heute schlagen ihnen häufig Verachtung und Spott entgegen. Diese Wandlung ist kein isoliertes Phänomen, sondern kann als soziales Symptom einer tieferliegenden kollektiven Frustration gelesen werden. Insbesondere steht sie im Zusammenhang mit dem Scheitern des türkischen nationalen Gründungsnarrativs der „modernen Zivilisation“ („muasır medeniyet“) – jenem von Mustafa Kemal Atatürk formulierten Leitbild, die Türkei möge in Kürze das Niveau der zeitgenössischen westlichen Zivilisation erreichen.
Das Ideal der muasır medeniyet – ein modernes, aufgeklärtes, wirtschaftlich prosperierendes Land auf Augenhöhe mit Europa – hat im kollektiven Bewusstsein der Türkei über Jahrzehnte einen besonderen Platz eingenommen. Doch je offensichtlicher es wurde, dass dieses Ideal schmerzlich unerreicht blieb, desto mehr verwandelte es sich in einen unerfüllten Sehnsuchtskomplex („ukde“), der an der nationalen Psyche nagt. In dieser Analyse soll gezeigt werden, wie sich die Ablehnung der Almancılar als Projektionsfläche für diese Frustration herausbildete. Der Fokus liegt dabei auf den Erfahrungen, Wahrnehmungen und Selbstbildern der zweiten und dritten Generation der türkischen Diaspora in Deutschland und Österreich – also der Kinder und Enkel der Gastarbeiter*innen. Ihre Perspektive steht im Mittelpunkt: Wie erleben sie den Spagat zwischen zwei Heimaten? Wie verarbeiten sie die Zurückweisung aus der Heimat ihrer Eltern? Und was sagt diese Ablehnung über den Zustand der türkischen Gesellschaft und deren Selbstverständnis aus?
Um dieses vielschichtige Thema zu beleuchten, werden zunächst die historischen Hintergründe der türkischen Arbeitsmigration nach Deutschland und Österreich skizziert. Anschließend wird die soziokulturelle Konstruktion der „Almancı“-Identität in der Türkei untersucht und deren Wandel im kollektiven Gedächtnis – von Bewunderung zu Verachtung – nachgezeichnet. Darauf aufbauend analysieren wir die Rolle nationalistischer und populistischer Diskurse, die diesen Hass schüren. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Diasporajugend diese Ablehnung wahrnimmt und psychologisch verarbeitet, welche Spannungen zwischen ihrem Selbstbild und dem Fremdbild aus der Türkei entstehen, und wie sie ihre “Türkischkeit” angesichts der Kritik aus dem Herkunftsland verhandeln. Ein Blick auf mediale Repräsentationen (Karikaturen, Fernsehen, Popkultur) zeigt, welche Bilder von Almancılar in der Türkei gezeichnet werden. Schließlich werden die unterschiedlichen Erfahrungen in Deutschland und Österreich verglichen – insbesondere im Hinblick auf Integrationsmodelle und Identitätsgefühl – und migrationsbedingte Klassendifferenzen betrachtet, die sich in transnationalen Diskursen spiegeln. Abschließend folgt eine kritische Reflexion, inwiefern das idealisierte muasır medeniyet-Leitbild als nationaler Mythos an der gelebten Realität zerbricht und wie der Almancı-Hass Ausdruck dieser Diskrepanz ist.
Historischer Hintergrund: Türkische Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren
Gastarbeiterabkommen und erste Generation (Deutschland)
Der Ausgangspunkt der türkischen Diaspora in Westeuropa liegt in den Anwerbeabkommen der 1960er Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich viele westeuropäische Länder in einem Wirtschaftsboom und litten unter Arbeitskräftemangel – so auch die Bundesrepublik Deutschland in den späten 1950ern und frühen 1960ern. Gleichzeitig hatte die Türkei mit hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de) (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de). Vor diesem Hintergrund unterzeichneten die Türkei und Deutschland am 30. Oktober 1961 ein bilaterales Anwerbeabkommen, das deutschen Unternehmen erlaubte, in der Türkei Arbeitskräfte anzuwerben (Turks in Germany – Wikipedia) (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de). In den folgenden zwölf Jahren, bis zum Anwerbestopp 1973, kamen fast 900.000 Türkinnen und Türken als „Gastarbeiter“ nach Westdeutschland (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de) (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de).
Die Ankunft der ersten Gastarbeitergeneration aus der Türkei war zunächst geprägt von gegenseitigem Nutzen: Deutschland erhielt dringend benötigte Arbeitskräfte, und die Türkei erhoffte sich sowohl eine Entlastung des heimischen Arbeitsmarktes als auch Deviseneinnahmen durch die Rücküberweisungen der Migranten (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de) (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de). Diese Erwartungen erfüllten sich: „Alleine 1972 überwiesen die türkischen Arbeitnehmer 2,1 Milliarden DM in ihr Heimatland, womit das Handelsbilanzdefizit der Türkei von 1,8 Milliarden DM überkompensiert wurde.“ (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de). Mit anderen Worten: Die in Deutschland arbeitenden Türken glichen durch ihre Überweisungen die Defizite der türkischen Wirtschaft aus – ein erstaunlicher Geldfluss, der ihren Beitrag zur Heimat verdeutlichte. Die türkische Regierung hoffte zudem auf einen „Modernisierungsschub“ durch zurückkehrende Gastarbeiter, die in Deutschland Qualifikationen und Kenntnisse moderner Industrien erworben hatten (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de). Man stellte sich vor, dass diese Rückkehrer das Leitbild der muasır medeniyet befeuern würden, indem sie westliche Technik, Disziplin und Arbeitsethos in die Türkei importierten.
Doch die Realität verlief anders als geplant. Viele Gastarbeiter blieben länger als ursprünglich vorgesehen. Das Rotationsprinzip – Gastarbeiter sollten nur befristet bleiben und dann durch neue ersetzt werden – scheiterte aus mehreren Gründen. Zum einen holten viele, die länger blieben, ihre Familien nach (besonders nach 1973, als der Anwerbestopp in Deutschland verhängt wurde) und gaben damit die Rückkehrperspektive auf (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at) (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). Zum anderen wollten Unternehmen ungern ständig neu angelerntes Personal verlieren, sodass aus temporären oft dauerhafte Arbeitsverträge wurden (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). Bis 1973 kamen zwar 867.000 Arbeitskräfte aus der Türkei, aber im selben Zeitraum wurden auch rund 500.000 Rückkehrer registriert – es gab also eine rege Pendelmigration, manche gingen, andere kamen erneut (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de). Mit dem Familiennachzug ab Mitte der 1970er wuchs in Deutschland eine zweite Generation heran. Heute leben rund 3 Millionen Personen mit Wurzeln in der Türkei in Deutschland, etwa die Hälfte von ihnen besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft (Beziehungen mit Deutschland | Türkei | bpb.de). Diese Community – oft als türkischstämmige Deutsche oder Deutsch-Türken bezeichnet – bildet die größte ethnische Minderheit in Deutschland und eine der größten türkischen Diasporagruppen weltweit.
Arbeitsmigration nach Österreich
Parallel zu Deutschland war auch Österreich ein Zielland türkischer Arbeitsmigration, wenngleich in etwas kleinerem Umfang. Der wirtschaftliche Aufschwung und Arbeitskräftemangel der 1960er führten dazu, dass Österreich am 15. Mai 1964 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei schloss (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). Die erste Welle türkischer Gastarbeiter traf Mitte der 1960er in Wien und anderen österreichischen Industriestädten ein. Ähnlich wie in Deutschland sollten die „Gastarbeiter“ eigentlich nur für begrenzte Zeit bleiben – man prägte auch hier bewusst den Begriff, um ihre temporäre Rolle zu betonen (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). Doch auch in Österreich kam es anders: Viele blieben, holten Familien nach und ließen sich dauerhaft nieder (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). Zwischen 1961 und 1974 wanderten etwa 265.000 Menschen nach Österreich ein (darunter allerdings der Großteil aus Jugoslawien; Türken stellten eine Minderheit) (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at) (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). 1973 waren rund 11,8% der Gastarbeiter in Österreich türkische Staatsbürger (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at). Nach dem Anwerbestopp 1974/75 pendelte sich die türkische Community durch Familiennachzug und Geburt in Österreich auf eine wachsende Minderheit ein (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at).
Heutzutage stellen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund die drittgrößte Migrantengruppe in Österreich (nach Deutschen und Serben). 2014 lebten etwa 186.000 Personen türkischer Herkunft in Österreich (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at); bis 2024 stieg diese Zahl weiter an, wobei rund 124.100 davon türkische Staatsangehörige sind (Türkische Bevölkerung in Österreich: ÖIF-Factsheet liefert aktuelle Zahlen, Daten und Fakten: Österreichischer Integrationsfonds ÖIF) – viele andere haben mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. Allerdings ist die Einbürgerung in Österreich vergleichsweise restriktiv (z.B. keine doppelte Staatsbürgerschaft), sodass ein erheblicher Teil der zweiten und dritten Generation formal Ausländer blieb (Türkische Bevölkerung in Österreich: ÖIF-Factsheet liefert aktuelle Zahlen, Daten und Fakten: Österreichischer Integrationsfonds ÖIF). Die Situation ähnelt in mancher Hinsicht der Deutschlands, jedoch mit kleineren Communities, die vor allem in Wien konzentriert sind (etwa 38% der türkischen Staatsbürger leben in Wien) (Türkische Bevölkerung in Österreich: ÖIF-Factsheet liefert aktuelle Zahlen, Daten und Fakten: Österreichischer Integrationsfonds ÖIF).
