Kapitel 3
Wilde, Barbaren, Zivilisierte
Wenn das Universelle am Ende steht, Körper ohne Organe und begehrende Produktion, unter den vom scheinbar siegreichen Kapitalismus bestimmten Bedingungen, wie findet man dann genug Unschuld, um Universalgeschichte zu machen? Die begehrende Produktion ist auch schon am Anfang: Es gibt begehrende Produktion, sobald es soziale Produktion und Reproduktion gibt. Aber es ist wahr, dass die vorkapitalistischen sozialen Maschinen dem Begehren in einem sehr präzisen Sinn inhärent sind: Sie kodieren es, sie kodieren die Ströme des Begehrens. Das Begehren kodieren – und die Furcht, die Angst vor dekodierten Strömen –, das ist die Sache des Socius. Der Kapitalismus ist die einzige soziale Maschine, werden wir sehen, die sich als solche auf dekodierten Strömen aufgebaut hat, indem sie an die Stelle der intrinsischen Codes eine Axiomatik abstrakter Quantitäten in Geldform setzt. Der Kapitalismus befreit also die Begehrensströme, aber unter sozialen Bedingungen, die seine Grenze und die Möglichkeit seiner eigenen Auflösung bestimmen, sodass er unablässig mit all seinen gereizten Kräften die Bewegung behindert, die ihn auf diese Grenze zutreibt. An der Grenze des Kapitalismus macht der deterritorialisierte Socius dem Körper ohne Organe Platz, die dekodierten Ströme stürzen sich in die begehrende Produktion. Es ist also richtig, die ganze Geschichte rückblickend im Licht des Kapitalismus zu verstehen, vorausgesetzt, man folgt exakt den von Marx formulierten Regeln: Zuerst ist die Universalgeschichte die der Kontingenzen und nicht der Notwendigkeit; der Einschnitte und Grenzen und nicht der Kontinuität. Denn es bedurfte großer Zufälle, erstaunlicher Begegnungen, die sich anderswo, früher, hätten ereignen können oder sich niemals hätten ereignen müssen, damit die Ströme der Kodierung entkommen, und, ihr entkommend, dennoch eine neue Maschine bilden, die als kapitalistischer Socius bestimmbar ist: so die Begegnung zwischen Privateigentum und Warenproduktion, die sich doch als zwei sehr verschiedene Formen der Dekodierung darstellen, durch Privatisierung und durch Abstraktion. Oder vom Standpunkt des Privateigentums selbst aus: die Begegnung zwischen Strömen konvertierbarer Reichtümer, die von Kapitalisten besessen werden, und einem Strom von Arbeitern, die nur ihre Arbeitskraft besitzen (auch hier wieder zwei sehr unterschiedliche Formen der Deterritorialisierung). In gewisser Weise hat der Kapitalismus alle Gesellschaftsformen heimgesucht, aber er heimsucht sie als ihren schrecklichen Albtraum, als die panische Angst, die sie vor einem Strom haben, der sich ihren Codes entziehen würde. Andererseits gilt: Wenn es der Kapitalismus ist, der die Bedingungen und die Möglichkeit einer Universalgeschichte bestimmt, dann ist das nur insofern wahr, als er wesentlich mit seiner eigenen Grenze, seiner eigenen Zerstörung zu tun hat: wie Marx sagt, insofern er fähig ist, sich selbst zu kritisieren (wenigstens bis zu einem gewissen Punkt: dem Punkt, an dem die Grenze erscheint, selbst in der Bewegung, die die Tendenz behindert…).1 Kurz: Die Universalgeschichte ist nicht nur rückblickend, sie ist kontingent, singulär, ironisch und kritisch.
Die primitive, wilde Einheit von Begehren und Produktion ist die Erde. Denn die Erde ist nicht nur das vielfältige und geteilte Objekt der Arbeit, sie ist auch die einzige unteilbare Entität, der volle Körper, der sich über die produktiven Kräfte legt und sie sich als natürliche oder göttliche Voraussetzung aneignet. Der Boden kann das produktive Element und das Ergebnis der Aneignung sein, die Erde ist die große ungezeugte Stase, das der Produktion übergeordnete Element, das die gemeinsame Aneignung und Nutzung des Bodens bedingt. Sie ist die Oberfläche, auf der sich der ganze Prozess der Produktion einschreibt, auf der die Objekte, die Mittel und die Arbeitskräfte registriert werden, auf der die Agenten und die Produkte verteilt werden. Sie erscheint hier als Quasi-Ursache der Produktion und als Objekt des Begehrens (auf ihr knüpft sich das Band zwischen Begehren und seiner eigenen Repression). Die territoriale Maschine ist also die erste Form des Socius, die primitive Einschreibungsmaschine, „Megamaschine“, die ein soziales Feld überzieht. Sie fällt nicht mit den technischen Maschinen zusammen. Schon in ihren einfachsten, sogenannten manuellen Formen impliziert die technische Maschine ein nichtmenschliches, handelndes Element, ein Übertragendes oder sogar ein Antriebs-Element, das die Kraft des Menschen verlängert und eine gewisse Entlastung ermöglicht. Die soziale Maschine hingegen hat als Teile die Menschen, selbst wenn man sie mit ihren Maschinen betrachtet, und sie integriert sie, verinnerlicht sie in ein institutionelles Modell auf allen Ebenen der Handlung, der Übertragung und der Motorik. So bildet sie ein Gedächtnis, ohne das es keine Synergie des Menschen und seiner (technischen) Maschinen gäbe. Diese enthalten nämlich nicht die Bedingungen der Reproduktion ihres Prozesses; sie verweisen auf soziale Maschinen, die sie bedingen und organisieren, aber auch ihre Entwicklung begrenzen oder hemmen. Man wird auf den Kapitalismus warten müssen, um ein Regime semi-autonomer technischer Produktion zu finden, das dazu tendiert, sich Gedächtnis und Reproduktion anzueignen, und dadurch die Formen der Ausbeutung des Menschen verändert; aber gerade dieses Regime setzt eine Demontage der großen vorhergehenden sozialen Maschinen voraus. Ein und dieselbe Maschine kann technisch und sozial sein, aber nicht unter demselben Aspekt: zum Beispiel die Uhr als technische Maschine, um die gleichförmige Zeit zu messen, und als soziale Maschine, um die kanonischen Stunden zu reproduzieren und die Ordnung in der Stadt zu sichern. Wenn Lewis Mumford das Wort „Megamaschine“ schafft, um die soziale Maschine als kollektive Entität zu bezeichnen, hat er also wörtlich recht (obwohl er seine Anwendung auf die barbarisch-despotische Institution beschränkt): „Wenn man, mehr oder weniger in Übereinstimmung mit der klassischen Definition von Reuleaux, eine Maschine als die Kombination fester Elemente betrachten kann, von denen jedes seine spezialisierte Funktion hat und die unter menschlicher Kontrolle funktionieren, um eine Bewegung zu übertragen und eine Arbeit auszuführen, dann war die menschliche Maschine tatsächlich eine echte Maschine.“2 Die soziale Maschine ist buchstäblich eine Maschine, unabhängig von jeder Metapher, insofern sie einen unbewegten Motor aufweist und die verschiedenen Arten von Schnitten vornimmt: Abschöpfung von Strömen, Ablösung von Ketten, Aufteilung von Anteilen. Ströme zu kodieren impliziert all diese Operationen. Das ist die höchste Aufgabe der sozialen Maschine, insofern die Abschöpfungen der Produktion Ablösungen von Ketten entsprechen und daraus der Residualanteil jedes Mitglieds resultiert, in einem globalen System von Begehren und Schicksal, das die Produktionen der Produktion, die Produktionen der Registrierung, die Produktionen des Konsums organisiert. Ströme von Frauen und Kindern, Ströme von Herden und Saatgut, Ströme von Sperma, von Scheiße und von Menstruationsblut, nichts darf entkommen. Die primitive territoriale Maschine, mit ihrem unbewegten Motor, der Erde, ist bereits soziale Maschine oder Megamaschine, die die Ströme der Produktion, der Produktionsmittel, der Produzenten und der Konsumenten kodiert: Der volle Körper der Göttin Erde vereint auf sich die kultivierbaren Arten, die Ackergeräte und die menschlichen Organe.
Meyer Fortes macht beiläufig eine heitere und sinnvolle Bemerkung: „Das Problem ist nicht das der Zirkulation der Frauen… Eine Frau zirkuliert aus sich selbst heraus. Man verfügt nicht über sie, aber die juristischen Rechte an der Nachkommenschaft werden zugunsten einer bestimmten Person festgelegt.“3 Wir haben in der Tat keinen Grund, das den austauschtheoretischen Gesellschaftskonzeptionen zugrunde liegende Postulat zu akzeptieren; die Gesellschaft ist nicht zuerst ein Milieu des Austauschs, in dem das Wesentliche darin bestünde, zu zirkulieren oder zirkulieren zu lassen, sondern ein Socius der Einschreibung, in dem das Wesentliche darin besteht, zu markieren und markiert zu werden. Es gibt Zirkulation nur, wenn die Einschreibung sie verlangt oder erlaubt. Das Verfahren der primitiven territorialen Maschine in diesem Sinn ist die kollektive Investierung der Organe; denn die Kodierung der Ströme vollzieht sich nur insofern, als die Organe, die jeweils fähig sind, sie zu produzieren und zu schneiden, selbst umstellt, eingesetzt als partielle Objekte, verteilt und am Socius aufgehängt werden. Eine Maske ist eine solche Institution von Organen. Initiationsgesellschaften fügen die Stücke eines Körpers zusammen, zugleich Sinnesorgane, anatomische Teile und Gelenke. Verbote (nicht sehen, nicht sprechen) gelten für jene, die in einem bestimmten Zustand oder bei einer bestimmten Gelegenheit nicht den Genuss eines kollektiv investierten Organs haben. Die Mythologien besingen die Organe-teilobjekte und ihr Verhältnis zu einem vollen Körper, der sie abstößt oder anzieht: Vaginen, an die Körper der Frauen genagelt, ein riesiger Penis, unter den Männern aufgeteilt, ein unabhängiger Anus, der sich einem Körper ohne Anus zuschreibt. Ein Gourmantché-Märchen beginnt: „Als der Mund tot war, befragte man die anderen Teile des Körpers, um zu wissen, welcher sich des Begräbnisses annehmen würde…“ Die Einheiten liegen niemals in Personen, im eigentlichen oder „privaten“ Sinn, sondern in Serien, die die Verknüpfungen, Disjunktionen und Konjunktionen von Organen bestimmen. Deshalb sind die Phantasmen Gruppenphantasmen. Es ist die kollektive Investierung der Organe, die das Begehren auf den Socius schaltet und auf der Erde die soziale Produktion und die begehrende Produktion in einem Ganzen vereint.
Unsere modernen Gesellschaften hingegen haben eine umfassende Privatisierung der Organe vorgenommen, die der Dekodierung der abstrakt gewordenen Ströme entspricht. Das erste Organ, das privatisiert, aus dem sozialen Feld herausgenommen wurde, war der Anus. Er gab sein Modell der Privatisierung, während zugleich das Geld den neuen Zustand der Abstraktion der Ströme ausdrückte. Daher die relative Wahrheit der psychoanalytischen Bemerkungen über den analen Charakter der Geldwirtschaft. Aber die „logische“ Ordnung ist folgende: Ersetzung der kodierten Ströme durch die abstrakte Quantität; daraus folgendes kollektives Desinvestment der Organe nach dem Modell des Anus; Konstitution privater Personen als individueller Zentren von Organen und Funktionen, die von der abstrakten Quantität abgeleitet sind. Man muss sogar sagen: Wenn der Phallus in unseren Gesellschaften die Position eines abgelösten Objekts eingenommen hat, das den Mangel an die Personen beider Geschlechter verteilt und das ödipale Dreieck organisiert, dann ist es der Anus, der ihn so ablöst, er ist es, der den Penis in einer Art Aufhebung, die den Phallus konstituiert, davonträgt und sublimiert. Die Sublimierung ist tief mit der Analität verbunden, aber nicht in dem Sinn, dass diese ein Material zum Sublimieren liefern würde, mangels eines anderen Gebrauchs. Die Analität repräsentiert nicht das Niedrigste, das man in Höheres verwandeln müsste. Es ist der Anus selbst, der nach oben gelangt, unter Bedingungen, die wir bei seiner Herausnahme aus dem Feld analysieren werden, und die die Sublimierung nicht voraussetzen, da die Sublimierung im Gegenteil daraus folgt. Nicht das Anale bietet sich der Sublimierung an, sondern die Sublimierung insgesamt ist anal; daher besteht die einfachste Kritik der Sublimierung darin, dass sie uns überhaupt nicht aus der Scheiße herausführt (nur der Geist ist fähig zu scheißen). Die Analität ist umso größer, je mehr der Anus desinvestiert ist. Das Wesen des Begehrens ist zwar die Libido; aber wenn die Libido zur abstrakten Quantität wird, produziert der erhobene und desinvestierte Anus die globalen Personen und die spezifischen Ichs, die als Maßeinheiten eben dieser Quantität dienen. Artaud sagt treffend: dieses „Arschloch einer toten Ratte, das an der Decke des Himmels hängt“, aus dem das Dreieck Papa-Mama-Ich hervorgeht, „das uterine Mutter-Vater eines rasenden Analen“, dessen Kind nur ein Winkel ist, diese „Art von Hülle, die ewig an etwas hängt, das das Ich ist“. Das ganze Ödipus ist anal und impliziert ein individuelles Überinvestment des Organs, um das kollektive Desinvestment zu kompensieren. Deshalb erkennen selbst die Kommentatoren, die der Universalität des Ödipus am günstigsten gesinnt sind, doch an, dass man in primitiven Gesellschaften keinen der Mechanismen, keine der Haltungen findet, die ihn in unserer Gesellschaft vollziehen. Kein Über-Ich, keine Schuld. Keine Identifikation eines spezifischen Ichs mit globalen Personen – sondern stets partielle Identifikationen und Gruppenidentifikationen, entsprechend der kompakten, verklumpten Serie der Ahnen, entsprechend der fragmentierten Serie der Kameraden oder der Cousins. Keine Analität – obwohl es, oder vielmehr weil es einen kollektiv investierten Anus gibt. Was bleibt dann noch, um den Ödipus zu machen?4 Die Struktur, das heißt eine nicht vollzogene Virtualität? Soll man glauben, dass der universelle Ödipus alle Gesellschaften heimsucht, aber genau so, wie der Kapitalismus sie heimsucht, das heißt als Albtraum oder als angstvolle Vorahnung dessen, was die Dekodierung der Ströme und das kollektive Desinvestment der Organe wären, das Abstrakt-Werden der Begehrensströme und das Privat-Werden der Organe?
Die primitive territoriale Maschine kodiert die Ströme, investiert die Organe, markiert die Körper. In welchem Ausmaß Zirkulieren, Austauschen eine sekundäre Tätigkeit ist im Verhältnis zu dieser Aufgabe, die alle anderen zusammenfasst: die Körper zu markieren, die von der Erde sind. Das Wesen des registrierenden, einschreibenden Socius, insofern er sich die produktiven Kräfte zuschreibt und die Produktionsagenten verteilt, besteht hierin – tätowieren, beschneiden, einschneiden, ausschneiden, vernarben, verstümmeln, umstellen, initiieren. Nietzsche definierte „die Moralität der Sitte, oder die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selbst während der längsten Periode der Menschengattung, seine ganze vorgeschichtliche Arbeit“: ein System von Bewertungen mit Rechtskraft, das die verschiedenen Glieder und Teile des Körpers betrifft. Nicht nur wird dem Verbrecher nach einer Ordnung kollektiver Investierungen der Organe entzogen, nicht nur wird der, der gegessen werden soll, nach sozialen Regeln gegessen, die ebenso präzise sind wie jene, die einen Ochsen zerlegen und aufteilen; sondern der Mensch, der sich voll seiner Rechte und Pflichten erfreut, hat den ganzen Körper unter einem Regime markiert, das seine Organe und ihre Ausübung auf die Kollektivität bezieht (die Privatisierung der Organe wird erst beginnen mit „der Scham, die der Mensch beim Anblick des Menschen empfindet“). Denn es ist ein Gründungsakt, durch den der Mensch aufhört, ein biologischer Organismus zu sein, und ein voller Körper wird, eine Erde, an der seine Organe hängen, angezogen, abgestoßen, wundersam gemacht nach den Erfordernissen eines Socius. Dass die Organe im Socius zugeschnitten werden und die Ströme über ihn fließen. Nietzsche sagt: Es geht darum, dem Menschen ein Gedächtnis zu machen; und der Mensch, der sich durch ein aktives Vermögen des Vergessens konstituiert hat, durch eine Verdrängung des biologischen Gedächtnisses, muss sich ein anderes Gedächtnis machen, ein kollektives Gedächtnis, ein Gedächtnis der Worte und nicht mehr der Dinge, ein Gedächtnis der Zeichen und nicht mehr der Wirkungen. System der Grausamkeit, schreckliches Alphabet, diese Organisation, die Zeichen auf dem Körper selbst einzeichnet: „Vielleicht gibt es sogar nichts Furchtbareres und Unheimlicheres in der Vorgeschichte des Menschen als seine Mnemotechnik… Das ging niemals ohne Foltern, ohne Martern und blutige Opfer ab, wenn der Mensch es für nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu schaffen; die entsetzlichsten Holocausts und die scheußlichsten Gelübde, die widerwärtigsten Verstümmelungen, die grausamsten Rituale aller religiösen Kulte… Man wird sich der Schwierigkeiten bewusst werden, die es auf der Erde gibt, ein Volk von Denkern zu erziehen!“5 Die Grausamkeit hat nichts mit irgendeiner natürlichen oder beliebigen Gewalt zu tun, die man heranziehen würde, um die Geschichte des Menschen zu erklären; sie ist die Bewegung der Kultur, die sich in den Körpern vollzieht und sich auf ihnen einschreibt, sie durchpflügt. Das bedeutet Grausamkeit. Diese Kultur ist nicht die Bewegung der Ideologie: im Gegenteil, sie setzt mit Gewalt die Produktion ins Begehren, und umgekehrt setzt sie mit Gewalt das Begehren in die soziale Produktion und Reproduktion ein. Denn selbst der Tod, die Strafe, die Foltern werden begehrt und sind Produktionen (vgl. die Geschichte des Fatalismus). Aus Menschen oder ihren Organen macht sie die Teile und Zahnräder der sozialen Maschine. Das Zeichen ist Setzung des Begehrens; aber die ersten Zeichen sind territoriale Zeichen, die ihre Fahnen in die Körper pflanzen. Und wenn man diese Einschreibung ins volle Fleisch „Schrift“ nennen will, dann muss man in der Tat sagen, dass das Wort die Schrift voraussetzt, und dass es dieses grausame System eingeschriebener Zeichen ist, das den Menschen zur Sprache befähigt und ihm ein Gedächtnis der Worte gibt.
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Der Begriff der Territorialität ist nur dem Anschein nach mehrdeutig. Denn wenn man darunter ein Residenzprinzip oder ein Prinzip geographischer Verteilung versteht, ist es offensichtlich, dass die primitive soziale Maschine nicht territorial ist. Territorial wird nur der Staatsapparat sein, der, nach Engels’ Formel, „nicht das Volk, sondern das Territorium unterteilt“ und eine geographische Organisation an die Stelle der gentilen Organisation setzt. Dennoch lässt sich selbst dort, wo die Verwandtschaft die Erde zu dominieren scheint, ohne Mühe die Bedeutung lokaler Bindungen zeigen. Das liegt daran, dass die primitive Maschine das Volk unterteilt, dies aber auf einer unteilbaren Erde tut, auf der sich die konnektiven, disjunktiven und konjunktiven Beziehungen jedes Segments zu den anderen einschreiben (so etwa die Koexistenz oder die Komplementarität des Segmentchefs und des Hüters der Erde). Wenn die Teilung die Erde selbst betrifft, kraft einer administrativen, grundherrschaftlichen und residenziellen Organisation, kann man darin folglich keine Förderung der Territorialität sehen, sondern im Gegenteil die Wirkung der ersten großen Bewegung der Deterritorialisierung über die primitiven Gemeinschaften. Die immanente Einheit der Erde als unbewegter Motor macht einer transzendenten Einheit ganz anderer Natur Platz, einer Staatseinheit; der volle Körper ist nicht mehr der der Erde, sondern der des Despoten, des Ungezeugten, der nun die Fruchtbarkeit des Bodens wie den Regen des Himmels und die allgemeine Aneignung der produktiven Kräfte übernimmt. Der primitive wilde Socius war also tatsächlich die einzige territoriale Maschine im strengen Sinn. Und das Funktionieren einer solchen Maschine besteht hierin: Allianz und Filiationsverhältnisse zu deklinieren, die Linien auf dem Körper der Erde zu deklinieren, bevor es einen Staat gibt.
Wenn die Maschine eine Deklinationsmaschine ist, dann deshalb, weil es unmöglich ist, die Allianz einfach aus der Filiation, die Allianzen aus den filiativischen Linien abzuleiten. Man hätte Unrecht, der Allianz nur eine Individuationsmacht über die Personen einer Linie zuzuschreiben; sie erzeugt vielmehr eine verallgemeinerte Unterscheidbarkeit. Leach zitiert Fälle sehr verschiedener Eheregime, ohne dass man daraus einen Unterschied in der Filiation der entsprechenden Gruppen schließen könnte. In vielen Analysen „wird der Akzent auf die internen Bindungen innerhalb der solidarischen unilinearen Gruppe oder auf die Bindungen zwischen verschiedenen Gruppen gelegt, die eine gemeinsame Filiation haben. Die strukturellen Bindungen, die aus der Heirat zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen hervorgehen, sind weitgehend ignoriert worden oder aber dem universellen Begriff der Filiation gleichgesetzt worden. So tarnt Fortes, während er den Allianzbindungen eine der Bedeutung der Filiationsbindungen vergleichbare Bedeutung zuerkennt, die ersteren unter dem Ausdruck komplementäre Abstammung. Dieser Begriff, der an die Unterscheidung der Römer zwischen dem Agnatischen und dem Kognatischen erinnert, impliziert im Wesentlichen, dass jedes Individuum mit den Verwandten seines Vaters und seiner Mutter verbunden ist, weil es der Nachkomme des einen und des anderen ist, und nicht weil sie verheiratet sind… (Dennoch) werden die senkrechten Bindungen, die die verschiedenen Patrilinien lateral verbinden, von den Eingeborenen selbst nicht als Filiationsbindungen begriffen. Die Kontinuität der vertikalen Struktur in der Zeit wird angemessen durch die agnatische Übertragung eines Patriliniennamens ausgedrückt. Aber die Kontinuität der lateralen Struktur wird nicht auf eine solche Weise ausgedrückt. Sie wird vielmehr durch eine Kette ökonomischer Beziehungen zwischen Schuldner und Gläubiger aufrechterhalten… Es ist die Existenz dieser offenen Schulden, die die Kontinuität der Allianzbeziehung sichtbar macht.“6 Die Filiation ist administrativ und hierarchisch, die Allianz hingegen politisch und ökonomisch, und sie drückt die Macht aus, insofern sie sich weder mit der Hierarchie deckt noch aus ihr deduzierbar ist, die Ökonomie insofern, als sie sich weder mit der Administration deckt. Filiation und Allianz sind wie die beiden Formen eines primitiven Kapitals, fixes Kapital oder filiatives Lager, zirkulierendes Kapital oder mobile Schuldenblöcke. Ihnen entsprechen zwei Gedächtnisse, das eine bio-filiativ, das andere, der Allianz und der Worte. Wenn die Produktion im Netz der filiativischen Disjunktionen auf dem Socius registriert wird, muss sich noch die Konnektion der Arbeit vom produktiven Prozess ablösen und in dieses Registrierungselement übergehen, das sie sich als Quasi-Ursache aneignet. Doch das kann es nur, indem es das konnektive Regime in eigener Rechnung wieder aufnimmt, in Form eines Allianzbandes oder einer Konjugation von Personen, die mit den Disjunktionen der Filiation vereinbar ist. In diesem Sinn geht die Ökonomie durch die Allianz. In der Produktion von Kindern wird das Kind in Bezug auf die disjunktiven Linien seines Vaters oder seiner Mutter eingeschrieben, aber umgekehrt schreiben diese es nur über eine Konnektion ein, die durch die Heirat von Vater und Mutter repräsentiert wird. Es gibt also keinen Moment, in dem die Allianz aus der Filiation hervorginge, sondern beide bilden einen wesentlich offenen Zyklus, in dem der Socius auf die Produktion wirkt, in dem aber auch die Produktion auf den Socius zurückwirkt.
Die Marxisten haben recht, daran zu erinnern, dass, wenn die Verwandtschaft in der primitiven Gesellschaft dominant ist, sie durch ökonomische und politische Faktoren dazu bestimmt ist, es zu sein. Und wenn die Filiation ausdrückt, was dominant ist, wobei es zugleich bestimmt ist, dann drückt die Allianz aus, was bestimmend ist, oder vielmehr die Rückkehr des Bestimmenden in das bestimmte System der Dominanz. Deshalb ist es wesentlich, zu betrachten, wie sich die Allianzen konkret mit den Filiationsverhältnissen auf einer gegebenen territorialen Oberfläche zusammensetzen. Leach hat präzise die Instanz der lokalen Linien herausgearbeitet, insofern sie sich von Linien der Filiation unterscheiden und auf der Ebene kleiner Segmente operieren: Es sind diese Gruppen von Männern, die an einem selben Ort oder an benachbarten Orten wohnen, die die Ehen aushecken und die konkrete Realität bilden, weit mehr als die Filiationssysteme und die abstrakten Heiratsklassen. Ein Verwandtschaftssystem ist keine Struktur, sondern eine Praxis, eine Praxis, ein Verfahren und sogar eine Strategie. Louis Berthe, der ein Verhältnis von Allianz und Hierarchie analysiert, zeigt gut, dass ein Dorf als Dritter interveniert, um eheliche Verbindungen zwischen Elementen zu ermöglichen, die die Disjunktion zweier Hälften vom strengen Standpunkt der Struktur her verbieten würde: „Der dritte Term muss viel mehr als ein Verfahren denn als ein wirklich strukturelles Element interpretiert werden.“7 Jedes Mal, wenn man die Verwandtschaftsverhältnisse in der primitiven Gemeinschaft in Funktion einer Struktur interpretiert, die sich im Geist entfalten würde, verfällt man wieder einer Ideologie der großen Segmente, die die Allianz von den großen Filiationslinien abhängig macht, die aber durch die Praxis widerlegt wird. „Man muss sich fragen, ob in den Systemen asymmetrischer Allianz eine grundlegende Tendenz zum generalisierten Austausch existiert, das heißt zur Schließung des Zyklus. Ich habe bei den Mru nichts Ähnliches finden können… Jeder verhält sich, als ob er die Kompensation ignorierte, die aus der Schließung des Zyklus resultieren wird, betont die Asymmetriebeziehung, indem er auf dem Gläubiger-Schuldner-Verhalten besteht.“8 Ein Verwandtschaftssystem erscheint nur insofern geschlossen, als man es von den ökonomischen und politischen Referenzen abschneidet, die es offen halten und die aus der Allianz etwas anderes machen als eine Anordnung von Heiratsklassen und filiativischen Linien.
Es geht dabei um das ganze Unternehmen, die Ströme zu kodieren. Wie die wechselseitige Anpassung, die jeweilige Umklammerung einer signifikanten Kette und von Produktionsströmen sicherstellen? Der große nomadische Jäger folgt den Strömen, versiegt sie vor Ort und bewegt sich mit ihnen. Er reproduziert seine ganze Filiation in beschleunigter Weise, zieht sie in einem Punkt zusammen, der ihn in einem direkten Verhältnis zum Ahnen oder zum Gott hält. Pierre Clastres beschreibt den einsamen Jäger, der nur noch eins ist mit seiner Kraft und seinem Schicksal, und seinen Gesang in einer immer schnelleren und entstellteren Sprache ausstößt: Ich, ich, ich, „ich bin eine mächtige Natur, eine gereizte und aggressive Natur!“9 Das sind die beiden Charaktere des Jägers, des großen Paranoikers der Busch- oder Waldwildnis: reale Bewegung mit den Strömen, direkte Filiation mit dem Gott. Denn im nomadischen Raum ist der volle Körper des Socius gleichsam der Produktion benachbart, er hat sich noch nicht auf sie gelegt. Der Raum des Lagers bleibt dem der Waldwildnis benachbart, er wird im Produktionsprozess ständig reproduziert, hat sich diesen Prozess aber noch nicht angeeignet. Die scheinbare objektive Bewegung der Einschreibung hat die reale Bewegung des Nomadismus nicht aufgehoben. Aber es gibt keinen reinen Nomaden, es gibt immer und schon ein Lager, in dem es darum geht, zu lagern, sei es auch nur wenig, einzuschreiben und zu verteilen, zu heiraten und sich zu ernähren (Clastres zeigt gut bei den Guayaki, wie auf die Verbindung zwischen Jägern und lebenden Tieren im Lager eine Disjunktion zwischen den toten Tieren und den Jägern folgt, eine Disjunktion, die einem Inzestverbot ähnlich ist, da der Jäger seine eigenen Beutestücke nicht verzehren kann). Kurz, wie wir bei anderen Gelegenheiten sehen werden, gibt es immer einen Perversen, der dem Paranoiker folgt oder ihn begleitet – manchmal derselbe Mann in zwei Situationen: der Paranoiker der Wildnis und der Perverse des Dorfes. Denn sobald der Socius sich fixiert und sich auf die produktiven Kräfte legt, sie sich zuschreibt, kann das Problem der Kodierung nicht mehr durch die Gleichzeitigkeit einer Verschiebung vom Standpunkt der Ströme und einer beschleunigten Reproduktion vom Standpunkt der Kette gelöst werden. Es ist nötig, dass die Ströme Gegenstand von Abschöpfungen sind, die ein Minimum an Bestand konstituieren, und dass die signifikante Kette Gegenstand von Ablösungen ist, die ein Minimum an Vermittlungen konstituieren. Ein Strom ist kodiert, insofern Ablösungen der Kette und Abschöpfungen des Stroms in Entsprechung vor sich gehen, sich umklammern und sich vermählen. Und genau das ist schon die hochgradig perverse Tätigkeit der lokalen Gruppen, die die Ehen auf der primitiven Territorialität aushecken: eine normale oder nicht-pathologische Perversion, wie Henry Ey für andere Fälle sagte, in denen sich „eine psychische Arbeit der Auswahl, der Verfeinerung und der Berechnung“ manifestiert. Und das ist von Anfang an der Fall, da es keinen reinen Nomaden gibt, der sich damit begnügen könnte, die Ströme zu reiten und die direkte Filiation zu besingen, sondern immer einen Socius, der darauf wartet, sich zu legen, indem er schon abschöpft und ablöst.
