- 20 novembre 1923 – Postulate der Linguistik
img4.png - DIE SPRACHE WÄRE INFORMATIV UND KOMMUNIKATIV.
Die Lehrerin erkundigt sich nicht, wenn sie einen Schüler befragt, ebenso wenig informiert sie, wenn sie eine Regel der Grammatik oder des Rechnens lehrt. Sie «unterrichtet», sie gibt Befehle, sie kommandiert. Die Befehle des Lehrers sind nicht äußerlich zu dem, was er uns beibringt, und kommen nicht noch hinzu. Sie gehen nicht aus первären Bedeutungen hervor, sie sind nicht die Folge von Informationen: Der Befehl bezieht sich immer und bereits auf Befehle, weshalb der Befehl Redundanz ist. Die Maschine der Schulpflicht vermittelt keine Informationen, sondern legt dem Kind semiotische Koordinaten auf, mitsamt allen dualen Grundlagen der Grammatik (maskulin-feminin, Singular-Plural, Substantiv-Verb, Subjekt der Äußerung-Subjekt der Äußerungshandlung usw.). Die elementare Einheit der Sprache — die Äußerung — ist das Parolewort. Statt des gesunden Menschenverstands, einer Fähigkeit, die die Informationen zentralisieren würde, muss man eine abscheuliche Fähigkeit definieren, die darin besteht, die Parolewörter auszusenden, zu empfangen und zu übermitteln. Die Sprache ist nicht einmal dazu gemacht, geglaubt zu werden, sondern zu gehorchen und gehorchen zu lassen. «Die Baronin hat nicht die geringste Absicht, mich von ihrem guten Glauben zu überzeugen, sie zeigt mir lediglich an, was sie mich lieber als zuzugeben vortäuschen sieht{59}.» Man bemerkt es in Polizei- oder Regierungsmitteilungen, denen an Plausibilität oder Wahrhaftigkeit wenig liegt, die aber sehr gut sagen, was zu beachten und zu behalten ist. Die Gleichgültigkeit der Mitteilungen gegenüber jeder Glaubwürdigkeit grenzt oft an Provokation. Das ist der Beweis, dass es um etwas anderes geht. Man sage es weiter…: die Sprache verlangt nicht mehr. Spengler bemerkt, dass die Grundformen des Sprechens weder die Aussage eines Urteils noch der Ausdruck eines Gefühls sind, sondern «der Befehl, das Zeugnis des Gehorsams, die Behauptung, die Frage, die Bejahung oder die Verneinung», sehr kurze Sätze, die dem Leben befehlen und von Unternehmungen oder großen Arbeiten untrennbar sind: «Bereit?», «Ja», «Los{60}». Wörter sind keine Werkzeuge; aber man gibt den Kindern Sprache, Federn und Hefte, wie man den Arbeitern Schaufeln und Spitzhacken gibt. Eine Grammatikregel ist ein Machtmarker, bevor sie ein syntaktischer Marker ist. Der Befehl bezieht sich weder auf vorgängige Bedeutungen noch auf eine vorgängige Organisation distinktiver Einheiten. Es ist umgekehrt. Information ist nur das strikte Minimum, das zur Aussendung, Übermittlung und Befolgung von Befehlen als Kommandos notwendig ist. Man muss gerade genug informiert sein, um Au feu nicht mit Au jeu zu verwechseln!, oder um die so unerquicklichliche Situation von Lehrer und Schüler nach Lewis Carroll zu vermeiden (der Lehrer ruft eine Frage vom oberen Ende der Treppe herunter, die von Dienern weitergegeben wird, die sie auf jeder Etage entstellen, während der Schüler unten im Hof eine Antwort zurückschickt, die ihrerseits bei jedem Schritt des Hinauftragens entstellt wird). Die Sprache ist nicht das Leben, sie erteilt dem Leben Befehle; das Leben spricht nicht, es hört zu und wartet{61}. In jedem Parolewort, selbst von einem Vater an seinen Sohn, steckt ein kleines Todesurteil — ein Verdict, sagte Kafka.
Schwierig ist es, den Status und die Ausdehnung des Paroleworts zu präzisieren. Es handelt sich nicht um einen Ursprung der Sprache, da das Parolewort nur eine Sprachfunktion ist, eine Funktion, die der Sprache koextensiv ist. Wenn Sprache immer Sprache vorauszusetzen scheint, wenn man keinen nichtlinguistischen Ausgangspunkt festlegen kann, dann deshalb, weil Sprache sich nicht zwischen etwas Gesehenem (oder Gefühltem) und etwas Gesagtem etabliert, sondern immer von einem Sagen zu einem Sagen geht. Wir glauben diesbezüglich nicht, dass das Erzählen darin besteht, mitzuteilen, was man gesehen hat, sondern darin, zu übermitteln, was man gehört hat, was ein anderer einem gesagt hat. Hörensagen. Es genügt nicht einmal, eine durch Leidenschaft kommende verzerrende Sicht anzurufen. Die «erste» Sprache, oder vielmehr die erste Bestimmung, die die Sprache erfüllt, ist nicht der Tropus oder die Metapher, sondern die indirekte Rede. Die Bedeutung, die man der Metapher, der Metonymie geben wollte, erweist sich als ruinös für das Studium der Sprache. Metaphern und Metonymien sind nur Effekte, die der Sprache nur dann angehören, wenn sie die indirekte Rede schon voraussetzen. In einer Leidenschaft gibt es viele Leidenschaften, und allerlei Stimmen in einer Stimme, ein ganzes Gemurmel, Glossolalie: deshalb ist jede Rede indirekt, und die der Sprache eigentümliche Übersetzung ist die der indirekten Rede{62}. Benveniste verneint, dass die Biene eine Sprache habe, obwohl sie über eine organische Codierung verfügt und sogar Tropen benutzt. Sie hat keine Sprache, weil sie fähig ist, mitzuteilen, was sie gesehen hat, nicht aber zu übermitteln, was man ihr mitgeteilt hat. Die Biene, die eine Beute wahrgenommen hat, kann die Nachricht denen mitteilen, die nicht wahrgenommen haben; aber diejenige, die nicht wahrgenommen hat, kann sie nicht an andere weitergeben, die ebenfalls nicht wahrgenommen hätten{63}. Die Sprache begnügt sich nicht damit, von einem Ersten zu einem Zweiten zu gehen, von jemandem, der gesehen hat, zu jemandem, der nicht gesehen hat, sondern geht notwendig von einem Zweiten zu einem Dritten, wobei weder der eine noch der andere gesehen hat. In diesem Sinn ist Sprache Übermittlung des Wortes, das als Parolewort funktioniert, und nicht Kommunikation eines Zeichens als Information. Die Sprache ist eine Karte und keine Durchzeichnung. Aber inwiefern ist das Parolewort eine der Sprache koextensive Funktion, während der Befehl, das Kommando, auf einen eingeschränkten Typ expliziter, durch den Imperativ markierter Propositionen zu verweisen scheint?
Die berühmten Thesen Austins zeigen sehr wohl, dass es zwischen Handlung und Rede nicht nur verschiedene extrinsische Beziehungen gibt, so dass eine Äußerung eine Handlung im Indikativ beschreiben oder sie im Imperativ hervorrufen kann usw. Es gibt auch intrinsische Beziehungen zwischen Rede und gewissen Handlungen, die man vollzieht, indem man sie sagt (das Performativ: ich schwöre, indem ich «ich schwöre es» sage), und allgemeiner zwischen Rede und gewissen Handlungen, die man vollzieht, indem man spricht (das Illokutionäre: ich frage, indem ich «ob…?» sage, ich verspreche, indem ich «ich liebe dich…» sage, ich befehle, indem ich den Imperativ verwende…, usw.). Es sind diese Akte im Inneren der Rede, diese immanenten Beziehungen der Äußerungen zu Akten, die man implizite oder nichtdiskursive Präsuppositionen nennen konnte, im Unterschied zu den Voraussetzungen, die stets explizierbar sind, unter denen eine Äußerung auf andere Äußerungen verweist oder aber auf eine äußere Handlung (Ducrot). Die Herausarbeitung der Sphäre des Performativs und der weiteren Sphäre des Illokutionären hatte bereits drei wichtige Konsequenzen: 1) Die Unmöglichkeit, Sprache als Code zu begreifen, da der Code die Bedingung ist, die eine Erklärung möglich macht; und die Unmöglichkeit, Rede als Kommunikation einer Information zu begreifen: anordnen, fragen, versprechen, bejahen ist nicht, über einen Befehl, einen Zweifel, eine Verpflichtung, eine Behauptung zu informieren, sondern diese spezifischen, immanenten Akte zu vollziehen, notwendig implizit. 2) Die Unmöglichkeit, eine Semantik, eine Syntax oder auch nur eine Phonematik als wissenschaftliche Zonen der Sprache zu definieren, die von der Pragmatik unabhängig wären; die Pragmatik hört auf, eine «Rumpelkammer» zu sein, die pragmatischen Bestimmungen hören auf, der Alternative unterworfen zu sein: entweder wieder außerhalb der Sprache zu landen oder expliziten Bedingungen zu entsprechen, unter denen sie syntaktisiert und semantisiert werden; die Pragmatik wird im Gegenteil zur Präsupposition aller anderen Dimensionen und dringt überall ein. 3) Die Unmöglichkeit, die Unterscheidung langue-parole aufrechtzuerhalten, da die parole nicht mehr durch die einfache individuelle und extrinsische Verwendung einer первären Bedeutung oder die variable Anwendung einer vorgängigen Syntax definiert werden kann: vielmehr lassen sich Sinn und Syntax der langue nicht unabhängig von den Sprechakten definieren, die sie voraussetzt{64}.
Zwar sieht man noch schlecht, wie man aus Sprechakten oder impliziten Präsuppositionen eine der Sprache koextensive Funktion machen kann. Man sieht es umso schlechter, wenn man vom Performativ (was man tut, indem man es sagt) ausgeht, um dann durch Ausdehnung bis zum Illokutionären (was man tut, indem man spricht) zu gelangen. Denn man kann diese Ausdehnung immer verhindern und das Performativ auf sich selbst blockieren, indem man es durch besondere semantische und syntaktische Merkmale erklärt, die jeden Rückgriff auf eine generalisierte Pragmatik vermeiden. So verweist nach Benveniste das Performativ nicht auf Akte, sondern im Gegenteil auf die Eigenschaft sui-referenzieller Termini (die echten Personalpronomina ICH, DU…, definiert als Deiktika/Schalter): so dass eine Struktur der Subjektivität, eine vorgängige Intersubjektivität in der Sprache, die Sprechakte hinreichend erklärt, statt sie vorauszusetzen{65}. Die Sprache wird hier also als kommunikativ eher denn als informativ definiert, und es ist diese Intersubjektivität, diese eigentlich linguistische Subjektivierung, die den Rest erklärt, das heißt alles, was man sein lässt, indem man es sagt. Aber die Frage ist, ob subjektive Kommunikation ein besserer linguistischer Begriff ist als ideale Information. Oswald Ducrot hat die Gründe entwickelt, die ihn dazu führen, das Schema Benvenistes umzukehren: Nicht das Phänomen der Sui-Referenz kann das Performativ erklären, sondern umgekehrt, es ist «die Tatsache, dass bestimmte Äußerungen sozial dem Vollzug bestimmter Handlungen geweiht sind», diese Tatsache erklärt die Sui-Referenz. So erklärt sich das Performativ selbst durch das Illokutionäre und nicht umgekehrt. Das Illokutionäre konstituiert die impliziten oder nichtdiskursiven Präsuppositionen. Und das Illokutionäre erklärt sich seinerseits durch kollektive Gefüge der Äußerung, durch Rechtsakte, Äquivalente von Rechtsakten, die die Prozesse der Subjektivierung oder die Zuweisungen von Subjekten in der Sprache verteilen, weit davon entfernt, von ihnen abzuhängen. Kommunikation ist kein besserer Begriff als Information, Intersubjektivität taugt nicht besser als Signifikanz, um diese Gefüge «Äußerungen-Akte» zu erklären, die in jeder Sprache die Rolle und den Anteil der subjektiven Morpheme bemessen{66}. (Man wird sehen, dass die Analyse der indirekten Rede diesen Standpunkt bestätigt, da die Subjektivierungen darin nicht первär sind, sondern aus einem komplexen Gefüge hervorgehen.)
Wir nennen Parolewörter nicht eine besondere Kategorie expliziter Äußerungen (zum Beispiel im Imperativ), sondern das Verhältnis jedes Wortes oder jeder Äußerung zu impliziten Präsuppositionen, das heißt zu Sprechakten, die sich in der Äußerung vollziehen und sich nur in ihr vollziehen können. Parolewörter verweisen also nicht nur auf Befehle, sondern auf alle Akte, die durch eine «soziale Verpflichtung» an Äußerungen gebunden sind. Es gibt keine Äußerung, die diese Bindung nicht aufweist, direkt oder indirekt. Eine Frage, ein Versprechen sind Parolewörter. Sprache lässt sich nur durch die Gesamtheit der Parolewörter, impliziten Präsuppositionen oder Sprechakte definieren, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer Sprache im Gang sind.
Zwischen Äußerung und Akt ist das Verhältnis innerlich, immanent, aber es gibt keine Identität. Das Verhältnis ist vielmehr eines der Redundanz. Das Parolewort ist in sich selbst Redundanz von Akt und Äußerung. Zeitungen, Nachrichten verfahren durch Redundanz, insofern sie uns sagen, was man «zu» denken, zu behalten, zu erwarten usw. «hat». Sprache ist weder informativ noch kommunikativ, sie ist nicht Kommunikation von Information, sondern, was sehr verschieden ist, Übermittlung von Parolewörtern, sei es von einer Äußerung zu einer anderen, sei es innerhalb jeder Äußerung, insofern eine Äußerung einen Akt vollzieht und der Akt sich in der Äußerung vollzieht. Das allgemeinste Schema der Informatik setzt prinzipiell eine ideale maximale Information an und macht die Redundanz zu einer bloßen limitierenden Bedingung, die dieses theoretische Maximum verringert, um zu verhindern, dass es vom Rauschen überdeckt wird. Wir sagen im Gegenteil, dass das Erste die Redundanz des Paroleworts ist und dass Information nur die Minimalbedingung für die Übermittlung der Parolewörter ist (weshalb es keinen Grund gibt, Rauschen der Information entgegenzusetzen, sondern vielmehr alle Undiszipliniertheiten, die an der Sprache arbeiten, dem Parolewort als Disziplin oder «Grammatikalität»). Die Redundanz hat zwei Formen, Frequenz und Resonanz, die erste betrifft die Signifikanz der Information, die zweite (ICH = ICH) betrifft die Subjektivität der Kommunikation. Aber gerade das, was von diesem Standpunkt aus erscheint, ist die Unterordnung der Information und der Kommunikation, mehr noch der Signifikanz und der Subjektivierung, gegenüber der Redundanz. Es kommt vor, dass man Information und Kommunikation trennt; es kommt auch vor, dass man eine abstrakte Signifikanz aus der Information und eine abstrakte Subjektivierung aus der Kommunikation herausarbeitet. Aber nichts davon gibt uns eine primäre oder implizite Form der Sprache. Es gibt keine Signifikanz unabhängig von herrschenden Bedeutungen, keine Subjektivierung unabhängig von einer etablierten Ordnung der Unterwerfung. Beide hängen von der Natur und der Übermittlung der Parolewörter in einem gegebenen sozialen Feld ab.