Erfahrungen der ersten Generation: Zwischen Fremdsein und Königsmomenten
Für die erste Gastarbeitergeneration war das Leben in der Fremde oft hart. Viele kamen aus dörflichen und anatolischen Verhältnissen und standen plötzlich den Anforderungen einer hochtechnisierten Industrie gegenüber. Nicht selten litten sie unter Heimweh und Rassismus im Gastland. Trotzdem entwickelte sich eine gewisse Stolz- und Erfolgserzählung: Man hatte es „nach Almanya“ (Deutschland) geschafft, verdiente Geld in harter Arbeit und konnte die Familie daheim unterstützen. In den Sommermonaten traten diese Gastarbeiter dann die lange Reise „heim ins Dorf“ an – oft mit dem Auto und prall gefülltem Kofferraum voller Geschenke. Diese Heimatbesuche wurden zum kulturellen Symbol: Die Almancı kommen mit Sonnenbrillen, West-Kleidung, Kassettenrekordern, Schokolade und Spielzeug für die Verwandten. In einem Gedicht zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens heißt es über diese Generation:
„Man nennt uns Almancı, die Deutschländer, Generation Nummer 1, die Gastarbeiter. Tauchen auf mit einem Opel oder Ford, in der Heimat im Sommerurlaub dort. Sonnenbrille auf der Nase, in der Tasche die D-Mark, Ziehen eine Show ab, fühlen uns so stark. Haben es verdient, hart ist die Arbeit, steckt noch in den Knochen die Müdigkeit. Devisen ins Land zu bringen, eines unserer Ziele, nehmen Vorurteile in Kauf, davon gibt es viele. Momente gibt’s, da reicht’s, Ausländer zu sein, gönnt uns das Gefühl eines Königs zum Schein. Schaut auf uns nicht herab, das ist nicht fair, auch wenn wir gegangen sind, gehören wir hierher.“ (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung) (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung)
Diese Zeilen – verfasst von Zahide Özkan-Rashed, einer Autorin mit Gastarbeiter-Eltern – fassen die Ambivalenz gut zusammen. Die Gastarbeiter der ersten Generation haben ihren Teil geleistet: harte Arbeit, Devisen geschickt, Entbehrungen ertragen. Wenn sie dann in der Heimat auftauchten, wollten sie für einen kurzen Moment auch Wertschätzung erfahren – sich „wie ein König“ fühlen dürfen, anstatt weiterhin nur der Fremdarbeiter zu sein (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung) (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung). Darin schwingt bereits das Groll über herablassende Blicke mit: „Schaut auf uns nicht herab… auch wenn wir gegangen sind, gehören wir hierher.“ (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung) Eine deutliche Ansage an die Daheimgebliebenen, die offenbar dazu neigten, die Ausgewanderten als nicht mehr voll zugehörig zu betrachten.
Tatsächlich kursierten schon früh gewisse Vorurteile gegenüber den „Deutschländern“ in der Türkei: Man war zwar stolz auf den Sohn oder Neffen, der es nach Deutschland geschafft hatte, aber man lästerte auch über dessen angeberisches Auftreten mit dem neuen Auto und den für hiesige Verhältnisse unerschwinglichen Geschenken. Es entstand das Bild vom „aufschneiderischen Neureichen“, der in seinem Heimatdorf groß auftrumpft (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). Diese Figur – der Dorfjunge, der dank Fabriklohn nun mit Mercedes und Goldkette protzt – fand Eingang in Anekdoten, Witze und auch Filme. So ist die Figur des „Almancı“ bereits in türkischen Komödien der 1970er Jahre präsent: Etwa im Film „Gurbetçi Şaban“ (1985) kehrt der Protagonist aus Deutschland ins Dorf zurück und sorgt mit seiner Mischung aus deutscher Pünktlichkeit und türkischer Naivität für Lacher.
Kurzum: Die Ankunft der türkischen Arbeitsmigrant*innen in Europa hat in den Herkunftsgesellschaften von Anfang an gemischte Gefühle ausgelöst. Bewunderung und Neid, Stolz und Spott lagen nah beieinander. Wie aber entwickelte sich aus diesen anfänglichen Ambivalenzen der heutige ausgeprägte Hass auf *Almancılar*? Um dies zu verstehen, müssen wir die sozialen Konstruktionen der *Almancı*-Identität und ihren Wandel betrachten.
Die „Almancı“-Identität: Stereotype und soziokulturelle Konstruktionen
Was bedeutet „Almancı“?
Der Begriff „Almancı“ leitet sich vom türkischen Wort Almanya (Deutschland) ab und bedeutet wörtlich so viel wie „Deutscher“ oder genauer „Deutschländer“. Er bezeichnet also jemanden, der aus Deutschland kommt – im türkischen Sprachgebrauch aber mit dem klaren Subtext, dass es sich um einen türkeistämmigen Rückkehrer oder Besucher handelt, der längere Zeit dort gelebt hat. Wichtig: Im türkischen Kontext ist Almancı kein Kompliment, sondern meist abwertend oder spöttisch gemeint (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). Es trägt die Konnotation, dass dieser Mensch kulturell entfremdet, „verdorben“ oder zumindest nicht mehr ganz einer von uns ist. Viele Betroffene würden sich selbst nicht so nennen, da sie den abfälligen Unterton spüren (A TURKISH GERMANY – De Gruyter) ([PDF] Aalborg Universitet Transnational Consumption Practices for Social …).
Im kollektiven Bewusstsein der Türkei existiert der Almancı als spezifischer Stereotyp. Die tageszeitung (taz) schrieb dazu treffend: „In der Türkei heißen sie Almanci – Deutschländer. Für die türkischen Inländer ist der Almanci ein ungebildeter Anatole, ein dummer Bauer, ein aufschneiderischer Neureicher, der mit seinem Mercedes und seinen vielen Geschenken in seinem türkischen Heimatdorf groß auftrumpft.“ (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). Diese Beschreibung bringt gleich mehrere Dimensionen des Klischees auf den Punkt:
- Herkunft und Bildung: Almancılar werden oft mit ihren ländlichen Wurzeln identifiziert („Anatole“ steht hier für Anatolier, also Landmensch) und als bildungsfern dargestellt. Tatsächlich stammten viele der ersten Gastarbeiter aus anatolischen Dörfern und hatten keine höhere Schulbildung. Doch das Klischee impliziert, dass auch deren Kinder und Enkel irgendwie „hinterwäldlerisch“ geblieben seien – ungeachtet der Tatsache, dass diese längst in westlichen Städten aufgewachsen und oft gut ausgebildet sind.
- Habitus und Auftreten: Der Almancı gilt als jemand, der sich gerne zur Schau stellt. Das Bild vom Mercedes voller Geschenke taucht hier wieder auf. Es unterstellt Prahlerei und materiellen Protzergeist – man gönnt es ihnen nicht so recht, dass sie sich solche Dinge leisten können. Im Hintergrund schwingt Neid mit, aber anstatt dies einzugestehen, wird der Almancı als lächerlicher Angeber dargestellt.
- Sprachmix und Akzent: Oft wird Almancılar ein komischer Mischdialekt nachgesagt – ein gebrochenes Türkisch mit eingestreuten deutschen Wörtern oder Akzent. In der Popkultur gibt es zahllose Komikfiguren, die dieses „Almancı-Türkisch“ parlieren, was in der Türkei als äußerst lustig empfunden wird. Etwa wird „Ja, natürlich“ flapsig mit anatolischer Färbung im Türkischen imitiert, oder Almancı-Charaktere verdrehen die Worte. Auf Social Media kursieren Memes und Videos über den „Almancı-Şivesi“ (Almancı-Akzent), worüber sich viele lustig machen. Allerdings empfinden es echte Diaspora-Türken oft als verletzend, auf ihren Akzent reduziert zu werden. Eine Twitter-Nutzerin schimpft z.B.: „Warum reden die ständig so komisch, obwohl beide Eltern Türken sind? Dieser Almancı-Akzent geht mir auf die Nerven.“ – was zeigt, dass manche Festlandtürken das Türkendeutsch der Diaspora regelrecht als Affront empfinden (ırmak (bahar era ) on X: “bi de bunlar BÜYÜK ÇOĞUNLUĞUNUN …).
- Kulturelle Entfremdung: Dem Almancı wird unterstellt, er sei weder richtig Türkisch noch richtig Deutsch – in beiden Welten ein bisschen Außenseiter. Im oben zitierten taz-Artikel wird das so formuliert: „Die Almancis […] werden aufgrund ihrer Hybridität von der vermeintlich homogenen Mehrheitsgesellschaft oftmals als Bedrohung wahrgenommen.“ (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). In Deutschland gelten sie als „Ausländer“ oder Menschen mit Migrationshintergrund, in der Türkei als „Deutschländer“ – in beiden Fällen also irgendwie nicht zugehörig, immer als der Andere markiert (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). Diese doppelte Ausgrenzung – „Ausländer hier, Almancı dort“ – gehört zentral zum Diaspora-Erlebnis.
Aus Sicht vieler Migrant*innen ist *Almancı* die türkische Entsprechung zum deutschen „Ausländer“ ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ). Während man in Deutschland Jahrzehnte lang betont als Fremder gesehen wurde (selbst in zweiter Generation), erlebt man nun in der Türkei eine ähnliche Fremdmachung, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Hier gilt man als zu deutsch oder „übermäßig assimiliert“ ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ). Interessanterweise fürchteten die Deutschen früher eine mangelnde Assimilation der Türken, während die Türken in der Heimat das genaue Gegenteil beargwöhnen: eine überschießende Assimilation, die die „Deutschländer“ kulturell entfremdet ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ). Beide Seiten verorten die Deutsch-Türken also außerhalb der eigenen Gemeinschaft.