Die Abschöpfungen der Ströme konstituieren einen filiativischen Bestand in der signifikanten Kette; aber umgekehrt konstituieren die Ablösungen der Kette mobile Allianzen-Schulden, die die Ströme orientieren und lenken. Auf der Decke als Familienbestand lässt man die Allianzsteine oder Kauris zirkulieren. Es gibt gleichsam einen weiten Zyklus der Produktionsströme und der Einschreibungsketten, und einen engeren Zyklus zwischen den Filiationsbeständen, die die Ströme anketten oder einlassen, und den Allianzblöcken, die die Ketten fließen lassen. Die Abstammung ist zugleich Produktionsstrom und Einschreibungskette, Filiationsbestand und Allianz-Fluxion. Alles läuft darauf hinaus, als ob der Bestand eine oberflächliche Energie der Einschreibung oder der Registrierung bildete, die potenzielle Energie der scheinbaren Bewegung; aber die Schuld ist die aktuelle Richtung dieser Bewegung, kinetische Energie, bestimmt durch den jeweiligen Weg der Gaben und Gegengaben auf dieser Oberfläche. Im Kula hält die Zirkulation der Halsketten und der Armreifen an bestimmten Orten, bei bestimmten Gelegenheiten, an, um einen Bestand neu zu bilden. Es gibt keine produktiven Verbindungen ohne filiativische Disjunktionen, die sie sich aneignen, aber keine filiativischen Disjunktionen, die nicht laterale Verbindungen durch die Allianzen und die Konjugationen von Personen rekonstituieren. Nicht nur die Ströme und die Ketten, sondern die fixen Bestände und die mobilen Blöcke, insofern sie ihrerseits Verhältnisse zwischen Ketten und Strömen in beiden Richtungen implizieren, befinden sich in einem Zustand fortwährender Relativität: ihre Elemente variieren, Frauen, Konsumgüter, Ritualobjekte, Rechte, Prestige und Status. Wenn man postuliert, dass es irgendwo eine Art Preisgleichgewicht geben müsse, ist man gezwungen, im offenkundigen Ungleichgewicht der Verhältnisse eine pathologische Folge zu sehen, die man erklärt, indem man sagt, das vermeintlich geschlossene System dehne sich in eine Richtung aus und öffne sich, je weiter und je komplexer die Leistungen sind. Aber eine solche Auffassung steht im Widerspruch zur primitiven „kalten Ökonomie“, ohne Nettoinvestition, ohne Geld und Markt, ohne austauschtheoretische Warenbeziehung. Die Triebfeder einer solchen Ökonomie besteht im Gegenteil in einem wirklichen Code-Mehrwert: Jede Ablösung der Kette produziert, auf der einen oder der anderen Seite in den Produktionsströmen, Phänomene von Überschuss und Mangel, von Fehlbestand und Akkumulation, die durch nicht austauschbare Elemente vom Typ erworbenes Prestige oder verteilten Konsum kompensiert werden („Der Häuptling verwandelt verderbliche Werte mittels spektakulärer Festlichkeiten in ein unvergängliches Prestige; auf diese Weise sind die Konsumenten der Güter am Ende die Produzenten am Anfang.“)10 Der Code-Mehrwert ist die primitive Form des Mehrwerts, insofern er der berühmten Formel von Mauss entspricht: dem Geist der gegebenen Sache oder der Kraft der Dinge, die bewirkt, dass die Gaben in wucherischer Weise zurückgegeben werden müssen, als territoriale Zeichen des Begehrens und der Macht, Prinzipien des Überflusses und der Fruchtbarmachung der Güter. Weit davon entfernt, eine pathologische Folge zu sein, ist das Ungleichgewicht funktional und wesentlich. Weit davon entfernt, die Ausdehnung eines zunächst geschlossenen Systems zu sein, ist die Öffnung zuerst da, gegründet in der Heterogenität der Elemente, die die Leistungen zusammensetzen und das Ungleichgewicht kompensieren, indem sie es verschieben. Kurz, die Ablösungen der signifikanten Kette gemäß den Allianzverhältnissen erzeugen Code-Mehrwerte auf der Ebene der Ströme, aus denen Statusunterschiede für die filiativischen Linien folgen (zum Beispiel der höhere oder niedrigere Rang der Geber und Nehmer von Frauen). Der Code-Mehrwert vollzieht die verschiedenen Operationen der primitiven territorialen Maschine: Kettensegmente ablösen, die Abschöpfungen der Ströme organisieren, die Anteile verteilen, die jedem zukommen.
Die Idee, dass primitive Gesellschaften ohne Geschichte seien, von Archetypen und ihrer Wiederholung beherrscht, ist besonders schwach und unangemessen. Diese Idee ist nicht bei den Ethnologen entstanden, sondern eher bei Ideologen, die an ein tragisches jüdisch-christliches Bewusstsein gebunden waren, dem sie die „Erfindung“ der Geschichte zuschreiben wollten. Nennt man Geschichte eine dynamische und offene Realität der Gesellschaften, in einem Zustand funktionalen Ungleichgewichts oder oszillierenden Gleichgewichts, instabil und stets kompensiert, die nicht nur institutionalisierte Konflikte, sondern konflikterzeugende Veränderungen, Aufstände, Brüche und Spaltungen umfasst, dann stehen primitive Gesellschaften voll in der Geschichte und sind weit entfernt von der Stabilität oder gar der Harmonie, die man ihnen im Namen der Vorrangigkeit einer einmütigen Gruppe zuschreiben will. Die Präsenz der Geschichte in jeder sozialen Maschine zeigt sich deutlich in den Diskordanzen, in denen, wie Lévi-Strauss sagt, „die Spur, unmöglich zu verkennen, des Ereignisses“ zu entdecken ist.11 Es ist wahr, dass es mehrere Arten gibt, solche Diskordanzen zu interpretieren: idealerweise durch die Abweichung zwischen der realen Institution und ihrem vermeintlichen Idealmodell; moralisch, indem man eine strukturelle Verbindung von Gesetz und Übertretung anruft; physisch, als handelte es sich um ein Abnutzungsphänomen, das bewirkt, dass die soziale Maschine nicht mehr fähig ist, ihre Materialien zu verarbeiten. Aber auch hier scheint es, dass die richtige Interpretation vor allem aktuell und funktional ist: Damit eine soziale Maschine funktioniert, muss sie nicht gut funktionieren. Man hat das gerade am segmentären System zeigen können, das immer dazu berufen ist, sich auf seinen eigenen Ruinen wieder zu konstituieren; ebenso die Organisation der politischen Funktion in diesen Systemen, die sich effektiv nur ausübt, indem sie ihre eigene Ohnmacht anzeigt.12 Die Ethnologen hören nicht auf zu sagen, dass die Verwandtschaftsregeln in den realen Ehen weder angewandt werden noch anwendbar sind: nicht weil diese Regeln ideal wären, sondern im Gegenteil, weil sie kritische Punkte bestimmen, an denen das Dispositiv wieder in Gang kommt, vorausgesetzt, es wird blockiert, und sich notwendig in einer negativen Beziehung zur Gruppe befindet. Dort erscheint die Identität der sozialen Maschine mit der begehrenden Maschine: Sie hat nicht die Abnutzung als Grenze, sondern das Verfehlen, sie funktioniert nur knarrend, sich verstimmend, in kleinen Explosionen auseinanderbrechend – die Fehlfunktionen gehören zu ihrem Funktionieren selbst, und das ist nicht der geringste Aspekt des Systems der Grausamkeit. Niemals hat eine Diskordanz oder eine Fehlfunktion den Tod einer sozialen Maschine angekündigt, die es im Gegenteil gewohnt ist, sich von den Widersprüchen zu nähren, die sie aufwirft, von den Krisen, die sie hervorruft, von den Ängsten, die sie erzeugt, und von höllischen Operationen, die sie wieder beleben: Der Kapitalismus hat das gelernt und hat aufgehört, an sich zu zweifeln, während sogar die Sozialisten darauf verzichteten, an die Möglichkeit seines natürlichen Todes durch Abnutzung zu glauben. Niemals ist jemand an Widersprüchen gestorben. Und je mehr es sich verstimmt, je mehr es schizophrenisiert, desto besser läuft es, auf amerikanische Art.
Aber schon von diesem Standpunkt aus, auch wenn es nicht auf dieselbe Weise ist, muss man den primitiven Socius betrachten, die territoriale Maschine, Allianzen und Filiationsverhältnisse zu deklinieren. Diese Maschine ist die Segmentäre, weil sie durch ihr doppeltes tribales und lineares Dispositiv Segmente variabler Länge abteilt: genealogische filiative Einheiten großer, kleiner und minimaler Linien, mit ihrer Hierarchie und ihren jeweiligen Häuptlingen, älteren Hütern des Bestands und Organisatoren der Ehen; tribale territoriale Einheiten primärer, sekundärer und tertiärer Sektionen, mit ebenfalls ihren Dominanzen und ihren Allianzen. „Der Trennungspunkt zwischen den tribalen Sektionen wird zum Divergenzpunkt der klanischen Struktur der Linien, die jeder der Sektionen zugeordnet sind; die Klans und ihre Linien sind keine unterschiedlichen kohärenten Gruppen, sondern sind in lokale Gemeinschaften eingegliedert, innerhalb derer sie strukturell funktionieren.“13 Die beiden Systeme schneiden sich, jedes Segment ist den Strömen und den Ketten zugeordnet, Beständen von Strömen und Durchgangsströmen, Abschöpfungen von Strömen und Ablösungen von Ketten (bestimmte Produktionsarbeiten erfolgen im Rahmen des tribalen Systems, andere im Rahmen des linearen Systems). Zwischen dem Unveräußerlichen der Filiation und dem Mobilen der Allianz alle Arten von Durchdringungen, die aus der Variabilität und der Relativität der Segmente kommen. Denn jedes Segment misst seine Länge und existiert als solches nur durch Opposition zu anderen Segmenten in einer Reihe von Stufen, die zueinander geordnet sind: Die segmentäre Maschine mischt Wettbewerbe, Konflikte und Brüche durch die Variationen der Filiation und die Schwankungen der Allianz. Das ganze System bewegt sich zwischen zwei Polen, dem der Fusion durch Opposition zu anderen Gruppen, dem der Spaltung durch ständige Bildung neuer Linien, die nach Unabhängigkeit streben, mit Kapitalisierung von Allianzen und Filiation. Von einem Pol zum anderen treten alle Fehlschläge, alle Misserfolge in dem System auf, das nicht aufhört, aus seinen eigenen Diskordanzen wiedergeboren zu werden. Was heißt es, wenn Jeanne Favret, zusammen mit anderen Ethnologen, zeigt, dass „das Fortbestehen einer segmentären Organisation paradoxerweise verlangt, dass ihre Mechanismen hinreichend ineffizient sind, damit die Furcht der Motor des Ganzen bleibt“? Und welche Furcht? Man würde sagen, dass die sozialen Formationen, mit einer tödlichen und melancholischen Vorahnung, erahnen, was ihnen widerfahren wird, obwohl das, was ihnen widerfährt, ihnen immer von außen widerfährt und in ihre Öffnung hineinstürzt. Vielleicht ist es sogar aus diesem Grund, dass es ihnen von außen widerfährt; sie ersticken die innere Potentialität, um den Preis dieser Dysfunktionen, die dann integraler Bestandteil des Funktionierens ihres Systems werden.
Die segmentäre territoriale Maschine bannt die Fusion durch die Spaltung und verhindert die Konzentration von Macht, indem sie die Häuptlingsorgane in einer Ohnmachtsbeziehung zur Gruppe hält: als ob die Wilden selbst den Aufstieg des imperialen Barbaren erahnten, der doch von außen kommen und alle ihre Codes überkodieren wird. Aber die größte Gefahr wäre noch eine Zerstreuung, eine Spaltung derart, dass darin alle Möglichkeiten des Codes aufgehoben wären: dekodierte Ströme, die auf einem blinden und stummen, deterritorialisierten Socius fließen, das ist der Albtraum, den die primitive Maschine mit all ihren Kräften und mit all ihren segmentären Artikulationen bannt. Die primitive Maschine ignoriert Austausch, Handel und Industrie nicht, sie bannt sie, lokalisiert sie, rastert sie, fasst sie ein, hält den Händler und den Schmied in einer untergeordneten Position, damit Ströme des Austauschs und der Produktion nicht die Codes zugunsten ihrer abstrakten oder fiktiven Quantitäten zerbrechen. Und ist nicht auch das der Ödipus, die Angst vor dem Inzest: die Furcht vor einem dekodierten Strom? Wenn der Kapitalismus die universelle Wahrheit ist, dann in dem Sinn, dass er das Negative aller sozialen Formationen ist: er ist das Ding, das Unnennbare, die verallgemeinerte Dekodierung der Ströme, die umgekehrt das Geheimnis all dieser Formationen verständlich macht, die Ströme zu kodieren und sie sogar zu überkodieren, statt dass etwas der Kodierung entkommt. Es sind nicht die primitiven Gesellschaften, die außerhalb der Geschichte sind, es ist der Kapitalismus, der am Ende der Geschichte ist, er ist es, der aus einer langen Geschichte der Kontingenzen und der Unfälle hervorgeht und dieses Ende eintreten lässt. Man kann nicht sagen, dass die früheren Formationen dieses Ding nicht vorausgesehen hätten, das nur von außen gekommen ist, indem es von innen heraufstieg, und das man am Aufsteigen hindert. Daher die Möglichkeit einer rückblickenden Lektüre der ganzen Geschichte in Funktion des Kapitalismus. Man kann schon in vorkapitalistischen Gesellschaften das Zeichen der Klassen suchen. Aber die Ethnologen bemerken, wie schwierig es ist, diese Proto-Klassen von den Kasten zu trennen, die von der imperialen Maschine organisiert werden, und von den Rängen, die von der primitiven segmentären Maschine verteilt werden. Die Kriterien, die Klassen, Kasten und Ränge unterscheiden, dürfen nicht auf der Seite der Fixität oder der Durchlässigkeit, der relativen Geschlossenheit oder Offenheit gesucht werden; diese Kriterien erweisen sich jedes Mal als enttäuschend, eminent trügerisch. Aber die Ränge sind untrennbar von der primitiven territorialen Kodierung, wie die Kasten von der imperialen staatlichen Überkodierung; während die Klassen relativ sind zum Prozess einer dekodierten industriellen und warenförmigen Produktion unter den Bedingungen des Kapitalismus. Man kann also die ganze Geschichte unter dem Zeichen der Klassen lesen, aber unter Beachtung der von Marx angegebenen Regeln, und insofern die Klassen das „Negative“ der Kasten und der Ränge sind. Denn gewiss bedeutet das Regime der Dekodierung nicht Abwesenheit von Organisation, sondern die düsterste Organisation, die härteste Buchführung, die Axiomatik, die die Codes ersetzt und sie stets, umgekehrt, umfasst.
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Der volle Körper der Erde ist nicht ohne Unterscheidung. Leidend und gefährlich, einzig, universal, legt er sich auf die Produktion, auf die Agenten und die Produktionsverbindungen. Aber auch an ihm hängt sich alles an und schreibt sich ein, alles wird angezogen, wundersam gemacht. Er ist das Element der disjunktiven Synthese und ihrer Reproduktion: reine Kraft der Filiation oder Genealogie, Numen. Der volle Körper ist der Ungezeugte, aber die Filiation ist der erste Einschreibungscharakter, der auf diesem Körper markiert ist. Und wir wissen, was diese intensive Filiation ist, diese inklusive Disjunktion, in der sich alles teilt, aber in sich selbst, und in der dasselbe Sein überall ist, von allen Seiten, auf allen Ebenen, bis auf den Intensitätsunterschied. Dasselbe eingeschlossene Sein durchläuft auf dem vollen Körper unteilbare Distanzen und geht durch alle Singularitäten, alle Intensitäten einer Synthese, die gleitet und sich reproduziert. Es nützt nichts, daran zu erinnern, dass die genealogische Filiation sozial und nicht biologisch ist, sie ist notwendig bio-sozial, insofern sie sich auf das kosmische Ei des vollen Körpers der Erde einschreibt. Sie hat einen mythischen Ursprung, der das Eine ist, oder vielmehr das primitive Eins-zwei. Soll man die Zwillinge sagen oder den Zwilling, der sich in sich selbst teilt und vereinigt, den Nommo oder die Nommo? Die disjunktive Synthese verteilt die ursprünglichen Ahnen, aber jeder ist selbst ein kompletter voller Körper, männlich und weiblich, der auf sich alle Teilobjekte verklumpt, mit nur intensiven Variationen, die dem inneren Zickzack des dogonischen Eies entsprechen. Jeder wiederholt intensiv für sich die ganze Genealogie. Und überall ist es derselbe an beiden Enden der unteilbaren Distanz und von allen Seiten, Litanei von Zwillingen, intensive Filiation. Marcel Griaule und Germaine Dieterlen entwerfen am Anfang von Der bleiche Fuchs eine prachtvolle Theorie des Zeichens: die Zeichen der Filiation, Leitzeichen und Meisterzeichen, Zeichen des Begehrens, zunächst intensiv, die in Spirale fallen und eine Reihe von Explosionen durchqueren, bevor sie in den Bildern, Figuren und Zeichnungen eine Ausdehnung annehmen.
Wenn der volle Körper sich auf die produktiven Verknüpfungen legt und sie in ein Netz intensiver und inklusiver Disjunktionen einschreibt, muss er in diesem Netz selbst noch laterale Verknüpfungen wiederfinden oder wiederbeleben, sie sich zuschreiben, als ob er ihre Ursache wäre. Das sind die zwei Aspekte des vollen Körpers: verzauberte Oberfläche der Einschreibung, phantastisches Gesetz oder scheinbare objektive Bewegung; aber auch magischer Agent oder Fetisch, Quasi-Ursache. Es genügt ihm nicht, alle Dinge einzuschreiben, er muss so tun, als ob er sie produzierte. Die Verknüpfungen müssen in einer mit den eingeschriebenen Disjunktionen kompatiblen Form wieder erscheinen, auch wenn sie ihrerseits auf die Form dieser Disjunktionen zurückwirken. So ist die Allianz als zweites Einschreibungsmerkmal: Die Allianz legt den produktiven Verknüpfungen die extensive Form einer Konjugation von Personen auf, kompatibel mit den Disjunktionen der Einschreibung, wirkt aber umgekehrt auf die Einschreibung zurück, indem sie einen exklusiven und limitativen Gebrauch eben dieser Disjunktionen bestimmt. Daher ist es notwendig, dass die Allianz mythisch so dargestellt wird, als trete sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in den filiativischen Linien ein (obwohl sie in einem anderen Sinn immer schon da ist). Griaule erzählt, wie sich bei den Dogon zu einem Zeitpunkt etwas ereignet, auf der Ebene und auf der Seite des achten Ahnen: ein Entgleisen der Disjunktionen, die aufhören, inklusiv zu sein, und exklusiv werden; von da an eine Zerstückelung des vollen Körpers, eine Aufhebung der Zwillingshaftigkeit, eine Trennung der Geschlechter, markiert durch die Zirkumzision; aber auch eine Neukomposition des Körpers nach einem neuen Modell der Verknüpfung oder Konjugation, eine Artikulation der Körper für sich selbst und untereinander, eine laterale Einschreibung mit artikulatorischen Allianzsteinen, kurz ein ganzer Bogen der Allianz.14 Niemals leiten sich Allianzen aus Filiationsverhältnissen ab, noch lassen sie sich aus ihnen deduzieren. Aber, dieses Prinzip vorausgesetzt, müssen wir zwei Gesichtspunkte unterscheiden: den einen, ökonomischen und politischen, wo die Allianz immer schon da ist, sich mit ausgedehnten filiativischen Linien kombiniert und mit ihnen dekliniert, die ihr in einem vermeintlich in Extension gegebenen System nicht vorausgehen. Den anderen, mythischen, der zeigt, wie die Extension des Systems sich aus intensiven und ursprünglichen filiativischen Linien bildet und abgrenzt, die notwendigerweise ihren inklusiven oder unlimitierenden Gebrauch verlieren. Von diesem Standpunkt aus ist das ausgedehnte System gleichsam ein Gedächtnis der Allianzen und der Worte, das eine aktive Verdrängung des intensiven Gedächtnisses der Filiation impliziert. Denn wenn die Genealogie und die Filiationsverhältnisse Gegenstand eines stets wachsamen Gedächtnisses sind, dann insofern, als sie bereits in einem extensiven Sinn aufgefasst sind, den sie gewiss nicht besaßen, bevor die Bestimmung der Allianzen ihn ihnen verleiht; als intensive Filiationsverhältnisse hingegen sind sie Gegenstand eines besonderen, nächtlichen und bio-kosmischen Gedächtnisses, das gerade die Verdrängung erleiden muss, damit das neue ausgedehnte Gedächtnis eingesetzt wird.
Wir können besser verstehen, warum das Problem überhaupt nicht darin besteht, von den Filiationsverhältnissen zu den Allianzen zu gehen oder diese aus jenen zu schließen. Das Problem ist, von einer intensiven energetischen Ordnung zu einem extensiven System überzugehen, das sowohl die qualitativen Allianzen als auch die ausgedehnten Filiationsverhältnisse umfasst. Dass die erste Energie der intensiven Ordnung – das Numen – eine Energie der Filiation ist, ändert nichts an der Sache, denn diese intensive Filiation ist noch nicht ausgedehnt, enthält noch keinerlei Unterscheidung von Personen, ja nicht einmal von Geschlecht, sondern nur vorpersonale Intensitätsvariationen, die eine und dieselbe Zwillingshaftigkeit oder Bisexualität in verschiedenen Graden betreffen. Die Zeichen dieser Ordnung sind daher grundsätzlich neutral oder ambig (gemäß einem Ausdruck, dessen sich Leibniz bediente, um ein Zeichen zu bezeichnen, das ebenso gut + wie – sein kann). Es gilt zu wissen, wie man ausgehend von dieser ersten Intensität zu einem System in Extension gelangt, in dem 1o) die Filiationsverhältnisse ausgedehnte Filiationsverhältnisse in Form von Linien sein werden, die Unterscheidungen von Personen und Verwandtschaftsbezeichnungen enthalten; 2o) die Allianzen zugleich qualitative Beziehungen sein werden, die die ausgedehnten Filiationsverhältnisse ebenso voraussetzen wie umgekehrt; 3o) kurz, die ambigen intensiven Zeichen aufhören werden, es zu sein, und positiv oder negativ werden. Man sieht das klar in Seiten von Lévi-Strauss, der für einfache Formen der Ehe das Verbot der parallelen Cousins und die Empfehlung der Kreuzcousins erklärt: Jede Ehe zwischen zwei Linien A und B belegt das Paar mit einem Zeichen (+) oder (–), je nachdem, ob dieses Paar für A oder für B aus einem Erwerb oder aus einem Verlust resultiert. Es spielt in dieser Hinsicht keine Rolle, ob das Filiationsregime patrilinear oder matrilinear ist. In einem patrilinearen und patrilokalen Regime zum Beispiel sind „die verwandten Frauen Frauen, die verloren sind, die alliierten Frauen Frauen, die gewonnen sind. Jede aus diesen Ehen hervorgehende Familie ist also mit einem Zeichen belegt, das für die Ausgangsgruppe dadurch bestimmt ist, ob die Mutter der Kinder eine Tochter oder eine Schwiegertochter ist… Man wechselt das Zeichen, wenn man vom Bruder zur Schwester übergeht, da der Bruder eine Ehefrau erwirbt, während die Schwester für ihre eigene Familie verloren ist“. Aber, bemerkt Lévi-Strauss, man wechselt das Zeichen nicht weniger, wenn man die Generation wechselt: „Je nachdem, ob der Vater vom Standpunkt der Ausgangsgruppe eine Ehefrau erhalten hat oder ob die Mutter nach außen übertragen worden ist, haben die Söhne Anspruch auf eine Frau oder schulden eine Schwester. Zweifellos äußert sich dieser Unterschied in der Realität nicht als Verurteilung zum Junggesellentum für die Hälfte der männlichen Cousins: aber er drückt jedenfalls jenes Gesetz aus, dass ein Mann eine Ehefrau nur von der Gruppe erhalten kann, von der eine Frau einforderbar ist, weil in der höheren Generation eine Schwester oder eine Tochter verloren worden ist; während ein Bruder der Außenwelt eine Schwester (oder ein Vater eine Tochter) schuldet, weil in der höheren Generation eine Frau gewonnen worden ist… Was das Drehpunktpaar betrifft, gebildet aus einem Mann a, der mit einer Frau b verheiratet ist, besitzt es offensichtlich die beiden Zeichen, je nachdem, ob man es vom Standpunkt von A oder von B aus betrachtet, und dasselbe gilt für seine Kinder. Es genügt jetzt, die Generation der Cousins zu betrachten, um festzustellen, dass alle, die in der Beziehung (+ +) oder (– –) stehen, parallel sind, während alle, die in der Beziehung (+ –) oder (– +) stehen, gekreuzt sind.“15 Aber, so gestellt, geht es bei dem Problem weniger um die Ausübung einer logischen Kombinatorik, die ein Austauschspiel regelt, wie Lévi-Strauss es möchte, als um die Einsetzung eines physischen Systems, das sich natürlich in Begriffen von Schulden ausdrücken wird. Uns scheint es sehr wichtig, dass Lévi-Strauss selbst die Koordinaten eines physischen Systems anruft, auch wenn er darin nur eine Metapher sieht. Im physischen System in Extension geht etwas hindurch, das der Ordnung eines Energieflusses (+ – oder – +) angehört, etwas geht nicht hindurch oder bleibt blockiert (+ + oder – –), etwas blockiert oder lässt im Gegenteil hindurch. Etwas oder jemand. Und in diesem System in Extension gibt es keine erste Filiation, keine erste Generation oder keinen initialen Austausch, sondern immer und schon Allianzen, während zugleich die Filiationsverhältnisse ausgedehnt sind, indem sie sowohl ausdrücken, was in der Filiation blockiert bleiben muss, als auch, was in der Allianz hindurchgehen muss.