Es gibt keine individuelle Äußerung, nicht einmal ein Subjekt der Äußerung. Dennoch gibt es relativ wenige Linguisten, die den notwendig sozialen Charakter der Äußerung analysiert haben{67}. Denn dieser Charakter genügt nicht für sich und läuft Gefahr, noch extrinsisch zu sein: also sagt man zu viel oder zu wenig. Der soziale Charakter der Äußerung ist nur dann intrinsisch begründet, wenn man zeigen kann, wie die Äußerung durch sich selbst auf kollektive Gefüge verweist. Dann sieht man sehr wohl, dass es eine Individuation der Äußerung und eine Subjektivierung der Äußerungshandlung nur insofern gibt, als das unpersönliche kollektive Gefüge es verlangt und bestimmt. Genau dies ist der exemplarische Wert der indirekten Rede, und vor allem der «freien» indirekten Rede: Es gibt keine scharfen distinktiven Konturen, es gibt nicht zuerst eine Einfügung verschieden individuierter Äußerungen, noch eine Verschachtelung verschiedener Äußerungssubjekte, sondern ein kollektives Gefüge, das als seine Konsequenz die relativen Prozesse der Subjektivierung, die Zuweisungen von Individualität und deren bewegliche Verteilungen in der Rede bestimmen wird. Nicht die Unterscheidung der Subjekte erklärt die indirekte Rede, sondern das Gefüge, wie es in dieser Rede frei erscheint, erklärt alle Stimmen, die in einer Stimme anwesend sind, die Ausbrüche junger Mädchen in einem Monolog Charlus’, die Sprachen in einer Sprache, die Parolewörter in einem Wort. Der amerikanische Mörder «Son of Sam» tötete unter dem Antrieb einer ahnenhaften Stimme, die jedoch selbst durch die Stimme eines Hundes ging. Der Begriff des kollektiven Gefüges der Äußerung wird zum wichtigsten, da er den sozialen Charakter erklären muss. Nun können wir das kollektive Gefüge wohl durch den redundanten Komplex von Akt und der Äußerung definieren, die ihn notwendig vollzieht. Aber wir haben damit wiederum nur eine nominale Definition; und wir sind nicht einmal in der Lage, unsere vorige Position zu begründen, wonach sich die Redundanz nicht auf eine einfache Identität reduziert (oder wonach es keine einfache Identität von Äußerung und Akt gibt). Will man zu einer realen Definition des kollektiven Gefüges übergehen, so wird man fragen, worin die dem Sprachlichen immanenten Akte bestehen, die mit den Äußerungen redundant sind oder Parolewörter bilden.
Es scheint, dass diese Akte sich durch die Gesamtheit der unkörperlichen Transformationen definieren, die in einer gegebenen Gesellschaft in Umlauf sind und den Körpern dieser Gesellschaft zugeschrieben werden. Wir können dem Wort «Körper» den allgemeinsten Sinn geben (es gibt moralische Körper, Seelen sind Körper usw.); wir müssen jedoch die Handlungen und Leidenschaften unterscheiden, die diese Körper affizieren, und die Akte, die nur unkörperliche Attribute davon sind oder die «das Ausgedrückte» einer Äußerung sind. Wenn Ducrot fragt, worin ein Akt besteht, gelangt er genau auf das juristische Gefüge und gibt als Beispiel den Richterspruch, der einen Angeklagten in einen Verurteilten verwandelt. Denn was vorher geschieht, das Verbrechen, dessen man jemanden anklagt, und was nachher geschieht, die Vollstreckung der Strafe des Verurteilten, sind Handlungen-Leidenschaften, die Körper affizieren (Körper des Eigentums, Körper des Opfers, Körper des Verurteilten, Körper des Gefängnisses); aber die Verwandlung des Angeklagten in den Verurteilten ist ein reiner augenblicklicher Akt oder ein unkörperliches Attribut, das das Ausgedrückte des Richterspruchs ist{68}. Frieden und Krieg sind Zustände oder Mischungen sehr verschiedener Körper; aber der Erlass der Generalmobilmachung drückt eine unkörperliche und augenblickliche Transformation der Körper aus. Körper haben ein Alter, eine Reifung, ein Altern; aber das Majorat, der Ruhestand, eine solche Alterskategorie sind unkörperliche Transformationen, die den Körpern in dieser oder jener Gesellschaft unmittelbar zugeschrieben werden. «Du bist kein Kind mehr…»: Diese Äußerung betrifft eine unkörperliche Transformation, auch wenn sie von Körpern gesagt wird und sich in ihre Handlungen und Leidenschaften einfügt. Die unkörperliche Transformation erkennt man an ihrer Augenblicklichkeit, an ihrer Unmittelbarkeit, an der Gleichzeitigkeit der Äußerung, die sie ausdrückt, und der Wirkung, die sie hervorbringt; weshalb die Parolewörter streng datiert sind, Stunde, Minute und Sekunde, und gelten, sobald sie datiert sind. Die Liebe ist eine Mischung von Körpern, die durch ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz, durch eine Vereinigung der Seelen usw. dargestellt werden kann; aber die Erklärung «ich liebe dich» drückt ein unkörperliches Attribut der Körper aus, des Liebenden wie des Geliebten. Brot essen und Wein trinken sind Mischungen von Körpern; mit Christus kommunizieren ist ebenfalls eine Mischung zwischen eigentlich geistigen Körpern, nicht weniger «real». Aber die Verwandlung des Körpers von Brot und Wein in Leib und Blut Christi ist das reine Ausgedrückte einer Äußerung, das den Körpern zugeschrieben wird. Bei einer Flugzeugentführung ist die Drohung des Piraten, der einen Revolver schwenkt, offensichtlich eine Handlung; ebenso die Erschießung der Geiseln, falls sie stattfindet. Aber die Verwandlung der Passagiere in Geiseln und des Flugzeugkörpers in einen Gefängniskörper ist eine unkörperliche augenblickliche Transformation, ein mass-media act in dem Sinn, wie die Engländer von speech-act sprechen. Die Parolewörter oder die Äußerungsgefüge in einer gegebenen Gesellschaft, kurz: das Illokutionäre, bezeichnen dieses augenblickliche Verhältnis der Äußerungen zu den unkörperlichen Transformationen oder unkörperlichen Attributen, die sie ausdrücken.
Sehr merkwürdig ist diese Augenblicklichkeit des Paroleworts, die ins Unendliche projiziert, an den Ursprung der Gesellschaft gesetzt werden kann: so ist bei Rousseau der Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand wie ein Sprung auf der Stelle, eine unkörperliche Transformation, die im Null-Augenblick geschieht. Die reale Geschichte erzählt gewiss die Handlungen und Leidenschaften der Körper, die sich in einem sozialen Feld entwickeln, sie kommuniziert sie auf gewisse Weise; aber sie übermittelt auch die Parolewörter, das heißt die reinen Akte, die sich in diese Entwicklung einschalten. Die Geschichte wird die Daten nicht loswerden. Vielleicht ist es die Ökonomie oder die Finanzanalyse, die am besten die Anwesenheit und Augenblicklichkeit dieser entscheidenden Entscheidungsakte in einem Gesamtprozess zeigt (weshalb die Äußerungen gewiss nicht zur Ideologie gehören, sondern schon im vermeintlichen Bereich der Infrastruktur arbeiten). Die galoppierende Inflation in Deutschland nach 1918 ist ein Prozess, der den Geldkörper und viele andere Körper affiziert; aber die Gesamtheit der «Umstände» macht auf einmal eine semiotische Transformation möglich, die, theoretisch auf den Körper des Bodens und die materiellen Aktiva indexiert, dennoch ein reiner Akt oder eine unkörperliche Transformation ist — der 20. November 1923{69}…
Die Gefüge hören nicht auf zu variieren, selbst Transformationen unterworfen zu sein. Zunächst muss man die Umstände ins Spiel bringen: Benveniste zeigt sehr wohl, dass eine performative Äußerung außerhalb der Umstände, die sie dazu machen, nichts ist. Irgendeine:r kann schreien: «Ich dekretieren die Generalmobilmachung», das ist eine kindische oder wahnsinnige Handlung und kein Akt der Äußerung, wenn es nicht eine vollzogene Variable gibt, die das Recht zu äußern verleiht. Das gilt auch für «ich liebe dich», das weder Sinn noch Subjekt noch Adressat hat außerhalb der Umstände, die sich nicht damit begnügen, es glaubhaft zu machen, sondern daraus ein wirkliches Gefüge machen, einen Machtmarker, selbst im Fall einer unglücklichen Liebe (auch aus Wille zur Macht gehorcht man…). Nun darf der allgemeine Begriff der Umstände nicht glauben machen, es handele sich nur um äußere Umstände. «Ich schwöre es» ist nicht dasselbe, je nachdem, ob man es in der Familie, in der Schule, in einer Liebe, innerhalb einer Geheimgesellschaft, vor Gericht sagt: Es ist nicht dasselbe, aber es ist auch nicht dieselbe Äußerung; es ist nicht dieselbe Körpersituation, aber es ist auch nicht dieselbe unkörperliche Transformation. Die Transformation wird von den Körpern gesagt, aber sie selbst ist unkörperlich, der Äußerung immanent. Es gibt Ausdrucksvariablen, die die Sprache mit dem Außen in Beziehung setzen, gerade weil sie der Sprache immanent sind. Solange die Linguistik bei Konstanten stehen bleibt, phonologischen, morphologischen oder syntaktischen, bezieht sie die Äußerung auf ein Signifikant und die Äußerungshandlung auf ein Subjekt, verfehlt so das Gefüge, verweist die Umstände nach außen, verschließt die Sprache in sich und macht aus der Pragmatik ein Residuum. Im Gegenteil beruft sich die Pragmatik nicht einfach auf äußere Umstände: Sie arbeitet Ausdrucks- oder Äußerungsvariablen heraus, die für die Sprache ebenso viele innere Gründe sind, sich nicht in sich zu verschließen. Wie Bachtin sagt: Solange die Linguistik Konstanten herauszieht, bleibt sie unfähig, uns verständlich zu machen, wie ein Wort eine vollständige Äußerung bildet; es braucht ein «zusätzliches Element, das allen linguistischen Kategorien oder Bestimmungen unzugänglich bleibt», obwohl es der Theorie der Äußerung oder der Sprache durchaus innerlich ist{70}. Gerade das Parolewort ist die Variable, die aus dem Wort als solchem eine Äußerung macht. Die Augenblicklichkeit des Paroleworts, seine Unmittelbarkeit, verleiht ihm eine Variationsmacht im Verhältnis zu den Körpern, denen die Transformation zugeschrieben wird.
Die Pragmatik ist eine Politik der Sprache. Eine Studie wie die Jean-Pierre Fayes über die Konstitution der nationalsozialistischen Äußerungen im deutschen sozialen Feld ist diesbezüglich exemplarisch (und man kann sie nicht auf die Konstitution der faschistischen Äußerungen in Italien durchzeichnen). Solche transformationellen Forschungen betreffen die Variation der Parolewörter und der unkörperlichen Attribute, die sich auf die sozialen Körper beziehen und immanente Akte vollziehen. Man wird als Beispiel, unter anderen Bedingungen, ebenso gut die Herausbildung eines Typus eigentlich leninistischer Äußerungen im sowjetischen Russland heranziehen, ausgehend von Lenins Text mit dem Titel «Über die Parolewörter» (1917). Es war bereits eine unkörperliche Transformation, die aus den Massen eine proletarische Klasse als Äußerungsgefüge herausgelöst hatte, bevor die Bedingungen eines Proletariats als Körper gegeben waren. Genialer Streich der I. marxistischen Internationale, die einen neuen Klassentyp «erfindet»: Proletarier aller Länder, vereinigt euch{71}! Doch im Zuge des Bruchs mit den Sozialdemokrat:innen erfindet oder dekretiert Lenin noch eine andere unkörperliche Transformation, die aus der proletarischen Klasse eine Avantgarde als Äußerungsgefüge herauslöst und sich dem «Parteikörper» zuschreiben wird, einem neuen Parteitypus als distinctem Körper, selbst wenn sie dabei in ein eigentlich bürokratisches Redundanzsystem fällt. Leninistisches Wagnis, kühner Schlag? Lenin erklärt, dass das Parolewort «Alle Macht den Sowjets» nur vom 27. Februar bis zum 4. Juli für die friedliche Entwicklung der Revolution galt, aber nicht mehr für den Kriegszustand, wobei der Übergang vom einen zum anderen jene Transformation impliziert, die sich nicht damit begnügt, von den Massen zu einem führenden Proletariat zu gehen, sondern vom Proletariat zu einer führenden Avantgarde. Am 4. Juli genau: Schluss mit der Macht den Sowjets. Man kann alle äußeren Umstände zuweisen: nicht nur den Krieg, sondern den Aufstand, der Lenin zur Flucht nach Finnland zwingt. Es bleibt, dass am 4. Juli die unkörperliche Transformation ausgesprochen wird, bevor der Körper, dem sie zugeschrieben werden wird, die Partei selbst, organisiert ist. «Jedes Parolewort muss aus der Summe der Besonderheiten einer bestimmten politischen Situation abgeleitet werden.» Wenn man einwendet, diese Besonderheiten verwiesen gerade auf die Politik und nicht auf die Linguistik, muss man markieren, in welchem Maß die Politik die Sprache von innen her bearbeitet, indem sie nicht nur das Lexikon, sondern die Struktur und alle Satzelemente variieren lässt, während sich die Parolewörter ändern. Ein Äußerungstyp kann nur nach Maßgabe seiner pragmatischen Implikationen bewertet werden, das heißt seines Verhältnisses zu impliziten Präsuppositionen, zu immanenten Akten oder unkörperlichen Transformationen, die er ausdrückt und die neue Zuschnitte zwischen den Körpern einführen werden. Die wirkliche Intuition ist nicht das Urteil der Grammatikalität, sondern die Bewertung der inneren Variablen der Äußerung in Beziehung zum Ensemble der Umstände.
Wir sind von den expliziten Befehlen zu den Parolewörtern als impliziten Präsuppositionen gegangen; von den Parolewörtern zu den immanenten Akten oder unkörperlichen Transformationen, die sie ausdrücken; dann zu den Äußerungsgefügen, deren Variablen sie sind. Insofern diese Variablen zu einem bestimmten Zeitpunkt in bestimmbare Beziehungen eintreten, fügen sich die Gefüge zu einem Zeichenregime oder einer semiotischen Maschine zusammen. Aber es ist offensichtlich, dass eine Gesellschaft von mehreren Semiotiken durchzogen ist und tatsächlich gemischte Regime besitzt. Mehr noch: Zu einem anderen Zeitpunkt tauchen neue Parolewörter auf, die die Variablen variieren lassen und noch keinem bekannten Regime angehören. Daher ist das Parolewort auf mehrere Arten Redundanz; es ist nicht nur in Funktion einer Übermittlung, die ihm wesentlich ist, Redundanz, es ist es auch in sich selbst und schon bei seiner Aussendung, in seinem «unmittelbaren» Verhältnis zum Akt oder zur Transformation, die es vollzieht. Selbst das Parolewort im Bruch mit einer als gegeben betrachteten Semiotik ist schon Redundanz. Deshalb hat das kollektive Äußerungsgefüge keine anderen Äußerungen als die einer Rede, die immer indirekt ist. Die indirekte Rede ist die Anwesenheit einer berichteten Äußerung in der berichtenden Äußerung, die Anwesenheit des Paroleworts im Wort. Die ganze Sprache ist indirekte Rede. Weit davon entfernt, dass die indirekte Rede eine direkte Rede voraussetzt, ist es diese, die sich aus jener herauslöst, insofern die Operationen der Signifikanz und die Prozesse der Subjektivierung in einem Gefüge verteilt, zugeschrieben, zugewiesen werden oder die Variablen des Gefüges in konstante Beziehungen eintreten, so provisorisch sie auch seien. Die direkte Rede ist ein abgelöstes Massenfragment und entsteht aus der Zergliederung des kollektiven Gefüges; dieses aber ist immer wie das Gemurmel, aus dem ich meinen Eigennamen schöpfe, das Ensemble der übereinstimmenden oder nicht übereinstimmenden Stimmen, aus dem ich meine Stimme ziehe. Ich hänge immer von einem molekularen Äußerungsgefüge ab, das in meinem Bewusstsein nicht gegeben ist, ebenso wenig wie es nur von meinen scheinbaren sozialen Bestimmungen abhängt, und das viele heterogene Zeichenregime zusammenführt. Glossolalie. Schreiben heißt vielleicht, dieses Gefüge des Unbewussten ans Licht zu bringen, die flüsternden Stimmen auszuwählen, die Stämme und die geheimen Idiome herbeizurufen, aus denen ich etwas herauslöse, das ich Ich nenne. ICH ist ein Parolewort. Ein Schizophrener erklärt: «Ich habe Stimmen sagen hören: Er ist sich des Lebens bewusst{72}.» Es gibt in diesem Sinn sehr wohl ein schizophrenes Cogito, aber eines, das aus dem Selbstbewusstsein die unkörperliche Transformation eines Paroleworts oder das Ergebnis einer indirekten Rede macht. Meine direkte Rede ist noch die freie indirekte Rede, die mich von einem Ende zum anderen durchquert und aus anderen Welten oder anderen Planeten kommt. Daher die Versuchung so vieler Künstler:innen und Schriftsteller:innen durch die Tischrückerei. Wenn man also fragt, welches Vermögen dem Parolewort eigen ist, muss man ihm tatsächlich seltsame Züge zuerkennen: eine Art Augenblicklichkeit in der Aussendung, Wahrnehmung und Übermittlung der Parolewörter; eine große Variabilität und eine Macht des Vergessens, die bewirkt, dass man sich unschuldig fühlt an den Parolewörtern, denen man gefolgt ist, die man dann verlassen hat, um andere aufzunehmen; eine eigentlich ideelle oder gespenstische Fähigkeit in der Erfassung der unkörperlichen Transformationen; eine Eignung, die Sprache unter der Gestalt einer ungeheuren indirekten Rede zu erfassen{73}. Vermögen des Einflüsterers und des Eingeflüsterten, Vermögen des Lieds, das immer eine Melodie in eine Melodie in ein Redundanzverhältnis setzt, wahrhaftig ein mediumistisches Vermögen, glossolalisch oder xenoglossisch.