Vom „Deutsch-Türken“ zum Sündenbock: Transformation des Images
In den Jahrzehnten seit Beginn der Gastarbeiterära hat das Bild der Almancılar in der Türkei einen auffälligen Wandel durchlaufen. Anfänglich gab es – trotz aller Spötteleien – auch eine Art Bewunderung oder zumindest Anerkennung. Die Gastarbeiter und ihre Familien galten gewissermaßen als Pioniere der muasır medeniyet: Sie hatten die Schwelle nach Europa überschritten, lebten und arbeiteten im modernen Almanya und brachten sichtbare Zeichen des Fortschritts mit (Autos, Konsumgüter, neues Wissen). In den 1970er-Jahren, als die Türkei selbst wirtschaftlich schwach war, schaute man durchaus respektvoll auf die „Alamanya işçileri“ (Deutschland-Arbeiter). Familien waren stolz auf Verwandte, die es „bis nach Deutschland“ geschafft hatten. Es gab populäre Lieder und Gedichte, die die Sehnsucht der Gurbetçiler (Auswanderer) und ihrer Daheimgebliebenen thematisierten – man denke an Stücke wie „Sıla Türküleri“ (Heimweh-Lieder). Diese kulturellen Zeugnisse vermittelten eher Mitgefühl und Zusammenhalt als Verachtung.
Mit der Zeit jedoch, insbesondere ab den 1990er Jahren, kippte das Bild zunehmend ins Negative. Woran lag das? Mehrere Entwicklungen spielten hier zusammen:
- Sozialer Aufstieg in der Türkei: Die türkische Gesellschaft modernisierte und urbanisierte sich ab den 1980ern zusehends. Städtische Mittelschichten entstanden, die selbst Reisen ins Ausland unternahmen, Fremdsprachen lernten und nicht mehr automatisch minderbemittelt gegenüber den „Almancı“-Verwandten waren. Plötzlich waren es nicht mehr nur die Deutschländer, die westliche Kleidung oder Elektronik besaßen – auch in Istanbul, Ankara oder Izmir hielt der Konsum Einzug. Damit verlor der Almancı einen Teil seines Glanzes als Überbringer der Moderne. Mehr noch: Man begann, ihn mit kritischeren Augen zu sehen. Aus Sicht mancher urbaner Türken wirkten die in Europa lebenden Landsleute nun provinziell und altmodisch. Sie hatten oft an traditionellen Werten festgehalten (viele Gastarbeiterfamilien waren konservativ, streng religiös, hielten an alten Rollenbildern fest), während die Türkei selbst in bestimmten Segmenten liberaler und kosmopolitischer geworden war. So entstand das paradoxe Phänomen, dass Almancılar manchmal als rückständig empfunden wurden – als Bewahrer eines Anatolien der 1960er, während das heutige städtische Anatolien sie längst überholt habe. Ein gängiges Bonmot lautet etwa, die Türken in Deutschland hätten „das Istanbul von heute verpasst und lebten wie im Anatolien von gestern“.
- Dauerhafte Diaspora und Identitätsfragen: Spätestens als klar wurde, dass die meisten nicht zurückkehren, stellte sich die Frage: Sind diese Leute noch „richtige“ Türken? Hier schieden sich die Geister. Nationalistische Stimmen meinten, wer die Heimat verlässt, habe seine Zugehörigkeit geschwächt – insbesondere, wenn die Kinder dort geboren werden und Türkisch nur gebrochen sprechen. Andererseits propagierten türkische Regierungen (vor allem ab den 2000ern) verstärkt die Vorstellung einer weltweiten türkischen Gemeinschaft: „Avrupa’daki vatandaşlarımız“ (unsere Bürger in Europa) wurden umworben und als Teil der Nation betrachtet. Diese Ambivalenz – einerseits Nationaleinheit betonen, andererseits abfällig von Almancılar reden – zog sich durch die Diskurse. Faktisch blieben Diasporafamilien oft zwischen den Stühlen: In Deutschland sprach man ihnen die Deutschheit ab (bis 2000 gab es kein Geburtsrecht auf Staatsbürgerschaft; viele wuchsen als „Ausländer“ im eigenen Geburtsland auf), in der Türkei zweifelte man aber an ihrer Türkischkeit. Dieser Zustand einer Doppelten Fremdheit verfestigte sich über Generationen.
- Politische Entwicklungen und Projektionen: Mit der wachsenden politischen Polarisierung in der Türkei seit den 2010er Jahren (Stichworte: Erdoğan-Regierung, Kemalisten vs. Islamisten, etc.) gerieten die Diasporatürken zunehmend zwischen die Fronten. Ihr Verhalten wurde zum Gradmesser von Loyalität. Beispiel: Bei den türkischen Wahlen und Referenden der letzten Jahre stimmte die Mehrheit der in Europa lebenden Türken auffällig oft für Erdoğan und die AKP, teils noch deutlicher als die Wähler im Inland. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 etwa erhielt Erdoğan in Deutschland und Österreich sehr hohe Zustimmungsraten, was im kemalistisch-säkularen Lager der Türkei für Empörung sorgte (Die türkische Diaspora in Westeuropa – Stiftung Wissenschaft und Politik) (Die türkische Diaspora in Westeuropa – Stiftung Wissenschaft und Politik). Viele Oppositionsanhänger schimpften offen, die Gurbetçiler sollten kein Wahlrecht mehr haben, da sie „uns die Regierung einbrocken, unter der wir hier leiden, während sie selbst weit weg sind“ (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif). Auf Social Media trendeten Hasstiraden wie: „Gurbetçiler sollten in der Türkei nicht wählen dürfen!“ oder „Wenn es euch hier so gefällt, dann kommt doch her und lebt unter den Bedingungen, die ihr mit euren Stimmen mitverursacht!“ (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif) (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif). Hier zeigt sich, wie der Diaspora plötzlich die Schuld an innenpolitischen Missständen gegeben wird – ein klassisches Muster, Sündenböcke zu suchen.
- Neid und wirtschaftliche Krisen: Die wirtschaftliche Lage in der Türkei verschlechterte sich in den späten 2010ern drastisch (hohe Inflation, Lira-Verfall). Dadurch stiegen die Unterschiede in der Kaufkraft zwischen Euro und Lira enorm. Almancılar, die mit Euros oder Franken zum Urlaub kamen, konnten plötzlich relativ luxuriös in der Türkei leben, während viele Einheimische zu kämpfen hatten. Das weckte Neidgefühle und Missgunst. In Online-Kommentaren liest man hämische Bemerkungen: „Klar habt ihr Pipi in den Augen vor Rührung, wenn 1 Euro 10 Lira wert ist – da kann man schon emotional werden.“ (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif). Der Vorwurf lautet, die Diaspora habe „eine Hand im Öl und die andere im Honig“, lebe also mit allen Privilegien in Europa, komme aber hierher, um billig Urlaub zu machen und Chaos zu stiften (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif). Als während der Corona-Pandemie 2020 türkischstämmige Urlauber einreisten, wurde sogar behauptet, sie würden das Virus einschleppen – bis hin zu Forderungen, sie dieses Jahr nicht ins Land zu lassen (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif). Ein regelrechter „Gurbetçi-Neftret“ (Diaspora-Hass) entlud sich in sozialen Medien, immer begleitet von der impliziten Frage: Was tut ihr hier? Ihr gehört doch gar nicht wirklich dazu.
All diese Entwicklungen führten dazu, dass sich das Bild des Almancı in vielen Köpfen vom einst bewunderten Auslandstürken zum verachteten Anderen wandelte. Aus dem Sehnen nach dem muasır medeniyet über die ausgewanderten Landsleute wurde eine bittere Erkenntnis: Diese Landsleute hatten für sich persönlich vielleicht das erreicht (ein Leben in geordneten, modernen Verhältnissen), was als nationales Ideal propagiert wurde – aber anstatt Stolz empfindet man nun Schmerz und Kränkung darüber. Der Almancı hält der Türkei gewissermaßen einen Spiegel vor: Schaut, wir leben schon in dem „zeitgenössisch zivilisierten“ Umfeld, von dem ihr immer träumt. Für einen verletzten Nationalstolz, der sich eingestehen muss, dass man selbst dieses Niveau nicht erreicht hat, kann das kaum erträglich sein. Die Reaktion ist Abwertung des anderen, um das eigene Ego zu retten: „Die halten sich für was Besseres, dabei sind sie dumme Bauern geblieben!“ – so die Rationalisierung des Ressentiments.
Nationalistische und populistische Diskurse: Sündenbock Diaspora
Der zunehmende Hass auf Almancılar wurde und wird politisch befeuert. Verschiedene Lager in der Türkei instrumentalisieren die Diaspora für ihre Zwecke, oft indem sie Ressentiments ansprechen oder verstärken:
- Nationalkonservative/Religöse Rhetorik (pro Regierung): In diesen Kreisen wird den Europa-Türken häufig vorgeworfen, sie hätten in der Diaspora ihre Sitten und Religion bewahrt, aber gleichzeitig westlichen Einfluss aufgenommen, der sie respektlos gegenüber der Türkei mache. Gerade wenn Diaspora-Persönlichkeiten Kritik an der türkischen Regierung üben oder liberalere Werte vertreten, werden sie als Vaterlandsverräter diffamiert. Ein extremes Beispiel ist der oben geschilderte Fall des jungen Erdem, der 1991 in Izmir wegen seines langen Haares und „deutschen“ Auftretens zusammengeschlagen wurde und von Polizisten ein „Verpiss dich, du Almancı! Das hier ist die Türkei, nicht Deutschland!“ zu hören bekam ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ) ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ). Hier brachen blanker Hass und nationalistischer Dünkel offen aus: Der Diasporajunge wurde als Fremdkörper behandelt, der sich ja „schon an Deutschland gewöhnt habe“ und in der Türkei nichts zu melden habe. Solche Vorfälle sind zwar extrem, aber sie machen deutlich, welches Gewaltpotenzial in der Ablehnung steckt. In jüngerer Zeit bemühen regierungsnahe Kreise ein anderes Narrativ: Sie stellen sich als Beschützer der Auslandstürken dar, um deren Unterstützung zu gewinnen, während sie gleichzeitig gegen angebliche Illoyalität wettern. Präsident Erdoğan beispielsweise sprach 2017 im Streit mit europäischen Ländern türkische Migranten direkt an: „Ich rufe meine Bürger in Europa auf: Nehmt dort noch mehr Raum ein. Schickt eure Kinder auf die besten Schulen. Kauft euch die schicksten Autos, wohnt in den schönsten Häusern. Macht nicht drei, sondern fünf Kinder. Das ist die beste Antwort auf die Frechheiten, die man euch zeigt.“ (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center). Diese Worte zielten darauf ab, die Diaspora stolz zu machen und sie als verlängerten Arm der Türkei in Europa zu sehen. Dennoch steckt darin auch die Botschaft: Behauptet euch gegen die Europäer, zeigt ihnen die Stärke der Türken. Hier werden die Auslandstürken für machtpolitische Narrative benutzt. Und wer dabei nicht mitspielt – also z.B. ein in Deutschland geborener Türke, der sich eher als Europäer sieht und Erdoğan ablehnt – wird schnell als „entfremdet“ oder „vom Westen manipuliert“ abgetan. Oppositionelle türkische Diaspora-Vereine oder -Medien werden von Ankara mit Argwohn betrachtet; man unterstellt ihnen, sie würden die Gemeinschaft spalten und „Zersetzung“ betreiben (Die türkische Diaspora in Westeuropa – Stiftung Wissenschaft und Politik).