Wesentlich ist nicht, dass die Zeichen je nach den Geschlechtern und den Generationen wechseln, sondern dass man vom Intensiven zum Extensiven übergeht, das heißt von einer Ordnung ambiger Zeichen zu einem Regime wechselnder, aber bestimmter Zeichen. Hier ist der Rückgriff auf den Mythos unerlässlich, nicht weil er eine transponierte oder sogar invertierte Darstellung der realen Beziehungen in Extension wäre, sondern weil er allein, gemäß dem indigenen Denken und der indigenen Praxis, die intensiven Bedingungen des Systems bestimmt (einschließlich des Systems der Produktion). Deshalb erscheint uns ein Text von Marcel Griaule, der im Mythos ein Erklärungsprinzip des Avunkulats sucht, entscheidend und entzieht sich dem Vorwurf des Idealismus, der gewöhnlich gegen diese Art von Versuch erhoben wird; ebenso der jüngere Artikel, in dem Adler und Cartry die Frage wieder aufgreifen.16 Diese Autoren haben recht zu bemerken, dass das Verwandtschaftsatom von Lévi-Strauss (mit seinen vier Beziehungen Bruder–Schwester, Ehemann–Ehefrau, Vater–Sohn, Mutterbruder–Schwestersohn) sich ein fertiges Ganzes gibt, aus dem die Mutter als solche auf merkwürdige Weise ausgeschlossen ist, obwohl sie je nach Fall in Bezug auf ihre Kinder mehr oder weniger „Verwandte“ oder mehr oder weniger „Alliierte“ sein kann. Genau dort aber wurzelt der Mythos, der nicht expressiv, sondern konditionierend ist. Wie Griaule berichtet, ist der Yourougou, der in das Stück Plazenta eindringt, das er geraubt hat, gleichsam der Bruder seiner Mutter, mit der er sich in dieser Eigenschaft vereinigt: „Diese Gestalt ging nämlich in den Raum hinaus, indem sie einen Teil der nährenden Plazenta mitnahm, das heißt einen Teil seiner eigenen Mutter. Er betrachtete auch, dass dieses Organ ihm als Eigentum gehöre und Teil seiner eigenen Person sei, sodass er sich mit seiner Erzeugerin identifizierte, in diesem Fall der Gebärmutter der Welt, und sich auf dieselbe Stufe wie sie gestellt schätzte, vom Standpunkt der Generationen… Er fühlt unbewusst seine symbolische Zugehörigkeit zur Generation seiner Mutter und seine Ablösung von der realen Generation, deren Mitglied er ist… Da er seiner Ansicht nach von derselben Substanz und Generation wie seine Mutter ist, setzt er sich einem männlichen Zwilling seiner Erzeugerin gleich, und die mythische Regel der Vereinigung der beiden gepaarten Glieder stellt ihn als idealen Ehemann vor. Er müsste also, als Pseudo-Bruder seiner Erzeugerin, in der Situation ihres uterinen Onkels sein, des bezeichneten Ehemanns dieser Frau.“ Zweifellos findet man schon auf dieser Ebene alle beteiligten Gestalten, Mutter, Vater, Sohn, Bruder der Mutter, Schwester des Sohnes. Aber es ist offensichtlich und auffällig, dass es keine Personen sind: Ihre Namen bezeichnen keine Personen, sondern die intensiven Variationen einer „spiralförmig vibrierenden Bewegung“, inklusive Disjunktionen, notwendig zwillingshafte und bisexuelle Zustände, durch die ein Subjekt auf dem kosmischen Ei hindurchgeht. Man muss alles in Intensität interpretieren. Das Ei und die Plazenta selbst, durchlaufen von einer unbewussten Lebensenergie, „fähig zu Zunahme und Abnahme“. Der Vater ist keineswegs abwesend. Aber Amma, Vater und Erzeuger, ist selbst ein hoher intensiver Teil, der der Plazenta immanent ist, untrennbar von der Zwillingshaftigkeit, die ihn auf seinen weiblichen Teil bezieht. Und wenn der Sohn yourougou seinerseits einen Teil der Plazenta mitnimmt, dann in einem intensiven Verhältnis zu einem anderen Teil, der seine eigene Schwester oder Zwillingsschwester enthält. Doch, zu hoch zielend, macht der Teil, den er mitnimmt, ihn zum Bruder seiner Mutter, die die Schwester eminenterweise ersetzt und mit der er sich vereinigt, indem er selbst Amma ersetzt. Kurz, eine ganze Welt ambiger Zeichen, eingeschlossener Teilungen und bisexueller Zustände. Ich bin der Sohn und auch der Bruder meiner Mutter und der Ehemann meiner Schwester und mein eigener Vater. Alles ruht auf der zur Erde gewordenen Plazenta, dem Ungezeugten, vollem Körper der Anti-Produktion, an dem die Organ-Teilobjekte eines geopferten Nommo sich festhängen werden. Denn die Plazenta, als gemeinsame Substanz von Mutter und Kind, gemeinsamer Teil ihrer Körper, bewirkt, dass diese Körper nicht wie Ursache und Wirkung sind, sondern beide abgeleitete Produkte derselben Substanz, in Bezug auf die der Sohn der Zwilling seiner Mutter ist: Das ist tatsächlich die Achse des von Griaule berichteten dogonischen Mythos. Ja, ich bin meine Mutter gewesen und ich bin mein Sohn gewesen. Selten wird man gesehen haben, dass Mythos und Wissenschaft in so großer Entfernung dasselbe sagen: Die dogonische Erzählung entfaltet einen mythischen Weismannismus, in dem das Keimplasma eine unsterbliche und kontinuierliche Linie bildet, die nicht von den Körpern abhängt, von der vielmehr umgekehrt die Körper der Eltern wie die der Kinder abhängen. Daher die Unterscheidung zweier Linien, der einen kontinuierlichen und keimlichen, der anderen somatischen und diskontinuierlichen, die allein der Sukzession der Generationen unterworfen ist. (Lyssenko fand einen natürlich dogonischen Ton, um ihn gegen Weismann zu wenden und diesem vorzuwerfen, er mache den Sohn zum genetischen oder keimlichen Bruder der Mutter: „die Morganisten-Mendelianer gehen im Gefolge Weismanns von der Idee aus, dass die Eltern genetisch nicht die Eltern ihrer Kinder sind; ihrer Doktrin zufolge sind Eltern und Kinder Brüder und Schwestern…“.)17
Aber der Sohn ist somatisch nicht der Bruder und der Zwilling seiner Mutter. Deshalb kann er sie nicht heiraten (auch wenn wir gleich den Sinn dieses „deshalb“ erklären). Derjenige, der die Mutter hätte heiraten sollen, ist also der uterine Onkel. Erste Konsequenz: Der Inzest mit der Schwester ist kein Ersatz für den Inzest mit der Mutter, sondern im Gegenteil das intensive Modell des Inzests als Manifestation der keimlichen Linie. Und dann ist nicht Hamlet eine Extension des Ödipus, ein Ödipus zweiten Grades: Im Gegenteil ist ein negativer oder invertierter Hamlet dem Ödipus gegenüber ursprünglich. Das Subjekt wirft dem Onkel nicht vor, getan zu haben, was es selbst zu tun begehrte; es wirft ihm vor, nicht getan zu haben, was es selbst, der Sohn, nicht tun konnte. Und warum hat der Onkel die Mutter, seine somatische Schwester, nicht geheiratet? Weil er es nur im Namen jener keimlichen Filiation hätte tun sollen, markiert von den ambigen Zeichen der Zwillingshaftigkeit und der Bisexualität, gemäß derer der Sohn es ebenso hätte tun können und selbst dieser Onkel hätte sein können, in intensivem Verhältnis zur Mutter-Zwillingin. So schließt sich der Teufelskreis der keimlichen Linie (der primitive double bind): Auch der Onkel kann seine Schwester, die Mutter, nicht heiraten; noch kann dann das Subjekt seine eigene Schwester heiraten – die Zwillingsschwester des Yourougou wird den Nommo als potenzielle Alliierte überlassen werden. Die Ordnung des Soma lässt die ganze intensive Skala wieder herabstürzen. Aber dadurch gilt: Wenn der Sohn seine Mutter nicht heiraten kann, dann nicht, weil er somatisch einer anderen Generation angehört. Gegen Malinowski hat Lévi-Strauss gut gezeigt, dass die Vermischung der Generationen als solche keineswegs gefürchtet wurde und dass sich das Inzestverbot nicht so erklärt.18 Es ist, weil die Vermischung der Generationen im Fall Sohn–Mutter denselben Effekt hat wie ihre Entsprechung im Fall Onkel–Schwester, das heißt in beiden Fällen von ein und derselben intensiven keimlichen Filiation zeugt, die es zu verdrängen gilt. Kurz, ein somatisches System in Extension kann sich nur konstituieren, insofern die Filiationsverhältnisse ausgedehnt werden, korrelativ zu lateralen Allianzen, die eingesetzt werden. Durch das Verbot des Inzests mit der Schwester knüpft sich die laterale Allianz, durch das Verbot des Inzests mit der Mutter wird die Filiation ausgedehnt. Es gibt dort keine Verdrängung des Vaters, keine Verwerfung des Namens des Vaters; die jeweilige Position der Mutter oder des Vaters als Verwandte oder Alliierte, der patrilineare oder matrilineare Charakter der Filiation, der patrilaterale oder matrilaterale Charakter der Ehe sind aktive Elemente der Verdrängung und nicht Gegenstände, auf die sie sich richtet. Es ist nicht einmal das Gedächtnis der Filiation im Allgemeinen, das durch ein Gedächtnis der Allianz verdrängt würde. Es ist das große nächtliche Gedächtnis der intensiven keimlichen Filiation, das zugunsten eines somatischen extensiven Gedächtnisses verdrängt wird, bestehend aus den ausgedehnt gewordenen Filiationsverhältnissen (patrilinear oder matrilinear) und den Allianzen, die sie implizieren. Der ganze dogonische Mythos ist eine patrilineare Version der Opposition zwischen den zwei Genealogien, den zwei Filiationsverhältnissen: in Intensität und in Extension, der intensiven keimlichen Ordnung und dem extensiven Regime der somatischen Generationen.
Das System in Extension entsteht aus den intensiven Bedingungen, die es möglich machen, wirkt aber auf sie zurück, annulliert sie, verdrängt sie und lässt ihnen nur mythischen Ausdruck. Zugleich hören die Zeichen auf, ambig zu sein, und bestimmen sich in Bezug auf die ausgedehnten Filiationsverhältnisse und die lateralen Allianzen; die Disjunktionen werden exklusiv, limitativ (das Oder ersetzt das intensive „sei es… sei es“); die Namen, die Bezeichnungen bezeichnen nicht mehr intensive Zustände, sondern unterscheidbare Personen. Die Unterscheidbarkeit setzt sich auf der Schwester, der Mutter als verbotenen Ehefrauen. Denn die Personen, mit den Namen, die sie jetzt bezeichnen, gehen den Verboten, die sie als solche konstituieren, nicht voraus. Mutter und Schwester gehen ihrem Verbot als Ehefrauen nicht voraus. Robert Jaulin sagt sehr treffend: „Die mythische Rede hat zum Thema den Übergang von der Gleichgültigkeit gegenüber dem Inzest zu seinem Verbot: implizit oder explizit ist dieses Thema allen Mythen unterlegt; es ist daher eine formale Eigenschaft dieser Sprache.“19 Aus dem Inzest muss man buchstäblich schließen, dass er nicht existiert, nicht existieren kann. Beim Inzest ist man immer diesseits, in einer Serie von Intensitäten, die die unterscheidbaren Personen ignoriert; oder jenseits, in einer Extension, die sie anerkennt, sie konstituiert, sie aber nicht konstituiert, ohne sie als sexuelle Partner unmöglich zu machen. Den Inzest kann man nur im Anschluss an eine Serie von Substitutionen begehen, die uns stets von ihm entfernt, das heißt mit einer Person, die nur dadurch für die Mutter oder die Schwester gilt, dass sie es nicht ist: diejenige, die als mögliche Ehefrau unterscheidbar ist. Das ist der Sinn der Präferenzehe: der erste erlaubte Inzest; aber es ist kein Zufall, dass er selten vollzogen wird, als ob er noch zu nah am unmöglich Nicht-Existierenden wäre (zum Beispiel die dogonische Präferenzehe mit der Tochter des Onkels, die für die Tante gilt, die ihrerseits für die Mutter gilt). Griaules Artikel ist zweifellos, in der ganzen Ethnologie, der Text, der am tiefsten von der Psychoanalyse inspiriert ist. Und doch zieht er Konsequenzen nach sich, die den ganzen Ödipus sprengen, weil er sich nicht damit begnügt, das Problem in Extension zu stellen und es damit als gelöst vorauszusetzen. Es sind diese Konsequenzen, die Adler und Cartry zu ziehen verstanden haben: „Man pflegt die inzestuösen Beziehungen im Mythos entweder als Ausdruck des Begehrens oder der Nostalgie nach einer Welt zu betrachten, in der solche Beziehungen möglich oder gleichgültig wären, oder als Ausdruck einer strukturellen Funktion der Umkehrung der sozialen Regel, einer Funktion, die dazu bestimmt ist, das Verbot und seine Übertretung zu begründen… In dem einen wie im anderen Fall gibt man sich schon als konstituiert, was gerade das Hervortreten einer Ordnung ist, die der Mythos erzählt und erklärt. Mit anderen Worten, man argumentiert, als ob der Mythos Personen inszeniere, die als Vater, Mutter, Sohn und Schwester definiert sind, während diese Verwandtschaftsrollen zu der durch das Verbot konstituierten Ordnung gehören…: der Inzest existiert nicht.“20 Der Inzest ist eine reine Grenze. Unter der Bedingung, zwei falsche Überzeugungen über die Grenze zu vermeiden: die eine, die aus der Grenze eine Matrix oder einen Ursprung macht, als ob das Verbot beweisen würde, dass das Ding als solches „zuerst“ begehrt war; die andere, die aus der Grenze eine strukturelle Funktion macht, als ob eine vermeintlich „fundamentale“ Beziehung zwischen Begehren und Gesetz in der Übertretung wirksam würde. Wieder einmal muss man daran erinnern, dass das Gesetz nichts über eine ursprüngliche Realität des Begehrens beweist, weil es das Begehrte wesentlich entstellt, und dass die Übertretung nichts über eine funktionale Realität des Gesetzes beweist, weil sie, weit davon entfernt, eine Verhöhnung des Gesetzes zu sein, selbst im Verhältnis zu dem, was das Gesetz wirklich verbietet, lächerlich ist (weshalb Revolutionen nichts mit Übertretungen zu tun haben). Kurz, die Grenze ist weder ein Diesseits noch ein Jenseits: Sie ist Grenze zwischen beiden, flacher Bach, verleumdet der Inzest, immer schon überschritten oder noch nicht überschritten. Denn der Inzest ist wie die Bewegung, er ist unmöglich. Und er ist nicht unmöglich in dem Sinn, wie das Reale es wäre, sondern im Gegenteil in dem Sinn, wie das Symbolische es ist.
Aber was heißt das, der Inzest ist unmöglich? Ist es nicht möglich, mit seiner Schwester oder mit seiner Mutter zu schlafen? Und wie soll man auf das alte Argument verzichten: Es muss doch möglich sein, weil es verboten ist? Aber das Problem liegt anderswo. Die Möglichkeit des Inzests würde sowohl die Personen als auch die Namen erfordern, Sohn, Schwester, Mutter, Bruder, Vater. Nun können wir im Inzestakt über die Personen verfügen, aber sie verlieren ihren Namen, insofern diese Namen untrennbar mit dem Verbot sind, das sie als Partner untersagt; oder die Namen bleiben bestehen, und bezeichnen nur noch vorpersonale intensive Zustände, die sich ebenso gut auf andere Personen „ausdehnen“ könnten, wie wenn man seine rechtmäßige Ehefrau Mama nennt oder seine Ehefrau Schwester. In diesem Sinn sagten wir: Man ist immer diesseits oder jenseits. Unsere Mütter, unsere Schwestern schmelzen in unseren Armen; ihr Name gleitet über ihre Person wie eine zu feuchte Briefmarke. Denn man kann niemals zugleich die Person und den Namen genießen – was doch die Bedingung des Inzests wäre. Also, der Inzest ist ein Trugbild, er ist unmöglich. Aber das Problem ist nur verschoben. Ist es nicht das Eigentümliche des Begehrens, dass man das Unmögliche begehrt? Wenigstens ist in diesem Fall diese Plattheit nicht einmal wahr. Man erinnert sich, wie illegitim es ist, vom Verbot auf die Natur dessen zu schließen, was verboten ist; denn das Verbot verfährt, indem es den Schuldigen entehrt, das heißt indem es ein entstelltes und verschobenes Bild dessen induziert, was wirklich verboten oder begehrt ist. Gerade auf diese Weise lässt die Repression sich durch eine Verdrängung verlängern, ohne die sie das Begehren nicht zu fassen bekäme. Begehrt ist der intensive keimliche oder keimbildende Strom, in dem man vergeblich nach Personen und selbst nach unterscheidbaren Funktionen wie Vater, Mutter, Sohn, Schwester usw. suchen würde, da diese Namen dort nur intensive Variationen auf dem vollen Körper der Erde bezeichnen, bestimmt als Keim. Man kann dieses Regime eines einzigen und desselben Seins oder Stroms, der gemäß inklusiven Disjunktionen in Intensität variiert, ebenso gut Inzest wie Indifferenz gegenüber dem Inzest nennen. Aber gerade darum kann man den Inzest, wie er in diesem intensiven nichtpersonalen Regime wäre, das ihn einsetzte, nicht mit dem Inzest verwechseln, wie er in Extension in dem Zustand repräsentiert wird, der ihn verbietet und ihn als Übertretung an Personen definiert. Jung hat also völlig recht, zu sagen, dass der Ödipuskomplex etwas ganz anderes als sich selbst bedeutet und dass die Mutter darin ebenso gut die Erde ist, der Inzest, eine unendliche Wiedergeburt (sein Fehler besteht nur darin, zu glauben, so die Sexualität „zu überschreiten“). Der somatische Komplex verweist auf einen keimlichen Implex. Der Inzest verweist auf ein Diesseits, das im Komplex nicht als solches repräsentiert werden kann, da der Komplex ein abgeleitetes Element der Verdrängung dieses Diesseits ist. Der Inzest, wie er verboten ist (Form der unterscheidbar gemachten Personen), dient dazu, den Inzest zu verdrängen, wie er begehrt ist (der Grund der intensiven Erde). Der intensive keimliche Strom ist der Repräsentant des Begehrens, auf ihn richtet sich die Verdrängung; die extensive ödipale Figur ist das verschobene Repräsentierte, das Trugbild oder das zurechtgemachte Bild, das das Begehren überdeckt, hervorgerufen durch die Verdrängung. Es spielt keine Rolle, dass dieses Bild „unmöglich“ ist: Es erfüllt seinen Dienst, sobald das Begehren sich daran fangen lässt wie am Unmöglichen selbst. Siehst du, das war es, was du wolltest!… Und doch ist es gerade dieser Schluss, der direkt vom Verdrängenden auf das Verdrängte und vom Verbot auf das Verbotene geht, der schon den ganzen Paralogismus der Repression impliziert.
Aber warum wird der Implex oder der keimliche Zustrom verdrängt, er, der doch der territoriale Repräsentant des Begehrens ist? Weil… das, worauf er als Repräsentant verweist, ein Strom wäre, der nicht kodierbar wäre, der sich nicht kodieren ließe – eben der Schrecken des primitiven Socius. Keine Kette könnte sich ablösen, nichts könnte abgeschöpft werden; nichts ginge von der Filiation in die Abstammung über, vielmehr würde die Abstammung im Akt, sich selbst wieder zu erzeugen, fortwährend auf die Filiation zurückgelegt; die signifikante Kette würde keinen Code bilden, sie würde nur ambige Zeichen aussenden und würde fortwährend von ihrem energetischen Träger angefressen; was auf dem vollen Körper der Erde flösse, wäre ebenso entfesselt wie die unkodierten Ströme, die über die Wüste eines Körpers ohne Organe gleiten. Denn die Frage ist weniger die des Überflusses oder der Knappheit, der Quelle oder des Versiegens (selbst Versiegen ist ein Strom), als die des Kodierbaren und des Nicht-Kodierbaren. Der keimliche Strom ist so beschaffen, dass es auf dasselbe hinausläuft zu sagen, alles würde mit ihm hindurchgehen oder fließen, oder im Gegenteil, alles wäre blockiert. Damit Ströme kodierbar sind, muss ihre Energie sich quantifizieren und qualifizieren lassen – es müssen Abschöpfungen von Strömen im Verhältnis zu Ablösungen der Kette stattfinden – es muss etwas hindurchgehen, aber auch muss etwas blockiert sein, und etwas muss blockieren oder hindurchgehen lassen. Nun ist das nur im System in Extension möglich, das die Personen unterscheidbar macht und das aus den Zeichen einen bestimmten Gebrauch macht, aus den disjunktiven Synthesen einen exklusiven Gebrauch, aus den konnektiven Synthesen einen konjugalen Gebrauch. Das ist tatsächlich der Sinn des Inzestverbots, begriffen als Einsetzung eines physischen Systems in Extension: Man muss in jedem Fall suchen, was vom Intensitätsstrom hindurchgeht, was nicht hindurchgeht, was hindurchgehen lässt oder am Hindurchgehen hindert, je nach dem patrilateralen oder matrilateralen Charakter der Ehen, je nach dem matrilinearen oder patrilinearen Charakter der Linien, je nach dem allgemeinen Regime der ausgedehnten Filiationsverhältnisse und der lateralen Allianzen. Kehren wir zur dogonischen Präferenzehe zurück, wie sie von Griaule analysiert wird: Was blockiert ist, ist das Verhältnis zur Tante als Substitut der Mutter, in der Form der Scherzverwandten; was hindurchgeht, ist das Verhältnis zur Tochter der Tante, als Substitut der Tante, als erster möglicher oder erlaubter Inzest; was blockiert oder was hindurchgehen lässt, ist der uterine Onkel. Was hindurchgeht, zieht, als Kompensation dessen, was blockiert ist, einen wirklichen Code-Mehrwert nach sich, der dem Onkel zufällt, insofern er hindurchgehen lässt, während er eine Art „Minuswert“ erleidet, insofern er blockiert (so die rituellen Diebstähle, die die Neffen im Haus des Onkels begehen, aber auch, wie Griaule sagt, „die Vermehrung und die Fruchtbarmachung“ der Güter des Onkels, wenn der älteste der Neffen bei ihm wohnen kommt). Das grundlegende Problem: Wem fallen die ehelichen Leistungen in diesem oder jenem System zu? kann nicht gelöst werden unabhängig von der Komplexität der Durchgangslinien und der Blockierungslinien – als ob das, was blockiert oder verboten ist, „bei der Hochzeit wie ein Gespenst“ wiedererschiene, um seinen Anteil einzufordern.21 Löffler schreibt in einem bestimmten Fall: „Bei den Mru setzt sich das patrilineare Modell gegenüber der matrilinearen Tradition durch: Die Bruder–Schwester-Beziehung, die von Vater zu Sohn und von Mutter zu Tochter übertragen wird, kann durch die Vater–Sohn-Beziehung unbegrenzt fortgesetzt werden, nicht aber durch die Mutter–Tochter-Beziehung, die mit der Heirat der Tochter endet. Eine verheiratete Tochter überträgt auf ihre eigene Tochter eine neue Beziehung, nämlich die, die sie mit ihrem eigenen Bruder verbindet. Zugleich löst sich eine Tochter, die heiratet, nicht vom Linienverband ihres Bruders, sondern einzig von dem des Bruders ihrer Mutter. Die Bedeutung der Zahlungen an den Bruder der Mutter bei der Heirat seiner Nichte ist nur so zu verstehen: Das junge Mädchen verlässt die alte Familiengruppe ihrer Mutter. Die Nichte wird selbst Mutter und Ausgangspunkt einer neuen Bruder–Schwester-Beziehung, auf der eine neue Allianz gründet.“22 Was sich verlängert, was aufhört, was sich ablöst, und die verschiedenen Beziehungen, nach denen diese Handlungen und Leidenschaften verteilt werden, machen den Mechanismus der Bildung des Code-Mehrwerts verständlich, als unverzichtbares Stück jeder Kodierung der Ströme.
Wir können nun die verschiedenen Instanzen der territorialen Repräsentation im primitiven Socius skizzieren. Zunächst bedingt der keimliche Intensitätszustrom jede Repräsentation: Er ist der Repräsentant des Begehrens. Wenn er Repräsentant genannt wird, dann deshalb, weil er für die nicht kodierbaren, nicht kodierten oder dekodierten Ströme steht. In diesem Sinn impliziert er auf seine Weise die Grenze des Socius, die Grenze und das Negative jedes Socius. Daher ist die Repression dieser Grenze nur möglich, sofern der Repräsentant selbst eine Verdrängung erleidet. Diese Verdrängung bestimmt, was vom Zustrom in das System in Extension hindurchgehen wird und was nicht hindurchgehen wird, was in den ausgedehnten Filiationsverhältnissen blockiert oder gelagert bleiben wird, was dagegen sich bewegen und fließen wird gemäß den Allianzverhältnissen, sodass die systematische Kodierung der Ströme vollzogen wird. Wir nennen Allianz diese zweite Instanz, die verdrängende Repräsentation selbst, da die Filiationsverhältnisse nur in Funktion der lateralen Allianzen ausgedehnt werden, die ihre variablen Segmente messen. Daher die Bedeutung jener „lokalen Linien“, die Leach identifiziert hat – und die zu zweit die Allianzen organisieren und die Ehen aushecken. Wenn wir ihnen eine pervers-normale Tätigkeit zuschrieben, wollten wir sagen, dass diese lokalen Gruppen die Agenten der Verdrängung waren, die großen Koder. Überall dort, wo Männer sich treffen und sich zusammenschließen, um sich Frauen zu nehmen, sie zu verhandeln, zu teilen usw., erkennt man das perverse Band einer primären Homosexualität zwischen lokalen Gruppen, zwischen Schwägern, Co-Ehemännern, Kindheitspartnern. Indem Georges Devereux die universelle Tatsache hervorhob, dass die Ehe keine Allianz zwischen einem Mann und einer Frau ist, sondern „eine Allianz zwischen zwei Familien“, „eine Transaktion zwischen Männern bezüglich Frauen“, zog er daraus den richtigen Schluss einer grundlegenden und gruppenhaften homosexuellen Motivation.23 Durch die Frauen stellen die Männer ihre eigenen Verknüpfungen her; durch die Disjunktion Mann–Frau, die in jedem Augenblick das Ergebnis der Filiation ist, setzt die Allianz die Männer unterschiedlicher Filiation in Verbindung. Die Frage: Warum hat eine weibliche Homosexualität nicht zu amazonischen Gruppen geführt, die fähig wären, die Männer zu verhandeln? – findet vielleicht ihre Antwort in der Affinität der Frauen zum keimlichen Zustrom, folglich in ihrer geschlossenen Position innerhalb der ausgedehnten Filiationsverhältnisse (Hysterie der Filiation im Gegensatz zur Paranoia der Allianz). Die männliche Homosexualität ist also die Allianzrepräsentation, die die ambigen Zeichen der intensiven bisexuierten Filiation verdrängt. Allerdings scheint uns Devereux sich zweimal zu irren: wenn er erklärt, er sei lange vor dieser Entdeckung einer zu ernsten, wie er sagt, homosexuellen Repräsentation zurückgeschreckt (das ist nur eine primitive Version der Formel „Alle Männer sind Schwuchteln“, und gewiss sind sie es nie mehr, als wenn sie Ehen aushecken). Andererseits und vor allem, wenn er diese Allianz-Homosexualität zu einem Produkt des Ödipuskomplexes machen will, insofern dieser verdrängt ist. Niemals lässt sich die Allianz aus den Filiationslinien mittels Ödipus deduzieren, sie artikuliert sie im Gegenteil, unter der Wirkung der lokalen Linien und ihrer primären nicht-ödipalen Homosexualität. Und wenn es wahr ist, dass es eine ödipale oder filiative Homosexualität gibt, muss man darin nur eine sekundäre Reaktion auf diese Gruppenhomosexualität sehen, zunächst nicht-ödipal. Was Ödipus im Allgemeinen betrifft, ist er nicht das Verdrängte, das heißt der Repräsentant des Begehrens, der diesseits liegt und Papa-Mama völlig ignoriert. Er ist ebenso wenig die verdrängende Repräsentation, die jenseits liegt und die Personen nur dadurch unterscheidbar macht, dass sie sie den homosexuellen Regeln der Allianz unterwirft. Der Inzest ist nur die rückwirkende Wirkung der verdrängenden Repräsentation auf den verdrängten Repräsentanten: Sie entstellt oder verschiebt diesen Repräsentanten, auf den sie sich richtet, sie projiziert auf ihn unterscheidbar gemachte Kategorien, die sie selbst eingesetzt hat, sie legt ihm Termini an, die nicht existierten, bevor die Allianz gerade das Positive und das Negative im System in Extension organisiert hatte – sie legt ihn auf das zurück, was in diesem System blockiert ist. Ödipus ist also tatsächlich die Grenze, aber die verschobene Grenze, die nun ins Innere des Socius übergeht. Ödipus ist das getäuschte Bild, an dem das Begehren sich fangen lässt (Das war es, was du wolltest! die dekodierten Ströme, das war der Inzest!). Dann beginnt eine lange Geschichte, die der Ödipianisierung. Aber gerade alles beginnt im Kopf des Laios, des alten Gruppenhomosexuellen, des Perversen, der dem Begehren eine Falle stellt. Denn das Begehren ist auch das, eine Falle. Die territoriale Repräsentation umfasst diese drei Instanzen, den verdrängten Repräsentanten, die verdrängende Repräsentation, das verschobene Repräsentierte.