Kehren wir zur Frage zurück: Wodurch ist so eine Sprachfunktion, eine dem Sprachlichen koextensive Funktion, definiert? Es ist offensichtlich, dass Parolewörter, kollektive Gefüge oder Zeichenregime nicht mit der Sprache zusammenfallen. Aber sie vollziehen deren Bedingung (Überlinearität des Ausdrucks); sie erfüllen jedes Mal die Bedingung, so dass die Sprache ohne sie reine Virtualität bliebe (überlinearer Charakter der indirekten Rede). Und zweifellos variieren die Gefüge, transformieren sie sich. Aber sie variieren nicht notwendig nach jeder Sprache, sie entsprechen nicht den verschiedenen Sprachen. Eine Sprache scheint sich durch die phonologischen, semantischen, syntaktischen Konstanten zu definieren, die in ihre Äußerungen eingehen; das kollektive Gefüge dagegen betrifft den Gebrauch dieser Konstanten in Funktion von Variablen, die der Äußerung selbst innerlich sind (die Ausdrucksvariablen, die immanenten Akte oder unkörperlichen Transformationen). Verschiedene Konstanten aus verschiedenen Sprachen können denselben Gebrauch haben; und dieselben Konstanten in einer gegebenen Sprache können verschiedene Gebräuche haben, sei es nacheinander, sei es sogar gleichzeitig. Man kann sich nicht an eine Dualität halten zwischen Konstanten als linguistischen Faktoren, explizit oder explizierbar, und Variablen als extrinsischen, nichtlinguistischen Faktoren. Denn die pragmatischen Gebrauchsvariablen sind der Äußerung innerlich und bilden die impliziten Präsuppositionen der Sprache. Wenn also das kollektive Gefüge jedes Mal der betrachteten Sprache und dem Sprachlichen selbst koextensiv ist, dann weil es das Ensemble der unkörperlichen Transformationen ausdrückt, die die Bedingung der Sprache vollziehen und die Elemente der Sprache benutzen. Die so definierte Sprachfunktion ist weder informativ noch kommunikativ; sie verweist weder auf eine signifikante Information noch auf eine intersubjektive Kommunikation. Und es würde nichts nützen, eine Signifikanz außerhalb der Information oder eine Subjektivität außerhalb der Kommunikation zu abstrahieren. Denn es sind der Prozess der Subjektivierung und die Bewegung der Signifikanz, die auf Zeichenregime oder kollektive Gefüge verweisen. Die Sprachfunktion ist Übermittlung von Parolewörtern, und die Parolewörter verweisen auf die Gefüge, wie die Gefüge auf die unkörperlichen Transformationen verweisen, die die Variablen der Funktion bilden. Die Linguistik ist nichts außerhalb der Pragmatik (semiotisch oder politisch), die die Vollziehung der Bedingung der Sprache und den Gebrauch der Elemente der Sprache definiert.
II. ES GÄBE EINE ABSTRAKTE MASCHINE DER SPRACHE, DIE AUF KEINEN «EXTRINSISCHEN» FAKTOR ZURÜCKGRIFFE.
Wenn man in einem sozialen Feld die Gesamtheit der körperlichen Modifikationen und die Gesamtheit der unkörperlichen Transformationen unterscheidet, trotz der Vielfalt jeder einzelnen, steht man vor zwei Formalisierungen, einer des Inhalts, einer des Ausdrucks. Denn der Inhalt steht nicht der Form entgegen, er hat seine eigene Formalisierung: den Pol Hand-Werkzeug oder die Sachkunde. Er steht aber dem Ausdruck entgegen, insofern auch dieser seine eigene Formalisierung hat: den Pol Gesicht-Sprache, den Zeichenunterricht. Gerade weil der Inhalt seine Form nicht weniger hat als der Ausdruck, kann man der Ausdrucksform niemals die bloße Funktion zuweisen, einen entsprechenden Inhalt zu repräsentieren, zu beschreiben oder festzustellen: Es gibt weder Entsprechung noch Übereinstimmung. Die beiden Formalisierungen sind nicht von derselben Natur und sind unabhängig, heterogen. Es waren die Stoiker als erste, die die Theorie dieser Unabhängigkeit gemacht haben: Sie unterscheiden die Handlungen und Leidenschaften der Körper (wobei sie dem Wort «Körper» die größte Ausdehnung geben, das heißt jeden geformten Inhalt) und die unkörperlichen Akte (die das «Ausgedrückte» der Äußerungen sind). Die Ausdrucksform wird durch die Verkettung der Ausgedrückten konstituiert sein, wie die Inhaltsform durch das Geflecht der Körper. Wenn das Messer ins Fleisch eindringt, wenn die Nahrung oder das Gift sich im Körper ausbreitet, wenn der Tropfen Wein ins Wasser gegossen wird, gibt es eine Mischung von Körpern; aber die Äußerungen «das Messer schneidet das Fleisch», «ich esse», «das Wasser rötet sich» drücken unkörperliche Transformationen ganz anderer Natur aus (Ereignisse{74}). Genialität der Stoiker, dieses Paradox bis zum Äußersten getrieben zu haben, bis zum Wahnsinn und bis zum Zynismus, und es auf die ernsthaftesten Gründe gegründet zu haben: der Lohn ist, dass sie die ersten waren, die eine Philosophie der Sprache gemacht haben.
Das Paradox gilt nichts, wenn man nicht mit den Stoikern hinzufügt: Die unkörperlichen Transformationen, die unkörperlichen Attribute, werden von den Körpern selbst gesagt und nur von ihnen. Sie sind das Ausgedrückte der Äußerungen, aber sie werden den Körpern zugeschrieben. Nun geschieht das nicht, um die Körper zu beschreiben oder zu repräsentieren; denn diese haben bereits ihre eigenen Qualitäten, ihre Handlungen und ihre Leidenschaften, ihre Seelen, kurz ihre Formen, die selbst Körper sind — und auch die Repräsentationen sind Körper! Wenn die unkörperlichen Attribute von den Körpern gesagt werden, wenn es Grund gibt, das unkörperliche Ausgedrückte «erröten» und die körperliche Qualität «rot» usw. zu unterscheiden, dann also aus einem ganz anderen Grund als dem der Repräsentation. Man kann nicht einmal sagen, der Körper oder der Sachverhalt sei der «Referent» des Zeichens. Indem man das unkörperliche Attribut ausdrückt und damit zugleich dem Körper zuschreibt, repräsentiert man nicht, referiert man nicht, man interveniert gewissermaßen, und es ist ein Sprachakt. Die Unabhängigkeit der beiden Formen, Ausdruck und Inhalt, wird dadurch nicht widerlegt, sondern im Gegenteil bestätigt: dass die Ausdrücke oder die Ausgedrückten sich in die Inhalte einfügen, in die Inhalte eingreifen, nicht um sie zu repräsentieren, sondern um sie zu antizipieren, zurückzustufen, zu verlangsamen oder zu beschleunigen, abzulösen oder zusammenzuführen, anders zuzuschneiden. Die Kette der augenblicklichen Transformationen wird sich unablässig in das Gewebe der kontinuierlichen Modifikationen einfügen (daher der Sinn der Daten bei den Stoikern: Ab welchem Zeitpunkt kann man sagen, jemand sei kahl? und in welchem Sinn datiert eine Äußerung vom Typ «morgen wird es eine Seeschlacht geben» oder ist sie Parolewort?) Die Nacht des 4. August, der 4. Juli 1917, der 20. November 1923: Welche unkörperliche Transformation wird ausgedrückt, die dennoch den Körpern zugeschrieben wird und sich in sie einfügt? Die Unabhängigkeit der Ausdrucksform und der Inhaltsform begründet weder irgendeinen Parallelismus zwischen beiden noch irgendeine Repräsentation von der einen zur anderen, sondern im Gegenteil eine Zerstückelung beider, eine Weise, wie die Ausdrücke sich in die Inhalte einfügen, wie man unaufhörlich von einem Register ins andere springt, wie die Zeichen die Dinge selbst bearbeiten, während die Dinge sich durch die Zeichen hindurch ausdehnen oder entfalten. Ein Äußerungsgefüge spricht nicht «von» den Dingen, sondern spricht in die Sachverhalte oder die Inhaltszustände hinein. So wird ein und dasselbe x, ein und dieselbe Partikel, als handelnder und leidender Körper funktionieren oder als Zeichen, das einen Akt vollzieht, das ein Parolewort vollzieht, je nach der Form, in der es ergriffen ist (so im theoretisch-experimentellen Ensemble der Physik). Kurz: Die funktionale Unabhängigkeit der beiden Formen ist nur die Form ihrer wechselseitigen Präsupposition und des unaufhörlichen Übergangs von der einen zur anderen. Man steht niemals vor einer Verkettung von Parolewörtern und einer Kausalität von Inhalten, die jeweils für sich gelten, oder dass das eine das andere repräsentiert und das andere als Referent dient. Im Gegenteil ist die Unabhängigkeit der beiden Linien distributiv und bewirkt, dass ein Segment der einen unablässig ein Segment der anderen ablöst, in das andere hineinrutscht oder sich in das andere einführt. Man hört nicht auf, von den Parolewörtern zur «stummen Ordnung» der Dinge zu gehen, wie Foucault sagt, und umgekehrt.
Aber wenn wir dieses vage Wort «intervenieren» verwenden, wenn wir sagen, die Ausdrücke intervenierten oder fügten sich in die Inhalte ein, ist das nicht noch eine Art Idealismus, in dem das Parolewort vom Himmel kommt, augenblicklich? Man müsste nicht einen Ursprung bestimmen, sondern die Punkte der Intervention, der Einfügung, und dies im Rahmen der wechselseitigen Präsupposition zwischen den beiden Formen. Nun sind die Formen, des Inhalts wie des Ausdrucks, des Ausdrucks wie des Inhalts, nicht trennbar von einer Bewegung der Deterritorialisierung, die sie mitreißt. Ausdruck und Inhalt, jeder von beiden ist mehr oder weniger deterritorialisiert, relativ deterritorialisiert je nach einem solchen Zustand seiner Form. In dieser Hinsicht kann man keinen Primat des Ausdrucks über den Inhalt setzen oder umgekehrt. Es kommt vor, dass die semiotischen Komponenten stärker deterritorialisiert sind als die materiellen Komponenten, aber ebenso gut das Gegenteil. So kann etwa ein mathematischer Zeichenkomplex stärker deterritorialisiert sein als ein Partikelensemble; umgekehrt können die Partikel experimentelle Effekte haben, die das semiotische System deterritorialisieren. Eine kriminelle Handlung kann deterritorialisierend sein im Verhältnis zum bestehenden Zeichenregime (der Boden schreit nach Rache und entzieht sich, meine Schuld ist zu groß); aber das Zeichen, das den Verurteilungsakt ausdrückt, kann seinerseits deterritorialisierend sein im Verhältnis zu allen Handlungen und Reaktionen («du wirst Flüchtiger und Umherirrender auf der Erde sein», man wird dich nicht einmal töten können). Kurz, es gibt Grade der Deterritorialisierung, die die jeweiligen Formen quantifizieren, und nach denen Inhalte und Ausdrücke sich konjugieren, einander ablösen, einander beschleunigen, oder sich im Gegenteil stabilisieren, indem sie eine Reterritorialisierung vollziehen. Was wir Umstände oder Variablen nennen, sind diese Grade selbst. Es gibt Inhaltsvariablen, die Proportionen in den Mischungen oder Aggregaten von Körpern sind, und es gibt Ausdrucksvariablen, die innere Faktoren der Äußerung sind. In Deutschland, um den 20. November 1923: die deterritorialisierende Inflation des Geldkörpers, aber auch die semiotische Transformation der Reichsmark in die Rentenmark, die ablöst und eine Reterritorialisierung möglich macht. In Russland um den 4. Juli 1917: die Proportionen eines «Körper»-Zustands Sowjets-Provisorische Regierung, aber auch die Ausarbeitung einer unkörperlichen bolschewistischen Semiotik, die die Dinge beschleunigt und sich auf der anderen Seite durch die detonierende Aktion des Parteikörpers ablösen lassen wird. Kurz, nicht dadurch, dass er einen Inhalt entdeckt oder repräsentiert, tritt ein Ausdruck mit ihm in Beziehung. Durch Konjugation ihrer Quanten relativer Deterritorialisierung kommunizieren die Ausdrucks- und Inhaltsformen; die einen intervenieren in den anderen, die anderen gehen in den einen vor.
Man kann daraus allgemeine Schlüsse über die Natur der Gefüge ziehen. Nach einer ersten, horizontalen Achse umfasst ein Gefüge zwei Segmente, eines des Inhalts, das andere des Ausdrucks. Einerseits ist es ein maschinisches Gefüge von Körpern, Handlungen und Leidenschaften, eine Mischung von Körpern, die aufeinander reagieren; andererseits ein kollektives Gefüge der Äußerung, von Akten und Äußerungen, unkörperliche Transformationen, die den Körpern zugeschrieben werden. Aber nach einer gerichteten vertikalen Achse hat das Gefüge einerseits territoriale oder reterritorialisierte Seiten, die es stabilisieren, andererseits Spitzen der Deterritorialisierung, die es fortreißen. Niemand mehr als Kafka hat es vermocht, diese Achsen des Gefüges herauszuarbeiten und zusammen funktionieren zu lassen. Einerseits die Maschine-Schiff, die Maschine-Hotel, die Maschine-Zirkus, die Maschine-Schloss, die Maschine-Gericht: jede mit ihren Teilen, ihren Getrieben, ihren Prozessen, ihren ineinander verwickelten, ineinander gesteckten, ausgesteckten Körpern (vgl. den Kopf, der das Dach durchstößt). Andererseits das Zeichen- oder Äußerungsregime: jedes Regime mit seinen unkörperlichen Transformationen, seinen Akten, seinen Todesurteilen und seinen Verdikten, seinen Prozessen, seinem «Recht». Nun ist es offensichtlich, dass die Äußerungen die Maschinen nicht repräsentieren: Die Rede des Heizers beschreibt den Heizraum nicht als Körper, sie hat ihre eigene Form und ihre Entwicklung ohne Ähnlichkeit. Und doch wird sie dem Körper zugeschrieben, dem ganzen Schiff als Körper. Rede der Unterwerfung unter die Parolewörter, der Diskussion, der Forderung, der Anklage und des Plädoyers. Das liegt daran, dass nach der zweiten Achse das, was sich von einem Aspekt zum anderen vergleichen oder kombinieren lässt, was ständig das eine ins andere setzt, die konjugierten oder abgelösten Grade der Deterritorialisierung sind und die Operationen der Reterritorialisierung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt das Ganze stabilisieren. K, die Funktion-K, bezeichnet die Fluchtlinie oder Deterritorialisierungslinie, die alle Gefüge mitreißt, die aber auch durch alle Reterritorialisierungen und Redundanzen hindurchgeht, Redundanzen der Kindheit, des Dorfes, der Liebe, der Bürokratie…, usw.