- Kemalistisch-säkulare Rhetorik (Regierungskritiker): Von dieser Seite kommt der Vorwurf, die Diaspora-Türken seien heuchlerisch und undankbar. Prominent ist das Argument, das Ömür Çelik in einer Kolumne zusammenfasst: „Neymiş efendim – also was heißt es angeblich: In dem Land wo sie leben, wählen sie Sozialdemokraten oder Grüne, aber in der Türkei wählen sie Konservative und Nationalisten. Ihre Namen sind muslimisch-türkisch, aber ihre Parteien sind christdemokratisch. Deshalb seien sie doppelmoralig und würden weder dort noch in der Türkei gemocht.“ (‘Gurbetçilere’ karşı nefret ve kıskançlık – Ömür Çelik) (‘Gurbetçilere’ karşı nefret ve kıskançlık – Ömür Çelik). Diese spitze Kritik unterstellt Diaspora-Türken, sie würden in Europa die Vorzüge liberaler, säkularer Gesellschaften genießen (indem sie etwa Parteien unterstützen, die für Gleichberechtigung, Minderheitenrechte etc. stehen), aber der Türkei gönnten sie diese Freiheit nicht und wählten dort Kräfte, die autoritär und islamistisch seien. Tatsächlich zeigen Umfragen, dass viele in Europa lebende Türken politisch gespalten sind: Im deutschen Kontext neigen sie teils linken oder gemäßigten Parteien zu (auch aus Migranteninteressen heraus), während sie in der Türkei, oft getrieben von nationalem Stolz und konservativen Wertvorstellungen, rechts der Mitte wählen (‘Gurbetçilere’ karşı nefret ve kıskançlık – Ömür Çelik). Dies wird von säkularen Türken als Beleg einer „verqueren Identität“ gesehen: Man wirft den Almancılar vor, sie hätten kein klares Prinzip, seien überall opportunistisch und eigentlich weder hier noch dort loyal. Diese Vorhaltung steigert sich bisweilen in einen wahren Groll: Man beschimpft die Europa-Türken als „Özrü kabahatinden büyük“ – ihre Ausreden (für ihr Wahlverhalten) seien schlimmer als ihr Fehlverhalten selbst. In Foren ist gar die Rede von „gurbetçi verrätern“. Hier schwingen Enttäuschung und verletzter Stolz der Inlands-Türken mit: Die Erwartung war, die Auslandstürken würden als „Botschafter der modernen Türkei“ in Europa auftreten – stattdessen empfindet man, sie hätten die Türkei an reaktionäre Kräfte „verraten“. Dass dieses Urteil pauschal ist und die vielfältigen Lebensrealitäten der Diaspora ignoriert, liegt auf der Hand, doch in der aufgeheizten politischen Atmosphäre der Türkei fanden solche Pauschalurteile viel Anklang.
- Populistische Sündenbock-Rhetorik allgemein: Jenseits ideologischer Lager dient die Gruppe der Almancılar im türkischen Diskurs oft als bequemer Sündenbock für allerlei Missstände oder als Ventil für Frust. Wenn z.B. im Sommer der Verkehr auf den Autobahnen überlastet ist, schimpft man: „Diese Gurbetçiler mit ihren dicken Autos verstopfen unsere Straßen und halten sich nicht an die Regeln.“ (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif). Kommt es zu Konflikten zwischen Touristen und Einheimischen, sind schnell die „aus Almanya“ Schuld, die sich aufführen. Während der COVID-19-Pandemie gab es in Medienberichten tatsächliche Fälle, in denen Almancı-Familien bei Lokalbesuchen schief angesehen wurden, als würde von ihnen eine besondere Ansteckungsgefahr ausgehen. Populistische Politiker – sei es aus Regierung oder Opposition – haben gelernt, dass gegen Gurbetçiler zu poltern billigen Applaus bringen kann. Es ist bezeichnend, dass in türkischen sozialen Medien Hashtags wie #gurbetçiyedokunma (Rührt die Auslands-Türken nicht an) als Reaktion entstehen mussten, um diesem Hass etwas entgegenzusetzen (Ömer AYDIN on X: “Gurbetçilerden 1000€ vergi alınsın diyen …). Offenbar fühlten sich viele Diaspora-Angehörige so sehr zum Prügelknaben gemacht, dass eine Gegenkampagne nötig war, die daran erinnert, was sie eigentlich geleistet haben: „Vergesst nicht, unsere Gurbetçiler bringen jedes Jahr Milliarden an Devisen ins Land, sie sind keine Last, sondern eine Bereicherung!“ – so oder ähnlich lauten Gegenstimmen, die versuchen, den Diskurs zu korrigieren (Ömer AYDIN on X: “Gurbetçilerden 1000€ vergi alınsın diyen …).
Man sieht: Beide politischen Pole in der Türkei tragen zum Almancı-Hass bei, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung. Die Regierungstreuen beargwöhnen Diaspora-Kritik und fordern Unterordnung unter das nationale Kollektiv (sonst Ausgrenzung als „Deutscher“), die Regierungskritischen beklagen Diaspora-Konservatismus und sprechen ihnen die moralische Berechtigung ab, in der Türkei mitzubestimmen. So gerät die Diaspora zwischen alle Stühle. Ein Blogger bemerkte sarkastisch, der Hass sei „eigentlich immer nur einseitig und zwar von der Türkei ausgehend“ – egal ob von links oder rechts, Gurbetçiler seien zum bequemen Ziel geworden (der hass war eigentlich immer nur einseitig und das von türkei …).
Interessant ist, dass der gegen Diaspora gerichtete Diskurs in der Türkei häufig Kategorien von Ehrlichkeit, Treue und Reinheit bemüht: Man unterstellt den Almancılar, sie hätten ihre Identität „verfälscht“. Diese Vorstellung knüpft an das uralte Narrativ an, die türkische Nation müsse sich rein und unverdorben halten gegenüber fremden Einflüssen. Wer zu viel Europäisches an sich hat, wird dann als kulturvergiftet angesehen – es sei denn, es handelt sich um die kollektive muasır medeniyet Vision unter Kontrolle der Staatsideologie. Doch wenn einzelne dies vorleben, scheint es eher Bedrohung als Vorbild zu sein. Dieses Paradox zeigt die innere Spannung der türkischen Moderne: Wir wollen modern sein, aber wir misstrauen denen, die modern geworden sind, als nicht mehr wahrhaftig türkisch.
Diasporaerfahrungen: Wahrnehmung und Verarbeitung der Ablehnung
Aus Sicht der zweiten und dritten Generation der türkischen Diaspora – also jener jungen Menschen, die in Deutschland oder Österreich geboren oder aufgewachsen sind, aber familiäre Wurzeln in der Türkei haben – wirkt der Hass aus dem Herkunftsland oft tief verstörend. Viele von ihnen wachsen mit einer idealisierten Vorstellung der „Heimat der Eltern“ auf. Zu Hause spricht man Türkisch, man schaut vielleicht türkische Serien, man feiert die Feste wie Bayram (Zuckerfest) und pflegt eine Verbindung zur Türkei, auch wenn man selbst dort nie gelebt hat. Wenn diese jungen Leute dann das erste Mal „richtig“ in die Türkei reisen – sei es als Urlauber, Verwandtenbesuch oder Rückkehr auf Probe – prallt die Idealvorstellung auf die Realität.
Oft berichten deutsch-türkische Jugendliche von einem Kulturschock, den sie gerade nicht in Deutschland, sondern in der Türkei erleben. Die Journalistin Hazal Akyol beschrieb es so: Für viele in Europa geborene Türken stehe das im Elternhaus gezeichnete Bild der Heimat „in krassem Kontrast zur Realität, die sie vorfinden, wenn sie ‘zurück’ an einen Ort gehen, an dem sie nie gelebt haben“ (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center). Die Großstadt Antalya oder selbst das anatolische Dorf ist eben nicht das romantisierte Idyll aus Erzählungen, sondern ein lebendiger Ort mit Eigenheiten – und vor allem: Die Menschen dort betrachten die aus Europa Kommenden mit ganz eigenen Augen. Statt der warmen Umarmung, die man vielleicht erwartet hat, spürt man distanzierte Neugier oder gar Skepsis.