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Wir gehen zu schnell, wir tun so, als wäre Ödipus schon in der wilden territorialen Maschine installiert. Doch, wie Nietzsche über das schlechte Gewissen sagt, wächst eine solche Pflanze nicht auf diesem Boden. Denn die Bedingungen des Ödipus als „Familienkomplex“, verstanden im Rahmen des der Psychiatrie und der Psychoanalyse eigenen Familialismus, sind offensichtlich nicht gegeben. Die wilden Familien bilden eine Praxis, eine Politik, eine Strategie von Allianzen und Filiationsverhältnissen; sie sind formal die treibenden Elemente der sozialen Reproduktion; sie haben nichts mit einem expressiven Mikrokosmos zu tun; der Vater, die Mutter, die Schwester funktionieren dort immer auch als etwas anderes als Vater, Mutter oder Schwester. Und mehr als Vater, Mutter usw. gibt es den Alliierten, der die konkrete aktive Realität konstituiert und die Verhältnisse zwischen Familien mit dem sozialen Feld koextensiv macht. Es wäre nicht einmal richtig zu sagen, dass die familialen Bestimmungen an allen Ecken dieses Feldes aufbrechen und an eigentlich sozialen Bestimmungen haften bleiben, da beide ein und dasselbe Stück in der territorialen Maschine sind. Da die familiale Reproduktion noch nicht ein bloßes Mittel oder eine Materie im Dienst einer sozialen Reproduktion anderer Natur ist, gibt es keine Möglichkeit, jene auf diese zurückzulegen, zwischen beiden biunivoque Beziehungen herzustellen, die irgendeinem Familienkomplex einen expressiven Wert und eine scheinbar autonome Form geben würden. Es ist im Gegenteil offensichtlich, dass das Individuum in der Familie, selbst ganz klein, direkt ein soziales, historisches, ökonomisches und politisches Feld investiert, irreduzibel sowohl auf jede mentale Struktur als auch auf jede affektive Konstellation. Deshalb erscheint es uns, wenn man pathologische Fälle und Heilprozesse in primitiven Gesellschaften betrachtet, völlig unzureichend, sie mit dem psychoanalytischen Prozess zu vergleichen, indem man sie auf Kriterien bezieht, die weiterhin diesem entlehnt bleiben: zum Beispiel ein Familienkomplex, selbst wenn er von unserem verschieden ist, oder kulturelle Inhalte, selbst wenn sie auf ein ethnisches Unbewusstes bezogen sind – wie man es in den Parallelismen sieht, die zwischen der psychoanalytischen Kur und der schamanischen Kur versucht werden (Devereux, Lévi-Strauss). Wir definierten die Schizo-Analyse durch zwei Aspekte: die Zerstörung der Pseudo-Formen des Expressiven des Unbewussten, die Entdeckung der unbewussten Investierungen des sozialen Feldes durch das Begehren. Von diesem Standpunkt aus muss man viele primitive Kuren betrachten; es sind Schizo-Analysen in actu.
Victor Turner gibt ein bemerkenswertes Beispiel einer solchen Kur bei den Ndembu.24 Das Beispiel ist umso frappierender, als alles, vor unseren pervertierten Augen, zunächst ödipisch erscheint. Verweiblicht, unerträglich, eitel, in allen seinen Unternehmungen scheiternd, ist der Kranke K die Beute des Schattens seines mütterlichen Großvaters, der ihm harte Vorwürfe macht. Obwohl die Ndembu matrilinear sind und bei ihren mütterlichen Verwandten wohnen müssen, hat K eine außergewöhnlich lange Zeit im Matrilinienverband seines Vaters verbracht, dessen Liebling er war, und hat väterliche Cousinen geheiratet. Aber nach dem Tod seines Vaters wird er vertrieben und kehrt ins mütterliche Dorf zurück. Dort drückt sein Haus seine Situation gut aus, eingeklemmt zwischen zwei Sektoren, den Häusern von Mitgliedern der väterlichen Gruppe und denen seines eigenen Matrilinienverbandes. Wie gehen nun die Divination vor, die die Ursache des Übels anzugeben hat, und die medizinische Kur, die es behandeln soll? Die Ursache ist der Zahn, die beiden oberen Schneidezähne des jagenden Ahnen, enthalten in einem heiligen Beutel, die aber daraus entweichen können, um in den Körper des Kranken einzudringen. Aber um zu diagnostizieren, um die Wirkungen des Schneidezahns zu bannen, liefern sich Wahrsager und Arzt einer sozialen Analyse bezüglich des Territoriums und seiner Nachbarschaft, der Häuptlingschaft und der Unterhäuptlingschaften, der Linien und ihrer Segmente, der Allianzen und der Filiationsverhältnisse: Sie hören nicht auf, das Begehren in seinen Beziehungen zu politischen und ökonomischen Einheiten aufzudecken – und gerade an diesem Punkt versuchen die Zeugen sie zu täuschen. „Die Divination wird zu einer Form sozialer Analyse, in deren Verlauf verborgene Kämpfe zwischen Individuen und Fraktionen aufgedeckt werden, so dass man sie durch traditionelle rituelle Verfahren behandeln kann…, der vage Charakter der mystischen Glaubensvorstellungen erlaubt es ihnen, in Beziehung zu einer großen Zahl sozialer Situationen manipuliert zu werden.“ Es zeigt sich, dass der pathogene Schneidezahn tatsächlich, hauptsächlich, der des mütterlichen Großvaters ist. Aber dieser war ein großer Häuptling; sein Nachfolger, der „reale Häuptling“, hatte aus Angst, verhext zu werden, verzichten müssen; und sein vermeintlicher Erbe, intelligent und unternehmend, hat die Macht nicht; der aktuelle Häuptling ist nicht der richtige; was den Kranken K betrifft, so hat er die Vermittlerrolle nicht zu übernehmen gewusst, die ihn zu einem Häuptlingskandidaten hätte machen können. Alles kompliziert sich wegen der Beziehungen Kolonisatoren–Kolonisierte, da die Engländer die Häuptlingschaft nicht anerkannt haben und das verarmte Dorf in Verfall gerät (die zwei Sektoren des Dorfes stammen aus einer Fusion zweier Gruppen, die vor den Engländern geflohen waren; die Alten stöhnen über den gegenwärtigen Niedergang). Der Arzt organisiert kein Soziodrama, sondern eine wirkliche Gruppenanalyse, zentriert auf den Kranken. Indem er ihm Tränke gibt, Hörner an seinen Körper bindet, um den Schneidezahn abzusaugen, die Trommeln schlagen lässt, führt der Arzt eine Zeremonie durch, unterbrochen von Stopps und Wiederanfängen, Ströme aller Art, Ströme von Worten und Schnitte: Die Mitglieder des Dorfes kommen, um zu sprechen, der Kranke spricht, der Schatten wird angerufen, man hält an, der Arzt erklärt, man beginnt von neuem, Trommeln, Gesänge, Trancen. Es geht nicht nur darum, die vorbewussten Investierungen des sozialen Feldes durch die Interessen zu entdecken, sondern tiefer seine unbewussten Investierungen durch das Begehren, so wie sie durch die Ehen des Kranken, seine Position im Dorf und alle im Gruppe in Intensität erlebten Häuptlingspositionen hindurchgehen.
Wir sagten, der Ausgangspunkt schien ödipisch. Das war nur der Ausgangspunkt für uns, abgerichtet, Ödipus zu sagen, sobald man uns von Vater, Mutter, Großvater spricht. In Wahrheit war die Ndembu-Analyse niemals ödipisch: Sie war direkt an die soziale Organisation und Desorganisation angeschlossen; die Sexualität selbst, durch die Frauen und die Ehen, war eine solche Investierung des Begehrens; die Verwandten spielten darin die Rolle von Stimuli und nicht die des Organisators (oder Desorganisators) der Gruppe, die vom Häuptling und seinen Figuren eingenommen wird. Statt dass alles auf den Namen des Vaters oder des mütterlichen Großvaters zurückgelegt würde, öffnete sich dieser auf alle Namen der Geschichte. Statt dass alles auf einen grotesken Schnitt der Kastration projiziert würde, schwärmte alles aus in die tausend Schnitt-Ströme der Häuptlingschaften, der Linien, der Kolonisationsverhältnisse. Das ganze Spiel der Rassen, der Klans, der Allianzen und der Filiationsverhältnisse, diese ganze historische und kollektive Drift: genau das Gegenteil der ödipischen Analyse, wenn sie den Inhalt eines Delirs hartnäckig zerdrückt und ihn mit aller Gewalt in „die symbolische Leere des Vaters“ stopft. Oder vielmehr: Wenn es wahr ist, dass die Analyse nicht einmal ödipisch beginnt, außer für uns, wird sie es nicht doch, in einem gewissen Maß, und in welchem Maß? Ja, sie wird es zum Teil, unter dem Effekt der Kolonisation. Der Kolonisator etwa schafft die Häuptlingschaft ab oder benutzt sie zu seinen Zwecken (und vieles andere: die Häuptlingschaft ist noch nichts). Der Kolonisator sagt: Dein Vater, er ist dein Vater und nichts anderes, oder der mütterliche Großvater, nimm sie nicht für Häuptlinge, … du kannst dich in deiner Ecke triangulieren und dein Haus zwischen das der väterlichen und das der mütterlichen stellen, … deine Familie, das ist deine Familie und nichts anderes, die soziale Reproduktion geht nicht mehr darüber, obwohl man gerade deine Familie braucht, um ein Material zu liefern, das dem neuen Regime der Reproduktion unterworfen wird… Dann ja, ein ödipischer Rahmen zeichnet sich für die enteigneten Wilden ab: Ödipus des Slums. Wir haben jedoch gesehen, dass die Kolonisierten ein typisches Beispiel des Widerstands gegen Ödipus blieben: Denn dort gelingt es der ödipischen Struktur nicht, sich zu schließen, und die Termini bleiben an den Agenten der repressiven sozialen Reproduktion kleben, sei es im Kampf, sei es in Komplizenschaft (der Weiße, der Missionar, der Steuereintreiber, der Exporteur von Gütern, der Dorfnoble, der zum Agenten der Verwaltung geworden ist, die Alten, die den Weißen verfluchen, die Jungen, die in einen politischen Kampf eintreten usw.). Aber beides ist wahr: Der Kolonisierte widersteht der Ödipianisierung, und die Ödipianisierung tendiert dazu, sich über ihm wieder zu schließen. In dem Maß, in dem es Ödipianisierung gibt, ist sie Sache der Kolonisation, und man muss sie mit allen Verfahren zusammenfügen, die Jaulin in La Paix blanche zu beschreiben wusste. „Der Zustand des Kolonisierten kann zu einer Reduktion der Humanisierung des Universums führen, derart dass jede gesuchte Lösung im Maß des Individuums oder der eingeschränkten Familie gesucht wird, mit der Folge einer extremen Anarchie oder Unordnung auf der Ebene des Kollektivs: eine Anarchie, deren Opfer das Individuum immer sein wird, mit Ausnahme derer, die den Schlüssel eines solchen Systems besitzen, in diesem Fall die Kolonisatoren, die in derselben Zeit, in der der Kolonisierte das Universum reduziert, dazu tendieren werden, es auszudehnen.“25 Ödipus ist so etwas wie Euthanasie im Ethnozid. Je mehr die soziale Reproduktion den Mitgliedern der Gruppe entgleitet, der Natur nach und in Extension, desto mehr legt sie sich auf sie zurück oder legt sie selbst auf eine eingeschränkte und neurotisierte familiale Reproduktion zurück, deren Agent Ödipus ist.
Denn schließlich, wie jene verstehen, die sagen, sie fänden einen indianischen oder afrikanischen Ödipus? Sie erkennen als Erste an, dass sie nichts von den Mechanismen und den Haltungen wiederfinden, die unseren Ödipus ausmachen (unseren angeblichen Ödipus). Das macht nichts, sagen sie, die Struktur sei da, obwohl sie keinerlei Existenz habe, die „der Klinik zugänglich“ wäre; oder dass das Problem, der Ausgangspunkt, wohl ödipisch sei, obwohl die Entwicklungen und die Lösungen ganz und gar anders seien als die unseren (Parin, Ortigues). Sie sagen, es sei ein Ödipus „der nicht aufhört zu existieren“, während er nicht einmal (außerhalb der Kolonisation) die notwendigen Bedingungen hat, um überhaupt zu beginnen zu existieren. Wenn es wahr ist, dass das Denken am Grad der Ödipianisierung gemessen wird, dann ja, die Weißen denken zu viel. Die Kompetenz, die Redlichkeit und das Talent dieser Autoren, africanistischer Psychoanalytiker, stehen außer Frage. Aber es ergeht ihnen wie gewissen Psychotherapeuten bei uns: Man würde sagen, sie wissen nicht, was sie tun. Wir haben Psychotherapeuten, die aufrichtig glauben, ein progressives Werk zu leisten, indem sie neue Weisen anwenden, das Kind zu triangulieren – Vorsicht, ein Ödipus der Struktur, und nicht imaginär! Ebenso jene Psychoanalytiker in Afrika, die das Joch eines strukturalen oder „problematischen“ Ödipus handhaben, im Dienst ihrer progressistischen Absichten. Dort oder hier ist es dasselbe: Ödipus ist immer Kolonisation, fortgesetzt mit anderen Mitteln, es ist die innere Kolonie, und wir werden sehen, dass es selbst bei uns, Europäern, unsere intime koloniale Formation ist. Wie die Sätze verstehen, mit denen M.-C. und E. Ortigues ihr Buch beenden? « Die Krankheit wird als Zeichen einer Erwählung betrachtet, einer besonderen Aufmerksamkeit der übernatürlichen Mächte, oder als Zeichen einer Aggression magischen Charakters: diese Idee lässt sich nicht leicht profanieren. Die analytische Psychotherapie kann erst eingreifen, sobald ein Begehren vom Subjekt formuliert werden kann. Unsere ganze Forschung war also bedingt durch die Möglichkeit, ein psychoanalytisches Feld einzusetzen. Wenn ein Subjekt den traditionellen Normen vollständig anhing und nichts in eigenem Namen zu sagen hatte, ließ es sich von den traditionellen Therapeuten und der Familiengruppe oder von der Medizin der “Medikamente” versorgen. Manchmal entsprach die Tatsache, dass es mit uns über die traditionellen Behandlungen sprechen wollte, einem Ansatz von Psychotherapie und wurde für es ein Mittel, sich persönlich in seiner eigenen Gesellschaft zu situieren… Andere Male konnte sich der analytische Dialog weiter entfalten, und in diesem Fall tendierte das ödipische Problem dazu, seine diachronische Dimension anzunehmen, indem es den Generationenkonflikt sichtbar machte. »26 Warum meinen, die übernatürlichen Mächte und die magischen Aggressionen bildeten einen Mythos, der weniger gut wäre als Ödipus? Bestimmen sie im Gegenteil nicht das Begehren zu intensiveren und angemesseneren Investierungen des sozialen Feldes, in seiner Organisation wie in seinen Desorganisationen? Meyer Fortes zeigte zumindest die Stelle Hiobs neben der des Ödipus. Und mit welchem Recht urteilen, das Subjekt habe nichts in eigenem Namen zu sagen, solange es den traditionellen Normen anhängt? Zeigt die Ndembu-Kur nicht das genaue Gegenteil? Wäre Ödipus nicht auch eine traditionelle Norm, die unsere? Wie kann man sagen, er lasse uns in unserem eigenen Namen sprechen, wenn man andererseits präzisiert, seine Lösung lehre uns „die unheilbare Unzulänglichkeit des Seins“ und die universelle Kastration? Und was ist diese „Forderung“, die man anruft, um Ödipus zu rechtfertigen? Einverstanden, das Subjekt verlangt und verlangt wieder nach Papa-Mama: aber welches Subjekt, und in welchem Zustand? Ist das das Mittel, „sich persönlich in seiner eigenen Gesellschaft zu situieren“? Und welche Gesellschaft? Die neo-kolonisierte Gesellschaft, die man ihm macht, und die endlich vollbringt, was die Kolonisation nur zu skizzieren wusste: ein effektives Zurücklegen der Kräfte des Begehrens auf Ödipus, auf einen Namen-des-Vaters, im grotesken Dreieck?
Kehren wir zur berühmten unerschöpflichen Diskussion zwischen den Kulturalisten und den orthodoxen Psychoanalytikern zurück: Ist Ödipus universell? Ist er das große katholische väterliche Symbol, die Vereinigung aller Kirchen? Die Diskussion begann zwischen Malinowski und Jones, setzte sich fort zwischen Kardiner, Fromm einerseits, Roheim andererseits. Sie setzt sich noch fort zwischen gewissen Ethnologen und gewissen Jüngern Lacans (denen, die nicht nur eine ödipianisierende Interpretation der Lehre Lacans gaben, sondern dieser Interpretation eine ethnographische Extension). Auf der Seite des Universellen gibt es zwei Pole: den, der veraltet zu sein scheint, der aus Ödipus eine ursprüngliche affektive Konstellation macht und im Grenzfall ein reales Ereignis, dessen Wirkungen durch phylogenetische Vererbung übertragen würden. Und den, der aus Ödipus eine Struktur macht, die man im Grenzfall im Phantasma entdecken müsse, in Beziehung zur biologischen Prämaturation oder Neotenie. Zwei sehr unterschiedliche Auffassungen der Grenze, die eine als ursprüngliche Matrix, die andere als strukturelle Funktion. Aber in diesen beiden Bedeutungen des Universellen werden wir zum „Interpretieren“ eingeladen, da die latente Präsenz des Ödipus nur durch seine manifeste Abwesenheit erscheint, verstanden als Effekt der Verdrängung, oder besser noch da die strukturelle Invariante sich nur durch imaginäre Variationen entdecken lässt, die gegebenenfalls von einer symbolischen Verwerfung zeugen (der Vater als leerer Platz). Das Universelle des Ödipus nimmt die alte metaphysische Operation wieder auf, die darin besteht, die Negation als Entbehrung zu interpretieren, als Mangel: der symbolische Mangel des toten Vaters oder der große Signifikant. Interpretieren ist unsere moderne Art zu glauben und fromm zu sein. Schon Roheim schlug vor, die Wilden in einer Serie von Variablen zu organisieren, die zur neotenischen strukturalen Invariante konvergieren.27 Er war es, der ohne Humor sagte, man finde den Ödipuskomplex nicht, wenn man ihn nicht suche. Und dass man ihn nicht suche, wenn man sich nicht selbst habe analysieren lassen. Und daher ist eure Tochter stumm, das heißt: die Stämme, Töchter des Ethnologen, sagen den Ödipus nicht, der sie doch sprechen lässt. Roheim fügte hinzu, es sei lächerlich zu glauben, die freudsche Theorie der Zensur hänge vom Repressionsregime im Reich Franz-Josephs ab. Er schien nicht zu sehen, dass Franz-Joseph kein einschlägiger historischer Einschnitt war, dass aber orale, schriftliche oder sogar „kapitalistische“ Zivilisationen vielleicht solche Einschnitte sind, mit denen die Natur der Repression, Sinn und Tragweite der Verdrängung variieren.
Das ist eine recht komplizierte Geschichte, diese Verdrängung. Die Dinge wären einfacher, wenn die Libido oder der Affekt verdrängt wäre, im weitesten Sinn des Wortes (unterdrückt, gehemmt oder transformiert) – zugleich mit der angeblich ödipischen Repräsentation. Aber dem ist nicht so: Die meisten Ethnologen haben den sexuellen Charakter der Affekte in den öffentlichen Symbolen der primitiven Gesellschaft sehr wohl bemerkt; und dieser Charakter bleibt von den Mitgliedern dieser Gesellschaft vollständig gelebt, obwohl sie nicht psychoanalysiert wurden, und trotz der Verschiebung der Repräsentation. Wie Leach über das Verhältnis Sex-Haar sagt: „die symbolische Verschiebung des Phallus ist üblich, aber der phallische Ursprung ist keineswegs verdrängt“.28 Soll man sagen, die Wilden verdrängen die Repräsentation und behalten den Affekt intakt? Und wäre es bei uns das Gegenteil, in der patriarchalen Organisation, wo die Repräsentation klar bleibt, aber mit unterdrückten, gehemmten oder transformierten Affekten? Und doch nein: Die Psychoanalyse sagt uns, auch wir verdrängen die Repräsentation. Und alles sagt uns, dass auch wir oft die volle Sexualität des Affekts behalten; wir wissen vollkommen, worum es geht, ohne psychoanalysiert worden zu sein. Aber mit welchem Recht von einer ödipischen Repräsentation sprechen, auf die sich die Verdrängung richten würde? Weil der Inzest verboten ist? Wir fallen immer wieder auf diesen fahlen Grund zurück: der Inzest begehrt, weil er verboten ist. Das Inzestverbot würde eine ödipische Repräsentation implizieren, aus deren Verdrängung und Wiederkehr es entstünde. Nun ist das Gegenteil evident; und nicht nur setzt die ödipische Repräsentation das Inzestverbot voraus, man kann nicht einmal sagen, sie entstehe daraus oder resultiere daraus. Reich, der sich zum Parteigänger der Thesen Malinowskis machte, fügte eine tiefgehende Bemerkung hinzu: Das Begehren ist umso ödipischer, je mehr die Verbote sich nicht einfach auf den Inzest richten, sondern „auf sexuelle Beziehungen jedweder anderen Art“, indem sie die anderen Wege verstopfen.29 Kurz, die Repression des Inzests entsteht nicht mehr aus einer verdrängten ödipischen Repräsentation, als dass sie selbst diese Verdrängung hervorriefe. Aber, was ganz etwas anderes ist: Das allgemeine System Repression-Verdrängung lässt ein ödipisches Bild entstehen als Entstellung des Verdrängten. Dass dieses Bild seinerseits schließlich eine Verdrängung erleidet, dass es an die Stelle des Verdrängten oder des tatsächlich Begehrten tritt, in dem Maß selbst, in dem die sexuelle Repression anderes betrifft als den Inzest, das ist eine lange Geschichte, die die unserer Gesellschaft ist. Aber das Verdrängte ist nicht zuerst die ödipische Repräsentation. Verdrängt ist die begehrende Produktion. Verdrängt ist, was von dieser Produktion nicht in die soziale Produktion oder Reproduktion übergeht. Verdrängt ist, was dort Unordnung und Revolution einführen würde, die unkodierten Ströme des Begehrens. Was dagegen von der begehrenden Produktion in die soziale Produktion übergeht, bildet eine direkte sexuelle Investierung dieser sozialen Produktion, ohne irgendeine Verdrängung des sexuellen Charakters des Symbolismus und der entsprechenden Affekte, und vor allem ohne Bezug auf eine ödipische Repräsentation, die man als ursprünglich verdrängt oder strukturell verworfen voraussetzen würde. Das Tier ist nicht nur Objekt einer vorbewussten Investierung des Interesses, sondern Objekt einer libidinösen Investierung des Begehrens, aus der sich erst sekundär ein Vaterbild ergibt. Ebenso die libidinöse Investierung der Nahrung, überall dort, wo sich eine Angst, hungrig zu sein, ein Vergnügen, nicht hungrig zu sein, zeigt, und die sich nur sekundär auf ein Mutterbild bezieht.30 Wir haben zuvor gesehen, wie das Inzestverbot nicht auf Ödipus verwies, sondern auf die unkodierten Ströme, die das Begehren konstituieren, und auf ihren Repräsentanten, den vorpersonalen intensiven Strom. Was Ödipus betrifft, ist er noch eine Weise, das Unkodierbare zu kodieren, zu kodifizieren, was den Codes entgeht, oder das Begehren und sein Objekt zu verschieben, sie in eine Falle zu locken.
Kulturalisten und Ethnologen zeigen gut, dass die Institutionen den Affekten und den Strukturen vorangehen. Denn die Strukturen sind nicht mental, sie sind in den Dingen, in den Formen der sozialen Produktion und Reproduktion. Selbst ein Autor wie Marcuse, der kaum der Nachgiebigkeit verdächtig ist, erkennt an, dass der Kulturalismus von einem guten Schritt ausging: das Begehren in die Produktion einzuführen, das Band „zwischen der Triebstruktur und der ökonomischen Struktur“ zu knüpfen und zugleich die Möglichkeiten anzugeben, „über eine patrozentrische und ausbeuterische Kultur hinaus voranzuschreiten“.31 Also, was hat den Kulturalismus in die falsche Richtung laufen lassen? und auch hier gibt es keinen Widerspruch dazu, dass er am Anfang gut ausgeht und vom Anfang an schlecht läuft. Vielleicht ist es das Postulat, das dem ödipischen Relativismus und Absolutismus gemeinsam ist, das heißt das hartnäckige Festhalten an einer familialistischen Perspektive, die überall ihre Verwüstungen anrichtet. Denn wenn die Institution zuerst als familiale Institution begriffen wird, ist es von geringer Bedeutung zu sagen, der Familienkomplex variiere mit den Institutionen, oder dass Ödipus im Gegenteil eine nukleare Invariante sei, um die herum die Familien und die Institutionen kreisen. Die Kulturalisten rufen andere Dreiecke an, zum Beispiel uteriner Onkel-Tante-Neffe; aber die Ödipianisten haben keine Mühe zu zeigen, dass das imaginäre Variationen für ein und dieselbe strukturelle Invariante sind, verschiedene Figuren für ein und dieselbe symbolische Triangulation, die sich weder mit den Figuren deckt, die sie vollziehen, noch mit den Haltungen, die diese Figuren in Beziehung setzen. Aber umgekehrt lässt die Anrufung eines solchen transzendenten Symbolismus die Strukturalisten keineswegs aus dem engsten familialen Standpunkt heraus. Ebenso die endlosen Diskussionen über: Ist es Papa? ist es Mama? (Ihr vernachlässigt die Mutter! Nein, ihr seht den Vater nicht, daneben, als leeren Platz!) Der Konflikt zwischen Kulturalisten und orthodoxen Psychoanalytikern hat sich oft auf diese Bewertungen der jeweiligen Rolle von Mutter und Vater, des Prä-Ödipalen und des Ödipalen reduziert, ohne dass man dadurch aus der Familie oder auch nur aus Ödipus heraustritt, stets oszillierend zwischen den beiden berühmten Polen, dem mütterlichen prä-ödipalen Pol des Imaginären, dem väterlichen ödipalen Pol des Strukturalen, beide auf derselben Achse, beide dieselbe Sprache eines familialisierten Sozialen sprechend, von dem der eine die mütterlichen gewohnheitsmäßigen Dialekte bezeichnet und der andere das starke Gesetz der Sprache des Vaters. Man hat die Ambiguität dessen gut gezeigt, was Kardiner „primäre Institution“ nannte. Denn es kann in manchen Fällen um die Weise gehen, wie das Begehren das soziale Feld investiert, von der Kindheit an und unter familialen Stimuli, die vom Erwachsenen kommen: Dann wären alle Bedingungen für ein angemessenes (extrafamiliales) Verständnis der Libido gegeben. Aber häufiger geht es nur um die familiale Organisation an sich, die man zuerst vom Kind als Mikrokosmos erlebt voraussetzt und dann in das Erwachsen- und Sozialwerden projiziert.32 Von diesem Standpunkt aus kann die Diskussion nur im Kreis laufen zwischen Anhängern einer kulturellen Interpretation und Anhängern einer symbolischen oder strukturalen Interpretation eben dieser Organisation.
Fügen wir ein zweites Postulat hinzu, das Kulturalisten und Symbolisten gemeinsam ist. Alle geben zu, dass bei uns zumindest, in unserer patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaft, Ödipus sicher ist (auch wenn sie, wie Fromm, die Elemente eines neuen Matriarchats hervorheben). Alle nehmen unsere Gesellschaft als den starken Punkt des Ödipus an: von diesem Punkt aus wird man überall eine ödipische Struktur wiederfinden, oder man wird im Gegenteil die Termini und die Beziehungen in nicht-ödipischen Komplexen variieren lassen müssen, die darum nicht weniger „familial“ wären. Deshalb richtete sich unsere ganze vorherige Kritik auf Ödipus, so wie er bei uns gelten und funktionieren soll: Ödipus ist nicht am schwächsten Punkt (den Wilden) anzugreifen, sondern am stärksten Punkt, auf der Ebene des stärksten Glieds, indem man zeigt, welche Entstellung er impliziert und vollzieht, an der begehrenden Produktion, an den Synthesen des Unbewussten, an den libidinösen Investierungen in unserem kulturellen und sozialen Milieu. Nicht dass Ödipus bei uns nichts wäre: Wir haben nicht aufgehört zu sagen, dass man ihn verlangt, dass man ihn wieder verlangt; und selbst ein so tiefer Versuch wie der Lacans, das Joch des Ödipus abzuschütteln, wurde als ein unverhofftes Mittel interpretiert, es noch zu beschweren und es wieder über dem Baby und dem Schizo zu schließen. Und gewiss ist es nicht nur legitim, sondern unerlässlich, dass die ethnologische oder historische Erklärung nicht im Widerspruch zu unserer aktuellen Organisation steht oder dass diese auf ihre Weise die Basiselemente der ethnologischen Hypothese enthält. Das sagte Marx, indem er an die Anforderungen einer Universalgeschichte erinnerte; aber, fügte er hinzu, unter der Bedingung, dass die aktuelle Organisation fähig ist, sich selbst zu kritisieren. Nun ist die Selbstkritik des Ödipus etwas, das man in unserer Organisation kaum sieht, zu der die Psychoanalyse gehört. Es ist in gewisser Hinsicht richtig, alle sozialen Formationen von Ödipus aus zu befragen. Aber nicht, weil Ödipus eine Wahrheit des Unbewussten wäre, die bei uns besonders leicht feststellbar ist; im Gegenteil, weil er eine Mystifikation des Unbewussten ist, die bei uns nur dadurch gelungen ist, dass sie ihre Teile und Zahnräder durch die früheren Formationen hindurch aufgebaut hat. In diesem Sinn ist er universell. Also muss die Kritik des Ödipus ihren Ausgangspunkt immer wieder in der kapitalistischen Gesellschaft, auf dem stärksten Niveau, nehmen und ihren Ankunftspunkt dort wiederfinden.