Tetravalenz des Gefüges. Ein Beispiel: das feudale Gefüge. Man wird die Mischungen von Körpern betrachten, die den Feudalismus definieren: den Körper der Erde und den sozialen Körper, die Körper des Lehnsherrn, des Vasallen und des Leibeigenen, den Körper des Ritters und den des Pferdes, das neue Verhältnis, in das sie mit dem Steigbügel eintreten, die Waffen und die Werkzeuge, die die Symbiosen der Körper sichern — das ist ein ganzes maschinisches Gefüge. Aber auch die Äußerungen, die Ausdrücke, das juristische Regime der Wappen, die Gesamtheit der unkörperlichen Transformationen, insbesondere die Eide mit ihren Variablen, der Gehorsamseid, aber auch der Liebeseid usw.: das ist das kollektive Gefüge der Äußerung. Und nach der anderen Achse die feudalen Territorialitäten und Reterritorialisierungen, zugleich mit der Deterritorialisierungslinie, die den Ritter und sein Reittier, die Äußerungen und die Akte fortreißt. Wie all dies sich in den Kreuzzügen kombiniert.
Der Fehler wäre also zu glauben, der Inhalt bestimme den Ausdruck durch kausale Wirkung, selbst wenn man dem Ausdruck die Macht zugestehen würde, den Inhalt nicht nur zu «reflektieren», sondern aktiv auf ihn zurückzuwirken. Eine solche ideologische Konzeption der Äußerung, die sie von einem первären ökonomischen Inhalt abhängig macht, stößt auf allerlei der Dialektik inhärente Schwierigkeiten. Zunächst: Wenn man allenfalls eine kausale Wirkung vom Inhalt auf den Ausdruck denken kann, gilt das nicht in gleicher Weise für die jeweiligen Formen, die Inhaltsform und die Ausdrucksform. Man muss dieser letzteren durchaus eine Unabhängigkeit zuerkennen, die gerade den Ausdrücken erlauben wird, auf die Inhalte zu reagieren. Aber diese Unabhängigkeit ist schlecht gedacht. Wenn die Inhalte ökonomisch genannt werden, kann es die Inhaltsform nicht sein und wird auf eine reine Abstraktion reduziert, nämlich die Produktion von Gütern und die Mittel dieser Produktion, für sich betrachtet. Ebenso, wenn die Ausdrücke ideologisch genannt werden, ist es die Ausdrucksform nicht und wird auf die Sprache als Abstraktion reduziert, als Verfügung über ein Gemeingut. Von da an behauptet man, die Inhalte und die Ausdrücke durch all die Kämpfe und Konflikte zu charakterisieren, die sie in zwei verschiedenen Formen durchziehen, aber diese Formen selbst sind ihrerseits frei von jedem Kampf und jedem Konflikt, und ihr Verhältnis bleibt völlig unbestimmt{75}. Man könnte es nur bestimmen, indem man die Ideologietheorie umarbeitet und die Ausdrücke und Äußerungen schon in die Produktivität eingreifen lässt, in Form einer Sinnproduktion oder eines Zeichenwerts. Die Kategorie der Produktion hat hier zweifellos den Vorteil, mit den Schemata der Repräsentation, Information und Kommunikation zu brechen. Aber ist sie adäquater als diese Schemata? Ihre Anwendung auf die Sprache ist sehr ambivalent, insofern man sich auf ein konstantes dialektisches Wunder beruft, das Materie in Sinn, Inhalt in Ausdruck, sozialen Prozess in signifikantes System verwandelt.
Unter seinem materiellen oder maschinischen Aspekt scheint uns ein Gefüge nicht auf eine Güterproduktion zu verweisen, sondern auf einen präzisen Zustand der Mischung von Körpern in einer Gesellschaft, der alle Anziehungen und Abstoßungen, die Sympathien und Antipathien, die Veränderungen, die Legierungen, die Durchdringungen und Ausdehnungen umfasst, die die Körper aller Art im Verhältnis zueinander affizieren. Ein Ernährungsregime, ein Sexualregime regeln прежде allem obligatorische, notwendige oder erlaubte Mischungen von Körpern. Selbst die Technologie irrt, wenn sie die Werkzeuge für sich betrachtet: Diese existieren nur in Bezug auf die Mischungen, die sie ermöglichen oder die sie möglich machen. Der Steigbügel bringt eine neue Symbiose Mensch-Pferd mit sich, die zugleich neue Waffen und neue Instrumente mit sich bringt. Die Werkzeuge sind nicht trennbar von den Symbiosen oder Legierungen, die ein maschinisches Natur-Gesellschaft-Gefüge definieren. Sie setzen eine soziale Maschine voraus, die sie auswählt und in ihr «Phylum» aufnimmt: Eine Gesellschaft definiert sich durch ihre Legierungen und nicht durch ihre Werkzeuge. Und ebenso verweist das Gefüge unter seinem kollektiven oder semiotischen Aspekt nicht auf eine sprachliche Produktivität, sondern auf Zeichenregime, auf eine Ausdrucksmaschine, deren Variablen den Gebrauch der Elemente der Sprache bestimmen. So wenig wie die Werkzeuge gelten diese Elemente aus sich selbst heraus. Es gibt einen Primat eines maschinischen Gefüges der Körper gegenüber den Werkzeugen und Gütern, einen Primat eines kollektiven Gefüges der Äußerung gegenüber der Sprache und den Wörtern. Und die Artikulation der beiden Aspekte des Gefüges vollzieht sich durch die Bewegungen der Deterritorialisierung, die ihre Formen quantifizieren. Darum definiert sich ein soziales Feld weniger durch seine Konflikte und Widersprüche als durch die Fluchtlinien, die es durchziehen. Ein Gefüge umfasst weder Infrastruktur und Überbau noch Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur, sondern nivelliert alle seine Dimensionen auf einer und derselben Konsistenzebene, auf der die wechselseitigen Präsuppositionen und die gegenseitigen Einfügungen spielen.
Der andere Fehler (der sich bei Bedarf mit dem ersten verbindet) wäre, an die Genügsamkeit der Ausdrucksform als linguistisches System zu glauben. Dieses System kann als signifikante phonologische Struktur oder als tiefe syntaktische Struktur aufgefasst werden. Es hätte in jedem Fall die Tugend, die Semantik zu erzeugen und so den Ausdruck zu füllen, während die Inhalte der Willkür einer bloßen «Referenz» ausgeliefert wären und die Pragmatik der Äußerlichkeit nichtlinguistischer Faktoren. Allen diesen Unternehmungen gemeinsam ist, eine abstrakte Maschine der Sprache zu errichten, aber diese Maschine als synchrones Ensemble von Konstanten zu konstituieren. Nun wird man nicht einwenden, die so konzipierte Maschine sei zu abstrakt. Im Gegenteil: Sie ist nicht abstrakt genug, sie bleibt «linear». Sie bleibt auf einem mittleren Abstraktionsniveau stehen, das es ihr einerseits erlaubt, die linguistischen Faktoren für sich zu betrachten, unabhängig von den nichtlinguistischen Faktoren; und andererseits, diese linguistischen Faktoren als Konstanten zu betrachten. Treibt man aber die Abstraktion weiter, gelangt man notwendigerweise zu einem Niveau, auf dem die Pseudokonstanten der Sprache Ausdrucksvariablen Platz machen, die der Äußerung selbst innerlich sind; von da an sind diese Ausdrucksvariablen nicht mehr trennbar von den Inhaltsvariablen in fortwährender Interaktion. Wenn die äußere Pragmatik nichtlinguistischer Faktoren berücksichtigt werden muss, dann потому, weil die Linguistik selbst nicht von einer inneren Pragmatik zu trennen ist, die ihre eigenen Faktoren betrifft. Es genügt nicht, das Signifikat oder даже den Referenten zu berücksichtigen, da die Begriffe der Bedeutung und der Referenz selbst noch eine Ausdrucksstruktur betreffen, die man als autonom und konstant voraussetzt. Es nützt nichts, eine Semantik zu konstruieren oder gar bestimmte Rechte der Pragmatik anzuerkennen, wenn man sie noch durch eine syntaktische oder phonologische Maschine hindurchgehen lässt, die sie предварительно zu behandeln hat. Denn eine wirkliche abstrakte Maschine bezieht sich auf das Ensemble eines Gefüges: Sie definiert sich als das Diagramm dieses Gefüges. Sie ist nicht sprachlich, sondern diagrammatisch und überlinear. Der Inhalt ist kein Signifikat und der Ausdruck kein Signifikant, vielmehr sind beide die Variablen des Gefüges. Man hat also nichts getan, solange man die pragmatischen, aber auch die semantischen, syntaktischen und phonologischen Bestimmungen nicht direkt auf die Äußerungsgefüge bezogen hat, von denen sie abhängen. Chomskys abstrakte Maschine bleibt an ein baumartiges Modell und an die lineare Ordnung der linguistischen Elemente in den Sätzen und ihre Kombinatorik gebunden. Doch sobald man die pragmatischen Werte oder inneren Variablen berücksichtigt, insbesondere in Funktion der indirekten Rede, ist man gezwungen, «Hypersätze» einzuführen oder «abstrakte Objekte» (unkörperliche Transformationen) zu konstruieren, die eine Überlinearität implizieren, das heißt eine Ebene, deren Elemente keine feste lineare Ordnung mehr haben: Rhizom-Modell{76}. Von diesem Standpunkt aus liegt die Durchdringung der Sprache mit dem sozialen Feld und den politischen Problemen im Innersten der abstrakten Maschine und nicht an der Oberfläche. Die abstrakte Maschine, sofern sie sich auf das Diagramm des Gefüges bezieht, ist niemals reine Sprache, außer bei mangelnder Abstraktion. Die Sprache hängt von der abstrakten Maschine ab und nicht umgekehrt. Allenfalls kann man in ihr zwei Diagrammzustände unterscheiden: einen, in dem die Inhalts- und Ausdrucksvariablen sich nach ihrer heterogenen Form in wechselseitiger Präsupposition auf einer Konsistenzebene verteilen, einen anderen, in dem man sie nicht einmal mehr unterscheiden kann, weil die Variabilität derselben Ebene die Dualität der Formen gerade fortgerissen und sie «ununterscheidbar» gemacht hat. (Der erste Zustand würde auf noch relative Deterritorialisierungsbewegungen verweisen, während der zweite eine absolute Schwelle der Deterritorialisierung erreicht hätte.)
III. ES GÄBE KONSTANTEN ODER UNIVERSALIEN DER SPRACHE, DIE ERLAUBTEN, SIE ALS HOMOGENES SYSTEM ZU DEFINIEREN.
Die Frage der strukturellen Invarianten — und schon die Idee der Struktur ist von solchen Invarianten, atomaren oder relationalen, nicht zu trennen — ist für die Linguistik wesentlich. Es ist die Bedingung, unter der die Linguistik für sich eine reine Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann, nichts als Wissenschaft…, im Schutz vor jedem angeblich äußeren oder pragmatischen Faktor. Diese Frage der Invarianten nimmt mehrere eng verbundene Formen an: 1) die Konstanten einer Sprache (phonologische, durch Kommutativität; syntaktische, durch Transformativität; semantische, durch Generativität); 2) die Universalien der Sprache (durch Zerlegung des Phonems in distinktive Merkmale, der Syntax in Basiskonstituenten, der Bedeutung in minimale semantische Elemente); 3) die Bäume, die die Konstanten miteinander verbinden, mit binären Relationen über die Gesamtheit der Bäume (vgl. Chomskys baumartig-lineare Methode); 4) die Kompetenz, die dem Recht nach der Sprache koextensiv ist und durch Grammatikalitätsurteile definiert wird; 5) die Homogenität, die die Elemente und die Relationen ebenso betrifft wie die intuitiven Urteile; 6) die Synchronie, die ein «An-sich» und ein «Für-sich» der Sprache errichtet, indem sie unablässig vom objektiven System zum subjektiven Bewusstsein übergeht, das es dem Recht nach erfasst (das des Linguisten selbst).
Man kann mit all diesen Faktoren spielen, welche entfernen oder sogar hinzufügen. Sie halten dennoch alle zusammen, weil man auf der Ebene des einen das Wesentliche aller anderen wiederfindet. Zum Beispiel wird die Unterscheidung langue-parole durch Kompetenz-Performance wiederaufgenommen, aber auf der Ebene der Grammatikalität. Wenn man einwendet, die Unterscheidung von Kompetenz und Performance sei völlig relativ — eine sprachliche Kompetenz kann ökonomisch, religiös, politisch, ästhetisch… usw. sein; die schulische Kompetenz eines Lehrers kann nur eine Performance im Verhältnis zum Urteil des Inspektors oder zu ministeriellen Regeln sein —, antworten die Linguisten, sie seien bereit, die Kompetenzebenen zu vervielfachen und sogar pragmatische Werte in das System einzuführen. So schlägt Brekle vor, einen Faktor «idio-synkratischer performantieller Kompetenz» hinzuzufügen, verbunden mit einem ganzen Ensemble linguistischer, psychologischer oder soziologischer Faktoren. Aber wozu dient diese Einspritzung von Pragmatik, wenn die Pragmatik ihrerseits als etwas betrachtet wird, das eigene Konstanten oder Universalien hat? Und inwiefern wären Ausdrücke wie «ich», «versprechen», «wissen» universeller als «grüßen», «nennen» oder «verurteilen{77}»? Ebenso: Wenn man sich bemüht, die chomskyschen Bäume austreiben zu lassen und die lineare Ordnung zu brechen, hat man in Wahrheit nichts gewonnen, hat man kein Rhizom konstituiert, solange die pragmatischen Komponenten, die die Brüche markieren, ganz oben am Baum situiert sind oder bei der Ableitung verschwinden{78}. In Wahrheit betrifft das allgemeinste Problem die Natur der abstrakten Maschine: Es gibt keinen Grund, das Abstrakte an das Universelle oder Konstante zu binden und die Singularität der abstrakten Maschinen auszulöschen, sofern sie um Variablen und Variationen herum konstruiert sind.