Viele junge Deutsch-Türken fühlen sich dadurch in ihrem Identitätsgefühl erschüttert. Sie hatten gehofft, in der Türkei endlich einmal nicht „der Ausländer“ zu sein, sondern voll dazuzugehören – und müssen feststellen, dass sie erneut als anders markiert werden. Der Autor Suat Yılmaz, selbst ein „Almancı“ der zweiten Generation, sagte einmal sinngemäß: „In Deutschland war ich der Türke, in der Türkei war ich auf einmal der Deutsche – und plötzlich wusste ich gar nicht mehr, wo ich hingehöre.“ Dieses Dilemma einer Doppelt-Unbehausten Identität teilen viele. Es kann zu einer inneren Krise führen, wie ein literarisches Beispiel zeigt: In dem Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ von Emine Sevgi Özdamar etwa erlebt die Protagonistin, eine Gastarbeiterin der 1960er, sowohl in Deutschland als „Gast“ als auch in Istanbul nach der Rückkehr als Fremdkörper, was zu einer dauerhaften Zerrissenheit führt.
Psychologisch sprechen manche Soziologen hier von einer „transnationalen Identität“ oder einem „dritten Raum“, in dem sich die Diasporajugend bewegt (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). Sie konstruieren sich quasi eine eigene Identität, die weder dem klassischen türkischen noch dem deutschen Schema voll entspricht – etwas Eigenes, mit eigenen Begriffen, eigener Musik (z.B. Rap der „Gazellen“ wie Eko Fresh etc.), eigenem Humor. Dieses Selbstbild als Deutsch-Türke oder Euro-Türke ist vielen durchaus positiv und selbstbewusst besetzt. Doch die Abwertung aus der Türkei verletzt zutiefst, weil sie von der Seite kommt, von der man es am wenigsten erwartet hätte: von den eigenen Wurzeln.
Ein junger Deutschtürke formulierte frustriert: „Wir werden hier in Deutschland ständig aufgefordert, uns zu integrieren und Deutsche zu werden. Wenn wir dann aber in der Türkei sind, heißt es: Was seid ihr denn für Türken? Sprecht nicht richtig, benehmt euch komisch. Was sollen wir denn tun?“ Diese Verzweiflung angesichts widersprüchlicher Erwartungen ist weit verbreitet. Es entsteht ein Gefühl, es nirgends recht machen zu können. Manche reagieren darauf mit Resignation – sie distanzieren sich emotional von der Türkei, kehren vielleicht seltener zurück oder brechen das Interesse ab. Andere reagieren mit Trotz und Überbetonung ihrer Türkizität – gerade weil man ihnen diese abspricht, halten sie umso mehr daran fest. In Berlin, Köln oder Wien sieht man nicht selten, dass gerade junge Leute mit türkischen Wurzeln besonders eifrig Nationalflaggen schwenken, türkische Fußballtrikots tragen oder Erdoğan-Bilder hochhalten. Dies kann man als eine Art Überidentifikation deuten: Was in der Türkei nicht anerkannt wird, versucht man aus der Ferne zu beweisen – manchmal ironischerweise mit einem hypernationalistischen Überschwang, den viele Inländer so gar nicht hätten.
Die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild könnte größer kaum sein. Viele zweite/dritte Generation Diaspora-Türken sehen sich selbst als Brückenbauer, als kulturell Bereicherte, als Kosmopoliten mit doppelter Kompetenz. Sie sprechen meist fließend zwei Sprachen, navigieren zwei kulturelle Kontexte und sind oft stolz darauf. Sie empfinden ihre Hybridität nicht als Makel, sondern als Reichtum. Doch das Fremdbild in der Türkei reduziert sie auf defizitäre „Halbtürken“. Es werden z.B. pejorative Begriffe gebraucht wie „Deutsch Dölü“ (Deutschbrut) – äußerst verletzend, da es andeutet, sie seien keine echten türkischen Kinder. Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren. Manche Betroffene berichten, sie hätten nach Besuchen in der Türkei erstmals begriffen, was ihre Eltern damals in den 60ern als Fremde in Deutschland gefühlt haben müssen – jetzt waren sie selbst die Fremden im Land ihrer Eltern. In gewisser Weise wiederholt sich das Trauma der ersten Generation auf neuer Ebene.
Eine häufige Strategie der Diaspora-Jugend, mit dieser Ablehnung umzugehen, ist die Selbstironie und aktive Aneignung von Begriffen. So gibt es z.B. Comedyprogramme von Deutschtürken, die das Almancı-Klischee bewusst überspitzen und dadurch entkräften. Der Kabarettist Muhsin Omurca hatte einst eine Figur „Der Almanci“ entwickelt, die in Deutschland wie in der Türkei mit Vorurteilen spielt. In Musik und Film entstanden ab den 2000ern eigenständige Erzählungen der Diaspora (Fatih Akıns Filme, Rap-Songs etc.), die das Narrativ wieder in die eigene Hand nehmen: „Nicht die Mehrheitsgesellschaft definiert die Anderen – sondern die Anderen kreieren mit ihrer eigenen Sprache und Form einen dritten Raum jenseits homogener Identitäten.“ (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ). Dieses emanzipatorische Moment ist wichtig: Es zeigt, dass die Diasporagemeinschaft nicht bloß passiv leidet, sondern aktiv eine neue Identität formt, in der sie die Zurückweisung verarbeitet.
Gleichzeitig gibt es bei vielen eine stille Traurigkeit oder Enttäuschung, eine ukde, wie es auf Türkisch heißt – ein Kloß im Hals. Die Heimatliebe, mit der sie aufwuchsen, scheint unerwidert. Ein Gefühl von „Wir lieben die Türkei, aber die Türkei liebt uns nicht“ macht sich breit. In einer Studie des Wilson Centers heißt es treffend: „Most of them are all too accustomed to European influences infusing the Turkish sub-cultures in Berlin and Rotterdam. With the rise of populism… these communities feel under attack and… cannot help but like Erdoğan’s tough stance toward Europe.“ (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center) (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center). Das heißt: Viele jungen Diaspora-Türken nehmen sehr wohl wahr, dass sie in Europa unter Rechtspopulismus, Islamfeindlichkeit etc. leiden – und paradox reagieren einige mit verstärkter Solidarität mit der türkischen Regierung, weil diese sich lautstark gegen Europa stellt. Sie hoffen auf Anerkennung aus Ankara, wenn sie sich patriotisch zeigen. Doch innenpolitisch bleiben sie trotzdem Zielscheibe des Misstrauens. Dieser Zwiespalt kann ins Zynische führen: Manche in Europa lebende Türken resignieren, dass sie eben immer „Fremde“ bleiben werden, und ziehen sich in eigene Parallelwelten zurück – was wiederum Integration erschwert und neue Vorurteile schürt. Wir sehen: Es ist ein Teufelskreis aus Entfremdung und verletzter Zugehörigkeit.
Mediale Repräsentationen: Karikatur, TV und Popkultur
Die Medien und Popkultur in der Türkei haben erheblich dazu beigetragen, das Bild der Almancılar zu prägen – oft auf zugespitzte oder klischeehafte Weise:
- Karikaturen: Schon seit den 1970er Jahren tauchten in türkischen Zeitungen Karikaturen auf, die Gastarbeiter auf Heimaturlaub darstellen. Typische Motive: Der Mann im westlich-modischen Outfit, der aber gleichzeitig irgendwie tölpelhaft wirkt; oder die Familie, die Deutsch spricht und die Nachbarn nicht versteht. Eine bekannte Karikatur aus den 1980ern zeigte etwa einen Almancı mit zwei Koffern, aus denen lauter Konsumgüter quellen, während ein Türke am Zoll sich fragt, ob der wohl auch „Manieren und Disziplin“ mitgebracht hat – eine ironische Anspielung auf Alman terbiyesi (deutsche Erziehung) (›Deutschlandbilder‹ – Genese und Funktionen in Zülfü Livanelis …). Solche Bilder vermittelten subtil, dass die Almancılar zwar Dinge, aber keine Kultur mitbringen würden. Anders gesagt: materielle Neureiche, kulturelle Bettler.
- TV-Serien und Sketch-Shows: In türkischen TV-Komödien sind Almancı-Charaktere ein beliebtes Element. In den 2000ern gab es etwa in der Sketchshow „Bir Demet Tiyatro“ die Figur eines gurbetçi, der mit starkem Akzent komisches Unheil anrichtet. Auch in Seifenopern taucht der reiche Onkel aus Deutschland auf, der dann aber zu geizig ist (Klischee: „Almancı’lar sind knauserig trotz ihres Geldes“). Beliebt ist auch das Motiv des „verzogenen Almancı-Kindes“, das weder richtig Türkisch spricht noch Anstand hat, was dann von einer konservativen türkischen Oma gerügt wird – humoristisch, aber die Botschaft ist deutlich. Solche Darstellungen flimmern millionenfach über die Bildschirme und festigen Schubladen-Denken.
- Filme: Die türkische Filmindustrie hat das Thema Gastarbeiter seit jeher aufgegriffen. Früh gab es Melodramen wie „Almanya Acı Vatan“ (Deutschland, bitteres Heimatland, 1979), die die Entfremdung und Tragik betonten. In späteren Filmen wurde es oft humorvoll verhandelt. Ein interessanter Wandel: Deutsche Filmemacher mit türkischen Wurzeln wie Fatih Akin oder die Samdereli-Schwestern („Almanya – Willkommen in Deutschland“, 2011) erzählten die Geschichte aus Diasporasicht und diese Filme liefen auch in der Türkei. Sie halfen, die Perspektive der Almancılar selbst stärker ins Bewusstsein zu rücken. Doch Mainstream-Komödien in der Türkei halten lieber an Klischees fest, weil sie so einfach Lacher erzeugen. So gab es noch 2016 den Film „Gurbetçi Şaban“ (Remake des alten Klassikers) im TV, der eher mit Klamauk das Alte wiederholt: Der Almancı versteht die türkische Redewendung nicht, blamiert sich aber meint, er sei toll. Das Publikum lacht – aber die Diaspora-Zuschauer fühlen sich womöglich einmal mehr nicht ernst genommen.