Ödipus ist eine Grenze. Aber Grenze hat viele Bedeutungen, da sie am Anfang als inaugurales Ereignis sein kann, mit der Rolle einer Matrix, oder in der Mitte als strukturelle Funktion, die die Vermittlung der Figuren und die Grundlage ihrer Beziehungen sichert, oder am Ende als eschatologische Bestimmung. Nun haben wir gesehen, dass Ödipus nur in dieser letzten Bedeutung eine Grenze ist. Die begehrende Produktion auch. Aber gerade diese Bedeutung selbst hat viele verschiedene Sinne. Zunächst ist die begehrende Produktion an der Grenze der sozialen Produktion; die dekodierten Ströme an der Grenze der Codes und Territorialitäten; der Körper ohne Organe an der Grenze des Socius. Man wird von absoluter Grenze sprechen, jedes Mal wenn die Schizo-Ströme durch die Mauer hindurchgehen, alle Codes verwirren und den Socius deterritorialisieren: der Körper ohne Organe ist der deterritorialisierte Socius, Wüste, auf der die dekodierten Ströme des Begehrens fließen, Weltende, Apokalypse. In zweiter Linie jedoch ist die relative Grenze nur die kapitalistische soziale Formation, weil sie effektiv dekodierte Ströme maschiniert und fließen lässt, aber an die Stelle der Codes eine noch unterdrückendere buchhalterische Axiomatik setzt. So dass der Kapitalismus, gemäß der Bewegung, durch die er seine eigene Tendenz behindert, nicht aufhört, sich der Mauer zu nähern und zugleich die Mauer zurückzuschieben. Die Schizophrenie ist die absolute Grenze, aber der Kapitalismus ist die relative Grenze. In dritter Linie gibt es keine soziale Formation, die nicht die reale Form ahnte oder voraussähe, unter der die Grenze ihr widerfahren könnte, und die sie mit all ihren Kräften bannte. Daher die Hartnäckigkeit, mit der die dem Kapitalismus vorausgehenden Formationen den Händler und den Techniker einhegen, indem sie verhindern, dass Geldströme und Produktionsströme eine Autonomie gewinnen, die ihre Codes zerstören würde. Das ist die reale Grenze. Und wenn solche Gesellschaften an diese reale Grenze stoßen, von innen her repressiert, die ihnen aber von außen wiederkehrt, sehen sie darin melancholisch das Zeichen ihres nahen Todes. Bohannan beschreibt zum Beispiel die Ökonomie der Tiv, die drei Arten von Strömen kodiert, Konsumgüter, Prestigegüter, Frauen und Kinder. Wenn das Geld aufkommt, kann es nur als Prestigegut kodiert werden, und doch benutzen Händler es, um sich die Sektoren der Konsumgüter anzueignen, die traditionell von den Frauen gehalten werden: Alle Codes geraten ins Wanken. Gewiss, mit Geld beginnen und mit Geld enden, das ist eine Operation, die sich nicht in Begriffen von Code ausdrücken lässt; wenn sie die Lastwagen sehen, die für den Export abfahren, „beklagen die ältesten Tiv diese Situation und wissen, was vor sich geht, wissen aber nicht, wo sie ihren Tadel ansetzen sollen“,33 die harte Realität. Aber in vierter Linie war diese von innen her gehemmte Grenze bereits in einen ursprünglichen Anfang projiziert, eine mythische Matrix als imaginäre Grenze. Wie diesen Albtraum vorstellen, die Überschwemmung des Socius durch unkodierte Ströme, die wie Lava gleiten? Eine unstillbare Scheiße-Flut wie im Mythos des Tricksters, oder der intensive keimliche Zustrom, das Diesseits des Inzests wie im Mythos des Yourougou, der Unordnung in die Welt bringt, indem er als Repräsentant des Begehrens wirkt. Daher schließlich in fünfter Linie die Bedeutung der Aufgabe, die Grenze zu verschieben: sie ins Innere des Socius zu verlegen, in die Mitte, zwischen ein Jenseits der Allianz und das filiative Diesseits, zwischen eine Allianzrepräsentation und den Filiation-Repräsentanten, so wie man die gefürchteten Kräfte eines Flusses bannt, indem man ihm ein künstliches Bett gräbt oder tausend kleine flache Rinnsale von ihm ableitet. Ödipus ist diese verschobene Grenze. Ja, Ödipus ist universell. Aber der Fehler war, an folgende Alternative geglaubt zu haben: entweder ist er ein Produkt des Systems Repression-Verdrängung, und dann ist er nicht universell; oder aber er ist universell und er ist Setzung des Begehrens. In Wahrheit ist er universell, weil er die Verschiebung der Grenze ist, die alle Gesellschaften heimsucht, das verschobene Repräsentierte, das entstellt, was alle Gesellschaften absolut als ihr tiefstes Negativ fürchten, nämlich die dekodierten Ströme des Begehrens.
Aber das heißt nicht, dass diese universelle ödipische Grenze in allen sozialen Formationen „besetzt“ wäre, strategisch besetzt. Man muss der Bemerkung Kardiners ihren ganzen Sinn geben: Ein Hindu oder ein Eskimo kann von Ödipus träumen, ohne deswegen dem Komplex unterworfen zu sein, ohne „den Komplex zu haben“.34 Damit Ödipus besetzt ist, ist eine Reihe von Bedingungen unerlässlich: Es muss sich das Feld der sozialen Produktion und Reproduktion von der familialen Reproduktion unabhängig machen, das heißt von der territorialen Maschine, die Allianzen und Filiationsverhältnisse dekliniert; es muss, begünstigt durch diese Unabhängigkeit, gelingen, dass die ablösbaren Kettenfragmente sich in ein abgelöstes transzendentes Objekt verwandeln, das ihre Polyvokität zerdrückt; es muss das abgelöste Objekt (Phallus) eine Art Faltung, Anlegung oder Zurücklegung vollziehen, Zurücklegung des als Ausgangsmenge definierten sozialen Feldes auf das als Zielmenge definierte familiale Feld, und ein Netz biunivoker Beziehungen zwischen beiden einsetzen. Damit Ödipus besetzt ist, genügt es nicht, dass er eine Grenze oder ein verschobenes Repräsentiertes im System der Repräsentation ist, er muss innerhalb dieses Systems migrieren und selbst den Platz des Repräsentanten des Begehrens besetzen. Diese Bedingungen, untrennbar von den Paralogismen des Unbewussten, sind in der kapitalistischen Formation realisiert – und doch implizieren sie gewisse Archaismen, die den barbarischen imperialen Formationen entlehnt sind, insbesondere die Position des transzendenten Objekts. Der kapitalistische Stil ist von Lawrence gut beschrieben worden, „unsere demokratische, industrielle Ordnung der Dinge, Stil mein-kleiner-Schatz-Liebling-ich-will-Mama-sehen“. Nun ist einerseits evident, dass die primitiven Formationen diese Bedingungen keineswegs erfüllen. Gerade weil die Familie, offen auf die Allianzen, koextensiv und adäquat zum historischen sozialen Feld ist, weil sie die soziale Reproduktion selbst belebt, weil sie die ablösbaren Fragmente mobilisiert oder hindurchgehen lässt, ohne sie je in ein abgelöstes Objekt zu verwandeln – keine Zurücklegung, keine Anlegung ist möglich, die der ödipischen Formel 3 + 1 entspräche (die 4 Ecken des Feldes, in 3 gefaltet, wie eine Tischdecke, plus der transzendente Term, der die Faltung vollzieht). „Sprechen, tanzen, tauschen und fließen lassen, ja sogar urinieren innerhalb der Gemeinschaft der Männer…“, sagt Parin selbst, um die Fluidität der primitiven Ströme und Codes auszudrücken.35 Innerhalb der primitiven Gesellschaft bleibt man immer bei 4 + n, im System der Ahnen und der Alliierten. Weit davon entfernt, behaupten zu können, dass Ödipus hier nicht aufhört zu existieren, gelingt es ihm nicht, zu beginnen; man wird immer schon weit vor 3 + 1 aufgehalten, und wenn es einen primitiven Ödipus gibt, ist es ein Neg-Ödipus, im Sinn einer Neg-Entropie. Ödipus ist wohl Grenze oder verschobenes Repräsentiertes, aber gerade so, dass jedes Mitglied der Gruppe immer diesseits oder jenseits ist, ohne je die Position zu besetzen (das ist es, was Kardiner in der von uns zitierten Formel so gut gesehen hat). Es ist die Kolonisation, die Ödipus existieren lässt, aber einen Ödipus, empfunden als das, was er ist, reine Unterdrückung, insofern er voraussetzt, dass diese Wilden der Kontrolle über ihre soziale Produktion beraubt sind, reif dafür, auf das einzige zurückgelegt zu werden, was ihnen bleibt, und selbst das noch: die familiale Reproduktion, die man ihnen ödipianisiert nicht weniger als alkoholisiert oder krankmachend auferlegt.
Andererseits wird man, wenn die Bedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft verwirklicht sind, nicht glauben, dass Ödipus deswegen aufhört, das zu sein, was er ist: ein bloßes verschobenes Repräsentiertes, das den Platz des Repräsentanten des Begehrens usurpiert, das Unbewusste in die Falle seiner Paralogismen nimmt, die ganze begehrende Produktion zerdrückt und an ihre Stelle ein System von Glaubenssätzen setzt. Niemals ist er Ursache: Ödipus hängt von einer vorgängigen sozialen Investierung eines bestimmten Typs ab, die fähig ist, sich auf die Familienbestimmungen zurückzulegen. Man wird einwenden, ein solcher Grundsatz gelte vielleicht für den Erwachsenen, gewiss nicht für das Kind. Aber gerade Ödipus beginnt im Kopf des Vaters. Und nicht als absoluter Beginn: Er bildet sich nur ausgehend von den Investierungen, die der Vater am historischen sozialen Feld vornimmt. Und wenn er auf den Sohn übergeht, dann nicht kraft einer familialen Vererbung, sondern durch ein sehr viel komplexeres Verhältnis, das von der Kommunikation der Unbewussten abhängt. So dass selbst beim Kind das, was durch die familialen Stimuli hindurch investiert wird, immer noch das soziale Feld ist und ein ganzes System extrafamilialer Schnitte und Ströme. Dass der Vater dem Kind gegenüber zuerst ist, lässt sich analytisch nur in Funktion dieses anderen Primats verstehen, des Primats der sozialen Investierungen und Gegeninvestierungen gegenüber den familialen Investierungen: Wir werden es später sehen, auf der Ebene einer Analyse der Delire. Aber schon jetzt, wenn sich zeigt, dass Ödipus ein Effekt ist, dann weil er eine Zielmenge bildet (die Familie, zum Mikrokosmos geworden), auf die sich die kapitalistische Produktion und Reproduktion zurücklegt, deren Organe und Agenten überhaupt nicht mehr durch eine Kodierung der Allianz- und Filiationsströme gehen, sondern durch eine Axiomatik dekodierter Ströme. Die kapitalistische Souveränitätsformation braucht daher eine intime koloniale Formation, die ihr entspricht, auf die sie sich anlegt, und ohne die sie keinen Zugriff auf die Produktionen des Unbewussten hätte.
Was ist unter diesen Bedingungen vom Verhältnis Ethnologie–Psychoanalyse zu sagen? Soll man sich mit einem unsicheren Parallelismus begnügen, in dem beide einander mit Ratlosigkeit ansehen und zwei irreduzible Sektoren des Symbolismus gegenüberstellen? Einen sozialen Sektor der Symbole und einen sexuellen Sektor, der eine Art privates Universelles, ein universal-individuelles Universelles, konstituieren würde? (Dazwischen Querungen, da der soziale Symbolismus zu sexuellem Stoff werden kann und die Sexualität zu einem Ritus sozialer Aggregation). Aber so gestellt ist das Problem zu theoretisch. Praktisch hat der Psychoanalytiker oft den Anspruch, dem Ethnologen zu erklären, was das Symbol bedeutet: Es bedeutet den Phallus, die Kastration, den Ödipus. Aber der Ethnologe fragt etwas anderes und fragt sich aufrichtig, wozu ihm die psychoanalytischen Interpretationen dienen können. Die Dualität verschiebt sich also; sie liegt nicht mehr zwischen zwei Sektoren, sondern zwischen zwei Arten von Fragen: „Was heißt das?“ und „Wozu dient das?“ Wozu dient das nicht nur dem Ethnologen, sondern wozu dient es und wie funktioniert es in der Formation selbst, die das Symbol verwendet.36 Was eine Sache heißt, ist nicht sicher, dass es zu irgendetwas dient. Zum Beispiel kann es sein, dass Ödipus zu nichts dient, weder den Psychoanalytikern noch dem Unbewussten. Und wozu sollte der Phallus dienen, untrennbar von der Kastration, die uns seinen Gebrauch entzieht? Man sagt natürlich, man dürfe Signifikat und Signifikant nicht verwechseln. Aber führt uns der Signifikant aus der Frage „was heißt das“ heraus, ist er etwas anderes als eben diese durchgestrichene Frage? Das ist noch immer der Bereich der Repräsentation. Die wirklichen Missverständnisse, die praktischen Missverständnisse zwischen Ethnologen (oder Hellenisten) und Psychoanalytikern, kommen nicht aus einer Verkennung oder Anerkennung des Unbewussten, der Sexualität, der phallischen Natur des Symbolismus. In diesem Punkt könnte im Prinzip jeder einverstanden sein: Alles ist sexuell und geschlechtlich von einem Ende zum anderen. Jeder weiß es, angefangen bei den Benutzern. Die praktischen Missverständnisse kommen vielmehr aus dem tiefen Unterschied zwischen den beiden Arten von Fragen. Ohne es immer klar zu formulieren, meinen die Ethnologen und die Hellenisten, dass ein Symbol nicht durch das definiert ist, was es bedeutet, sondern durch das, was es tut und was man damit tut. Es bedeutet immer den Phallus oder etwas Nahes, nur: was es bedeutet, sagt nicht, wozu es dient. Kurz: Es gibt keine ethnologische Interpretation, aus dem einfachen Grund, dass es kein ethnographisches Material gibt: Es gibt nur Gebrauchsweisen und Funktionsweisen. In diesem Punkt ist es möglich, dass die Ethnologen den Psychoanalytikern viel beibringen: über die Unwichtigkeit des „was heißt das“. Wenn die Hellenisten sich dem freudschen Ödipus entgegenstellen, wird man vermeiden zu glauben, sie stellten anderen Interpretationen der psychoanalytischen Interpretation entgegen. Es ist möglich, dass die Ethnologen und die Hellenisten die Psychoanalytiker zwingen, endlich für sich eine ähnliche Entdeckung zu machen: dass es nämlich auch kein unbewusstes Material und keine psychoanalytische Interpretation gibt, sondern nur Gebrauchsweisen, analytische Gebrauchsweisen der Synthesen des Unbewussten, die sich weder durch die Zuordnung eines Signifikanten noch durch die Bestimmung von Signifikaten definieren lassen. Wie es funktioniert, ist die einzige Frage. Die Schizo-Analyse verzichtet auf jede Interpretation, weil sie bewusst darauf verzichtet, ein unbewusstes Material zu entdecken: Das Unbewusste bedeutet nichts. Dagegen macht das Unbewusste Maschinen, die des Begehrens sind, und deren Gebrauch und Funktionieren die Schizo-Analyse in der Immanenz zu den sozialen Maschinen entdeckt. Das Unbewusste sagt nichts, es maschiniert. Es ist nicht expressiv oder repräsentativ, sondern produktiv. Ein Symbol ist einzig eine soziale Maschine, die als begehrende Maschine funktioniert, eine begehrende Maschine, die in der sozialen Maschine funktioniert, eine Investierung der sozialen Maschine durch das Begehren.
Man hat oft gesagt und gezeigt, dass eine Institution nicht mehr als ein Organ durch ihren Gebrauch erklärt werden kann. Eine biologische Formation, eine soziale Formation bildet sich nicht auf dieselbe Weise, wie sie funktioniert. Daher gibt es keinen biologischen, soziologischen, linguistischen Funktionalismus usw. auf der Ebene der großen spezifizierten Gesamtheiten. Aber bei den begehrenden Maschinen als molekularen Elementen ist es anders: Dort fallen Gebrauch, Funktionieren, Produktion, Bildung in eins. Und diese Begehrenssynthese erklärt unter diesen oder jenen bestimmten Bedingungen die molaren Gesamtheiten mit ihrem spezifizierten Gebrauch in einem biologischen, sozialen oder linguistischen Feld. Denn die großen molaren Maschinen setzen vorgegebene Verknüpfungen voraus, die ihr Funktionieren nicht erklärt, da es aus ihnen folgt. Nur die begehrenden Maschinen produzieren die Verknüpfungen, gemäß denen sie funktionieren, und funktionieren, indem sie sie improvisieren, erfinden, bilden. Ein molarer Funktionalismus ist also ein Funktionalismus, der nicht weit genug gegangen ist, der diese Regionen nicht erreicht hat, in denen das Begehren maschiniert, unabhängig von der makroskopischen Natur dessen, was es maschiniert: organische, soziale, linguistische Elemente usw., alle zusammen in einem selben Topf gekocht. Der Funktionalismus darf keine anderen Einheiten-Multiplezitäten kennen als die begehrenden Maschinen selbst und die Konfigurationen, die sie in allen Sektoren eines Produktionsfeldes bilden (die „totale Tatsache“). Eine magische Kette vereinigt Pflanzen, Stücke von Organen, ein Stück Kleidung, ein Papa-Bild, Formeln und Wörter: Man wird nicht fragen, was das bedeutet, sondern welche Maschine so montiert ist, welche Ströme und welche Schnitte, in Beziehung zu anderen Schnitten und anderen Strömen. Bei der Analyse des Symbolismus des gegabelten Zweigs bei den Ndembu zeigt Victor Turner, dass die Namen, die ihm gegeben werden, zu einer Kette gehören, die ebenso die Arten und Eigenschaften der Bäume mobilisiert, aus denen er gewonnen wird, die Namen dieser Arten wiederum und die technischen Verfahren, mit denen man ihn behandelt. Man entnimmt nicht weniger aus signifikanten Ketten als von materiellen Strömen. Der exegetische Sinn (was man über die Sache sagt) ist nur ein Element unter anderen und weniger wichtig als der operative Gebrauch (was man damit macht) oder das positionale Funktionieren (das Verhältnis zu anderen Dingen in einem selben Komplex), gemäß denen das Symbol niemals in einer biunivoken Beziehung zu dem steht, was es bedeuten möchte, sondern immer eine Vielheit von Referenten hat, „immer multivokal und polyvok“.37 Bei der Analyse des magischen Objekts buti bei den Kukuya des Kongo zeigt Pierre Bonnafé, wie es untrennbar von den praktischen Synthesen ist, die es produzieren, registrieren und konsumieren: die partielle und nicht-spezifische Verbindung, die Fragmente des Körpers des Subjekts mit denen eines Tieres zusammensetzt; die inklusive Disjunktion, die das Objekt im Körper des Subjekts registriert und dieses in einen Mensch-Tier verwandelt; die residuale Konjunktion, die den „Rest“ eine lange Reise durchmachen lässt, bevor man ihn vergräbt oder eintaucht.38 Wenn die Ethnologen heute ein lebhaftes Interesse für den hypothetischen Begriff des Fetischs wiederfinden, dann gewiss unter dem Einfluss der Psychoanalyse. Aber man würde sagen, die Psychoanalyse gibt ihnen ebenso viele Gründe, an der Vorstellung zu zweifeln, wie ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten. Denn niemals hat die Psychoanalyse mehr Phallus-Ödipus-und-Kastration gesagt als beim Fetisch. Während der Ethnologe das Gefühl hat, dass es ein Problem politischer Macht, ökonomischer Kraft, religiöser Potenz gibt, untrennbar vom Fetisch, selbst wenn sein Gebrauch individuell und privat ist. Zum Beispiel die Haare, die Schneide- und Frisier-Riten: Ist es interessant, diese Riten auf die Entität Phallus zurückzuführen, als Signifikant des „getrennten Dings“, und überall den Vater wiederzufinden als symbolischen Repräsentanten der Trennung? Bleibt man damit nicht auf der Ebene dessen, was es bedeutet? Der Ethnologe steht vor einem Haarstrom, den Schnitten eines solchen Stroms, dem, was von einem Zustand in einen anderen durch den Schnitt hindurchgeht. Wie Leach sagt, repräsentieren die Haare als Teilobjekt oder ablösbarer Teil des Körpers nicht einen aggressiven und getrennten Phallus; sie sind ein Ding an sich, ein materielles Stück in einem Apparat zum Angreifen, in einer Maschine zum Trennen.
Noch einmal: Es geht nicht darum zu wissen, ob der Grund eines Ritus sexuell ist oder ob man politische, ökonomische und religiöse Dimensionen berücksichtigen muss, die die Sexualität überschreiten würden. Solange man das Problem so stellt, solange man eine Wahl zwischen Libido und Numen aufzwingt, kann das Missverständnis zwischen Ethnologen und Psychoanalytikern nur zunehmen – so wie es zwischen Hellenisten und Psychoanalytikern in Bezug auf Ödipus nicht aufhört zu wachsen. Ödipus, der Plattfuß-Despote, ist natürlich eine ganze politische Geschichte, die die despotische Maschine mit der alten primitiven territorialen Maschine in Konflikt bringt (daher zugleich die Negation und die Persistenz der Autochthonie, von Lévi-Strauss gut markiert). Aber das genügt nicht, um das Drama zu desexualisieren, im Gegenteil. In Wahrheit geht es darum, wie man die Sexualität und die libidinöse Investierung auffasst. Soll man sie auf ein Ereignis oder ein „Erleben“ beziehen, das trotz allem familial und intim bleibt, das intime ödipische Erleben, selbst wenn man es struktural interpretiert, im Namen des reinen Signifikanten? Oder soll man sie auf die Bestimmungen eines historischen sozialen Feldes öffnen, in dem das Ökonomische, das Politische, das Religiöse Dinge sind, die von der Libido um ihrer selbst willen investiert werden, und nicht Derivate eines Papa-Mama? Im ersten Fall betrachtet man große molare Gesamtheiten, große soziale Maschinen – das Ökonomische, das Politische usw. –, um dann zu suchen, was sie bedeuten, indem man sie auf eine abstrakte familiale Gesamtheit anlegt, die das Geheimnis der Libido enthalten soll: Man bleibt so im Rahmen der Repräsentation. Im zweiten Fall überschreitet man diese großen Gesamtheiten, einschließlich der Familie, in Richtung auf die molekularen Elemente, die die Teile und Zahnräder begehrender Maschinen bilden. Man sucht, wie diese begehrenden Maschinen funktionieren, wie sie die sozialen Maschinen, die sie im Großen konstituieren, investieren und unterbestimmen. Man erreicht dann Regionen eines produktiven, molekularen, mikrologischen oder mikropsychischen Unbewussten, das nichts mehr bedeutet und nichts mehr repräsentiert. Sexualität wird nicht mehr als spezifische Energie betrachtet, die Personen verbindet, die aus den großen Gesamtheiten abgeleitet sind, sondern als molekulare Energie, die Teilobjekt-Moleküle in Verbindung setzt (libido), inklusive Disjunktionen auf dem Riesenmolekül des Körpers ohne Organe organisiert (numen) und Zustände gemäß Präsenzbereichen oder Intensitätszonen verteilt (voluptas). Denn die begehrenden Maschinen sind genau das: die Mikrophysik des Unbewussten, die Elemente des Mikro-Unbewussten. Aber als solche existieren sie nie unabhängig von den historischen molaren Gesamtheiten, den makroskopischen sozialen Formationen, die sie statistisch konstituieren. In diesem Sinn gibt es nur Begehren und Soziales. Unter den bewussten Investierungen der ökonomischen, politischen, religiösen Formationen usw. gibt es unbewusste sexuelle Investierungen, Mikro-Investierungen, die davon zeugen, wie das Begehren in einem sozialen Feld präsent ist und wie es sich dieses Feld als das ihm statistisch zugeordnete bestimmte Gebiet aneignet. Die begehrenden Maschinen funktionieren in den sozialen Maschinen, als behielten sie ihr eigenes Regime in der molaren Gesamtheit, die sie andererseits auf der Ebene der großen Zahlen bilden. Ein Symbol, ein Fetisch sind Manifestationen begehrender Maschine. Sexualität ist keineswegs eine molare Bestimmung, die in einer familialen Gesamtheit repräsentierbar wäre, sondern die molekulare Unterbestimmung, die in den sozialen und sekundär familialen Gesamtheiten funktioniert, die das Präsenz- und Produktionsfeld des Begehrens zeichnen: ein ganzes nicht-ödipales Unbewusstes, das Ödipus nur als eine seiner sekundären statistischen Formationen („Komplexe“) produzieren wird, am Ende einer Geschichte, in der das Werden der sozialen Maschinen, ihr Regime im Vergleich zu dem der begehrenden Maschinen, auf dem Spiel steht.
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Wenn die Repräsentation immer eine Repression-Verdrängung der begehrenden Produktion ist, dann doch auf sehr verschiedene Weisen, je nach der betrachteten sozialen Formation. Das System der Repräsentation hat drei Elemente in der Tiefe, den verdrängten Repräsentanten, die verdrängende Repräsentation und das verschobene Repräsentierte. Aber die Instanzen, die sie realisieren, sind selbst variabel; es gibt Migrationen im System. Wir haben keinen Grund, an die Universalität eines ein und desselben Apparats sozio-kultureller Verdrängung zu glauben. Man kann von einem Affinitätskoeffizienten sprechen, der mehr oder weniger groß ist zwischen den sozialen Maschinen und den begehrenden Maschinen, je nachdem, ob ihre jeweiligen Regime einander mehr oder weniger nahe sind, je nachdem, ob die zweiten mehr oder weniger Chance haben, ihre Verknüpfungen und ihre Interaktionen in das statistische Regime der ersten hindurchgehen zu lassen, je nachdem, ob die ersten eine geringere oder stärkere Ablösungsbewegung gegenüber den zweiten vollziehen, je nachdem, ob die mortifizierenden Elemente im Mechanismus des Begehrens gefasst bleiben, in die soziale Maschine eingekastelt, oder im Gegenteil sich zu einem Todestrieb vereinen, der sich über die ganze soziale Maschine ausdehnt und das Begehren zerdrückt. Der Hauptfaktor in all diesen Hinsichten ist der Typ oder die Art der sozialen Einschreibung, ihr Alphabet, ihre Zeichen: Die Einschreibung auf dem Socius ist nämlich der Agent einer sekundären oder „eigentlichen“ Verdrängung, die notwendig in Beziehung zur begehrenden Einschreibung des Körpers ohne Organe steht und zur primären Verdrängung, die dieser bereits im Bereich des Begehrens ausübt; nun ist dieses Verhältnis wesentlich variabel. Es gibt immer soziale Verdrängung, aber der Verdrängungsapparat variiert, insbesondere je nachdem, was die Rolle des Repräsentanten spielt, auf den er sich richtet. Es ist in diesem Sinn möglich, dass die primitiven Codes, in dem Moment selbst, in dem sie mit einem Maximum an Wachsamkeit und an Extension über die Ströme des Begehrens walten, sie in ein System der Grausamkeit ketten, unendlich viel mehr Affinität mit den begehrenden Maschinen behalten als die kapitalistische Axiomatik, die doch dekodierte Ströme freisetzt. Denn das Begehren ist noch nicht in die Falle gegangen, noch nicht in ein Ensemble von Sackgassen eingeführt, die Ströme haben nichts von ihrer Polyvokität verloren, und das bloße Repräsentierte in der Repräsentation hat noch nicht den Platz des Repräsentanten eingenommen. Um in jedem Fall die Natur des Verdrängungsapparats und seine Wirkungen auf die begehrende Produktion zu beurteilen, muss man daher nicht nur die Elemente der Repräsentation berücksichtigen, so wie sie sich in der Tiefe organisieren, sondern die Weise, wie die Repräsentation selbst sich an der Oberfläche organisiert, auf der Einschreibungsoberfläche des Socius.