Man versteht besser, worum es geht, wenn man auf die Diskussion zurückgreift, die Chomsky und Labov gegenüberstellt. Dass jede Sprache eine wesentlich heterogene, zusammengesetzte Realität ist, wissen und sagen Linguisten; aber das ist eine Tatsachenbemerkung. Chomsky verlangt nur, dass man aus diesem Ensemble ein homogenes oder Standard-System herausschneidet, als Bedingung der Abstraktion, der Idealisierung, die eine wissenschaftliche Untersuchung dem Recht nach möglich macht. Es geht also nicht darum, bei einem Standard-Englisch stehen zu bleiben; denn selbst wenn er Black English oder das Englisch der Ghettos untersucht, wird der Linguist gezwungen sein, ein Standard-System herauszuarbeiten, das die Konstanz und Homogenität des untersuchten Objekts garantiert (keine Wissenschaft könne anders verfahren, sagt man). Chomsky tut also so, als glaube er, Labov richte sich, wenn er sein Interesse an den variablen Zügen der Sprache bekundet, damit in einer faktischen Pragmatik ein, die der Linguistik äußerlich sei{79}. Labov hat jedoch eine andere Ambition. Wenn er Linien inhärenter Variation herausarbeitet, sieht er darin nicht einfach «freie Varianten», die die Aussprache, den Stil oder nicht pertinente Züge beträfen, außerhalb des Systems lägen und die Homogenität des Systems bestehen ließen; aber ebenso wenig eine faktische Mischung zweier Systeme, von denen jedes für sich homogen wäre, als ob der Sprecher vom einen zum anderen wechselte. Er weist die Alternative zurück, in der sich die Linguistik einrichten wollte: die Varianten unterschiedlichen Systemen zuzuschreiben oder sie diesseits der Struktur zurückzuverweisen. Die Variation selbst ist systematisch, in dem Sinn, in dem Musiker sagen: «Das Thema ist die Variation.» In der Variation sieht Labov eine Rechtskomponente, die jedes System von innen her affiziert und es durch seine eigene Macht ausfransen oder springen lässt, es daran hindert, sich in sich zu schließen, es prinzipiell zu homogenisieren. Und zweifellos sind die von Labov betrachteten Variationen von jeder Art, phonetisch, phonologisch, syntaktisch, semantisch, stilistisch. Es scheint uns schwer, Labov vorzuwerfen, er ignoriere die Unterscheidung von Recht und Faktum — oder von Linguistik und Stilistik oder von Synchronie und Diachronie oder von pertinenteren und nicht pertinenteren Zügen oder von Kompetenz und Performance oder von Grammatikalität der Sprache und Agrammatikalität der Rede. Wenn man Labovs Positionen zuspitzen will, würde man eher sagen, er verlange eine andere Verteilung von Faktum und Recht und vor allem eine andere Konzeption des Rechts selbst und der Abstraktion. Labov nimmt das Beispiel eines jungen Schwarzen, der in einer sehr kurzen Reihe von Sätzen achtzehnmal vom Black-English-System ins Standard-System und umgekehrt zu wechseln scheint. Aber gerade: Erweist sich nicht die abstrakte Unterscheidung der beiden Systeme als willkürlich, unzureichend, da die meisten Formen nur durch die Zufälle dieser oder jener Sequenz dem einen oder dem anderen System zugeordnet werden? Muss man dann nicht einräumen, dass jedes System in Variation ist und sich nicht durch seine Konstanten und Homogenität definiert, sondern im Gegenteil durch eine Variabilität, deren Merkmale darin bestehen, immanent, kontinuierlich und in einem sehr besonderen Modus geregelt zu sein (variable oder fakultative Regeln{80})?
Wie ist diese kontinuierliche Variation zu denken, die eine Sprache von innen her bearbeitet, selbst wenn man über die Grenzen hinausgehen muss, die Labov sich setzt, und über die Wissenschaftlichkeitsbedingungen hinaus, die die Linguistik anruft? An einem und demselben Tag wechselt ein Individuum ständig von einer Sprache zu einer anderen. Nacheinander wird es sprechen, wie «ein Vater es tun muss», dann wie ein Chef; zur Geliebten wird es eine verniedlichte Sprache sprechen; beim Einschlafen versinkt es in eine traumhafte Rede und kehrt plötzlich zu einer Berufssprache zurück, wenn das Telefon klingelt. Man wird einwenden, diese Variationen seien extrinsisch und es bleibe dennoch dieselbe Sprache. Aber das setzt schon voraus, was in Frage steht. Denn einerseits ist nicht sicher, dass es dieselbe Phonologie, dieselbe Syntax, dieselbe Semantik ist. Andererseits ist die ganze Frage, ob die als dieselbe vorausgesetzte Sprache durch Invarianten definiert ist oder im Gegenteil durch die Linie kontinuierlicher Variation, die sie durchzieht. Einige Linguisten haben angedeutet, dass der Sprachwandel sich weniger durch Bruch eines Systems vollzieht als durch graduelle Frequenzmodifikation, durch Koexistenz und Kontinuität verschiedener Gebräuche. Nehmen wir eine und dieselbe Äußerung: «Ich schwöre es!» Es ist nicht dieselbe Äußerung, je nachdem, ob sie von einem Kind vor seinem Vater, von einem Liebenden vor der Geliebten, von einem Zeugen vor Gericht gesagt wird. Es ist wie drei Sequenzen. (Oder die vier Amen, über sieben Sequenzen ausgebreitet, bei Messiaen). Auch hier haben wir keinen Grund zu sagen, die Variablen seien nur situativ und die Äußerung bleibe dem Recht nach konstant. Nicht nur gibt es so viele Äußerungen wie Vollzüge, sondern das Ensemble der Äußerungen ist in der Vollziehung einer von ihnen gegenwärtig, so dass die Variationslinie virtuell ist, das heißt real, ohne aktuell zu sein, dadurch zugleich kontinuierlich, wie groß auch die Sprünge der Äußerung sein mögen. In kontinuierliche Variation zu setzen heißt, die Äußerung durch alle Variablen hindurchgehen zu lassen, phonologische, syntaktische, semantische, prosodische, die sie im kürzesten Zeitmoment (im kleinsten Intervall) affizieren können. Das Kontinuum von Ich schwöre es! mit den entsprechenden Transformationen konstruieren. Das ist der Standpunkt der Pragmatik; aber die Pragmatik ist der Sprache innerlich, immanent geworden und umfasst die Variation beliebiger linguistischer Elemente. Beispiel: die Linie der drei Prozesse bei Kafka: der Prozess des Vaters in der Familie; der Verlobungsprozess im Hotel; der Gerichtsprozess. Man neigt immer dazu, eine «Reduktion» zu suchen: Man wird alles durch die Situation des Kindes seinem Vater gegenüber erklären oder durch die Situation des Mannes in Bezug auf die Kastration oder durch die Situation des Bürgers in Bezug auf das Gesetz. Aber dann begnügt man sich damit, eine Pseudo-Konstante des Inhalts herauszuarbeiten, was nicht besser ist, als eine Pseudo-Konstante des Ausdrucks zu extrahieren. Die Setzung in Variation muss uns diese Gefahren vermeiden lassen, da sie ein Kontinuum oder ein Medium konstruiert, das weder Anfang noch Ende hat. Man wird die kontinuierliche Variation nicht mit dem kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Charakter der Variablen selbst verwechseln: Parolewort, kontinuierliche Variation für eine diskontinuierliche Variable… Eine Variable kann auf einem Teil ihrer Strecke kontinuierlich sein, dann springen oder einen Satz machen, ohne dass ihre kontinuierliche Variation dadurch selbst affiziert wäre, indem sie eine fehlende Entwicklung als «alternative Kontinuität» aufzwingt, virtuell und dennoch real.
Eine Konstante, ein Invariant, definiert sich weniger durch seine Permanenz und Dauer als durch seine Funktion als Zentrum, wenn auch nur relativ. Im tonalen oder diatonischen System der Musik bestimmen die Gesetze der Resonanz und der Anziehung Zentren, die durch alle Modi hindurch gelten, mit Stabilität und Anziehungskraft ausgestattet. Diese Zentren sind also Organisatoren unterschiedener, unterscheidender Formen, klar etabliert während bestimmter Zeitabschnitte: zentriertes, kodifiziertes, lineares System baumartigen Typs. Es stimmt, dass der Moll-«Modus» kraft der Natur seiner Intervalle und der geringeren Stabilität seiner Akkorde der tonalen Musik einen flüchtigen, entwichenen, dezentrierten Charakter verleiht. So hat er die Ambiguität, Operationen unterworfen zu sein, die ihn am Dur-Modell oder -Maßstab ausrichten, und doch eine gewisse modale Macht geltend zu machen, die auf die Tonalität nicht reduzierbar ist, als ob die Musik auf Reisen ginge und alle Wiederkehrungen einsammelte, Gespenster des Orients, imaginäre Gegenden, Traditionen jeglichen Ortes. Aber mehr noch ist es die Temperatur, die temperierte Chromatik, die eine andere Ambiguität aufweist: die, die Wirkung des Zentrums auf die entferntesten Tonarten auszudehnen, aber auch die Zersetzung des Zentralprinzips vorzubereiten, an die Stelle zentrierter Formen die kontinuierliche Entwicklung einer Form zu setzen, die nicht aufhört, sich aufzulösen oder sich zu transformieren. Wenn die Entwicklung sich die Form unterordnet und sich über das Ganze erstreckt, wie bei Beethoven, beginnt die Variation sich zu befreien und identifiziert sich mit der Schöpfung. Dennoch muss man warten, bis der Chromatismus sich entfesselt, zu einem generalisierten Chromatismus wird, sich gegen die Temperierung wendet und nicht nur die Tonhöhen, sondern alle Klangkomponenten affiziert, Dauern, Intensitäten, Klangfarben, Einsätze. Dann kann man nicht mehr von einer Klangform sprechen, die eine Materie organisieren würde; man kann nicht einmal mehr von einer kontinuierlichen Entwicklung der Form sprechen. Es handelt sich vielmehr um ein sehr komplexes und sehr ausgearbeitetes Material, das nichtklangliche Kräfte hörbar machen wird. An die Stelle des Paares Materie-Form tritt die Kopplung Material-Kräfte. Der Synthesizer hat den alten «synthetischen Urteils a priori» ersetzt, aber dadurch ändern sich alle Funktionen. Indem die Musik alle Komponenten in kontinuierliche Variation versetzt, wird sie selbst zu einem überlinearen System, zu einem Rhizom statt zu einem Baum, und tritt in den Dienst eines virtuellen kosmischen Kontinuums, zu dem selbst die Löcher, die Stille, die Brüche, die Schnitte gehören. So ist das Wichtige gewiss nicht eine Pseudo-Zäsur zwischen dem tonalen System und einer atonalen Musik; diese hat im Gegenteil, indem sie mit dem tonalen System brach, nur die Temperierung bis zu ihren äußersten Konsequenzen vorangetrieben (kein Wiener jedoch hat es dabei belassen). Das Wesentliche ist beinahe die umgekehrte Bewegung: das Brodeln, das das tonale System selbst in einer weiten Periode des 19. und 20. Jahrhunderts affiziert, und das die Temperierung auflöst, den Chromatismus erweitert, dabei aber eine relative Tonalität bewahrt, neue Modalitäten neu erfindet, Dur und Moll in eine neue Legierung zieht und jedes Mal Bereiche kontinuierlicher Variation für diese oder jene Variable gewinnt. Dieses Brodeln tritt in den Vordergrund, macht sich für sich selbst hörbar und lässt durch sein so bearbeitetes molekulares Material die nichtklanglichen Kräfte des Kosmos hören, die die Musik immer bewegten — ein wenig Zeit im Zustand des Reinen, ein Körnchen absoluter Intensität… Tonal, modal, atonal wollen kaum noch etwas sagen. Es gibt nur die Musik, um die Kunst als Kosmos zu sein und die virtuellen Linien der unendlichen Variation zu ziehen.
Auch hier wendet man ein, die Musik sei keine Sprache, die Klangkomponenten seien keine relevanten Merkmale der Sprache, es gebe keine Entsprechung zwischen beiden. Aber wir rufen keine Entsprechung an, wir hören nicht auf zu verlangen, dass man offen lasse, was in Frage steht, und jede vorausgesetzte Unterscheidung verwerfe. Vor allem ist die Unterscheidung langue-parole gemacht, um allerlei Variablen außerhalb der Sprache zu stellen, die den Ausdruck oder die Äußerungshandlung bearbeiten. Jean-Jacques Rousseau schlug im Gegenteil ein Verhältnis Stimme-Musik vor, das nicht nur die Phonetik und die Prosodie, sondern die gesamte Linguistik in eine andere Richtung hätte treiben können. Die Stimme in der Musik hat nie aufgehört, eine privilegierte Experimentierachse zu sein, die zugleich mit Sprache und Klang spielt. Die Musik hat die Stimme und die Instrumente auf sehr verschiedene Weisen verbunden; aber solange die Stimme Gesang ist, hat sie vor allem die Aufgabe, den Klang zu «halten», sie erfüllt eine konstante Funktion, auf einen Ton umschrieben, während sie zugleich vom Instrument begleitet wird. Erst wenn sie auf die Klangfarbe bezogen wird, entdeckt sie einen Stimmumfang, der sie sich selbst heterogen macht und ihr eine Macht kontinuierlicher Variation gibt: Dann wird sie nicht mehr begleitet, sie wird tatsächlich «maschinisiert», sie gehört zu einer musikalischen Maschine, die die gesprochenen, gesungenen, geräuschten, instrumentalen und gegebenenfalls elektronischen Teile auf einer und derselben Klangebene in Verlängerung oder Überlagerung fortsetzt. Klangebene eines generalisierten «Glissando», die die Konstitution eines statistischen Raums impliziert, in dem jede Variable nicht einen Mittelwert hat, sondern eine Wahrscheinlichkeitsfrequenz, die sie mit den anderen Variablen in kontinuierliche Variation versetzt{81}. Visage von Berio oder Glossolalie von Dieter Schnebel wären diesbezüglich typische Beispiele. Und was Berio selbst auch dazu sagt, es geht weniger darum, ein Simulakrum der Sprache oder eine Metapher der Stimme mit Pseudo-Konstanten zu produzieren, als darum, diese neutrale, geheime Sprache ohne Konstanten zu erreichen, ganz in indirekter Rede, in der der Synthesizer und das Instrument ebenso sehr sprechen wie die Stimme und die Stimme ebenso sehr spielt wie das Instrument. Man wird nicht denken, die Musik wisse nicht mehr zu singen, in einer mechanisch oder atomar gewordenen Welt, sondern eher, dass ein ungeheurer Variationskoeffizient alle phatischen, aphatischen, linguistischen, poetischen, instrumentalen, musikalischen Teile ein und desselben klanglichen Gefüges affiziert und fortreißt, «ein einfacher Schrei, der alle Grade durchläuft» (Th. Mann). Die Verfahren der Variation der Stimme sind zahlreich, nicht nur im Sprechgesang, der nicht aufhört, die Tonhöhe zu verlassen, durch einen Fall oder durch einen Anstieg, sondern in den Techniken der Zirkularatmung oder auch in Resonanzzonen, in denen mehrere Stimmen aus demselben Mund zu kommen scheinen. Geheime Sprachen gewinnen hier große Bedeutung, in der Kunstmusik wie in der populären Musik. Ethnomusikolog:innen haben außergewöhnliche Fälle herausgearbeitet, zum Beispiel in Dahomey, wo bald ein erster diatonischer vokaler Teil einer chromatischen Abwärtsbewegung in geheimer Sprache Platz macht, die von einem Ton zum anderen kontinuierlich gleitet, ein klangliches Kontinuum in immer kleinere Intervalle moduliert, bis hin zu einem «parlando», in dem alle Intervalle verschwimmen — und bald ist es der diatonische Teil, der selbst nach den chromatischen Ebenen einer terrassierten Architektur transponiert wird, wobei der Gesang bisweilen vom parlando unterbrochen wird, einer einfachen Unterhaltung ohne definierte Tonhöhe{82}. Vielleicht ist es übrigens ein Merkmal geheimer Sprachen, Argots, Jargons, Berufssprachen, Kinderreimen, Händlerausrufen, weniger durch ihre lexikalischen Erfindungen oder ihre rhetorischen Figuren zu gelten als durch die Art, wie sie kontinuierliche Variationen an den gemeinsamen Elementen der Sprache vornehmen. Es sind chromatische Sprachen, nahe an einer musikalischen Notation. Eine geheime Sprache hat nicht nur eine versteckte Ziffer oder einen versteckten Code, der noch durch Konstante verfährt und ein Untersystem bildet; sie setzt das System der Variablen der öffentlichen Sprache in den Zustand der Variation.