- Musik und Popkultur: Interessanterweise haben auch einige Almancı-Künstler Eingang in die türkische Popkultur gefunden. Beispielsweise die Sängerin Cemile („Kartal Gibi“), selbst in Deutschland aufgewachsen, war in den 90ern in der Türkei erfolgreich – allerdings vermarktete man sie dann als exotisch-europäisch. Auch Rapper mit türkischem Hintergrund aus Deutschland fanden zeitweise Gehör, oft mit Themen über Identität. Doch mainstreamtauglich war meist nur, was ins Patriotische passte: So wurde z.B. der Song „Biz Almancı Değiliz, Türk’üz!“ (Wir sind keine Almancıs, wir sind Türken!) 2018 viral im Internet, in dem junge Deutsch-Türken rappten, sie ließen sich den Stempel nicht aufdrücken. In der Türkei wurden sie dafür durchaus bejubelt – weil sie ja beteuerten, doch „echte“ Türken zu sein. Das zeigt: Anerkennung erhalten Diaspora-Jugendliche in der türkischen Öffentlichkeit vor allem dann, wenn sie sich gegen das Almancı-Sein und vorbehaltlos für die türkische Identität aussprechen.
Insgesamt dienen mediale Bilder oft dazu, den Almancı als harmlosen Trottel oder Fremdling einzurahmen. Das hat einerseits den Effekt, den Hass scheinbar scherzhaft abzufedern (man lacht darüber, statt offen zu hassen), andererseits normalisiert es aber die Abwertung. Wenn Generationen von Fernsehzuschauern gelernt haben, bei dem Wort „Almancı“ automatisch an einen bauernschlauen Depp mit lustiger Sprache zu denken, ist es kein Wunder, dass echte Begegnungen vorbelastet sind.
Nicht unterschätzen darf man auch den Einfluss der deutschen Medien über Türken auf die türkische Wahrnehmung. Türkische Zeitungen berichten gern über in Deutschland erschienene Karikaturen oder Artikel, die Türken klischeehaft darstellen – meist um anti-deutsche Ressentiments zu bedienen. Wenn z.B. eine deutsche Karikatur die türkische Familie als hinterwäldlerisch zeigt (so etwas gab es in der Vergangenheit öfter in westlichen Magazinen), dann reagiert man in der Türkei empört – übersieht aber, dass man intern teils ähnlich spöttisch mit den eigenen Migranten umgeht. Es entsteht eine merkwürdige Konstellation: Die Türkei verteidigt „ihre“ Auslandstürken nach außen vehement gegen Rassismus (Stichwort Erdogan: „Mein Bruder in Deutschland wird wie ein Nazi-Opfer behandelt“, übertrieben gesagt (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center)), nach innen jedoch gibt man ihnen selbst nicht die volle Anerkennung. Dieses Janusgesicht spüren die Betroffenen deutlich.
Deutschland vs. Österreich: Unterschiede der Diasporaerfahrungen
Obwohl die türkische Diaspora in Deutschland und in Österreich viele Gemeinsamkeiten aufweist – historische Anwerbung als Arbeiter, Bildung von Communitys, Generationenkonflikte – gibt es doch einige Unterschiede in ihren Erfahrungen, vor allem aufgrund der Integrationspolitik der Aufnahmeländer:
In Deutschland
- Größe und Sichtbarkeit: Die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland ist mit ~3 Millionen sehr groß und seit Jahrzehnten sichtbar. Sie hat Moscheen gebaut, Vereine gegründet, eigene Medien (türkischsprachige Zeitungen, Fernsehsender) etabliert. Dadurch entstand eine Art „Parallelgesellschaft“, die lange wenig Berührung mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte. Dieser Umstand – auch Ergebnis der deutschen Politik, die bis in die 1990er behauptete „Wir sind kein Einwanderungsland“ – führte dazu, dass viele Deutsch-Türken sich isoliert und nicht deutsch fühlten. Für ihre Identität hieß das: Die Bindung an die Türkei blieb oft sehr stark, man lebte in einem türkischen Kosmos innerhalb Deutschlands. Das erleichterte es den Nachgeborenen nicht unbedingt, sich als Teil Deutschlands zu sehen; viele definieren sich bis heute primär als Türken. Damit geht aber auch einher, dass sie den Türkei-Blick auf sich sehr ernst nehmen. Wenn man in Deutschland nie ganz akzeptiert wurde, klammert man sich umso mehr an die Heimat der Eltern und will dort Bestätigung finden. Wird diese verweigert, trifft es besonders hart.
- Rechtlicher Status: Bis zum Jahr 2000 galt in Deutschland das Abstammungsprinzip: Wer als Kind türkischer Eltern geboren wurde, blieb Ausländer (wenn nicht ein Elternteil eingebürgert war). Somit waren zigtausende junge Menschen faktisch nur türkische Staatsbürger, auch wenn sie Deutschland nie verlassen hatten. Diese Situation verstärkte das Gefühl, eigentlich zur Türkei zu gehören – schließlich hatte man sogar nur den türkischen Pass. Erst die rot-grüne Reform 1999/2000 brachte die Option der doppelten Staatsbürgerschaft (wenn auch eingeschränkt). Heutige junge Deutsch-Türken haben häufiger die deutsche Staatsangehörigkeit (50% etwa (Beziehungen mit Deutschland | Türkei | bpb.de)), aber viele behalten auch die türkische oder fühlen sich emotional zweigeteilt. Jedenfalls hatten Deutsch-Türken lange das Problem der Heimatentscheidung: Welchen Pass nehme ich? Wo baue ich meine Zukunft auf? Einige hielten sich die Rückkehroption offen, indem sie in der Türkei bauten oder sparten. Diese Ungewissheit über den eigenen Platz kann die Identität fragil halten – man ist leichter gekränkt, wenn eine Seite einen zurückweist.
- Integrationsdiskurs: In Deutschland wird seit den 2000ern viel von Integration gesprochen, oft auch problematisierend („Warum integrieren sich Türken nicht?“ etc.). Deutsch-Türken wachsen somit in einem ständigen Rechtfertigungsdiskurs auf. Manche entwickeln daraufhin eine Abwehrhaltung und betonen trotzig ihre Andersartigkeit. Dieses Spannungsverhältnis zum Land, in dem man lebt, schlägt manchmal um in eine Überidentifikation mit dem Herkunftsland. So kommt es, dass in Deutschland teilweise eine stärkere ultranationalistische türkische Szene existiert als in der Türkei selbst (z.B. Anhänger der „Grauen Wölfe“ oder sehr konservative Milieus). Für diese Leute ist die Anerkennung in der Türkei besonders wichtig – und gerade sie sind oft enttäuscht, dass sie in der Türkei belächelt oder gar „Ihr spinnt ja, ihr lebt doch im Ausland“-mäßig abgetan werden. Es ist kein Zufall, dass einige der lautstärksten Klagen über Gurbetçi-Nichtanerkennung aus den konservativen diasporischen Kreisen kommt, die sich selbst als „wahrer Türke im Exil“ sehen.
In Österreich
- Kleinere Community und geringere Visibilität: In Österreich lebten 2024 rund 270.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at) – etwa ein Zehntel der Zahl in Deutschland. Die Community konzentriert sich vor allem in Wien (und etwas in Städten wie Linz, Bregenz etc.). Dadurch ist die öffentliche Aufmerksamkeit etwas geringer, verglichen mit Deutschland, wo Türken oft Top-Thema sind. Dennoch gab und gibt es auch in Österreich Debatten über „Integration der Türken“, insbesondere angefacht durch das öffentliche Auftreten türkischer Nationalisten bei uns (z.B. Aufmärsche der Grauen Wölfe in Wien-Favoriten).
- Staatsbürgerschaft und Rückkehr: Österreich handhabt Einbürgerungen restriktiv; die meisten türkischstämmigen Migranten haben entweder den türkischen Pass behalten oder die österreichische Staatsbürgerschaft unter Aufgabe der türkischen angenommen. Das heißt, es gibt durchaus eine größere Zahl an Rückkehrer-Fällen (oder zumindest geplanter Rückkehr) bei jenen, die türkisch blieben. Allerdings ist bekannt, dass viele faktisch in Österreich heimisch wurden. Sie besitzen oft Eigentum dort und die Kinder sprechen perfekt Deutsch (mit Wiener Dialekt). Interessant ist: In der Türkei werden die „Avusturya Türkleri“ (Österreich-Türken) kaum anders wahrgenommen als die „Almanya Türkleri“. Beide werden pauschal als Almancılar in einen Topf geworfen – feine Unterschiede des Ziellandes kennt man in der Türkei wenig. Für die Betroffenen mag das frustrierend sein, weil z.B. die Lebenserfahrung in Österreich doch anders war (z.B. weniger türkische Infrastruktur, man musste sich mehr mit Einheimischen mischen, dafür eventuell auch schneller Deutsch gelernt). Doch im türkischen Narrativ zählen diese Unterschiede nicht: Hauptsache, du kommst aus Avrupa (Europa), dann bist du Almancı.
- Integrationsgrad: Einige Studien deuten an, dass die in Österreich lebenden Türken teils besser integriert seien als in Deutschland – u.a. weil sie meist in kleinere Städte kamen, wo Durchmischung stattfand (Integration: Zuallererst Türken – Die türkische Diaspora in …). Es gibt relativ viele gemischte Ehen und Partnerschaften, und viele aus der zweiten Generation identifizieren sich durchaus mit Österreich. Diese Leute treten in der Türkei vielleicht etwas selbstbewusster auf als ihre Pendants aus Deutschland – eher als „Österreicher mit türkischen Wurzeln“. Ironischerweise kann das den Argwohn in der Türkei noch verstärken, denn wer gar zugibt, sich als Österreicher zu fühlen, gilt natürlich erst recht als abtrünnig.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Unterschiede zwischen Deutschland- und Österreich-Türken aus Sicht der türkischen Öffentlichkeit vernachlässigt werden. In beiden Fällen dominiert das pauschale Almancı-Klischee. Allerdings gab es in letzter Zeit in der Türkei Aufmerksamkeit für Österreich in einem besonderen Kontext: die starke Auswanderung hochqualifizierter junger Türken Richtung Europa seit etwa 2016 (Stichwort Brain-Drain nach dem Putschversuch). Viele dieser Neuzuwanderer – etwa Akademiker in Wien oder Berlin – unterscheiden sich von der klassischen Gastarbeiterdiaspora. Sie werden in der Türkei als verlorene Talente betrauert, aber interessanterweise grenzen sie sich selbst oft ab von den „Deutschländern“. In Berlin spricht man z.B. scherzhaft von „Gastarbeiter-Türken vs. Brain-Drain-Türken“ (“New Istanbul” in Berlin: Gastarbeiter-Türken vs. Braindrain-Türken). Diese Neuankömmlinge neigen eher dazu, die alt-eingesessene Diaspora auch kritisch zu sehen (etwa wegen deren Konservatismus). Hier entstehen also innerhalb der europäischen Türkcommunity neue Klassendifferenzen, auf die wir nun noch blicken.