Die Gesellschaft ist nicht austauschistisch, der Socius ist einschreibend: nicht austauschen, sondern die Körper markieren, die von der Erde sind. Wir haben gesehen, dass das Regime der Schuld direkt aus den Erfordernissen dieser wilden Einschreibung hervorging. Denn die Schuld ist die Einheit der Allianz, und die Allianz ist die Repräsentation selbst. Es ist die Allianz, die die Ströme des Begehrens kodiert und die, durch die Schuld, dem Menschen ein Gedächtnis der Worte macht. Sie ist es, die das große intensive und stumme filiative Gedächtnis verdrängt, den keimlichen Zustrom als Repräsentanten der unkodierten Ströme, die alles überschwemmen würden. Es ist die Schuld, die die Allianzen mit den zu Ausdehnung gewordenen Filiationsverhältnissen zusammensetzt, um ein System in Extension (Repräsentation) auf der Verdrängung der nächtlichen Intensitäten zu bilden und zu schmieden. Allianz-Schuld entspricht dem, was Nietzsche als die vorgeschichtliche Arbeit der Menschheit beschrieb: sich der grausamsten Mnemotechnik zu bedienen, mitten im Fleisch, um ein Gedächtnis der Worte auf der Grundlage der Verdrängung des alten bio-kosmischen Gedächtnisses aufzuzwingen. Darum ist es so wichtig, in der Schuld eine direkte Folge der primitiven Einschreibung zu sehen, statt sie (und die Einschreibungen selbst) zu einem indirekten Mittel des universellen Austauschs zu machen. Die Frage, die Mauss zumindest offen gelassen hatte: Ist die Schuld dem Austausch gegenüber ursprünglich, oder ist sie nur eine Weise des Austauschs, ein Mittel im Dienst des Austauschs?, Lévi-Strauss hat sie auf eine kategorische Antwort hin geschlossen zu haben: Die Schuld sei nur eine Überbauerscheinung, eine bewusste Form, in der sich die unbewusste soziale Realität des Austauschs zu Geld macht.39 Es geht nicht um eine theoretische Diskussion über Fundamente; die ganze Konzeption der sozialen Praxis und die von dieser Praxis getragenen Postulate sind hier mit engagiert; und das ganze Problem des Unbewussten. Denn wenn der Austausch der Grund der Dinge ist, warum muss es so aussehen, als wäre es kein Austausch, vor allem nicht? Warum muss es eine Gabe oder eine Gegengabe sein und nicht ein Austausch? Und warum muss der Geber, um gut zu zeigen, dass er keinen Austausch auch nicht aufgeschoben erwartet, zugleich in der Position dessen sein, der bestohlen wird? Es ist der Diebstahl, der die Gabe und die Gegengabe daran hindert, in ein austauschistisches Verhältnis einzutreten. Das Begehren ignoriert den Austausch, es kennt nur den Diebstahl und die Gabe, manchmal das eine im anderen unter dem Effekt einer primären Homosexualität. So die anti-austauschistische Liebesmaschine, die Joyce in Die Exilierten wiederfinden wird, und Klossowski in Roberte. „Alles läuft so, als könne in der gourmantchéen Ideologie eine Frau nur gegeben werden (und wir haben das lityuatieli) oder geraubt, entführt, also in gewisser Weise gestohlen werden (und wir haben das lipwotali); jede Verbindung, die allzu offenkundig als Ergebnis eines direkten Austauschs zwischen zwei Linien oder Segmenten von Linien erscheinen könnte, ist in dieser Gesellschaft, wenn nicht verboten, so doch weitgehend missbilligt.“40 Wird man sagen, wenn das Begehren den Austausch ignoriert, dann weil der Austausch das Unbewusste des Begehrens ist? Wäre es kraft der Erfordernisse des generalisierten Austauschs? Aber mit welchem Recht erklären, die Schuld-Schnitte seien sekundär gegenüber einer „realeren“ Totalität? Dennoch ist der Austausch bekannt, gut bekannt – aber als das, was gebannt, eingekastelt, streng gerastert werden muss, damit sich kein entsprechender Wert als Tauschwert entwickelt, der den Albtraum einer Warenökonomie einführen würde. Der primitive Markt verfährt eher durch Feilschen als durch Festsetzung eines Äquivalents, das eine Dekodierung der Ströme und den Einsturz der Einschreibungsweise auf dem Socius nach sich ziehen würde. Wir sind auf den Ausgangspunkt zurückgeführt: Dass der Austausch gehemmt und gebannt ist, zeugt keineswegs für seine ursprüngliche Realität, sondern zeigt im Gegenteil, dass das Wesentliche nicht ist, zu tauschen, sondern einzuschreiben, zu markieren. Und wenn man den Austausch zu einer unbewussten Realität macht, so sehr man sich auch auf die Rechte der Struktur und die notwendige Unangemessenheit der Haltungen und Ideologien gegenüber dieser Struktur beruft, hypostasiert man doch nur die Prinzipien einer austauschistischen Psychologie, um Institutionen zu erklären, von denen man andererseits anerkennt, dass sie keine Austauschinstitutionen sind. Und vor allem, was macht man aus dem Unbewussten selbst, wenn nicht es ausdrücklich auf eine leere Form zu reduzieren, aus der das Begehren selbst abwesend und hinausgeworfen ist? Eine solche Form kann ein Vorbewusstes definieren, gewiss nicht das Unbewusste. Denn wenn es wahr ist, dass das Unbewusste kein Material oder keinen Inhalt hat, dann gewiss nicht zugunsten einer leeren Form, sondern weil es immer und schon funktionierende Maschine ist, begehrende Maschine und nicht anorektische Struktur.
Der Unterschied zwischen Maschine und Struktur erscheint in den Postulaten, die implizit die struktural-austauschistische Konzeption des Socius beleben, mit den Korrektiven, die man einführen muss, damit die Struktur funktionsfähig ist. Erstens vermeidet man in den Verwandtschaftsstrukturen nur schwer, so zu tun, als ergäben sich die Allianzen aus den Filiationslinien und ihren Verhältnissen, obwohl die lateralen Allianzen und die Schuldblöcke die ausgedehnten Filiationsverhältnisse im System in Extension bedingen und nicht umgekehrt. Zweitens neigt man dazu, aus diesem System eine logische Kombinatorik zu machen, statt es für das zu nehmen, was es ist, ein physisches System, in dem Intensitäten sich verteilen, von denen die einen sich aufheben und einen Strom blockieren, während die anderen den Strom hindurchgehen lassen usw.: der Einwand, die im System entwickelten Qualitäten seien nicht nur physische Objekte, „sondern auch Würden, Ämter, Privilegien“, scheint auf eine Verkennung der Rolle der Inkommensurablen und der Ungleichheiten in den Bedingungen des Systems hinzuweisen. Gerade drittens hat die struktural-austauschistische Konzeption die Tendenz, eine Art Gleichgewicht der Preise, ursprüngliche Äquivalenz oder Gleichheit in den Prinzipien zu postulieren, um dann zu erklären, dass die Ungleichheiten sich notwendig in den Konsequenzen einführen. Nichts ist hierfür signifikanter als die Polemik zwischen Lévi-Strauss und Leach bezüglich der Kachin-Ehe; indem er einen „Konflikt zwischen den egalitären Bedingungen des generalisierten Austauschs und seinen aristokratischen Konsequenzen“ anruft, tut Lévi-Strauss so, als habe Leach geglaubt, das System sei im Gleichgewicht. Doch das Problem ist ganz anders: Es geht darum zu wissen, ob das Ungleichgewicht pathologisch und Folge ist, wie Lévi-Strauss glaubt, oder ob es funktional und Prinzip ist, wie Leach meint.41 Ist die Instabilität abgeleitet gegenüber einem Austauschideal, oder ist sie schon in den Voraussetzungen gegeben, enthalten in der Heterogenität der Termini, die die Leistungen und Gegenleistungen zusammensetzen? Je mehr man den ökonomischen und politischen Transaktionen Aufmerksamkeit schenkt, die die Allianzen transportieren, der Natur der Gegenleistungen, die das Ungleichgewicht der Frauenleistungen kompensieren, und allgemein der originellen Weise, wie das Ganze der Leistungen in einer bestimmten Gesellschaft bewertet wird, desto deutlicher erscheint der notwendig offene Charakter des Systems in Extension sowie der primitive Mechanismus des Mehrwerts als Code-Mehrwert. Aber – und das ist der vierte Punkt – die austauschistische Konzeption braucht es, ein geschlossenes, statistisch geschlossenes System zu postulieren und der Struktur die Stütze einer psychologischen Überzeugung zu geben („das Vertrauen, dass sich der Zyklus schließen wird“). Nicht nur die wesentliche Offenheit der Schuldblöcke gemäß den lateralen Allianzen und den aufeinanderfolgenden Generationen, sondern vor allem das Verhältnis der statistischen Formationen zu ihren molekularen Elementen werden dann auf die bloße empirische Realität verwiesen, insofern diese dem strukturalen Modell unangemessen sei.42 Nun hängt dies alles zuletzt von einem Postulat ab, das die austauschistische Ethnologie nicht weniger belastet, als es die bürgerliche politische Ökonomie bestimmt hat: die Reduktion der sozialen Reproduktion auf die Sphäre der Zirkulation. Man behält die objektive scheinbare Bewegung bei, so wie sie auf dem Socius beschrieben wird, ohne die reale Instanz zu berücksichtigen, die sie einschreibt, und die Kräfte, ökonomische und politische, mit denen sie eingeschrieben ist; man sieht nicht, dass die Allianz die Form ist, unter der der Socius sich die Arbeitsverknüpfungen im disjunktiven Regime seiner Einschreibungen aneignet. „Vom Standpunkt der Produktionsverhältnisse nämlich erscheint die Zirkulation der Frauen als eine Verteilung der Arbeitskraft, aber in der ideologischen Repräsentation, die sich die Gesellschaft von ihrer ökonomischen Basis gibt, verblasst dieser Aspekt vor den Austauschverhältnissen, die doch nur die Form sind, die diese Verteilung in der Sphäre der Zirkulation annimmt: indem man den Moment der Zirkulation im Reproduktionsprozess isoliert, ratifiziert die Ethnologie diese Repräsentation“, und gibt der bürgerlichen Ökonomie ihre ganze koloniale Extension.43 In diesem Sinn schien uns das Wesentliche nicht der Austausch und die Zirkulation zu sein, die eng von den Erfordernissen der Einschreibung abhängen, sondern die Einschreibung selbst, mit ihren Feuerzügen, ihrem Alphabet in den Körpern und ihren Schuldblöcken. Niemals würde die weiche Struktur funktionieren und zirkulieren lassen ohne das harte maschinische Element, das den Einschreibungen vorsteht.
Die wilden Formationen sind oral, vokal, aber nicht weil ihnen ein graphisches System fehlte: ein Tanz auf der Erde, eine Zeichnung auf einer Wand, eine Markierung am Körper sind ein graphisches System, ein Geo-Graphismus, eine Geographie. Diese Formationen sind gerade deshalb oral, weil sie ein von der Stimme unabhängiges graphisches System haben, das sich nicht auf sie ausrichtet und ihr nicht unterordnet, sondern mit ihr verbunden ist, koordiniert „in einer gewissermaßen strahlenförmigen“ und pluridimensionalen Organisation. (Und man muss das Gegenteil der linearen Schrift sagen: Zivilisationen hören nur dadurch auf, oral zu sein, dass sie die Unabhängigkeit und die eigenen Dimensionen des graphischen Systems verlieren; indem der Graphismus sich auf die Stimme ausrichtet, verdrängt er sie und induziert eine fiktive Stimme.) Leroi-Gourhan hat diese beiden heterogenen Pole der wilden Einschreibung oder der territorialen Repräsentation bewundernswert beschrieben: das Paar Stimme-Gehör und Hand-Graphie.44 Wie funktioniert eine solche Maschine? – denn sie funktioniert: die Stimme ist wie eine Allianz-Stimme, der sich ohne Ähnlichkeit eine Graphie koordiniert, auf der Seite der ausgedehnten Filiation. Auf den Körper des jungen Mädchens wird die Kalebasse der Exzision gelegt. Vom Linienverband des Ehemanns geliefert, ist es die Kalebasse, die als Leiter der Allianz-Stimme dient; aber der Graphismus muss von einem Mitglied des Klans des jungen Mädchens gezeichnet werden. Die Artikulation der beiden Elemente vollzieht sich am Körper selbst und konstituiert das Zeichen, das weder Ähnlichkeit noch Imitation ist, noch Effekt eines Signifikanten, sondern Setzung und Produktion des Begehrens: „Damit die Transformation des jungen Mädchens vollständig wirksam wird, muss ein direkter Kontakt stattfinden zwischen dem Bauch dieses Mädchens einerseits, der Kalebasse und den auf ihr eingeschriebenen Zeichen andererseits. Das Mädchen muss sich physisch mit den Zeichen der Zeugung tränken und sie sich einverleiben. Die Bedeutung der Ideogramme wird den jungen Mädchen während ihrer Initiation niemals gelehrt. Das Zeichen wirkt durch seine Einschreibung in den Körper… Die Einschreibung einer Markierung in den Körper hat hier nicht nur den Wert einer Botschaft, sondern ist ein Instrument des Handelns, das auf den Körper selbst wirkt… Die Zeichen befehlen die Dinge, die sie bedeuten, und der Handwerker der Zeichen ist, weit davon entfernt, ein bloßer Imitator zu sein, ein Werk zu vollbringen, das an das göttliche Werk erinnert.“45 Aber wie den von Leroi-Gourhan angegebenen Anteil des Sehens erklären, sowohl in der Betrachtung des sprechenden Gesichts als auch in der Lektüre des manuellen Graphismus? Oder genauer: kraft wessen ist das Auge fähig, eine schreckliche Äquivalenz zu erfassen zwischen der Allianz-Stimme, die zufügt und verpflichtet, und dem Körper, der vom Zeichen, das eine Hand in ihn einritzt, geschlagen wird? Muss man nicht zu den beiden anderen ein drittes Element des Zeichens hinzufügen: Auge-Schmerz, neben Stimme-Gehör und Hand-Graphie? Der Patient in den Affliktionsritualen spricht nicht, sondern empfängt das Wort. Er handelt nicht, sondern ist passiv unter der graphischen Aktion, er empfängt den Stempel des Zeichens. Und sein Schmerz, was ist er, wenn nicht eine Lust für das Auge, das ihn betrachtet, das kollektive oder göttliche Auge, das von keiner Idee der Rache bewegt ist, sondern allein fähig, das subtile Verhältnis zu erfassen zwischen dem ins Fleisch geritzten Zeichen und der aus einem Gesicht hervorgegangenen Stimme – zwischen der Markierung und der Maske. Zwischen diesen beiden Elementen des Codes ist der Schmerz wie der Mehrwert, den das Auge zieht, indem es die Wirkung des aktiven Wortes auf den Körper erfasst, aber auch die Reaktion des Körpers, insofern er agiert wird. Das ist es, was man System der Schuld oder territoriale Repräsentation nennen muss: Stimme, die spricht oder psalmodiert, Zeichen, mitten ins Fleisch geprägt, Auge, das Lust aus dem Schmerz zieht, – das sind die drei Seiten eines wilden Dreiecks, das ein Territorium der Resonanz und der Retention bildet, ein Theater der Grausamkeit, das die dreifache Unabhängigkeit der artikulierten Stimme, der graphischen Hand und des wertenden Auges impliziert. So organisiert sich die territoriale Repräsentation an der Oberfläche, noch ganz nahe an einer begehrenden Maschine Auge-Hand-Stimme. Magisches Dreieck. Alles ist aktiv, agiert oder reagiert in diesem System: die Aktion der Allianz-Stimme, die Passion des filiativischen Körpers, die Reaktion des Auges, das die Deklination der beiden beurteilt. Den Stein wählen, der aus dem jungen Guayaki einen Mann machen wird, mit genug Übel und Schmerz, indem man ihm den Rücken der Länge nach spaltet: „Er muss eine gut schneidende Seite haben“ (sagt Clastres in einem bewundernswerten Text) „aber nicht wie der Bambussplitter, der zu leicht schneidet. Den angemessenen Stein wählen verlangt also den Blick.“ Der ganze Apparat dieser neuen Zeremonie reduziert sich darauf: ein Kiesel… Gepflügte Haut, narbige Erde, ein und dieselbe Markierung.46
Das große Buch der modernen Ethnologie ist weniger der Essay über die Gabe von Mauss als Nietzsches Genealogie der Moral. Zumindest sollte es das sein. Denn die Genealogie, die zweite Abhandlung, ist ein Versuch und ein Erfolg ohne Gleichen, die primitive Ökonomie in Begriffen der Schuld, im Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zu interpretieren, unter Eliminierung jeder Betrachtung von Austausch oder „englischem“ Interesse. Und wenn man sie aus der Psychologie eliminiert, dann nicht, um sie in die Struktur zu verlegen. Nietzsche hat nur ein dürftiges Material, altes germanisches Recht, ein wenig hinduistisches Recht. Aber er zögert nicht wie Mauss zwischen Austausch und Schuld (Bataille wird auch nicht zögern, unter der nietzscheanischen Inspiration, die ihn führt). Niemals hat man so scharf das grundlegende Problem des primitiven Socius gestellt, das der Einschreibung, des Codes, der Markierung ist. Der Mensch muss sich durch die Verdrängung des intensiven keimlichen Zustroms konstituieren, des großen bio-kosmischen Gedächtnisses, das die Sintflut über jeden Versuch von Kollektivität bringen würde. Aber zugleich, wie ihm ein neues Gedächtnis machen, ein kollektives Gedächtnis, das das der Worte und Allianzen ist, das die Allianzen mit den ausgedehnten Filiationsverhältnissen dekliniert, das ihn mit Fähigkeiten der Resonanz und der Retention, der Abschöpfung und der Ablösung ausstattet und so die Kodierung der Ströme des Begehrens als Bedingung des Socius vollzieht? Die Antwort ist einfach: es ist die Schuld, es sind die offenen, mobilen und endlichen Schuldblöcke, dieses außerordentliche Kompositum aus sprechender Stimme, markiertem Körper und genießendem Auge. Die ganze Dummheit und Willkür der Gesetze, der ganze Schmerz der Initiationen, der ganze perverse Apparat von Repression und Erziehung, die glühenden Eisen und die grausigen Verfahren haben nur diesen Sinn: den Menschen abzurichten, ihn in seinem Fleisch zu markieren, ihn bündnisfähig zu machen, ihn in der Gläubiger-Schuldner-Relation zu formen, die auf beiden Seiten eine Sache des Gedächtnisses ist (ein Gedächtnis, das auf die Zukunft gespannt ist). Weit davon entfernt, eine Erscheinungsweise des Austauschs zu sein, ist die Schuld der unmittelbare Effekt oder das direkte Mittel der territorialen und körperlichen Einschreibung. Die Schuld geht geradewegs aus der Einschreibung hervor. Wieder einmal wird man hier keine Rache, keinen Ressentiment anrufen (nicht auf diesem Boden wachsen sie, nicht mehr als Ödipus). Dass die Unschuldigen alle Markierungen an ihrem Körper erleiden, kommt von der jeweiligen Autonomie der Stimme und des Graphismus, und auch vom autonomen Auge, das daraus Lust zieht. Es ist nicht, weil man jeden im Voraus verdächtigt, ein künftiger schlechter Schuldner zu sein; es wäre eher das Gegenteil. Den schlechten Schuldner muss man so verstehen, als hätten die Markierungen nicht genügend an ihm „gegriffen“, als wäre er oder sei er entmarkiert worden. Er hat nur über die erlaubten Grenzen hinaus die Kluft erweitert, die die Allianz-Stimme und den filiativischen Körper trennte, so dass man das Gleichgewicht durch ein Mehr an Schmerz wiederherstellen muss. Nietzsche sagt es nicht, aber was macht das? Denn genau dort trifft er die schreckliche Gleichung der Schuld: verursachter Schaden = zu erleidender Schmerz. Wie erklären, fragt er, dass der Schmerz des Verbrechers als „Äquivalent“ für den Schaden dienen kann, den er verursacht hat? Wie kann man sich „bezahlen lassen“ mit Leiden? Man muss ein Auge anrufen, das daraus Lust zieht (nichts mit Rache zu tun): das, was Nietzsche selbst das wertende Auge nennt, oder das Auge der Götter, die Liebhaber grausamer Spektakel, „so sehr das Strafgericht solche Züge von Fest hat!“. So sehr der Schmerz Teil eines aktiven Lebens und eines wohlgefälligen Blicks ist. Die Gleichung Schaden = Schmerz hat nichts Austauschistisches, und zeigt in diesem Grenzfall, dass die Schuld selbst nichts mit Austausch zu tun hatte. Einfach zieht das Auge aus dem Schmerz, den es betrachtet, einen Code-Mehrwert, der das gebrochene Verhältnis kompensiert zwischen der Allianz-Stimme, der der Verbrecher gefehlt hat, und der Markierung, die seinen Körper nicht hinreichend durchdrungen hatte. Das Verbrechen, Bruch der phono-graphischen Verbindung, wiederhergestellt durch das Schauspiel der Strafe: primitive Gerechtigkeit, die territoriale Repräsentation hat alles vorgesehen.
Sie hat alles vorgesehen, den Schmerz und den Tod kodierend – außer der Weise, wie ihr eigener Tod ihr von außen kommen würde. „Sie kommen wie das Schicksal, ohne Ursache, ohne Grund, ohne Rücksicht, ohne Vorwand, sie sind da mit der Schnelligkeit des Blitzes, zu schrecklich, zu plötzlich, zu überzeugend, zu anders, um auch nur ein Gegenstand des Hasses zu sein. Ihr Werk besteht darin, instinktiv Formen zu schaffen, Abdrücke zu schlagen, sie sind die unfreiwilligsten und unbewusstesten Künstler, die es gibt: wo sie erscheinen, gibt es in kurzer Zeit etwas Neues, ein souveränes Räderwerk, das lebendig ist, wo jeder Teil, jede Funktion abgegrenzt und bestimmt ist, wo nichts Platz findet, das nicht zuerst seine Bedeutung im Verhältnis zum Ganzen hätte. Sie wissen nicht, diese Organisatoren von Geburt, was Schuld, Verantwortlichkeit, Ehrfurcht ist; in ihnen herrscht jener erschreckende Egoismus des Künstlers mit eherner Miene, der sich in seinem Werk auf alle Ewigkeit im Voraus gerechtfertigt weiß, wie die Mutter in ihrem Kind. Nicht bei ihnen, man ahnt es, ist das schlechte Gewissen gekeimt, – aber ohne sie hätte es nicht ausgeschlagen, diese schreckliche Pflanze, sie existierte nicht, wenn unter dem Schlag ihrer Hämmer, ihrer Tyrannei von Künstlern eine ungeheure Menge Freiheit nicht aus der Welt verschwunden wäre, oder wenigstens aus allen Augen verschwunden wäre, gezwungen, in den latenten Zustand überzugehen.“47 Hier spricht Nietzsche von Schnitt, von Bruch, von Sprung. Wer sind sie, diese sie, die wie die Fatalität kommen? („eine irgendwelche Horde blonder Raubtiere, eine Rasse von Eroberern und Herren, die mit ihrer kriegerischen Organisation, verdoppelt durch die Kraft zu organisieren, ohne Skrupel ihre furchtbaren Klauen auf eine vielleicht unendlich überlegene Bevölkerung an Zahl, aber noch unorganisch, fallen lässt…“). Selbst die ältesten afrikanischen Mythen sprechen zu uns von diesen blonden Männern. Es sind die Staatsgründer. Nietzsche wird andere Schnitte ansetzen: die der griechischen Polis, des Christentums, des demokratischen und bürgerlichen Humanismus, der Industriegesellschaft, des Kapitalismus und des Sozialismus. Aber es könnte sein, dass alle, auf verschiedene Weise, diesen ersten großen Schnitt voraussetzen, obwohl sie ihn zugleich zurückdrängen und ausfüllen wollen. Es könnte sein, dass es, geistlich oder weltlich, tyrannisch oder demokratisch, kapitalistisch oder sozialistisch, niemals mehr als einen einzigen Staat gegeben hat, den Hund-Staat, der „in Rauch und Heulen spricht“. Und Nietzsche legt nahe, wie dieser neue Socius verfährt: ein Terror ohne Beispiel, gegenüber dem das alte System der Grausamkeit, die Formen der Abrichtung und der primitiven Strafe nichts sind. Eine konzertierte Zerstörung aller primitiven Kodierungen oder, schlimmer noch, ihre lächerliche Konservierung, ihre Reduktion zu sekundären Teilen in der neuen Maschine und dem neuen Verdrängungsapparat. Was das Wesentliche der primitiven Einschreibungsmaschine ausmachte, die mobilen, offenen und endlichen Schuldblöcke, „die Parzellen des Schicksals“, all das wird in ein ungeheures Getriebe genommen, das die Schuld unendlich macht und nur noch eine einzige und dieselbe erdrückende Fatalität bildet: „Von da an wird die Perspektive einer Befreiung ein für allemal im pessimistischen Nebel verschwinden müssen, von da an wird sich der verzweifelte Blick vor einer eisernen Unmöglichkeit entmutigen lassen müssen…“ Die Erde wird zu einer Irrenanstalt.
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Die Einsetzung der despotischen Maschine oder des barbarischen Socius lässt sich so zusammenfassen: neue Allianz und direkte Filiation. Der Despot weist die lateralen Allianzen und die ausgedehnten Filiationsverhältnisse der alten Gemeinschaft zurück. Er setzt eine neue Allianz durch und stellt sich in direkte Filiation zum Gott: Das Volk muss folgen. In eine neue Allianz springen, mit der alten Filiation brechen; das drückt sich in einer seltsamen Maschine aus, oder vielmehr in einer Maschine des Seltsamen, deren Ort die Wüste ist, die die härtesten, die trockensten Prüfungen auferlegt und ebenso sehr vom Widerstand einer alten Ordnung wie von der Beglaubigung der neuen Ordnung zeugt. Die Maschine des Seltsamen ist zugleich große paranoische Maschine, insofern sie den Kampf mit dem alten System ausdrückt, und bereits glorreiche Junggesellenmaschine, insofern sie den Triumph der neuen Allianz montiert. Der Despot ist der Paranoiker (es hat keinen Nachteil mehr, einen solchen Satz zu vertreten, sobald man sich des der psychoanalytischen und psychiatrischen Auffassung der Paranoia eigenen Familialismus entledigt hat und in der Paranoia einen Typus der Investierung einer sozialen Formation sieht). Und neue perverse Gruppen verbreiten die Erfindung des Despoten (vielleicht haben sie sie ihm sogar gefertigt), verbreiten seinen Ruhm und setzen seine Macht in den Städten durch, die sie gründen oder die sie erobern. Überall, wo ein Despot und sein Heer vorbeiziehen, gehören Ärzte, Priester, Schreiber, Beamte zum Zug. Man würde sagen, die alte Komplementarität sei verrutscht, um einen neuen Socius zu bilden: nicht mehr der Paranoiker des Buschlands und die Perversen des Dorfes oder des Lagerplatzes, sondern der Paranoiker der Wüste und die Perversen der Stadt.
Im Prinzip muss die barbarisch-despotische Formation in Opposition zur primitiven territorialen Maschine gedacht werden und errichtet sich auf ihren Ruinen: Geburt eines Imperiums. Aber in Wirklichkeit kann man die Bewegung dieser Formation ebenso gut erfassen, wenn sich ein Imperium von einem vorhergehenden Imperium absetzt; oder sogar, wenn der Traum von einem geistlichen Imperium aufkommt, dort, wo die weltlichen Imperien in Verfall geraten. Es kann sein, dass das Unternehmen vor allem militärisch und Eroberung ist, es kann sein, dass es vor allem religiös ist, wobei die militärische Disziplin in Asketismus und innere Kohäsion umgewandelt wird. Es kann sein, dass der Paranoiker selbst eine sanfte Kreatur oder ein entfesseltes Raubtier ist. Aber immer finden wir die Figur dieses Paranoikers und seiner Perversen wieder, den Eroberer und seine Elitetruppen, den Despoten und seine Bürokraten, den heiligen Mann und seine Jünger, den Anachoreten und seine Mönche, den Christus und seinen heiligen Paulus. Moses flieht die ägyptische Maschine in die Wüste, setzt dort seine neue Maschine ein, heilige Lade und tragbarer Tempel, und gibt seinem Volk eine religiös-militärische Organisation. Um das Unternehmen des heiligen Johannes des Täufers zusammenzufassen, sagt man: «Jean attaque à la base la doctrine centrale du judaïsme, celle de l’alliance avec Dieu par une filiation remontant à Abraham.»48 Das ist das Wesentliche: Wir sprechen von barbarisch-imperialer Formation oder despotischer Maschine jedesmal, wenn die Kategorien der neuen Allianz und der direkten Filiation mobilisiert werden. Und, welcher Kontext diese Mobilisierung auch immer hat, in Beziehung oder nicht zu vorhergehenden Imperien, da sich durch diese Wechselfälle hindurch die imperiale Formation immer durch einen bestimmten Typus von Code und Einschreibung definiert, der sich dem Recht nach den primitiven territorialen Kodierungen entgegenstellt. Die Nummer der Allianz ist gleichgültig: neue Allianz und direkte Filiation sind spezifische Kategorien, die von einem neuen Socius zeugen, irreduzibel auf die lateralen Allianzen und die ausgedehnten Filiationsverhältnisse, die die primitive Maschine deklinierte. Was die Paranoia definiert, ist diese Projektionsmacht, diese Kraft, bei null neu anzusetzen, eine vollständige Transformation zu objektivieren: Das Subjekt springt aus den Kreuzungen Allianz-Filiation heraus, richtet sich an der Grenze ein, am Horizont, in der Wüste, Subjekt eines deterritorialisierten Wissens, das es direkt mit Gott verbindet und es mit dem Volk verknüpft. Zum ersten Mal hat man dem Leben und der Erde etwas entzogen, das erlauben wird, das Leben zu beurteilen und die Erde zu überfliegen, Prinzip paranoischer Erkenntnis. Das ganze relative Spiel der Allianzen und der Filiationsverhältnisse wird in dieser neuen Allianz und dieser direkten Filiation ins Absolute getragen.