Das ist es, was wir sagen möchten: ein generalisierter Chromatismus… Beliebige Elemente in kontinuierliche Variation zu setzen ist eine Operation, die vielleicht neue Unterscheidungen hervortreten lässt, aber keine als gesichert gelten lässt, keine im Voraus gibt. Im Gegenteil betrifft diese Operation prinzipiell zugleich Stimme, Rede, Sprache, Musik. Kein Grund, vorab und prinzipiell Unterscheidungen zu machen. Die Linguistik im Allgemeinen hat eine Art Dur-Modus noch nicht verlassen, eine Art diatonische Leiter, einen seltsamen Geschmack für Dominanten, Konstanten und Universalien. Währenddessen sind alle Sprachen in immanenter kontinuierlicher Variation: weder Synchronie noch Diachronie, sondern Asynchronie, Chromatismus als variabler und kontinuierlicher Zustand der Sprache. Für eine chromatische Linguistik, die dem Pragmatismus seine Intensitäten und Werte gibt.
Was man Stil nennt, was die natürlichste Sache der Welt sein kann, ist genau das Verfahren einer kontinuierlichen Variation. Unter allen von der Linguistik eingesetzten Dualismen gibt es wenige, die weniger begründet sind als der, der Linguistik und Stilistik trennt: Da ein Stil keine individuelle psychologische Schöpfung ist, sondern ein Äußerungsgefüge, wird man ihn nicht daran hindern können, eine Sprache in einer Sprache zu machen. Nehmen wir eine willkürliche Liste von Autor:innen, die wir lieben: wir nennen noch einmal Kafka, Beckett, Gherasim Luca, Jean-Luc Godard… Man bemerkt, dass sie mehr oder weniger in der Lage eines gewissen Bilingualismus sind: Kafka, ein tschechischer Jude, der auf Deutsch schreibt, Beckett, ein Ire, der zugleich auf Englisch und Französisch schreibt, Luca rumänischer Herkunft, Godard und sein Wille, Schweizer zu sein. Aber das ist nur ein Vorkommnis, eine Gelegenheit, und die Gelegenheit kann anderswo gefunden werden. Man bemerkt auch, dass viele von ihnen nicht nur Schriftsteller sind oder nicht zuerst Schriftsteller (Beckett und das Theater oder das Fernsehen, Godard und das Kino, das Fernsehen, Luca und seine audiovisuellen Maschinen): weil man, wenn man die linguistischen Elemente einer Behandlung kontinuierlicher Variation unterzieht, wenn man eine innere Pragmatik in die Sprache einführt, zwangsläufig dazu gebracht wird, auf dieselbe Weise nichtlinguistische Elemente zu behandeln, Gesten, Instrumente, als ob die beiden Aspekte der Pragmatik zusammenliefen, auf derselben Variationslinie, im selben Kontinuum. Mehr noch: Vielleicht kam die Idee zuerst von außen, die Sprache ist nur gefolgt, wie in den notwendig äußeren Quellen eines Stils. Aber das Wesentliche ist, dass jede:r dieser Autor:innen sein Variationsverfahren hat, seinen erweiterten Chromatismus, seine verrückte Produktion von Geschwindigkeiten und Intervallen. Das schöpferische Stottern von Gherasim Luca im Gedicht «Passionnément{83}». Ein anderes Stottern, das von Godard. Im Theater die Flüstern ohne definierte Tonhöhe von Bob Wilson, die auf- und absteigenden Variationen von Carmelo Bene. Stottern ist leicht, aber Stotterer der Sprache selbst zu sein ist eine andere Sache: das setzt alle linguistischen Elemente in Variation und sogar die nichtlinguistischen Elemente, die Ausdrucksvariablen und die Inhaltsvariablen. Neue Form der Redundanz. UND… UND… UND… Es hat im Sprachlichen immer einen Kampf gegeben zwischen dem Verb «sein» und der Konjunktion «und», zwischen ist und und. Diese beiden Terme verstehen sich und kombinieren sich nur dem Anschein nach, weil der eine im Sprachlichen wie eine Konstante wirkt und die diatonische Leiter der Sprache bildet, während der andere alles in Variation setzt und die Linien eines generalisierten Chromatismus konstituiert. Vom einen zum anderen kippt alles. Mehr als wir waren jene, die auf Englisch oder Amerikanisch schreiben, sich dieses Kampfs und seines Einsatzes bewusst und der Valenz des «und{84}». Proust sagte: «die Meisterwerke sind in einer Art Fremdsprache geschrieben». Das ist dasselbe wie stottern, aber indem man Stotterer der Sprache ist und nicht bloß der Rede. Ein Fremder sein, aber in der eigenen Sprache, und nicht bloß so, wie jemand eine andere Sprache spricht als die seine. Bilingual, multilingual sein, aber in ein und derselben Sprache, ohne Dialekt oder Patois. Ein Bastard, ein Mischling sein, aber durch Reinigung der Rasse. Da macht der Stil Sprache. Da wird die Sprache intensiv, reines Kontinuum von Werten und Intensitäten. Da wird die ganze Sprache geheim, und hat doch nichts zu verbergen, statt ein geheimes Untersystem in die Sprache zu schneiden. Man erreicht dieses Ergebnis nur durch Nüchternheit, schöpferische Subtraktion. Die kontinuierliche Variation hat nur asketische Linien, ein wenig Gras und reines Wasser.
Man kann irgendeine linguistische Variable nehmen und sie auf einer notwendig virtuellen kontinuierlichen Linie zwischen zwei Zuständen dieser Variablen variieren lassen. Wir sind nicht mehr in der Situation von Linguisten, die warten, dass die Konstanten der Sprache eine Art Mutation erfahren oder die Wirkung von in der bloßen Rede akkumulierten Veränderungen erleiden. Die Linien des Wandels oder der Schöpfung gehören vollständig und direkt zur abstrakten Maschine. Hjelmslev bemerkte, dass eine Sprache notwendigerweise ungenutzte Möglichkeiten umfasst und dass die abstrakte Maschine diese Möglichkeiten oder Potentialitäten umfassen muss{85}. Gerade «potentiell», «virtuell» steht nicht im Gegensatz zu real; im Gegenteil, es ist die Realität des Schöpferischen, die Setzung in kontinuierliche Variation der Variablen, die sich nur der aktuellen Bestimmung ihrer konstanten Verhältnisse entgegenstellt. Jedes Mal, wenn wir eine Variationslinie ziehen, sind die Variablen dieser oder jener Natur, phonologisch, syntaktisch oder grammatisch, semantisch usw., aber die Linie selbst ist a-pertinent, asyntaktisch oder agrammatisch, asemantisch. Die Agrammatikalität ist zum Beispiel nicht mehr ein kontingenter Charakter der Rede, der der Grammatikalität der Sprache entgegengesetzt wäre; sie ist im Gegenteil der ideale Charakter der Linie, die die grammatischen Variablen in den Zustand kontinuierlicher Variation setzt. Nehmen wir eine Analyse von Nicolas Ruwet wieder auf, betreffend bestimmte singuläre Ausdrücke bei Cummings, he danced his did oder they went their came. Man kann die Variationen rekonstruieren, durch die die grammatischen Variablen virtuell hindurchgehen, um zu solchen agrammatischen Ausdrücken zu gelangen (he did his dance, he danced his danse, he danced what he did…, they went as they came, they went their way…{86}). Trotz Ruwets strukturaler Interpretation wird man vermeiden, zu glauben, der atypische Ausdruck werde durch die aufeinanderfolgenden korrekten Formen produziert. Vielmehr ist er es, der die Setzung in Variation der korrekten Formen produziert und sie ihrem Zustand als Konstanten entreißt. Der atypische Ausdruck bildet eine Spitze der Deterritorialisierung der Sprache; er spielt die Rolle eines Tensors, das heißt, er bewirkt, dass die Sprache gegen eine Grenze ihrer Elemente, Formen oder Begriffe tendiert, gegen ein Unterhalb oder ein Oberhalb der Sprache. Der Tensor bewirkt eine Art Transitivierung des Satzes und sorgt dafür, dass der letzte Term auf den vorhergehenden reagiert und die ganze Kette wieder hinaufsteigt. Er gewährleistet eine intensive und chromatische Behandlung der Sprache. Ein so einfacher Ausdruck wie UND… kann die Rolle eines Tensors durch das ganze Sprachliche hindurch spielen. In diesem Sinn ist UND weniger eine Konjunktion als der atypische Ausdruck aller möglichen Konjunktionen, die es in kontinuierliche Variation setzt. So lässt sich der Tensor weder auf eine Konstante noch auf eine Variable reduzieren, sondern gewährleistet die Variation der Variablen, indem er jedes Mal den Wert der Konstante subtrahiert (n — 1). Die Tensoren fallen mit keiner linguistischen Kategorie zusammen; sie sind dennoch pragmatische Werte, die für Äußerungsgefüge wie für indirekte Reden wesentlich sind{87}.
Man glaubt bisweilen, diese Variationen drückten nicht die gewöhnliche Arbeit der Schöpfung in der Sprache aus und blieben marginal, den Dichtern, Kindern und Verrückten vorbehalten. Das liegt daran, dass man die abstrakte Maschine durch Konstanten definieren will, die dann nur sekundär verändert werden können, durch kumulativen Effekt oder syntagmatische Mutation. Aber die abstrakte Maschine der Sprache ist nicht universell oder auch nur allgemein, sie ist singulär; sie ist nicht aktuell, sondern virtuell-real; sie hat keine obligatorischen oder invariablen Regeln, sondern fakultative Regeln, die unaufhörlich mit der Variation selbst variieren, wie in einem Spiel, in dem jeder Zug die Regel beträfe. Daher die Komplementarität der abstrakten Maschinen und der Äußerungsgefüge, die Anwesenheit der einen in den anderen. Denn die abstrakte Maschine ist wie das Diagramm eines Gefüges. Sie zieht die Linien der kontinuierlichen Variation, während das konkrete Gefüge mit den Variablen verfährt, ihre sehr unterschiedlichen Beziehungen in Funktion dieser Linien organisiert. Das Gefüge verhandelt die Variablen auf diesem oder jenem Variationsniveau, nach diesem oder jenem Grad der Deterritorialisierung, um jene zu bestimmen, die in konstante Beziehungen eintreten oder obligatorischen Regeln gehorchen werden, und jene im Gegenteil, die als fließende Materie der Variation dienen werden. Man wird daraus nicht schließen, dass das Gefüge der abstrakten Maschine nur einen gewissen Widerstand oder eine gewisse Trägheit entgegensetzt; denn selbst die «Konstanten» sind wesentlich für die Bestimmung der Virtualitäten, durch die die Variation hindurchgeht, sie sind selbst fakultativ gewählt. Auf einem gewissen Niveau gibt es durchaus Bremsung und Widerstand, aber auf einem anderen Niveau des Gefüges gibt es nur noch ein Hin und Her zwischen den verschiedenen Variablentypen und Durchgangskorridore, die in beide Richtungen durchlaufen werden: alle zusammen vollziehen die Variablen die Maschine nach Maßgabe der Gesamtheit ihrer Beziehungen. Es gibt also keinen Grund, eine kollektive und konstante Sprache und Sprechakte zu unterscheiden, variabel und individuell. Die abstrakte Maschine ist immer singulär, durch einen Eigennamen bezeichnet, eines Kollektivs oder eines Individuums, während das Äußerungsgefüge immer kollektiv ist, im Individuum wie in der Gruppe. Abstrakte Maschine-Lenin und kollektives Gefüge-bolschewistisch… Ebenso ist es in der Literatur, in der Musik. Kein Primat des Individuums, sondern Unauflöslichkeit eines singulären Abstrakten und eines kollektiven Konkreten. Die abstrakte Maschine existiert nicht unabhängiger vom Gefüge, als das Gefüge unabhängig von der Maschine funktioniert.
IV. MAN KÖNNTE DIE SPRACHE NUR UNTER DEN BEDINGUNGEN EINER MAJORITÄREN ODER STANDARDSPRACHE WISSENSCHAFTLICH STUDIEREN.
Da jede:r weiß, dass eine Sprache eine variable heterogene Realität ist, was bedeutet dann die Forderung der Linguisten, ein homogenes System herauszuschneiden, um die wissenschaftliche Untersuchung möglich zu machen? Es geht darum, aus den Variablen ein Ensemble von Konstanten zu extrahieren oder konstante Beziehungen zwischen den Variablen zu bestimmen (man sieht es schon in der Kommutativität der Phonologen). Aber das wissenschaftliche Modell, durch das die Sprache zum Untersuchungsobjekt wird, fällt zusammen mit einem politischen Modell, durch das die Sprache ihrerseits homogenisiert, zentralisiert, standardisiert wird, Machtsprache, majoritär oder dominant. Der Linguist mag sich auf die Wissenschaft berufen, nichts anderes als die reine Wissenschaft; es wäre nicht das erste Mal, dass die Ordnung der Wissenschaft die Anforderungen einer anderen Ordnung garantierte. Was ist die Grammatikalität und das Zeichen S, das kategoriale Symbol, das die Äußerungen dominiert? Es ist ein Machtmarker, bevor es ein syntaktischer Marker ist, und die chomskyschen Bäume stellen konstante Beziehungen zwischen Machtvariablen her. Grammatisch korrekte Sätze zu bilden ist für das normale Individuum die Voraussetzung jeder Unterwerfung unter die sozialen Gesetze. Niemand gilt als entschuldigt, die Grammatikalität nicht zu kennen; die, die sie nicht kennen, fallen unter besondere Institutionen. Die Einheit einer Sprache ist zuerst politisch. Es gibt keine Muttersprache, sondern Machtergreifung durch eine dominante Sprache, die bald auf breiter Front voranschreitet und bald gleichzeitig auf verschiedene Zentren niedergeht. Man kann sich mehrere Weisen denken, wie eine Sprache sich homogenisiert, sich zentralisiert: die republikanische Weise ist nicht unbedingt dieselbe wie die königliche und ist nicht die weniger harte{88}. Aber immer verdoppelt sich das wissenschaftliche Unternehmen, Konstanten und konstante Relationen herauszuarbeiten, durch das politische Unternehmen, sie denen aufzuzwingen, die sprechen, und Parolewörter zu übermitteln.
Speak white and loud
ja was für eine bewundernswerte Sprache
zum Anheuern
Befehle geben
die Stunde des Todes bei der Arbeit festsetzen
und die der Pause, die erfrischt…
Also: Muss man zwei Arten von Sprachen unterscheiden, «hohe» und «niedere», majoritäre und minoritäre? Die einen würden sich gerade durch die Macht der Konstanten definieren, die anderen durch die Macht der Variation. Wir wollen nicht einfach die Einheit einer majoritären Sprache einer Vielheit von Dialekten entgegensetzen. Vielmehr ist es jeder Dialekt, der von einer Zone des Übergangs und der Variation affiziert ist, oder besser: Es ist jede minoritäre Sprache, die von einer Zone eigens dialektaler Variation affiziert ist. Nach Malmberg findet man auf Dialektkarten selten scharfe Grenzen, sondern Grenz- und Übergangszonen, der Ununterscheidbarkeit. Man sagt auch, «die Québec-Sprache ist reich an so vielen Modulationen und Variationen regionaler Akzente und Spielen tonischer Akzente, dass es, ohne zu übertreiben, bisweilen scheint, sie wäre besser durch die musikalische Notation bewahrt als durch jedes Orthographiesystem{89}». Der Begriff Dialekt selbst ist sehr unsicher. Zudem ist er relativ, weil man wissen muss, in Bezug auf welche majoritäre Sprache er seine Funktion ausübt: So wird die Québec-Sprache nicht nur in Bezug auf ein Standardfranzösisch bewertet, sondern in Bezug auf das majoritäre Englisch, dem sie allerlei phonetische und syntaktische Elemente entlehnt, um sie variieren zu lassen. Die Bantudialekte werden nicht nur in Bezug auf eine Muttersprache bewertet, sondern in Bezug auf Afrikaans als majoritäre Sprache und auf Englisch als gegen-majoritäre Sprache, die von den Schwarzen bevorzugt wird{90}. Kurz: Nicht der Dialektbegriff erhellt den der minoritären Sprache, sondern umgekehrt; es ist die minoritäre Sprache, die Dialekte durch ihre eigenen Variationsmöglichkeiten definiert. Also: Muss man majoritäre und minoritäre Sprachen unterscheiden, sei es, indem man sich in die regionale Situation eines Bilingualismus oder Multilingualismus stellt, der mindestens eine dominante und eine dominierte Sprache umfasst, sei es, indem man eine weltweite Situation betrachtet, die bestimmten Sprachen eine imperialistische Macht gegenüber anderen gibt (so die Rolle des englisch-amerikanischen heute)?