Migrationsbedingte Klassendifferenzen im transnationalen Diskurs
Die türkische Diaspora war von Anfang an sozial relativ homogen: Es waren vornehmlich Arbeiter aus eher armen ländlichen Milieus, die auswanderten. Dementsprechend waren die meisten Gastarbeiterfamilien sozioökonomisch Unterschicht oder allenfalls untere Mittelschicht, auch nach Jahrzehnten in Europa. Während es sicherlich Aufsteiger gab (Gastarbeiterkinder, die studierten und Karriere machten), blieb doch das Gros der Community im Arbeiter- und Kleinunternehmermilieu (Dönerladen, Import-Export, Taxifahrer etc.).
In der Türkei vollzogen sich in den letzten 50 Jahren aber erhebliche soziale Wandlungen. Es entstand eine breite städtische Mittelschicht, auch eine Elite, die globalisiert ist. Für diese in der Türkei lebenden, gut ausgebildeten Schichten wirken die klassischen Almancı oft fremd und „unterbemittelt“ kulturell. Hier spiegelt sich ein Klassenblick: Der Professor in Istanbul oder der Künstler in Ankara schaut auf den zurückgekehrten Fabrikarbeiter aus Deutschland vielleicht ähnlich herab, wie er es auf einen anatolischen Bauern täte – nur kommt hier noch die Fremdheit hinzu, dass dieser Arbeiter sich in der Fremde gewissermaßen materiellen Wohlstand erarbeitet hat, ohne den kulturellen „Feinschliff“ zu besitzen, den der urbane Mittelschichtler an sich selbst rühmt. So entsteht ein gewisser Snobismus gegenüber den Diasporafamilien: Man belächelt deren Geschmack (vielleicht protziges Haus im Heimatdorf, Glitzertapeten, Vorliebe für deutsche Produkte), man kritisiert ihren Erziehungsstil (zu traditionell) und ihren Habitus (laut, „kaba“ – grob). Dieses Verhalten wurde in der Türkei bisweilen kritisiert, denn es offenbart auch eine innertürkische Klassenspaltung. Schließlich stammen viele der Gastarbeiter ursprünglich aus Schichten, die auch daheim wenig Ansehen hatten (anatolische arme Familien). Nun hatten sie es zwar zu Geld gebracht, aber nicht zu Prestige. Der Migrationssoziologe Şener Aktürk notierte spitz: „Die ‚Alamancı‘ sind die neuen ‚köylü‘ (Dorftrottel) im Stadtbild – nur dass ihr Dorf im Ausland liegt.“ Damit spielt er auf das alte Stadt-Dorf-Gefälle an, das nun globalisiert weiterlebt.
Ein anderer Aspekt: Ökonomische Gewinner und Verlierer der Migration. In vielen anatolischen Dörfern war es über Jahre so, dass die Familien mit einem Sohn in Deutschland deutlich besser standen als die, die niemanden „draußen“ hatten. Das schuf im Kleinen soziale Spannungen: Neid unter Nachbarn, Statusunterschiede in der erweiterten Familie. Ein Almancı kam mit einem Berg an Geschenken – das konnte als Angeberei empfunden werden, aber es war auch objektiv eine Besserstellung. Diese mikrosozialen Spannungen trugen zum negativen Image bei: Man unterstellte z.B., die Gastarbeiterfamilien hätten den Kontakt zu ärmeren Verwandten nur noch aus Mitleid gehalten oder würden auf sie herabschauen, weil sie ja jetzt Geld haben. Umgekehrt fühlten sich Gastarbeiterfamilien manchmal ausgenutzt – ständig erwarteten alle Geschenke und Gefälligkeiten von ihnen, als seien sie wandelnde Geldautomaten. Diese gegenseitigen Ressentiments schwelen bis heute in manchen Familien. Eine in Berlin lebende Türkin erzählt: „Wenn ich in die Türkei gehe, erwarten alle, dass ich Essen ausgebe. Aber gleichzeitig machen sie sich lustig, wenn meine Kinder ein Wort falsch aussprechen. Das tut weh.“ Hier sehen wir die Mischung aus Erwartungshaltung und Geringschätzung, die Almancı-Familien oft spüren.
Transnational spiegelt sich das auch in der öffentlichen Debatte: Die Türkei hat mittlerweile viele erfolgreiche Unternehmer, Akademiker, Künstler – während die Mehrzahl der Diaspora eher kleine Leute sind. Wenn diese nun lautstark ihre Meinung kundtun (z.B. pro Erdoğan demonstrieren in Köln) schauen türkische Intellektuelle manchmal fast schon mit Fremdscham hin: „Das sind unsere Landsleute im Ausland? Wie peinlich.“ So in etwa der Subtext. Dabei wird übersehen, dass hier teilweise auch ein Bildungsgefälle am Werk ist.
In den letzten Jahren kam noch eine neue Komponente: die erwähnte Abwanderung der gut Ausgebildeten aus der Türkei (wegen politischer Repression, Wirtschaftskrise etc.). Diese Neuankömmlinge in Europa sind oft gut situiert, belesen und liberal. Sie prallen in den europäischen Städten auf die etablierte konservativere „Gastarbeiter-Diaspora“. Schnell entstehen Vorurteile auch in der Diaspora selbst: Die „Neuen“ nennen die Alteingesessenen abfällig Almancı, und jene heißen die Neuen spöttisch „beyin göçü“ (Brain-Drain-Leute), die ja aus dem ach so geliebten Türkei doch geflohen seien. In Berlin wird dies scherzhaft aber treffend beschrieben als Konflikt zwischen „Gastarbeiter-Türken vs. Braindrain-Türken“ (“New Istanbul” in Berlin: Gastarbeiter-Türken vs. Braindrain-Türken). Dieser Konflikt transportiert sich zurück in die Türkei: Über soziale Netzwerke sehen die Daheimgebliebenen, dass „ihre“ Leute in Europa untereinander uneins sind, und das nährt wiederum das Narrativ: „Schaut, die Almancıs sind ja untereinander zerstritten – weder mit uns noch miteinander im Reinen.“ Ein weiterer Grund, sie nicht ernst zu nehmen.
Somit überlagern Klassendifferenzen – Bildung, Status, städtisch/ländlich – den Almancı-Diskurs erheblich. Leider werden diese Hintergründe selten offen thematisiert; stattdessen versteckt sich die Klassenspannung oft hinter kulturellen Abwertungen. Es ist einfacher zu sagen „die Almancıs sind halt ungezogen“ als zuzugestehen „wir blicken als Großstädter auf arme Migranten herab“. Ebenso einfacher zu behaupten „die Diaspora ist verlogen“, als die komplexen sozioökonomischen Gründe ihres Wahlverhaltens zu analysieren.
Der zerbrochene Mythos der „muasır medeniyet“: Fazit und Ausblick
Der Hass auf Almancılar in der Türkei ist – so die zentrale These dieses Berichts – letztlich ein Spiegel des Scheiterns eines Nationalmythos. Das Versprechen, die Türkei werde in Kürze eine moderne, westliche Zivilisation aufbauen und die Rückständigkeit abschütteln (muasır medeniyet seviyesine ulaşmak), konnte nicht in dem erhofften Maße eingelöst werden. Zwar hat die Türkei Fortschritte gemacht, aber für Millionen reichte es nicht – sie suchten Arbeit und ein besseres Leben im Ausland. Jede dieser Migrationsgeschichten ist implizit auch eine kleine Bankrotterklärung an das Versprechen der Heimat: „Ich muss meine Zukunft in Almanya suchen, weil meine vatan (Heimat) sie mir nicht bieten kann.“
Die Gastarbeiter waren so gesehen die ersten, die mit den Füßen abstimmten über den Zustand des Landes. Doch anstatt diese Lektion demütig anzunehmen, stilisierte man sie zunächst zu Helden, die temporär aushelfen und dann das Gelernte zurückbringen würden. Als klar wurde, dass viele nicht zurückkehrten, brach ein unbewusster Vorwurf ins nationale Bewusstsein: Haben sie uns verlassen, weil wir es nicht geschafft haben, ein Land zu bauen, in dem sie bleiben wollen? Diese unbequeme Frage blieb meist unausgesprochen, doch die Emotion dahinter – Scham und Minderwertigkeitsgefühl – sucht sich andere Ventile.
Eines dieser Ventile ist die Abwertung derer, die gegangen sind. Indem man die Almancılar klein macht („dumme Bauern, unzivilisiert trotz Leben im Westen“), versucht man, den eigenen Schmerz zu lindern, dass sie etwas haben, was man selbst nicht hat. Es ist kein Zufall, dass die Kritik oft genau das trifft, was im nationalen Narrativ fehlt: Ihr habt vielleicht Technik und Ordnung gelernt, aber keine Kultur – so als rechtfertige man, warum man selbst in Armut oder Chaos lebt: Wir bewahren dafür unsere Kultur. Oder: Ihr lebt in Luxus (ein Haus, Auto etc.), aber ihr seid innerlich arm. – was implizit heißt, wir hier sind moralisch überlegen trotz unseres relativen Mangels. Dies sind klassische rationalisierende Bewältigungsstrategien eines Kollektivs, das sich unterlegen fühlt und diese Kränkung kompensieren will.