Es bleibt, dass man, um die barbarische Formation zu verstehen, sie nicht auf andere Formationen gleichen Genres beziehen darf, mit denen sie konkurriert, weltlich oder geistlich, gemäß Verhältnissen, die das Wesentliche verwischen, sondern auf die primitive wilde Formation, die sie dem Recht nach verdrängt und die sie weiterhin heimsucht. So definiert Marx die asiatische Produktion: Eine höhere Einheit des Staates setzt sich auf der Basis der primitiven ländlichen Gemeinschaften ein, die das Eigentum am Boden bewahren, während der Staat dessen wahrer Eigentümer ist, gemäß der objektiven scheinbaren Bewegung, die ihm das Mehrprodukt zuschreibt, ihm die Produktivkräfte in den großen Arbeiten zurechnet und ihn selbst als Ursache der kollektiven Bedingungen der Aneignung erscheinen lässt.49 Der volle Körper als Socius hat aufgehört, die Erde zu sein; er ist zum Körper des Despoten geworden, der Despot selbst oder sein Gott. Die Vorschriften und Verbote, die ihn oft fast unfähig machen zu handeln, machen aus ihm einen Körper ohne Organe. Er ist es, die einzige Quasi-Ursache, die Quelle und das Mündungsbecken der scheinbaren Bewegung. Statt mobiler Ablösungen signifikanter Kette ist ein abgelöstes Objekt aus der Kette herausgesprungen; statt Abschöpfungen von Strömen konvergieren alle Ströme in einen großen Fluss, der die Konsumtion des Souveräns bildet: radikaler Regimewechsel im Fetisch oder Symbol. Was zählt, ist nicht die Person des Souveräns, nicht einmal seine Funktion, die begrenzt sein kann. Es ist die soziale Maschine, die sich tiefgreifend verändert hat: statt der territorialen Maschine die staatliche «Megamaschine», funktionale Pyramide, die den Despoten an der Spitze hat, unbewegter Motor, den bürokratischen Apparat als laterale Oberfläche und Übertragungsorgan, die Dorfbewohner an der Basis und als arbeitende Teile. Die Bestände werden Gegenstand einer Akkumulation, die Schuldblöcke werden zu einem unendlichen Verhältnis in Form des Tributs. Der ganze Code-Mehrwert wird zum Gegenstand der Aneignung. Diese Umwandlung durchquert alle Synthesen: die der Produktion mit der hydraulischen Maschine, der Bergwerksmaschine, die der Einschreibung mit der Buchführungsmaschine, der Schreibmaschine, der Monumentalmaschine, die der Konsumtion schließlich mit dem Unterhalt des Despoten, seines Hofes und der bürokratischen Kaste. Weit davon entfernt, im Staat das Prinzip einer Territorialisierung zu sehen, die die Menschen nach ihrem Wohnsitz einschreibt, müssen wir im Wohnsitzprinzip den Effekt einer Deterritorialisierungsbewegung sehen, die die Erde als Objekt teilt und die Menschen der neuen imperialen Einschreibung unterwirft, dem neuen vollen Körper, dem neuen Socius.
«Ils arrivent comme la destinée, … ils sont là avec la rapidité de l’éclair, trop terribles, trop soudains…» Das ist, weil der Tod des primitiven Systems immer von außen kommt, die Geschichte ist die der Kontingenzen und der Begegnungen. Wie eine Wolke aus der Wüste sind die Eroberer da: «Impossible de comprendre comment ils ont pénétré», wie sie «tant de hauts plateaux déserts, tant de vastes plaines fertiles…» durchquert haben. «Cependant ils sont là, et chaque matin semble accroître leur nombre… S’entretenir avec eux, impossible ! Ils ne savent pas notre langue.»50 Aber dieser Tod, der von außen kommt, ist auch der, der von innen heraufkam: die allgemeine Irreduzibilität der Allianz auf die Filiation, die Unabhängigkeit der Allianzgruppen, die Art, wie sie als leitendes Element für ökonomische und politische Beziehungen dienten, das System der primitiven Ränge, der Mechanismus des Mehrwerts, all dies skizzierte bereits despotische Formationen und Kastenordnungen. Und wie unterscheiden zwischen der Art, wie die primitive Gemeinschaft ihren eigenen Häuptlingsinstitutionen misstraut, das Bild des möglichen Despoten bannt oder würgt, den sie in ihrem Innern absondern würde, und der Art, wie sie das lächerlich gewordene Symbol eines alten Despoten fesselt, der sich von außen her aufzwang, vor langer Zeit? Es ist nicht immer leicht zu wissen, ob es eine primitive Gemeinschaft ist, die eine endogene Tendenz repressiert, oder die sich so gut es geht wiederfindet nach einem schrecklichen exogenen Abenteuer. Das Spiel der Allianzen ist ambivalent: Sind wir noch diesseits der neuen Allianz, oder schon jenseits, und gleichsam zurückgefallen in ein residuales und transformiertes Diesseits? (Nebenfrage: was ist die Feudalität?) Wir können nur den präzisen Moment der imperialen Formation als den der exogenen neuen Allianz ansetzen, nicht nur an Stelle der alten Allianzen, sondern in Relation zu ihnen. Und diese neue Allianz ist etwas ganz anderes als ein Vertrag, ein Kontrakt. Denn was aufgehoben wird, ist nicht das alte Regime lateraler Allianzen und ausgedehnter Filiationsverhältnisse, sondern nur ihr bestimmender Charakter. Sie bestehen fort, mehr oder weniger verändert, mehr oder weniger vom großen Paranoiker zurechtgemacht, da sie den Stoff des Mehrwerts liefern. Gerade das macht den spezifischen Charakter der asiatischen Produktion aus: die autochthonen ländlichen Gemeinschaften bestehen fort und produzieren, schreiben ein, konsumieren weiter; der Staat hat es sogar nur mit ihnen zu tun. Die Räderwerke der territorialen lignageren Maschine bestehen fort, sind aber nur noch die arbeitenden Teile der Staatsmaschine. Die Objekte, die Organe, die Personen und die Gruppen bewahren wenigstens einen Teil ihrer intrinsischen Kodierung, aber diese kodierten Ströme des alten Regimes werden von der transzendenten Einheit, die sich den Mehrwert aneignet, überkodiert. Die alte Einschreibung bleibt, aber in und durch die Staatseinschreibung verziegelt. Die Blöcke bestehen fort, aber sie sind zu eingekastelten und eingekeilten Ziegeln geworden, die nur noch eine Befehlsmobilität haben. Die territorialen Allianzen werden nicht ersetzt, sondern nur der neuen Allianz beigesellt; die territorialen Filiationsverhältnisse werden nicht ersetzt, sondern nur der direkten Filiation angegliedert. Es ist wie ein ungeheures Erstgeburtsrecht über jede Filiation, ein ungeheures Recht der ersten Nacht über jede Allianz. Der filiative Bestand wird zum Gegenstand einer Akkumulation in der anderen Filiation, die Allianzschuld wird zu einem unendlichen Verhältnis in der anderen Allianz. Das ganze primitive System wird mobilisiert, requiriert von einer höheren Macht, unterjocht von neuen äußeren Kräften, in den Dienst anderer Zwecke gestellt; so sehr ist es wahr, sagte Nietzsche, dass das, was man die Evolution einer Sache nennt, «une succession constante de phénomènes d’assujettissement plus ou moins violents, plus ou moins indépendants, sans oublier les résistances qui s’élèvent sans cesse, les tentatives de métamorphose qui s’opèrent pour concourir à la défense et à la réaction, enfin les résultats heureux des actions en sens contraire».
Man hat oft bemerkt, dass der Staat (oder wieder) mit zwei grundlegenden Akten beginnt: dem einen, der Territorialisierung genannt wird, durch Festsetzung des Wohnsitzes, dem anderen, der Befreiung genannt wird, durch Abschaffung der kleinen Schulden. Aber der Staat verfährt durch Euphemismus. Die Pseudo-Territorialität ist das Produkt einer wirksamen Deterritorialisierung, die abstrakte Zeichen an die Stelle der Zeichen der Erde setzt und die die Erde selbst zum Objekt eines Staatseigentums macht oder zum Eigentum seiner reichsten Diener und Funktionäre (und es gibt aus dieser Sicht keine große Veränderung, wenn der Staat nur noch das Privateigentum einer herrschenden Klasse garantiert, die sich von ihm unterscheidet). Die Abschaffung der Schulden, wenn sie stattfindet, ist ein Mittel, die Verteilung der Ländereien zu erhalten und das Auftreten einer neuen territorialen Maschine zu verhindern, gegebenenfalls revolutionär und fähig, das Agrarproblem in seiner ganzen Breite zu stellen oder zu behandeln. In anderen Fällen, wo eine Umverteilung stattfindet, bleibt der Zyklus der Forderungen erhalten, unter der neuen, vom Staat eingesetzten Form – dem Geld. Denn gewiss beginnt das Geld nicht damit, dem Handel zu dienen, oder hat zumindest kein autonomes Handelsmodell. Die despotische Maschine hat mit der primitiven Maschine hierin gemeinsam, sie bestätigt sie in dieser Hinsicht: den Horror vor dekodierten Strömen, Produktionsströmen, aber auch Warenströmen von Austausch und Handel, die dem Monopol des Staates, seinem Raster, seinem Stempel entgehen würden. Wenn Étienne Balazs fragt: warum ist der Kapitalismus im China des 13. Jahrhunderts nicht entstanden, wo doch alle wissenschaftlichen und technischen Bedingungen gegeben schienen?, liegt die Antwort im Staat, der die Minen schloss, sobald die Metallreserven als ausreichend beurteilt wurden, und der das Monopol oder eine enge Kontrolle des Handels behielt (der Händler als Funktionär).51 Die Rolle des Geldes im Handel hängt weniger vom Handel selbst ab als von seiner Kontrolle durch den Staat. Das Verhältnis des Handels zum Geld ist synthetisch, nicht analytisch. Und grundlegend ist Geld untrennbar nicht vom Handel, sondern von der Steuer als Unterhalt des Staatsapparats. Dort selbst, wo herrschende Klassen sich von diesem Apparat unterscheiden und ihn zugunsten des Privateigentums benutzen, bleibt die despotische Bindung des Geldes an die Steuer sichtbar. Gestützt auf die Forschungen von Will zeigt Michel Foucault, wie in bestimmten griechischen Tyranneien die Steuer auf die Aristokraten und die Verteilung von Geld an die Armen ein Mittel sind, das Geld zu den Reichen zurückzubringen, das Regime der Schulden in singularer Weise zu erweitern, es noch stärker zu machen, indem jede Re-Territorialisierung, die sich über die ökonomischen Daten des Agrarproblems vollziehen könnte, vorgebeugt und repressiert wird.52 (Als hätten die Griechen auf ihre Weise entdeckt, was die Amerikaner nach dem New Deal wiederfinden werden: dass schwere Staatssteuern den guten Geschäften zuträglich sind.) Kurz, das Geld, die Zirkulation des Geldes, ist das Mittel, die Schuld unendlich zu machen. Und das ist es, was die beiden Akte des Staates verbergen: der Wohnsitz oder die Staatsterritorialität eröffnet die große Deterritorialisierungsbewegung, die alle primitiven Filiationsverhältnisse der despotischen Maschine unterordnet (Agrarproblem); die Abschaffung der Schulden oder ihre buchhalterische Umwandlung eröffnet die Aufgabe eines endlosen Staatsdienstes, der sich alle primitiven Allianzen unterordnet (Schuldenproblem). Der unendliche Gläubiger, die unendliche Forderung hat die mobilen und endlichen Schuldblöcke ersetzt. Es gibt immer einen Monotheismus am Horizont des Despotismus: die Schuld wird Existenzschuld, Schuld der Existenz der Subjekte selbst. Es kommt die Zeit, in der der Gläubiger noch nicht geliehen hat, während der Schuldner nicht aufhört zurückzuzahlen, denn zurückzahlen ist eine Pflicht, aber leihen ist eine Befugnis – wie im Lied von Lewis Carroll, dem langen Lied der unendlichen Schuld:
«Ein Mann kann gewiss sein Recht verlangen,
doch wenn es um das Darlehen geht,
kann er gewiss wählen
die Zeit, die ihm am besten passt».53
Der despotische Staat, wie er unter den reinsten Bedingungen der sogenannten asiatischen Produktion erscheint, hat zwei korrelative Aspekte: einerseits ersetzt er die territoriale Maschine, er bildet einen neuen deterritorialisierten vollen Körper; andererseits erhält er die alten Territorialitäten, integriert sie als Teile oder Produktionsorgane in die neue Maschine. Er erreicht so seine Vollkommenheit, weil er auf der Basis der verstreuten ländlichen Gemeinschaften funktioniert, als vorbestehende autonome oder halbautonome Maschinen vom Standpunkt der Produktion aus; aber von demselben Standpunkt aus reagiert er auf sie, indem er die Bedingungen großer Arbeiten produziert, die die Macht der einzelnen Gemeinschaften übersteigen. Was sich auf dem Körper des Despoten vollzieht, ist eine konnektive Synthese der alten Allianzen mit der neuen, eine disjunktive Synthese, durch die die alten Filiationsverhältnisse auf die direkte Filiation überströmen und alle Subjekte in der neuen Maschine vereinigen. Das Wesentliche des Staates ist also die Schaffung einer zweiten Einschreibung, durch die der neue volle Körper, unbewegt, monumental, unveränderlich, sich alle Kräfte und alle Agenten der Produktion aneignet; aber diese Staatseinschreibung lässt die alten territorialen Einschreibungen bestehen, als «Ziegel» auf der neuen Oberfläche. Daraus ergibt sich schließlich die Weise, wie die Konjunktion der beiden Teile sich vollzieht, die jeweiligen Anteile, die der höheren Eigentümereinheit und den besitzenden Gemeinschaften zufallen, der Überkodierung und den intrinsischen Codes, dem angeeigneten Mehrwert und dem genutzten Usufrukt, der Staatsmaschine und den territorialen Maschinen. Wie in Die chinesische Mauer ist der Staat die höhere transzendente Einheit, die relativ isolierte Teilmengen integriert, getrennt funktionierend, denen er eine Ziegelentwicklung und eine Bauarbeit in Fragmenten zuweist. Zerstreute Teilobjekte, aufgehängt am Körper ohne Organe. Niemand wie Kafka hat zu zeigen gewusst, dass das Gesetz nichts mit einer natürlichen harmonischen Totalität, immanent, zu tun hatte, sondern als eminente formale Einheit wirkte und als solche über Fragmente und Stücke herrschte (die Mauer und der Turm). Ebenso ist der Staat nicht primitiv, er ist Ursprung oder Abstraktion, er ist die ursprünglich-abstrakte Essenz, die nicht mit dem Anfang zusammenfällt. «Der Kaiser ist der einzige Gegenstand all unserer Gedanken. Nicht etwa der regierende Kaiser… Er wäre es, will ich sagen, wenn wir ihn kennten, wenn wir über ihn auch nur die geringste Genauigkeit hätten!… Das Volk weiß nicht, welcher Kaiser regiert, und selbst der Name der Dynastie bleibt ihm ungewiss… In unseren Dörfern besteigen längst verstorbene Kaiser den Thron, und einer, der nur noch in der Legende lebt, hat soeben ein Dekret erlassen, das der Priester am Fuß des Altars verliest.» Was die Teilmengen selbst betrifft, primitive territoriale Maschinen, so sind sie wohl das Konkrete, die Basis und der konkrete Anfang, aber ihre Segmente treten hier in Verhältnisse ein, die der Essenz entsprechen, sie nehmen gerade diese Ziegelform an, die ihre Integration in die höhere Einheit und ihr distributives Funktionieren sicherstellt, gemäß den kollektiven Absichten eben dieser Einheit (große Arbeiten, Erpressung des Mehrwerts, Tribut, verallgemeinerte Sklaverei). Zwei Einschreibungen koexistieren in der imperialen Formation und versöhnen sich insofern, als die eine in die andere verziegelt ist, die andere dagegen das Ganze zementiert und sich Produzenten und Produkte zurechnet (sie müssen nicht dieselbe Sprache sprechen). Die imperiale Einschreibung durchkreuzt alle Allianzen und alle Filiationsverhältnisse, verlängert sie, lässt sie auf die direkte Filiation des Despoten mit dem Gott, auf die neue Allianz des Despoten mit dem Volk konvergieren. Alle kodierten Ströme der primitiven Maschine werden jetzt bis zu einer Mündung gedrängt, wo die despotische Maschine sie überkodiert. Die Überkodierung, das ist die Operation, die das Wesen des Staates konstituiert und die zugleich seine Kontinuität und seinen Bruch mit den alten Formationen misst: der Horror vor Strömen des Begehrens, die nicht kodiert wären, aber auch die Einsetzung einer neuen Einschreibung, die überkodiert und das Begehren zur Sache des Souveräns macht, sei er Todestrieb. Die Kasten sind untrennbar von der Überkodierung und implizieren „herrschende Klassen“, die noch nicht als Klassen in Erscheinung treten, sondern mit einem Staatsapparat zusammenfallen. Wer kann den vollen Körper des Souveräns berühren?, das ist ein Kastenproblem. Es ist die Überkodierung, die die Erde zugunsten des deterritorialisierten vollen Körpers absetzt und die auf diesem vollen Körper die Bewegung der Schuld unendlich macht. Nietzsches Macht, die Bedeutung eines solchen Moments markiert zu haben, das mit den Staatsgründern beginnt, diesen «artistes au regard d’airain, forgeant un rouage meurtrier et impitoyable», die vor jede Perspektive der Befreiung eine eiserne Unmöglichkeit stellen. Nicht genau, dass diese Unendlichmachung sich verstehen ließe, wie Nietzsche sagt, als Konsequenz des Spiels der Ahnen, der tiefen Genealogien und der ausgedehnten Filiationsverhältnisse – sondern vielmehr dann, wenn diese kurzgeschlossen, geraubt werden von der neuen Allianz und der direkten Filiation: dort wird der Ahne, der Herr der mobilen und endlichen Blöcke, vom Gott abgesetzt, dem unbewegten Organisator der Ziegel und ihres unendlichen Kreislaufs.
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Der Inzest mit der Schwester, der Inzest mit der Mutter sind sehr verschiedene Dinge. Die Schwester ist kein Substitut der Mutter: die eine gehört zur konnektiven Kategorie der Allianz, die andere zur disjunktiven Kategorie der Filiation. Wenn die eine verboten ist, dann insofern, als die Bedingungen der territorialen Kodierung verlangen, dass sich Allianz nicht mit Filiation vermischt; und die andere, dass die Nachkommenschaft in der Filiation nicht auf die Vorfahrenlinie zurückfällt. Darum ist der Inzest des Despoten doppelt, kraft der neuen Allianz und der direkten Filiation. Er beginnt damit, die Schwester zu heiraten. Aber diese verbotene endogame Ehe vollzieht er außerhalb des Stammes, insofern er selbst außerhalb seines Stammes ist, außerhalb oder an den Grenzen des Territoriums. Das zeigte Pierre Gordon in einem seltsamen Buch: dieselbe Regel, die den Inzest proscribed, muss ihn einigen vorschreiben. Die Exogamie muss in die Position von Männern außerhalb des Stammes münden, die ihrerseits befugt sind, eine endogame Ehe einzugehen und durch die furchtbare Kraft dieser Ehe als Initiatoren für die exogamen Subjekte beider Geschlechter zu dienen (der «heilige Entjungferer», «der rituelle Initiator» auf dem Berg oder jenseits des Wassers).54 Wüste, Land der Verlobungen. Alle Ströme konvergieren auf einen solchen Mann, alle Allianzen werden von dieser neuen Allianz durchkreuzt, die sie überkodiert. Die endogame Ehe außerhalb des Stammes versetzt den Helden in die Lage, alle exogamen Ehen im Stamm zu überkodieren. Es ist klar, dass der Inzest mit der Mutter einen ganz anderen Sinn hat: es geht diesmal um die Mutter des Stammes, wie sie im Stamm existiert, wie der Held sie findet, indem er in den Stamm eindringt, oder wiederfindet, indem er in ihn zurückkehrt, nach seiner ersten Ehe. Er durchkreuzt die ausgedehnten Filiationsverhältnisse durch eine direkte Filiation. Der Held, initiiert oder initiierend, wird König. Die zweite Ehe entfaltet die Folgen der ersten, sie zieht deren Effekte heraus. Der Held beginnt damit, die Schwester zu heiraten, dann heiratet er die Mutter. Dass beide Akte in unterschiedlichem Grad agglutiniert, assimiliert werden können, hindert nicht, dass es hier zwei Sequenzen gibt: die Vereinigung mit der Prinzessin-Schwester, die Vereinigung mit der Mutter-Königin. Der Inzest geht zu zweien. Der Held sitzt stets zwischen zwei Gruppen, der einen, in die er geht, um seine Schwester zu finden, der anderen, in die er zurückkehrt, um seine Mutter wiederzufinden. Dieser doppelte Inzest hat nicht das Ziel, einen Strom zu produzieren, auch keinen magischen, sondern alle bestehenden Ströme zu überkodieren und dafür zu sorgen, dass kein intrinsischer Code, kein zugrunde liegender Strom der Überkodierung der despotischen Maschine entgeht; eben durch seine Sterilität garantiert er die allgemeine Fruchtbarkeit.55 Die Ehe mit der Schwester ist draußen, sie ist die Wüstenprüfung, sie drückt den räumlichen Abstand zur primitiven Maschine aus; sie bringt die alten Allianzen zu einem Abschluss; sie begründet die neue Allianz, indem sie eine generalisierte Aneignung aller Allianzschulden vornimmt. Die Ehe mit der Mutter ist die Rückkehr zum Stamm; sie drückt den zeitlichen Abstand zur primitiven Maschine aus (Generationsdifferenz); sie konstituiert die direkte Filiation, die aus der neuen Allianz hervorgeht, indem sie eine generalisierte Akkumulation des filiativem Bestands vornimmt. Beide sind für die Überkodierung notwendig, wie die beiden Enden eines Bandes für den despotischen Knoten.
Halten wir hier an: wie ist so etwas möglich? Wie ist der Inzest «möglich» geworden und die manifeste Eigenschaft oder das Siegel des Despoten? Was ist das, diese Schwester, diese Mutter – die des Despoten selbst? Oder stellt sich die Frage anders? Denn sie betrifft das ganze System der Repräsentation, wenn es aufhört, territorial zu sein, um imperial zu werden. Zunächst ahnen wir, dass sich die Elemente der Repräsentation in der Tiefe zu bewegen begonnen haben: die zelluläre Migration hat begonnen, die die ödipale Zelle von einem Ort der Repräsentation zu einem anderen tragen wird. In der imperialen Formation hat der Inzest aufgehört, das verschobene Repräsentierte des Begehrens zu sein, um zur refoulierenden Repräsentation selbst zu werden. Denn daran besteht kein Zweifel: diese Art, wie der Despot Inzest begeht und ihn möglich macht, besteht keineswegs darin, den Apparat Repression-Refoulement aufzuheben; im Gegenteil, sie gehört zu ihm, sie verändert seine Teile nur, und noch dazu ist es immer als verschobenes Repräsentiertes, dass der Inzest jetzt die Position der refoulierenden Repräsentation einnimmt. Ein zusätzlicher Gewinn also, eine neue Ökonomie im repressiven Refoulementapparat, eine neue Marke, eine neue Härte. Leicht, zu leicht, wenn es genügte, den Inzest möglich zu machen und ihn souverän zu vollziehen, damit die Ausübung des Refoulements und der Dienst der Repression aufhören. Der barbarische königliche Inzest ist nur das Mittel, die Ströme des Begehrens zu überkodieren, gewiss nicht, sie zu befreien. O Caligula, o Heliogabal, o tollwütige Erinnerung der verschwundenen Kaiser. Da der Inzest niemals das Begehren gewesen ist, sondern nur sein verschobenes Repräsentiertes, wie es aus dem Refoulement hervorgeht, kann die Repression dabei nur gewinnen, wenn er an die Stelle der Repräsentation selbst tritt und sich als solche die refoulierende Funktion auflädt (das sah man schon in der Psychose, wo das Eindringen des Komplexes ins Bewusstsein, nach dem traditionellen Kriterium, das Refoulement des Begehrens gewiss nicht erleichterte). Mit der neuen Stelle des Inzests in der imperialen Formation sprechen wir also nur von einer Migration in den tiefen Elementen der Repräsentation, die diese im Verhältnis zur begehrenden Produktion fremder, unerbittlicher, endgültiger oder «unendlicher» machen wird. Aber niemals wäre diese Migration möglich, wenn nicht korrelativ eine beträchtliche Veränderung in den anderen Elementen der Repräsentation einträte, jenen, die an der Oberfläche des einschreibenden Socius spielen.
Was sich singulär in der Oberflächenorganisation der Repräsentation ändert, ist das Verhältnis von Stimme und Graphismus: die ältesten Autoren haben es gut gesehen, der Despot macht die Schrift, die imperiale Formation macht aus dem Graphismus eine Schrift im eigentlichen Sinne. Gesetzgebung, Bürokratie, Buchführung, Steuererhebung, Staatsmonopol, kaiserliche Justiz, Tätigkeit der Funktionäre, Historiographie, alles schreibt sich im Gefolge des Despoten. Kehren wir zu dem Paradox zurück, das sich aus den Analysen von Leroi-Gourhan ergibt: die primitiven Gesellschaften sind oral, nicht weil ihnen der Graphismus fehlt, sondern im Gegenteil, weil der Graphismus dort unabhängig von der Stimme ist und auf den Körpern Zeichen markiert, die der Stimme antworten, die auf die Stimme reagieren, die aber autonom sind und sich nicht auf sie ausrichten; dagegen sind die barbarischen Zivilisationen schriftlich, nicht weil sie die Stimme verloren hätten, sondern weil das graphische System seine Unabhängigkeit und seine eigenen Dimensionen verloren hat, sich auf die Stimme ausgerichtet hat, sich der Stimme untergeordnet hat, und daraus einen abstrakten deterritorialisierten Strom herauslöst, den es im linearen Schriftcode festhält und resonieren lässt. Kurz, es ist in ein und derselben Bewegung, dass der Graphismus von der Stimme abhängig wird und eine stumme Stimme aus der Höhe oder aus dem Jenseits induziert, die vom Graphismus abhängig wird. Indem sich die Schrift der Stimme unterordnet, verdrängt sie sie. Jacques Derrida hat recht zu sagen, dass jede Sprache eine ursprüngliche Schrift voraussetzt, wenn er darunter die Existenz und die Verbindung irgendeines Graphismus versteht (Schrift im weiten Sinn). Er hat auch recht zu sagen, dass man im engen Sinn der Schrift kaum Schnitte zwischen piktographischen, ideogrammatischen und phonetischen Verfahren festlegen kann: es gibt immer und schon Ausrichtung auf die Stimme, zugleich wie Substitution für die Stimme (Supplementarität), und «le phonétisme n’est jamais tout-puissant, mais aussi a toujours déjà commencé à travailler le signifiant muet». Er hat noch recht, die Schrift geheimnisvoll mit dem Inzest zu verbinden. Aber wir sehen darin keinen Anlass, auf die Konstanz eines Refoulementapparats nach Art einer graphischen Maschine zu schließen, die ebenso mit Hieroglyphen wie mit Phonemen verfahre.56 Denn es gibt sehr wohl einen Schnitt, der alles in der Welt der Repräsentation verändert, zwischen dieser Schrift im engen Sinn und der Schrift im weiten Sinn, das heißt zwischen zwei ganz verschiedenen Regimen der Einschreibung: Graphismus, der die Stimme dominieren lässt, indem er unabhängig von ihr ist, während er sich mit ihr verbindet; Graphismus, der die Stimme dominiert oder verdrängt, indem er von ihr abhängt, durch verschiedene Verfahren, und sich ihr unterordnet. Das primitive territoriale Zeichen gilt nur für sich selbst, es ist Position des Begehrens in multipler Verbindung, es ist nicht Zeichen eines Zeichens oder Begehren eines Begehrens, es ignoriert die lineare Unterordnung und ihre Reziprozität: weder Piktogramm noch Ideogramm, es ist Rhythmus und nicht Form, Zickzack und nicht Linie, Artefakt und nicht Idee, Produktion und nicht Ausdruck. Versuchen wir, die Unterschiede zwischen diesen beiden Formen der Repräsentation, der territorialen und der imperialen, zusammenzufassen.