Mindestens zwei Gründe hindern uns daran, diesen Standpunkt einzunehmen. Wie Chomsky bemerkt, entgeht ein Dialekt, eine Ghettosprache, eine minoritäre Sprache nicht den Bedingungen einer Behandlung, die daraus ein homogenes System herausarbeitet und Konstanten extrahiert: Black English hat sehr wohl eine eigene Grammatik, die sich nicht als Summe von Fehlern oder Verstößen gegen das Standardenglisch definiert, aber gerade diese Grammatik kann nur betrachtet werden, indem man auf sie dieselben Untersuchungsregeln anwendet wie auf die des Standardenglisch. In diesem Sinn scheinen die Begriffe majoritär und minoritär kein linguistisches Interesse zu haben. Das Französische verliert, indem es seine weltweite majoritäre Funktion verliert, nichts von seiner Konstanz und Homogenität, seiner Zentralisierung. Umgekehrt hat Afrikaans seine Homogenität gewonnen, als es eine lokal minoritäre Sprache im Kampf gegen Englisch war. Selbst und gerade politisch sieht man schlecht, wie die Vertreter:innen einer minoritären Sprache vorgehen können, außer indem sie ihr, sei es auch nur durch Schrift, die Konstanz und Homogenität geben, die aus ihr eine lokal majoritäre Sprache machen, die die offizielle Anerkennung erzwingen kann (daher die politische Rolle der Schriftsteller:innen, die die Rechte einer minoritären Sprache geltend machen). Aber das Gegenargument scheint noch stärker zu gelten: Je mehr eine Sprache die Merkmale einer majoritären Sprache hat oder erwirbt, desto mehr wird sie von kontinuierlichen Variationen bearbeitet, die sie ins «Minoritäre» transponieren. Es ist unerquicklich, den weltweiten Imperialismus einer Sprache zu kritisieren, indem man die Korruptionen anprangert, die sie in andere Sprachen einführt (zum Beispiel die Kritik der Puristen gegen den englischen Einfluss, die poujadistische oder akademische Denunziation des «Franglais»). Denn eine Sprache wie das Englische, das Amerikanische ist nicht weltmajoritär, ohne von allen Minderheiten der Welt bearbeitet zu werden, mit sehr verschiedenen Variationsverfahren. Die Art, wie Gälisch, Anglo-Irisch, das Englische variieren lässt. Die Art, wie Black English und so viele «Ghettos» das Amerikanische variieren lassen, bis zu dem Punkt, dass New York fast eine Stadt ohne Sprache ist. (Mehr noch: Das Amerikanische hat sich in seinen Unterschieden zum Englischen nicht konstituiert ohne diese linguistische Arbeit der Minderheiten.) Oder die sprachliche Situation im ehemaligen österreichischen Reich: Das Deutsche ist nicht majoritäre Sprache gegenüber den Minderheiten, ohne von ihnen her eine Behandlung zu erleiden, die es zu einer minoritären Sprache gegenüber dem Deutsch der Deutschen macht. Nun gibt es keine Sprache, die nicht ihre inneren, endogenen, intralinguistischen Minderheiten hätte. So kommt es, dass vom allgemeinsten Standpunkt der Linguistik aus die Position Chomskys und die Labovs nicht aufhören, ineinander überzugehen und sich zu konvertieren. Chomsky kann sagen, eine selbst minoritäre, dialektale oder Ghettosprache sei außerhalb der Bedingungen nicht untersuchbar, die Invarianten aus ihr herausarbeiten und die «extrinsischen oder gemischten» Variablen eliminieren; aber Labov kann antworten, eine selbst majoritäre und standardisierte Sprache sei nicht untersuchbar unabhängig von den «inhärenten» Variationen, die gerade weder gemischt noch extrinsisch sind. Ihr werdet kein homogenes System erreichen, das nicht noch oder schon von einer immanenten, kontinuierlichen und geregelten Variation bearbeitet ist (warum stellt Chomsky sich, als verstünde er nicht?).
Es gibt also nicht zwei Arten von Sprachen, sondern zwei mögliche Behandlungen ein und derselben Sprache. Bald behandelt man die Variablen so, dass man daraus Konstanten und konstante Verhältnisse extrahiert, bald so, dass man sie in den Zustand kontinuierlicher Variation setzt. Wir hatten bisweilen Unrecht, so zu tun, als existierten die Konstanten neben den Variablen, linguistische Konstanten neben Äußerungsvariablen: Das war aus Darstellungsbequemlichkeit. Denn es ist offensichtlich, dass die Konstanten aus den Variablen selbst gezogen sind; die Universalien haben in der Linguistik nicht mehr ein An-sich als in der Ökonomie und werden immer aus einer Universalisierung oder Uniformierung geschlossen, die sich auf die Variablen richtet. Konstante steht nicht der Variable entgegen; es ist eine Behandlung der Variablen, die der anderen Behandlung entgegengesetzt ist, der der kontinuierlichen Variation. Die sogenannten obligatorischen Regeln entsprechen der ersten Behandlung, während die fakultativen Regeln die Konstruktion eines Variationskontinuums betreffen. Mehr noch: Eine Reihe von Kategorien oder Unterscheidungen kann nicht angeführt werden, sie sind weder anwendbar noch einwendbar, weil sie die erste Behandlung bereits voraussetzen und ganz der Suche nach Konstanten untergeordnet sind: so die Sprache, insofern man sie der Rede entgegensetzt; die Synchronie der Diachronie; die Kompetenz der Performance; die distinktiven Merkmale den nicht distinktiven (oder sekundär distinktiven) Merkmalen. Denn die nicht distinktiven, pragmatischen, stilistischen, prosodischen Merkmale sind nicht nur allgegenwärtige Variablen, die sich von der Anwesenheit oder Abwesenheit einer Konstante unterscheiden, überlineare und «suprasegmentale» Elemente, die sich von den linearen segmentalen Elementen unterscheiden: Ihre eigenen Charaktere geben ihnen die Macht, alle Elemente der Sprache in den Zustand kontinuierlicher Variation zu setzen — so die Wirkung des Tons auf die Phoneme, des Akzents auf die Morpheme, der Intonation auf die Syntax. Es sind also keine sekundären Merkmale, sondern eine andere Behandlung der Sprache, die nicht mehr durch vorherige Kategorien geht.
«Majoritär» und «minoritär» qualifizieren nicht zwei Sprachen, sondern zwei Gebrauchsweisen oder Funktionen der Sprache. Der Bilingualismus hat gewiss einen exemplarischen Wert, aber auch hier nur aus bloßer Bequemlichkeit. Ohne Zweifel ist im österreichischen Reich das Tschechische eine minoritäre Sprache gegenüber dem Deutschen; aber das Prager Deutsch funktioniert bereits als potenziell minoritäre Sprache gegenüber dem Deutsch Wiens oder Berlins; und Kafka, ein tschechischer Jude, der auf Deutsch schreibt: Er ist es, der dem Deutschen eine schöpferische Behandlung als minoritäre Sprache auferlegt, indem er ein Variationskontinuum konstruiert, alle Variablen verhandelt, um zugleich die Konstanten zu verengen und die Variationen zu erweitern: die Sprache stottern zu lassen oder sie «piepsen» zu lassen…, Tensoren durch die ganze Sprache zu spannen, selbst die geschriebene, und daraus Schreie, Ausrufe, Tonhöhen, Dauern, Klangfarben, Akzente, Intensitäten zu ziehen. Man hat oft zwei zusammengehörige Tendenzen der sogenannten minoritären Sprachen hervorgehoben: eine Verarmung, einen Verlust der Formen, syntaktischer oder lexikalischer; aber zugleich eine merkwürdige Proliferation wechselnder Effekte, ein Geschmack für Überladung und Paraphrase. Man kann das ebenso vom Prager Deutsch, vom Black English oder vom Québec-Französischen sagen. Aber außer seltenen Ausnahmen war die Interpretation der Linguisten eher böswillig und berief sich auf eine wesensgleiche Armut und Preziosität. Die angebliche Armut ist in Wahrheit eine Restriktion der Konstanten, wie die Überladung eine Erweiterung der Variationen ist, um ein Kontinuum zu entfalten, das alle Komponenten fortreißt. Diese Armut ist kein Mangel, sondern ein Leerraum oder eine Ellipse, die bewirken, dass man eine Konstante umgeht, ohne sich auf sie einzulassen, oder dass man sie von oben oder von unten her angeht, ohne sich dort niederzulassen. Und diese Überladung ist keine rhetorische Figur, keine Metapher oder symbolische Struktur; sie ist eine bewegliche Paraphrase, die von der unlokalisierten Anwesenheit einer indirekten Rede innerhalb jeder Äußerung zeugt. Auf beiden Seiten erlebt man eine Verweigerung der Markierungen, eine Auflösung der konstanten Form zugunsten der Dynamikunterschiede. Und je mehr eine Sprache in diesen Zustand gerät, desto näher ist sie nicht nur einer musikalischen Notation, sondern der Musik selbst{91}.
Subtrahieren und in Variation setzen, abziehen und in Variation setzen, das ist ein und dieselbe Operation. Es gibt nicht eine Armut und eine Überladung, die minoritäre Sprachen gegenüber einer majoritären oder Standardsprache charakterisieren würden; es gibt eine Nüchternheit und eine Variation, die wie eine minoritäre Behandlung der Standardsprache sind, ein Werden-minoritär der majoritären Sprache. Das Problem ist nicht das einer Unterscheidung zwischen majoritärer Sprache und minoritären Sprache, sondern das eines Werdens. Die Frage ist nicht, sich auf einen Dialekt oder ein Patois zu reterritorialisieren, sondern die majoritäre Sprache zu deterritorialisieren. Die Schwarze in Amerika setzen nicht Black dem English entgegen, sie machen mit dem Amerikanischen, das ihre eigene Sprache ist, ein Black English. Minoritäre Sprachen existieren nicht an sich: Da sie nur in Bezug auf eine majoritäre Sprache existieren, sind sie auch Investitionen dieser Sprache, damit sie selbst minoritär werde. Jede:r muss die minoritäre Sprache finden, Dialekt oder vielmehr Idiolekt, von dem aus er:sie die eigene majoritäre Sprache minoritär machen wird. Darin liegt die Kraft der Autor:innen, die man «minoritäre» nennt und die die größten sind, die einzigen großen: die eigene Sprache erobern zu müssen, das heißt zu jener Nüchternheit im Gebrauch der majoritären Sprache zu gelangen, um sie in den Zustand kontinuierlicher Variation zu setzen (das Gegenteil eines Regionalismus). In der eigenen Sprache ist man bilingual oder multilingual. Die majoritäre Sprache erobern, um darin noch unbekannte minoritäre Sprachen zu ziehen. Sich der minoritären Sprache bedienen, um die majoritäre Sprache ausfransen zu lassen. Der minoritäre Autor ist der Fremde in seiner eigenen Sprache. Wenn er Bastard ist, wenn er sich als Bastard erlebt, dann nicht durch Vermischung oder Mischung von Sprachen, sondern eher durch Subtraktion und Variation der eigenen, indem er darin Tensoren spannt.
Es ist ein sehr komplexer Begriff, der der Minderheit, mit seinen musikalischen, literarischen, linguistischen, aber auch juristischen, politischen Verweisen. Minderheit und Mehrheit stehen nicht nur in quantitativer Weise gegeneinander. Mehrheit impliziert eine Konstante, des Ausdrucks oder des Inhalts, wie ein Urmeter, nach dem sie bewertet wird. Nehmen wir an, die Konstante oder der Maßstab sei Weißer-Mann-männlich-erwachsen-Stadtbewohner-Standardsprachsprecher-europäisch-beliebig heterosexuell (der Ulysses von Joyce oder von Ezra Pound). Es ist очевидно, dass «der Mann» die Mehrheit hat, selbst wenn er weniger zahlreich ist als die Mücken, die Kinder, die Frauen, die Schwarzen, die Bauern, die Homosexuellen…, usw. Denn er erscheint zweimal, einmal in der Konstante, einmal in der Variablen, aus der die Konstante extrahiert wird. Die Mehrheit setzt einen Zustand von Macht und Dominanz voraus und nicht umgekehrt. Sie setzt das Urmeter voraus und nicht umgekehrt. Selbst der Marxismus «hat fast immer die Hegemonie des Standpunkts des nationalen, qualifizierten, männlichen Arbeiters von über fünfunddreißig Jahren übersetzt{92}». Eine andere Bestimmung als die Konstante wird also als minoritär gelten, ihrer Natur nach und unabhängig von ihrer Zahl, das heißt als Untersystem oder als außerhalb des Systems. Man sieht es gut in allen Operationen, Wahlen oder anderen, wo man euch wählen lässt, unter der Bedingung, dass eure Wahl innerhalb der Grenzen der Konstante bleibt («ihr habt nicht eine Änderung der Gesellschaft zu wählen…»). Aber an diesem Punkt kehrt sich alles um. Denn die Mehrheit, insofern sie analytisch im abstrakten Maßstab enthalten ist, ist niemals jemand, sie ist immer Niemand — Ulysses —, während die Minderheit das Werden aller ist, sein potenzielles Werden, insofern es vom Modell abweicht. Es gibt ein majoritäres «Faktum», aber es ist das analytische Faktum von Niemand, das dem Werden-minoritär aller entgegengesetzt ist. Deshalb müssen wir unterscheiden: das Majoritäre als homogenes und konstantes System, die Minderheiten als Untersysteme und das Minoritäre als potenzielles und geschaffenes, schöpferisches Werden. Das Problem ist nie, die Mehrheit zu erwerben, selbst wenn man eine neue Konstante einsetzt. Es gibt kein Werden-majoritär, Mehrheit ist niemals ein Werden. Es gibt nur Werden-minoritär. Frauen sind, unabhängig von ihrer Zahl, eine Minderheit, definierbar als Zustand oder Teilmenge; aber sie schaffen nur, indem sie ein Werden möglich machen, dessen Eigentümerinnen sie nicht sind, in das sie selbst eintreten müssen, ein Werden-Frau, das den Mann als Ganzen betrifft, Männer und Frauen eingeschlossen. Dasselbe gilt für minoritäre Sprachen: Sie sind nicht einfach Untersprachen, Idiolekte oder Dialekte, sondern potenzielle Agenten, um die majoritäre Sprache in ein minoritäres Werden all ihrer Dimensionen, all ihrer Elemente eintreten zu lassen. Man wird minoritäre Sprachen unterscheiden, die majoritäre Sprache und das Werden-minor der majoritären Sprache. Gewiss sind Minderheiten objektiv definierbare Zustände, Zustände von Sprache, Ethnie, Geschlecht, mit ihren Ghettoterritorialitäten; aber sie müssen auch als Keime, als Kristalle des Werdens betrachtet werden, die nur gelten, indem sie unkontrollierbare Bewegungen und Deterritorialisierungen des Durchschnitts oder der Mehrheit auslösen. Daher zeigte Pasolini, dass das Wesentliche, gerade in der freien indirekten Rede, weder in einer Sprache A noch in einer Sprache B lag, sondern «in einer Sprache X, die nichts anderes ist als die Sprache A, die wirklich dabei ist, eine Sprache B zu werden{93}». Es gibt eine universelle Figur des minoritären Bewusstseins als Werden aller, und dieses Werden ist Schöpfung. Nicht durch Erwerb der Mehrheit erreicht man es. Diese Figur ist genau die kontinuierliche Variation, als eine Amplitude, die unaufhörlich durch Überschuss und durch Mangel die repräsentative Schwelle des majoritären Maßstabs überschreitet. Indem man die Figur eines universellen minoritären Bewusstseins aufrichtet, wendet man sich an Kräfte des Werdens, die einem anderen Bereich angehören als dem der Macht und der Dominanz. Es ist die kontinuierliche Variation, die das Werden-minoritär aller konstituiert, im Gegensatz zum majoritären Faktum von Niemand. Das Werden-minoritär als universelle Figur des Bewusstseins heißt Autonomie. Gewiss wird man nicht revolutionär, indem man eine minoritäre Sprache als Dialekt benutzt, indem man Regionalismus oder Ghetto macht; man wird es, indem man viele Elemente der Minderheit benutzt, sie verbindet, sie konjugiert, um ein spezifisches autonomes, unvorhergesehenes Werden zu erfinden{94}.