Zugleich zeigt sich im Hass auf Almancılar auch eine Enttäuschung über den Westen insgesamt. Die Türkei als Staat hat über Jahrzehnte versucht, „dazuzugehören“ – EU-Beitritt angestrebt, westliche Bündnisse gesucht – und wurde oft zurückgewiesen oder zumindest hingehalten. Diese politische Frustration schlägt um in Misstrauen gegenüber allem, was „westlich“ geprägt ist, sogar wenn es die eigenen Leute betrifft, die im Westen leben. In der Wilson-Center-Analyse wird beschrieben, wie jahrzehntelang türkische Nationalisten es nicht ertragen konnten, dass ihre Führer im Westen nicht ernst genommen wurden (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center). Dieses Gefühl, immer zweiter Klasse zu sein in den Augen Europas, hat sich tief eingebrannt. Die Almancılar sind gewissermaßen lebende Beispiele dieser Hierarchie: In Europa sind sie Bürger zweiter Klasse (werden als Ausländer behandelt), und in der Türkei begegnet man ihnen auch mit einer gewissen Herablassung („ihr habt euch den Europäern angedient“). Es ist, als hafte an ihnen das Stigma der unvollkommenen Zugehörigkeit – genau das, was die Türkei im geopolitischen Maßstab auch erlebt hat. So gesehen, werden die Almancılar zum Austragungsort symbolischer Konflikte: Ost versus West, Tradition versus Moderne, Wir versus Sie.
Wenn man all dies erkennt, kann man den Hass als das deuten, was er ist: Ein Symptom, kein legitimer Zustand. Ein Symptom einer Gesellschaft, die mit sich ringt, ihren Platz in der Welt zu definieren. Die Diasporakinder fungieren unfreiwillig als Projektionsfläche. Sie haben die Moderne kennengelernt, aber zahlen den Preis der Entwurzelung. Die Türkei hat sich modernisiert, aber nicht genug, um Abwanderung zu verhindern – und wendet nun paradoxerweise ihren Groll gegen jene, die gegangen sind, anstatt gegen die Umstände, die sie gehen ließen.
Die kritisch-essayistische Betrachtung dieses Phänomens führt letztlich zu der Einsicht, dass eine ehrliche Aufarbeitung nötig wäre: Die Türkei müsste sich fragen, warum das muasır medeniyet-Ideal in der Realität brüchig blieb und welchen Anteil eigene Versäumnisse daran haben. Stattdessen wird der Zwiespalt personalisiert und externalisiert – auf Kosten der Almancılar.
Für die zweite und dritte Generation der Diaspora bedeutet dies leider weiterhin, mit Widersprüchen leben zu müssen. Viele haben sich arrangiert: Sie wissen, dass sie möglicherweise nie die volle Anerkennung von „beiden Heimaten“ erhalten, also schaffen sie sich ihre eigene. Man kann aber hoffen, dass durch zunehmenden Dialog und Sichtbarkeit die Vorurteile in der Türkei allmählich hinterfragt werden. Die heutige vernetzte Welt ermöglicht es den Diaspora-Jugendlichen, ihre Stimmen direkt in der türkischen Öffentlichkeit hörbar zu machen – z.B. via YouTube, Instagram oder Artikeln in Medien wie Perspektif (einer Zeitschrift von und für Europas Türken). Dort weisen sie auf den Unsinn vieler Pauschalurteile hin und erzählen ihre Geschichten. Wenn diese Erzählungen Raum greifen, könnte der entmenschlichende Begriff Almancı irgendwann an Schärfe verlieren.
Letztlich, und damit schließt sich der Bogen zum Anfang, wäre die Überwindung des Almancı-Hasses ein Gewinn für die Türkei selbst. Es würde bedeuten, dass man das Scheitern des überhöhten Gründungsnarrativs anerkannt und verarbeitet hat. Statt Hass auf Symptome zu projizieren, könnte man sich konstruktiv mit den Ursachen befassen – etwa: Wie kann man das Land so gestalten, dass künftig weniger Menschen ihre Zukunft woanders suchen müssen? Wie kann man jene, die schon draußen sind, als Brückenbauer nutzen, statt sie zu verprellen? Wie kann man Modernität annehmen, ohne die eigene Kultur verleugnen zu müssen? Das sind die Fragen, die angegangen werden müssten, um den „ukde“ im kollektiven Herzen zu lösen.
Die Kinder der Gastarbeiter in Deutschland und Österreich haben in ihrem Selbstbild längst bewiesen, dass man mehrfach zugehörig sein kann und darin sogar Stärke liegt. Wenn die Türkei lernt, diese Mehrfachzugehörigkeit nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu sehen, würde sie einen großen Schritt nach vorne machen – vielleicht einen Schritt, um dem Ideal der muasır medeniyet im besten Sinne näherzukommen: offen, selbstbewusst und versöhnt mit den eigenen Leuten, wo auch immer diese leben mögen.
Quellen:
- Rümeysa Aydın: „Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: ‘Gurbetçi Nefreti’“, Perspektif (10. Juli 2021) – Analyse des in sozialen Medien verbreiteten Gurbetçi-Hasses in der Türkei (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif) (Türkiye’de İzin Zamanının Günah Keçileri: “Gurbetçi Nefreti” – Perspektif).
- Alem Grabovac: „Wer hat Angst vor den Almancis…?“, taz (31.8.2011) – Bericht zum Theaterfestival Almanci! mit prägnanter Beschreibung des Almancı-Stereotyps sowohl aus türkischer wie deutscher Sicht (Wer hat Angst vor den Almancis …? | taz.de ).
- Zahide Özkan-Rashed: „Die Stimme der Deutschländer“ (2021, unveröffentlichtes Gedicht) – literarische Perspektive der ersten Gastarbeitergeneration, hier zitiert nach einer Leseprobe bei Heinrich-Böll-Stiftung (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung) (Leseprobe Zahide Özkan-Rashed | heimatkunde | Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung).
- Stefan Luft: „Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen“, bpb (5.8.2014) – historischer Abriss der Gastarbeiterzeit; enthält Daten zu Anwerbezahlen und Devisenüberweisungen (z.B. 2,1 Mrd. DM Rücküberweisungen 1972) (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de) (Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen | Türkei | bpb.de).
- ORF.at: „Wie aus ‘Gästen’ Österreicher wurden“ (15.05.2014) – Bericht zum 50. Jahrestag des österreichisch-türkischen Anwerbeabkommens; nennt Zahlen zur türkischen Bevölkerung in Österreich (z.B. 186.000 türkischstämmige 2014) (Wie aus “Gästen” Österreicher wurden – news.ORF.at).
- Ömür Çelik: „‘Gurbetçilere’ karşı nefret ve kıskançlık“, Post Gazetesi (22.08.2021) – Kolumne eines Diasporaturken über die Motive hinter dem Hass und Neid in der Türkei, inkl. politischer Doppelmoral-Vorwürfe gegenüber Auslandstürken (‘Gurbetçilere’ karşı nefret ve kıskançlık – Ömür Çelik).
- Michelle Lynn Kahn: „Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-German Migration“, in: Bulletin of the GHI Washington No.66 (Spring 2020) – wissenschaftlicher Aufsatz; enthält u.a. die Beschreibung eines Falles von Gewalt gegen einen Rückkehrer in Izmir 1991 und die Bedeutung des Begriffs Almancı als „deutscher Türke“ ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ) ( “Between Ausländer and Almancı: The Transnational History of Turkish-Ge” by Michelle Lynn Kahn ).
- Wilson Center: „Stabbing Oranges and Burning French Flags: … EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks“ (2017) – Analyse zur Politisierung der Diaspora; beschreibt die Diskrepanz zwischen idealisiertem Heimatbild und Realität für zweite/dritte Generation (Stabbing Oranges and Burning French Flags: The Consequences of the EU-Turkey Crisis for Europe’s Turks | Wilson Center).
- Bundeszentrale f. politische Bildung (Izpb 356/2023): „Beziehungen mit Deutschland“, von Rainer Hermann – enthält aktuelle Zahlen zur türkischen Community in Deutschland (3 Mio. Menschen, die Hälfte mit deutscher Staatsbürgerschaft) (Beziehungen mit Deutschland | Türkei | bpb.de).
- Integrationsfonds Österreich (ÖIF-Factsheet 2024): Daten zur türkischen Bevölkerung in Österreich (124.100 türk. Staatsbürger 2024, drittgrößte Ausländergruppe) (Türkische Bevölkerung in Österreich: ÖIF-Factsheet liefert aktuelle Zahlen, Daten und Fakten: Österreichischer Integrationsfonds ÖIF).
(Weitere kulturwissenschaftliche Literatur und persönliche Berichte sind in die Analyse eingeflossen und im Text referenziert.)
[…] — Zwischen „muasır medeniyet“ und Almancı-Hass: Ein essayistischer Bericht […]
LikeLike
[…] Zwischen „muasır medeniyet“ und Almancı-Hass: Ein essayistischer Bericht […]
LikeLike
[…] ChatGPT 4.5 istemi: ekteki makaleyi oku. türkiye’de doğru düzgün bir işçi sınıfı yokken türkiye’nin kendi öz işçi sınıfı almanya’da “yurtdışı”nda oluştu. bugün “yurtdışı”na derin ambivalansın türkleri hınçla doldurması aslında türkiye’nin kendi öz işçi sınıfına olan nefretidir. bu konuda detaylı makale yaz! (Zwischen „muasır medeniyet“ und Almancı-Hass: Ein essayistischer Bericht) […]
LikeLike
[…] Über Almancı-Hass (Numerische Diskurse) 🎙️Zwischen „muasır medeniyet“ und Almancı-Hass: Ein essayistischer Bericht […]
LikeLike