Der Dur-Modus und der Moll-Modus sind zwei Behandlungen der Sprache: die eine besteht darin, daraus Konstanten zu extrahieren, die andere darin, sie in kontinuierliche Variation zu setzen. Aber insofern das Parolewort die Äußerungsvariable ist, die die Bedingung der Sprache vollzieht und den Gebrauch der Elemente nach der einen oder der anderen Behandlung definiert, muss man tatsächlich zum Parolewort zurückkehren, als zum einzigen «Metasprachlichen», das diese doppelte Richtung, diese doppelte Behandlung der Variablen zu erklären vermag. Wenn das Problem der Funktionen der Sprache gewöhnlich schlecht gestellt ist, dann weil man diese Variable-Parolewort beiseitelässt, die sich alle möglichen Funktionen unterordnet. Gemäß den Hinweisen Canettis können wir von der folgenden pragmatischen Situation ausgehen: Das Parolewort ist Todesurteil, es impliziert immer ein solches Urteil, wenn auch sehr abgeschwächt, symbolisch geworden, initiatisch, temporär…, usw. Das Parolewort bringt dem, der den Befehl empfängt, einen direkten Tod, oder einen eventuellen Tod, wenn er nicht gehorcht, oder einen Tod, den er selbst zufügen muss, anderswohin tragen muss. Ein Befehl des Vaters an seinen Sohn, «du wirst dies tun», «du wirst das nicht tun», lässt sich nicht trennen von dem kleinen Todesurteil, das der Sohn an einem Punkt seiner Person erfährt. Tod, Tod, das ist das einzige Urteil, und das, was aus dem Urteil ein System macht. Verdict. Aber das Parolewort ist auch etwas anderes, untrennbar damit verbunden: Es ist wie ein Alarmruf oder eine Fluchtbotschaft. Es wäre zu einfach zu sagen, die Flucht sei eine Reaktion gegen das Parolewort; sie ist vielmehr in ihm enthalten, als seine andere Seite in einem komplexen Gefüge, seine andere Komponente. Canetti hat Recht, das Brüllen des Löwen anzurufen, das Flucht und Tod zusammen ausspricht{95}. Das Parolewort hat zwei Töne. Der Prophet empfängt die Parolewörter nicht weniger, indem er die Flucht ergreift, als indem er den Tod wünscht: das jüdische Prophetentum hat den Wunsch, tot zu sein, und den Fluchtimpuls an das göttliche Parolewort geschweißt.
Wenn wir nun den ersten Aspekt des Paroleworts betrachten, das heißt den Tod als Ausgedrücktes der Äußerung, sehen wir sehr wohl, dass er den vorherigen Erfordernissen entspricht: Der Tod mag wesentlich die Körper betreffen, den Körpern zugeschrieben werden, er verdankt seiner Unmittelbarkeit, seiner Augenblicklichkeit, den authentischen Charakter einer unkörperlichen Transformation. Was ihm vorausgeht und was ihm folgt, kann ein langes System von Handlungen und Leidenschaften sein, eine langsame Arbeit der Körper; in sich selbst ist er weder Handlung noch Leidenschaft, sondern reiner Akt, reine Transformation, die die Äußerungshandlung mit der Äußerung zusammenschweißt, Urteilsspruch. Dieser Mensch ist tot… Du bist schon tot, wenn du das Parolewort empfängst… Der Tod ist in der Tat überall wie jene unüberschreitbare, ideelle Grenze, die die Körper, ihre Formen und ihre Zustände trennt, und wie die Bedingung, selbst initiatisch, selbst symbolisch, durch die ein Subjekt gehen muss, um Form oder Zustand zu wechseln. In diesem Sinn spricht Canetti von der «Enantiomorphose»: ein Regime, das auf einen unveränderlichen und hieratischen Meister verweist, der in jedem Moment durch Konstanten gesetzgebend ist, Metamorphosen strikt verbietet oder begrenzt, den Figuren scharfe und stabile Konturen fixiert, die Formen paarweise gegeneinander stellt, den Subjekten auferlegt zu sterben, um von der einen zur anderen überzugehen. Immer ist es durch etwas Unkörperliches, dass ein Körper sich von einem anderen trennt und unterscheidet. Insofern sie das Äußerste eines Körpers ist, ist die Figur das unkörperliche Attribut, das ihn begrenzt und abschließt: der Tod ist die Figur. Durch einen Tod endet ein Körper nicht nur in der Zeit, sondern im Raum, und seine Linien bilden, umreißen eine Kontur. Es gibt tote Räume nicht weniger als tote Zeiten. «Die Wiederholung der Enantiomorphose führt zu einer Reduktion der Welt (…); die sozialen Verbote der Metamorphose sind vielleicht die wichtigsten von allen. (…) Es ist der Tod selbst, den man zwischen die Klassen stellt, eine Grenze, nicht strenger denkbar.» In einem solchen Regime verlangt jeder neue Körper die Errichtung einer ebenso entgegenstellbaren Form wie die Ausbildung unterschiedener Subjekte: Der Tod ist die allgemeine unkörperliche Transformation, die allen Körpern vom Standpunkt ihrer Formen und ihrer Substanzen zugeschrieben wird (zum Beispiel wird sich der Parteikörper nicht ablösen ohne eine Operation der Enantiomorphie und ohne die Ausbildung neuer Militanten, die die Eliminierung einer ersten Generation voraussetzt).
Es ist wahr, dass wir hier Erwägungen des Inhalts nicht weniger als des Ausdrucks anrufen. Denn in dem Moment selbst, in dem die beiden Ebenen sich am stärksten unterscheiden, wie das Körperregime und das Zeichenregime in einem Gefüge, verweisen sie noch auf ihre wechselseitige Präsupposition. Die unkörperliche Transformation ist das Ausgedrückte der Parolewörter, aber ebenso das Attribut der Körper. Es sind nicht nur die linguistischen Ausdrucksvariablen, sondern auch die nichtlinguistischen Inhaltsvariablen, die jeweils in formale Oppositions- oder Distinktionsverhältnisse eintreten, die geeignet sind, Konstanten herauszuarbeiten. Wie Hjelmslev angibt, ist es auf dieselbe Weise, dass ein Ausdruck sich etwa in phonische Einheiten teilt und ein Inhalt sich in physische, zoologische oder soziale Einheiten teilt («Kalb» teilt sich in Rind-männlich-jung{96}). Das Netz der Binaritäten, der Arboreszenzen gilt auf der einen wie auf der anderen Seite. Es gibt dennoch keinerlei Ähnlichkeit, weder analytische Entsprechung noch Konformität der beiden Ebenen. Aber ihre Unabhängigkeit schließt den Isomorphismus nicht aus, das heißt die Existenz desselben Typs konstanter Relationen auf der einen oder auf der anderen Seite. Und es ist dieser Typ von Relationen, der von Anfang an bewirkt, dass die linguistischen und nichtlinguistischen Elemente nicht trennbar sind, trotz ihres Mangels an Entsprechung. Zugleich werden die Inhaltselemente den Mischungen der Körper scharfe Konturen geben und die Ausdruckselemente den unkörperlichen Ausgedrückten eine Macht des Urteilsspruchs oder des Urteils. All diese Elemente haben unterschiedliche Grade von Abstraktion und Deterritorialisierung, aber sie vollziehen jedes Mal eine Reterritorialisierung des gesamten Gefüges, auf solchen Parolewörtern und solchen Konturen. Das ist sogar der Sinn der Lehre vom synthetischen Urteil: gezeigt zu haben, dass es ein Apriori-Band (Isomorphismus) zwischen dem Urteilsspruch und der Figur gibt, der Ausdrucksform und der Inhaltsform.
Wenn man aber den anderen Aspekt des Paroleworts betrachtet, die Flucht und nicht den Tod, erscheint, dass die Variablen darin in einen neuen Zustand eintreten, den der kontinuierlichen Variation. Der Grenzübergang erscheint jetzt als unkörperliche Transformation, die sich dennoch nicht aufhört, den Körpern zuzuschreiben: die einzige Weise, den Tod nicht zu beseitigen, sondern ihn zu reduzieren oder ihn selbst zu einer Variation zu machen. Zugleich wird die Sprache durch diese Bewegung vorangetrieben, die sie gegen ihre eigenen Grenzen spannen lässt, und die Körper, ergriffen in der Bewegung der Metamorphose ihres Inhalts oder in der Erschöpfung, die sie die Grenze ihrer Figuren erreichen oder überschreiten lässt. Es wäre hier angebracht, minoritäre Wissenschaften majoritären Wissenschaften entgegenzusetzen: zum Beispiel der Impuls der gebrochenen Linie zur Kurve, eine ganze operative Geometrie von Strich und Bewegung, eine pragmatische Wissenschaft der Setzungen in Variation, die anders verfährt als die majoritäre oder königliche Wissenschaft der Invarianten Euklids und die eine lange Geschichte des Misstrauens und sogar der Repression durchläuft (wir werden auf diese Frage zurückkommen). Das kleinste Intervall ist immer diabolisch: Der Meister der Metamorphosen stellt sich dem hieratischen invarianten König entgegen. Es ist, als ob eine intensive Materie sich befreite, ein Variationskontinuum, hier in den inneren Tensoren der Sprache, dort in den inneren Spannungen des Inhalts. Die Idee des kleinsten Intervalls etabliert sich nicht zwischen Figuren gleicher Natur, sondern impliziert mindestens Kurve und Gerade, Kreis und Tangente. Man erlebt eine Transformation der Substanzen und eine Auflösung der Formen, Grenzübergang oder Flucht der Konturen zugunsten der fließenden Kräfte, der Ströme, der Luft, des Lichts, der Materie, die bewirken, dass ein Körper oder ein Wort an keinem präzisen Punkt Halt macht. Unkörperliche Macht dieser intensiven Materie, materielle Macht dieser Sprache. Eine Materie unmittelbarer, flüssiger und glühender als die Körper und die Wörter. In der kontinuierlichen Variation gibt es nicht einmal mehr Anlass, eine Ausdrucksform und eine Inhaltsform zu unterscheiden, sondern zwei Ebenen, die selbst in wechselseitiger Präsupposition untrennbar sind. Jetzt hat sich die Relativität ihrer Unterscheidung vollständig auf der Konsistenzebene verwirklicht, auf der die Deterritorialisierung absolut wird und das Gefüge fortreißt. Absolut bedeutet dennoch nicht undifferenziert: Die Unterschiede, «unendlich klein» geworden, werden sich in ein und derselben Materie vollziehen, die als Ausdruck als unkörperliche Macht dient, aber ebenso als Inhalt als Grenzenlosigkeit der Körperlichkeit. Die Inhalts- und Ausdrucksvariablen stehen nicht mehr im Präsuppositionsverhältnis, das noch zwei Formen voraussetzt: Die Setzung der Variablen in kontinuierliche Variation bewirkt vielmehr die Annäherung der beiden Formen, die Konjunktion der Deterritorialisierungsspitzen auf der einen wie auf der anderen Seite, auf der Ebene einer und derselben befreiten Materie, ohne Figuren, absichtlich ungeformt, die gerade nur diese Spitzen festhält, diese Tensoren oder Spannungen im Ausdruck wie im Inhalt. Die Gesten und die Dinge, die Stimmen und die Klänge sind in derselben «Oper» gefasst, fortgerissen in den wechselnden Effekten des Stotterns, des Vibratos, des Tremolos und des Überbordens. Ein Synthesizer setzt alle Parameter in kontinuierliche Variation und bewirkt, dass nach und nach «grundsätzlich heterogene Elemente schließlich auf irgendeine Weise ineinander übergehen». Es gibt gemeinsame Materie, sobald es diese Konjunktion gibt. Erst dort erreicht man die abstrakte Maschine oder das Diagramm des Gefüges. Der Synthesizer hat den Platz des Urteils eingenommen, wie die Materie den der Figur oder der geformten Substanz. Es ist nicht einmal mehr angemessen, einerseits energetische Intensitäten, physikalisch-chemische, biologische, andererseits semiotische Intensitäten, informative, linguistische, ästhetische, mathematische…, usw. zu gruppieren. Die Mannigfaltigkeit der Intensitätssysteme konjugiert sich, rhizomatisiert sich am ganzen Gefüge, in dem Moment, da es von diesen Vektoren oder Fluchtspannungen fortgerissen wird. Denn die Frage war nicht: wie dem Parolewort entkommen? — sondern wie der Todesstrafe entkommen, die es einhüllt, wie seine Fluchtmacht entfalten, wie verhindern, dass die Flucht ins Imaginäre umschlägt oder in ein schwarzes Loch fällt, wie die revolutionäre Potentialität eines Paroleworts erhalten oder herausarbeiten? Hofmannsthal gibt sich selbst das Parolewort «Deutschland, Deutschland!», Bedürfnis zu reterritorialisieren, selbst in einem «melancholischen Spiegel». Aber unter diesem Parolewort hört er ein anderes: als ob die alten deutschen «Figuren» bloße Konstanten wären, die sich jetzt auslöschen, um ein Verhältnis zur Natur, zum Leben anzuzeigen, umso tiefer, je variabler es ist — in welchem Fall dieses Verhältnis zum Leben eine Verhärtung sein muss, in welchem Fall eine Unterwerfung, in welchem Moment es gilt, sich zu empören, in welchem Moment sich zu ergeben oder unerschütterlich zu sein, und wann braucht es ein trockenes Wort, wann braucht es Überschwang oder Zerstreuung{97}? Welche Schnitte oder Brüche es auch gebe: Nur die kontinuierliche Variation wird diese virtuelle Linie herausarbeiten, dieses virtuelle Kontinuum des Lebens, «das wesentliche Element oder das Reale hinter dem Alltäglichen». In einem Film von Herzog gibt es eine prächtige Äußerung. Der Filmcharakter, der sich eine Frage stellt, sagt: Wer wird eine Antwort auf diese Antwort geben? Es gibt tatsächlich keine Frage: Man antwortet niemals als auf Antworten. Der Antwort, die schon in einer Frage enthalten ist (Verhör, Wettbewerb, Plebiszit usw.), wird man Fragen entgegensetzen, die aus einer anderen Antwort kommen. Man wird ein Parolewort aus dem Parolewort herausarbeiten. Im Parolewort muss das Leben der Antwort des Todes antworten, nicht indem es flieht, sondern indem es bewirkt, dass die Flucht wirkt und schafft. Es gibt Passwörter unter den Parolewörtern. Wörter, die wie Übergangswörter wären, Übergangskomponenten, während die Parolewörter Halte markieren, geschichtete, organisierte Kompositionen. Dasselbe, dasselbe Wort, hat zweifellos diese doppelte Natur: Man muss das eine aus dem anderen herausziehen — die Ordnungskompositionen in Übergangskomponenten verwandeln.