Die territoriale Repräsentation besteht zunächst aus zwei heterogenen Elementen, Stimme und Graphismus: das eine ist wie die Wortrepräsentation, die in der lateralen Allianz gebildet wird, das andere wie die Dingrepräsentation (des Körpers), die in der ausgedehnten Filiation eingesetzt wird. Das eine wirkt auf das andere, das andere reagiert auf das eine, jedes mit seiner eigenen Potenz, die sich mit der des anderen konnotiert, um die große Aufgabe des Refoulements der intensiven Keimlinie zu vollziehen. Refoulement trifft in der Tat den vollen Körper als Grund der intensiven Erde, der dem Socius in Ausdehnung Platz machen muss, in dem die betreffenden Intensitäten passieren oder nicht passieren. Der volle Körper der Erde muss im Socius und als Socius eine Ausdehnung annehmen. Der primitive Socius bedeckt sich so mit einem Netzwerk, in dem man unablässig von den Wörtern zu den Dingen springt, von den Körpern zu den Benennungen, gemäß den extensiven Erfordernissen des Systems in Länge und Breite. Was wir Konnotationsregime nennen, ist ein Regime, in dem das Wort als vokales Zeichen etwas bezeichnet, aber das Bezeichnete ist nicht minder Zeichen, weil es sich selbst mit einem der Stimme konnotierten Graphismus aushöhlt. Die Heterogenität, der Bruch, das Ungleichgewicht der beiden Elemente, des vokalen und des graphischen, wird durch ein drittes aufgefangen, das visuelle Element – ein Auge, von dem man sagen würde, es sehe das Wort (es sieht es, es liest es nicht), insofern es den Schmerz des Graphismus bewertet. J.-F. Lyotard hat versucht, in einem anderen Kontext ein solches System zu beschreiben, in dem das Wort nur eine bezeichnende Funktion hat, aber nicht für sich allein das Zeichen bildet; vielmehr wird das Bezeichnete, das Ding oder der Körper, als solches zum Zeichen, insofern es auf sich eine unbekannte Seite enthüllt, die auf ihm definiert ist, gezeichnet durch den Graphismus, der dem Wort antwortet; der Abstand zwischen beiden wird vom Auge ausgefüllt, das das Wort «sieht», ohne es zu lesen, insofern es den vom Graphismus im vollen Körper ausgehenden Schmerz würdigt: das Auge springt.57 Konnotationsregime, System der Grausamkeit: so schien uns das magische Dreieck mit seinen drei Seiten, Stimme-Gehör, Graphismus-Körper, Auge-Schmerz: wo das Wort wesentlich bezeichnend ist, wo aber der Graphismus mit dem bezeichneten Ding selbst ein Zeichen bildet, und wo das Auge vom einen zum anderen geht, die Sichtbarkeit des einen am Schmerz des anderen extrahierend und messend. Alles ist aktiv, erlitten, reagierend im System, alles ist in Gebrauch und Funktion. So dass, wenn man die Gesamtheit der territorialen Repräsentation betrachtet, man von der Komplexität der Netze getroffen ist, mit denen sie den Socius überzieht: die Kette der territorialen Zeichen hört nicht auf, von einem Element zum anderen zu springen, in alle Richtungen auszustrahlen, Ablösungen auszusenden überall dort, wo es Ströme abzuschöpfen gibt, Disjunktionen einzuschließen, Reste zu verzehren, Mehrwerte zu extrahieren, Wörter, Körper und Schmerzen, Formeln, Dinge und Affekte zu verbinden – Stimmen, Graphien, Augen zu konnotieren, stets in polyvokem Gebrauch: eine Art zu springen, die sich nicht in einem Wollen-sagen sammelt, erst recht nicht in einem Signifikanten. Und wenn uns aus dieser Sicht der Inzest unmöglich schien, dann, weil er nichts anderes ist als ein notwendig misslungener Sprung, dieser Sprung, der von den Benennungen zu den Personen geht, von den Namen zu den Körpern: auf der einen Seite das refoulierte Diesseits der Benennungen, die noch keine Personen bezeichnen, sondern nur intensive keimliche Zustände; auf der anderen Seite das refoulierende Jenseits, das die Benennungen nur dadurch auf Personen anwendet, dass es die Personen verbietet, die den Namen Schwester, Mutter, Vater… entsprechen. Dazwischen der seichte Bach, in dem nichts passiert, in dem die Benennungen an den Personen nicht greifen, in dem die Personen sich der Graphie entziehen, und in dem das Auge nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu bewerten hat: der Inzest, bloße verschobene Grenze, weder refoulierend noch refoulant, sondern nur verschobenes Repräsentiertes des Begehrens. Es zeigt sich in der Tat von diesem Moment an, dass die beiden Dimensionen der Repräsentation – ihre Oberflächenorganisation mit den Elementen Stimme-Graphie-Auge und ihre Tiefenorganisation mit den Instanzen Vertreter des Begehrens – refoulierende Repräsentation – verschobenes Repräsentiertes – ein gemeinsames Schicksal haben, wie ein komplexes System von Entsprechungen innerhalb einer gegebenen sozialen Maschine.
Nun ist es all dies, was in einem neuen Schicksal mit der despotischen Maschine und der imperialen Repräsentation umgestürzt wird. Erstens richtet sich der Graphismus auf die Stimme aus, fällt auf sie zurück und wird Schrift. Und zugleich induziert er die Stimme nicht mehr als die der Allianz, sondern als die der neuen Allianz, fiktive Stimme des Jenseits, die sich im Schriftstrom als direkte Filiation ausdrückt. Diese beiden grundlegenden despotischen Kategorien sind ebenso sehr die Bewegung des Graphismus, der sich zugleich der Stimme unterordnet, um die Stimme zu unterwerfen, die Stimme zu verdrängen. Es kommt dann zu einer Zerstauchung des magischen Dreiecks: die Stimme singt nicht mehr, sondern diktiert, verkündet; die Graphie tanzt nicht mehr und hört auf, die Körper zu beleben, sondern schreibt sich erstarrt auf Tafeln, Steine und Bücher; das Auge beginnt zu lesen (die Schrift zieht nicht nach sich, sondern impliziert eine Art Blindheit, einen Verlust von Sehen und Würdigung, und jetzt tut dem Auge weh, obwohl es auch andere Funktionen erwirbt). Oder vielmehr können wir nicht sagen, dass das magische Dreieck vollständig zerstaucht sei: es bleibt als Basis und als Ziegel bestehen, in dem Sinne, dass das territoriale System im Rahmen der neuen Maschine weiter funktioniert. Das Dreieck ist zur Basis einer Pyramide geworden, deren alle Flächen das Vokale, das Graphische, das Visuelle auf die eminente Einheit des Despoten konvergieren lassen. Nennt man Konsistenzebene das Regime der Repräsentation in einer sozialen Maschine, so ist klar, dass diese Konsistenzebene sich verändert hat, dass sie zur Ebene der Unterordnung geworden ist, nicht mehr der Konnotation. Und genau das ist zweitens das Wesentliche: die Rückfaltung der Graphie auf die Stimme hat aus der Kette heraus ein transzendentes Objekt springen lassen, eine stumme Stimme, von der die ganze Kette nun abzuhängen scheint und an der sie sich linearisiert. Die Unterordnung des Graphismus unter die Stimme induziert eine fiktive Stimme aus der Höhe, die sich umgekehrt nur noch durch die Schriftzeichen ausdrückt, die sie aussendet (Offenbarung). Vielleicht ist dies die erste Montage formaler Operationen, die zu Ödipus führen werden (Paralogismus der Extrapolation): eine Rückfaltung oder ein Ensemble bi-univoker Relationen, das zur Erschöpfung eines abgelösten Objekts führt, und die Linearisierung der Kette, die aus diesem Objekt folgt. Vielleicht beginnt hier die Frage «Was heißt das?», und Exegeseprobleme überwiegen gegenüber denen des Gebrauchs und der Wirksamkeit. Was hat er sagen wollen, der Kaiser, der Gott? Statt immer ablösbarer Kettensegmente ein abgelöstes Objekt, von dem die ganze Kette abhängt; statt eines polyvoken Graphismus am Realen eine Bi-univokisierung, die ein Transzendentes bildet, aus dem eine Linearität hervorgeht; statt nicht-signifikanter Zeichen, die die Netze einer territorialen Kette zusammensetzen, ein despotischer Signifikant, aus dem alle Zeichen gleichförmig fließen, in einem deterritorialisierten Schriftstrom. Man hat sogar Menschen gesehen, die diesen Strom tranken. Zempléni zeigt, wie in bestimmten Regionen Senegals der Islam eine Unterordnungsebene über die alte Konnotationsebene der animistischen Werte legt: «La parole divine ou prophétique, écrite ou récitée, est le fondement de cet univers ; la transparence de la prière animiste cède la place à l’opacité du rigide verset arabe, le verbe se fige dans des formules dont la puissance est assurée par la vérité de la Révélation et non par une efficacité symbolique et incantatoire… La science du marabout renvoie en effet à une hiérarchie de noms, de versets, de chiffres et d’êtres correspondants» – und wenn es sein muss, legt man den Vers in eine Flasche mit reinem Wasser, man trinkt das Verswasser, man reibt sich damit den Körper, man wäscht sich damit die Hände.58 Die Schrift, erster deterritorialiserter Strom, der als solcher trinkbar ist: er fließt aus dem despotischen Signifikanten. Denn was ist der Signifikant in erster Instanz? was ist er im Verhältnis zu den territorialen nicht-signifikanten Zeichen, wenn er aus ihren Ketten herausspringt und eine Unterordnungsebene auf ihre Ebene immanenter Konnotation auflegt, überlegt? Der Signifikant ist das Zeichen, das zum Zeichen des Zeichens geworden ist, das despotische Zeichen, das das territoriale Zeichen ersetzt hat, die Schwelle der Deterritorialisierung überschritten hat; der Signifikant ist nur das deterritorialisierte Zeichen selbst. Das Zeichen, das zum Buchstaben geworden ist. Das Begehren wagt nicht mehr zu begehren, geworden Begehren des Begehrens, Begehren des Begehrens des Despoten. Der Mund spricht nicht mehr, er trinkt den Buchstaben. Das Auge sieht nicht mehr, es liest. Der Körper lässt sich nicht mehr wie die Erde gravieren, sondern wirft sich vor den Gravuren des Despoten nieder, der Außer-Erde, dem neuen vollen Körper.
Kein Wasser wird je den Signifikanten von seinem imperialen Ursprung waschen: den Meister-Signifikanten oder «den herrschenden Signifikanten». Man wird den Signifikanten in das immanente System der Sprache zu versenken versuchen, sich seiner bedienen, um Sinn- und Bedeutungsprobleme zu evacuieren, ihn in der Koexistenz phonematischer Elemente aufzulösen, in der das Signifikat nur noch die Zusammenfassung des jeweiligen differentiellen Werts dieser Elemente untereinander ist; man wird die Vergleichung der Sprache mit Austausch und Geld so weit wie möglich treiben und sie den Paradigmen eines wirkenden Kapitalismus unterwerfen, – niemals wird man verhindern, dass der Signifikant seine Transzendenz wieder einführt und für einen verschwundenen Despoten zeugt, der im modernen Imperialismus weiter funktioniert. Selbst wenn sie schweizerisch oder amerikanisch spricht, bewegt die Linguistik den Schatten des orientalischen Despotismus. Nicht nur insistiert Saussure darauf: dass die Arbitrarität der Sprache ihre Souveränität begründet, wie eine allgemeine Dienstbarkeit oder Sklaverei, die die «Masse» erleiden würde. Man hat auch zeigen können, wie bei Saussure zwei Dimensionen fortbestehen: die eine horizontal, wo das Signifikat sich auf den Wert der minimalen koexistierenden Terme reduziert, in die sich der Signifikant zerlegt, die andere aber vertikal, wo das Signifikat zum Begriff aufsteigt, der dem akustischen Bild entspricht, das heißt der Stimme, genommen in der maximalen Ausdehnung, die den Signifikanten wieder zusammensetzt (der «Wert» als Gegenstück der koexistierenden Terme, aber auch der «Begriff» als Gegenstück des akustischen Bildes). Kurz, der Signifikant erscheint zweimal, einmal in der Kette der Elemente, im Verhältnis zu denen das Signifikat stets ein Signifikant für einen anderen Signifikanten ist, und ein zweites Mal im abgelösten Objekt, von dem die ganze Kette abhängt und das über sie die Bedeutungseffekte verbreitet. Es gibt keinen phonologischen, ja keinen phonetischen Code, der auf den Signifikanten im ersten Sinn operiert, ohne eine Überkodierung, die vom Signifikanten selbst im zweiten Sinn vorgenommen wird. Es gibt kein sprachliches Feld ohne bi-univoke Relationen zwischen ideographischen und phonetischen Werten oder zwischen Artikulationen verschiedener Ebenen, Monemen und Phonemen, die schließlich die Unabhängigkeit und Linearität der deterritorialisierten Zeichen sichern; aber dieses Feld bleibt durch eine Transzendenz definiert, selbst wenn man sie als Abwesenheit oder Leerstelle betrachtet, die die notwendigen Faltungen, Rückfaltungen und Unterordnungen vollzieht und aus der in das ganze System der unartikulierte materielle Strom fließt, in dem sie schneidet, gegenüberstellt, auswählt und kombiniert: der Signifikant. So ist es merkwürdig, dass man die Knechtschaft der Masse gegenüber den minimalen Elementen des Zeichens in der Immanenz der Sprache so gut zeigt, ohne zu zeigen, wie die Herrschaft durch und in der Transzendenz des Signifikanten ausgeübt wird.59 Dort wie anderswo behauptet sich jedoch eine irreduzible Außenheit der Eroberung. Denn wenn die Sprache selbst die Eroberung nicht voraussetzt, so setzen die Rückfaltungsoperationen, die die Schrift konstituieren, sehr wohl zwei Einschreibungen voraus, die nicht dieselbe Sprache sprechen, zwei Sprachen, von denen die eine die der Herren, die andere die der Sklaven ist. Nougayrol beschreibt eine solche Situation: «Pour les Sumériens, (tel signe), c’est de l’eau ; les Sumériens lisent ce signe a, qui signifie eau en sumérien. Un Akkadien survient et il demande à son maître sumérien : qu’est-ce que c’est, ce signe ? Le Sumérien lui répond : c’est a. L’Akkadien prend ce signe pour a, il n’y a plus sur ce point aucun rapport entre le signe et l’eau qui, en akkadien, se dit mû… je crois que la présence des Akkadiens a déterminé la phonétisation de l’écriture… et que le contact de deux peuples est presque nécessaire pour que jaillisse l’étincelle d’une nouvelle écriture.»60 Man kann nicht besser zeigen, wie sich um einen despotischen Signifikanten eine Bi-univokisierungsoperation organisiert, so dass daraus eine alphabetische phonetische Kette hervorgeht. Die alphabetische Schrift ist nicht für Analphabet:innen, sondern durch Analphabet:innen. Sie geht durch Analphabet:innen hindurch, diese unbewussten Arbeiter. Der Signifikant impliziert eine Sprache, die eine andere überkodiert, während die andere in lauter phonetische Elemente kodiert wird. Und wenn das Unbewusste tatsächlich das topische Regime einer doppelten Einschreibung enthält, dann ist es nicht wie eine Sprache strukturiert, sondern wie zwei. Der Signifikant scheint sein Versprechen nicht zu halten, nämlich uns zu einem modernen und funktionalen Verständnis der Sprache zu verhelfen. Der Imperialismus des Signifikanten lässt uns nicht aus der Frage «Was heißt das?» heraus, er begnügt sich damit, die Frage im Voraus zu sperren und alle Antworten unzureichend zu machen, indem er sie auf den Rang eines bloßen Signifikats verweist. Er weist die Exegese im Namen der Rezitation zurück, reine Textualität, höhere Wissenschaftlichkeit. Wie die jungen Hunde des Palasts, zu schnell im Trinken des Verswassers, die nicht aufhören zu schreien: der Signifikant, ihr habt den Signifikant nicht erreicht, ihr bleibt bei den Signifikaten! Der Signifikant, das ist das Einzige, was ihnen Genuss verschafft. Aber dieser Meister-Signifikant bleibt, was er in der Ferne der Zeiten ist: transzendenter Bestand, der den Mangel an alle Elemente der Kette verteilt, etwas Gemeinsames für eine gemeinsame Abwesenheit, Einsetzer aller Schnitt-Ströme an einem einzigen und demselben Ort eines einzigen und demselben Schnitts: abgelöstes Objekt, Phallus-und-Kastration, Balken, der die depressiven Subjekte dem großen paranoischen König unterwirft. O Signifikant, schrecklicher Archaismus des Despoten, in dem man noch das leere Grab, den toten Vater und das Geheimnis des Namens sucht. Und vielleicht ist es das, was heute den Zorn einiger Linguisten gegen Lacan ebenso nährt wie den Enthusiasmus der Adepten: die Kraft und Gelassenheit, mit der Lacan den Signifikanten zu seiner Quelle zurückführt, zu seinem wahren Ursprung, dem despotischen Zeitalter, und eine infernale Maschine montiert, die das Begehren an das Gesetz schweißt, weil, alles erwogen, denkt er, der Signifikant genau in dieser Form mit dem Unbewussten zusammenpasst und darin Signifikat-Effekte hervorbringt.61 Der Signifikant als refoulierende Repräsentation und das neue verschobene Repräsentierte, das er induziert, die berühmten Metaphern und Metonymien, all dies konstituiert die überkodierende und deterritorialisierte despotische Maschine.
Der despotische Signifikant hat zur Wirkung, die territoriale Kette zu überkodieren. Das Signifikat ist genau der Effekt des Signifikanten (nicht das, was er repräsentiert, noch das, was er bezeichnet). Das Signifikat ist die Schwester der Grenzräume und die Mutter des Inneren. Schwester und Mutter sind die Begriffe, die dem großen akustischen Bild entsprechen, der Stimme der neuen Allianz und der direkten Filiation. Der Inzest ist die Operation der Überkodierung selbst an beiden Enden der Kette in dem ganzen Territorium, in dem der Despot herrscht, von den Grenzräumen bis zum Zentrum: alle Allianzschulden, umgewandelt in die unendliche Schuld der neuen Allianz, alle ausgedehnten Filiationsverhältnisse, subsumiert unter die direkte Filiation. Der Inzest oder die königliche Trinität ist also die Gesamtheit der refoulierenden Repräsentation, insofern sie die Überkodierung vollzieht. Das System der Unterordnung oder der Bedeutung hat das System der Konnotation ersetzt. In dem Maße, wie der Graphismus auf die Stimme zurückgefaltet wird (dieser Graphismus, der sich ehemals unmittelbar in die Körper einschrieb), ordnet sich die Körperrepräsentation der Wortrepräsentation unter: Schwester und Mutter sind die Signifikate der Stimme. Aber insofern diese Rückfaltung eine fiktive Stimme aus der Höhe induziert, die sich nur noch im linearen Strom ausdrückt, ist der Despot selbst der Signifikant der Stimme, die mit ihren beiden Signifikaten die Überkodierung der ganzen Kette vollzieht. Was den Inzest unmöglich gemacht hatte – nämlich dass wir bald die Benennungen (Mutter, Schwester) hatten, aber nicht die Personen oder die Körper, bald die Körper, aber die Benennungen sich entzogen, sobald wir die Verbote übertraten, die sie trugen – hat aufgehört zu existieren. Der Inzest ist möglich geworden in den Vermählungen der Verwandtschaftskörper und der Verwandtschaftsbenennungen, in der Vereinigung des Signifikanten mit seinen Signifikaten. Die Frage ist also keineswegs, ob der Despot sich mit seiner „wirklichen“ Schwester und seiner wirklichen Mutter vereinigt. Denn seine wirkliche Schwester ist ohnehin die Schwester der Wüste, wie seine wirkliche Mutter ohnehin die Mutter des Stammes ist. Sobald der Inzest möglich ist, ist es unerheblich, ob er simuliert wird oder nicht, weil ohnehin noch etwas anderes durch den Inzest hindurch simuliert wird. Und gemäß der Komplementarität, der wir zuvor begegnet sind, von Simulation und Identifikation: wenn die Identifikation diejenige des Objekts aus der Höhe ist, so ist die Simulation sehr wohl die ihm entsprechende Schrift, der Strom, der aus diesem Objekt fließt, der graphische Strom, der aus der Stimme fließt. Die Simulation ersetzt die Realität nicht, sie gilt nicht für sie, sondern eignet sich die Realität in der Operation der despotischen Überkodierung an, sie produziert sie auf dem neuen vollen Körper, der die Erde ersetzt. Sie drückt die Aneignung und die Produktion des Realen durch eine Quasi-Ursache aus. Im Inzest macht der Signifikant Liebe mit seinen Signifikaten. System der Simulation: so lautet der andere Name der Bedeutung und der Unterordnung. Und was durch den Inzest selbst simuliert, also produziert wird, durch den simulierten, also produzierten Inzest – umso realer, je mehr es simuliert ist, und umgekehrt –, das sind gewissermaßen die extremen Zustände einer wiederhergestellten, neu geschaffenen Intensität. Mit seiner Schwester simuliert der Despot „einen Nullzustand, aus dem die phallische Macht hervorginge“, wie ein Versprechen, „dessen verborgene Anwesenheit man im Inneren des Körpers selbst im Extrem zu verorten hat“; mit seiner Mutter eine Übermacht, in der die beiden Geschlechter im Maximum ihrer eigenen Charaktere „nach außen gekehrt“ wären: das B-A Ba des Phallus als Stimme.62 Es geht also im königlichen Inzest immer um etwas anderes: Bisexualität, Homosexualität, Kastration, Transvestitismus, als ebenso viele Gradienten und Übergänge im Zyklus der Intensitäten. Denn der despotische Signifikant nimmt sich vor, das wiederherzustellen, was die primitive Maschine refoulierte, den vollen Körper der intensiven Erde, aber auf neuen Grundlagen oder neuen Bedingungen, die im deterritorialisierten vollen Körper des Despoten selbst gegeben sind. Darum ändert der Inzest seinen Sinn oder seinen Ort und wird zur refoulierenden Repräsentation. Denn darum geht es in der Überkodierung durch den Inzest: dass alle Organe aller Subjekte, alle Augen, alle Münder, alle Penisse, alle Vaginen, alle Ohren, alle Anus, sich am vollen Körper des Despoten festmachen wie an dem Pfauenschweif einer königlichen Schleppe und dort ihre intensiven Repräsentanten haben. Der königliche Inzest ist nicht zu trennen von der intensiven Vervielfachung der Organe und ihrer Einschreibung auf den neuen vollen Körper (Sade hat diese stets königliche Rolle des Inzests gut gesehen). Der Apparat Repression-Refoulement, die refoulierende Repräsentation, wird jetzt in Abhängigkeit von einer höchsten Gefahr bestimmt, die den Vertreter ausdrückt, auf den sie zielt: dass ein einziges Organ aus dem despotischen Körper herausfließe, sich von ihm ablöse oder ihm entziehe, und der Despot sieht vor sich, gegen sich, den Feind aufstehen, durch den ihm der Tod kommen wird – ein Auge mit zu starrem Blick, ein Mund mit zu seltenem Lächeln, jedes Organ ist ein möglicher Protest. So ist es zugleich, dass der halb taube Cäsar sich über ein Ohr beklagt, das nicht mehr hört, und auf sich den Blick des Cassius lasten sieht, „mager und hungrig“, und das Lächeln des Cassius, „der zu lächeln scheint über sein eigenes Lächeln“. Lange Geschichte, die den Körper des ermordeten, desorganisierten, zerstückelten, gefeilteten Despoten in die Latrinen der Stadt führen wird. War es nicht schon der Anus, der das Objekt aus der Höhe ablöste und die eminente Stimme produzierte? Hing die Transzendenz des Phallus nicht vom Anus ab? Doch dieser enthüllt sich erst am Ende als letzte Überlebensspur des verschwundenen Despoten, als Unterseite seiner Stimme: der Despot ist nur noch dieses „tote Rattenarschloch, das an der Decke des Himmels hängt“. Die Organe haben begonnen, sich vom despotischen Körper zu lösen, Organe des Bürgers, die sich gegen den Tyrannen erheben. Dann werden sie die des Privatmenschen werden, sie werden sich privatisieren nach dem Modell und der Erinnerung des entsetzten, aus dem sozialen Feld herausgesetzten Anus, der Angst, schlecht zu riechen. Die ganze Geschichte der primitiven Kodierung, der despotischen Überkodierung, der Dekodierung des Privatmenschen liegt in diesen Strömungsbewegungen: der intensive keimhafte Influx, der Überfluss des königlichen Inzests, der Rückfluss des Exkrements, der den toten Despoten in die Latrinen führt und uns alle zum „Privatmenschen“ von heute führt – die Geschichte, von Artaud im Meisterwerk Héliogabale skizziert. Die ganze Geschichte des graphischen Stroms geht vom Spermafluss an der Wiege des Tyrannen bis zum Kotfluss in seinem Grab-Kanal, – „alle Schrift ist Schweinerei“, jede Schrift ist diese Simulation, Sperma und Exkrement.
Man könnte glauben, dass das System der imperialen Repräsentation dennoch milder sei als das der territorialen Repräsentation. Die Zeichen werden nicht mehr in volles Fleisch eingeschrieben, sondern auf Steine, Pergamente, Münzen, Listen. Gemäß Wittfogels Gesetz der „abnehmenden administrativen Rentabilität“ werden große Sektoren halbautonom gelassen, insofern sie die Staatsmacht nicht kompromittieren. Das Auge zieht keinen Mehrwert mehr aus dem Schauspiel des Schmerzes, es hat aufgehört zu würdigen; es hat eher begonnen, „vorzubeugen“ und zu überwachen, zu verhindern, dass ein Mehrwert der Überkodierung der despotischen Maschine entgeht. Denn alle Organe und ihre Funktionen erfahren eine Erschöpfung, die sie auf den vollen Körper des Despoten bezieht und auf ihn konvergieren lässt. In Wahrheit ist das Regime nicht milder, das System des Terrors hat das der Grausamkeit ersetzt. Die alte Grausamkeit bleibt bestehen, insbesondere in den autonomen oder quasi-autonomen Sektoren; aber sie ist jetzt in den Staatsapparat eingeziegelt, der sie bald organisiert, bald duldet oder begrenzt, um sie seinen Zwecken dienstbar zu machen und sie unter die höhere und übergeordnete Einheit eines schrecklicheren Gesetzes zu subsumieren. Denn erst spät stellt sich das Gesetz gegen den Despotismus oder scheint sich gegen ihn zu stellen (wenn der Staat sich selbst als scheinbarer Schlichter zwischen Klassen präsentiert, die sich von ihm unterscheiden, und folglich die Form seiner Souveränität umarbeiten muss).63 Das Gesetz beginnt nicht damit, das zu sein, was es später werden oder vorgeben wird zu werden: eine Garantie gegen den Despotismus, ein immanentes Prinzip, das die Teile zu einem Ganzen vereint, dieses Ganze zum Gegenstand eines allgemeinen Wissens und Willens macht, dessen Sanktionen nur durch Urteil und Anwendung auf die rebellischen Teile folgen. Das barbarische imperiale Gesetz hat vielmehr zwei Merkmale, die sich dem entgegenstellen – die beiden Merkmale, die Kafka so stark entwickelt hat: den paranoisch-schizoiden Zug des Gesetzes (Metonymie), dem zufolge es nicht totalisierbare und nicht totalisierte Teile regiert, sie abschottet, sie wie Ziegel organisiert, ihren Abstand misst und ihre Kommunikation verbietet, und so als eine gewaltige Einheit wirkt, aber formell und leer, eminent, distributiv und nicht kollektiv; den manisch-depressiven Zug (Metapher), dem zufolge das Gesetz nichts erkennen lässt und keinen erkennbaren Gegenstand hat, das Urteil der Sanktion nicht vorausgeht und die Äußerung des Gesetzes dem Urteil nicht vorausgeht. Das Gottesurteil zeigt diese beiden Züge im lebendigen Zustand. Wie in der Maschine von In der Strafkolonie ist es die Sanktion, die sowohl das Urteil als auch die Regel schreibt. Der Körper mag sich vom Graphismus befreit haben, der ihm im System der Konnotation eigen war; er wird jetzt der Stein und das Papier, die Tafel und die Münze, auf denen die neue Schrift ihre Figuren, ihren Phonetismus und ihr Alphabet markieren kann. Überkodieren: das ist das Wesen des Gesetzes und der Ursprung der neuen Schmerzen des Körpers. Die Strafe hat aufgehört, ein Fest zu sein, aus dem das Auge im magischen Dreieck von Allianzen und Filiationsverhältnissen einen Mehrwert zieht. Die Strafe wird zu einer Rache, Rache der Stimme, der Hand und des Auges, jetzt auf den Despoten hin vereint, Rache der neuen Allianz, deren öffentlicher Charakter das Geheimnis nicht verändert: „Ich werde das Racheschwert der Rache der Allianz gegen euch bringen…“ Denn, noch einmal: das Gesetz ist, bevor es eine vorgetäuschte Garantie gegen den Despotismus ist, die Erfindung des Despoten selbst: es ist die juristische Form, die die unendliche Schuld annimmt. Noch bei den späten römischen Kaisern wird man den Juristen im Gefolge des Despoten sehen und die juristische Form die imperiale Formation begleiten, den Gesetzgeber mit dem Monster, Gaius und Commodus, Papinian und Caracalla, Ulpian und Héliogabal, „das Delirium der zwölf Cäsaren und das goldene Zeitalter des römischen Rechts“ (nötigenfalls Partei für den Schuldner gegen den Gläubiger ergreifen, um die unendliche Schuld zu befestigen).
Rache, und wie eine Rache, die im Voraus ausgeübt wird: das barbarische imperiale Gesetz zerdrückt das ganze primitive Spiel von Aktion, Erleiden und Reaktion. Nun muss die Passivität zur Tugend der Subjekte werden, die am despotischen Körper hängen. Wie Nietzsche sagt, wenn er genau zeigt, wie die Strafe in den imperialen Formationen zur Rache wird, muss „eine ungeheure Menge Freiheit aus der Welt verschwunden sein oder wenigstens allen Augen verschwunden sein, gezwungen, in den latenten Zustand überzugehen, unter dem Schlag ihrer Hammerschläge, ihrer Tyrannei von Künstlern…“. Es kommt zu einer Erschöpfung des Todestriebs, der aufhört, im Spiel der wilden Aktionen und Reaktionen kodiert zu sein, wo der Fatalismus noch etwas war, das erlitten und getan wurde, um zum dunklen Agenten der Überkodierung zu werden, zum abgelösten Objekt, das über jedem schwebt, als hätte sich die soziale Maschine von den begehrenden Maschinen abgehoben: Tod, Begehren des Begehrens, Begehren des Begehrens des Despoten, Latenz, eingeschrieben im Innersten des Staatsapparats. Lieber kein einziger Überlebender, als dass ein einziges Organ aus diesem Apparat fließt oder aus dem despotischen Körper hinausgleitet. Denn es gibt keine andere Notwendigkeit (kein anderes fatum) als die des Signifikanten in seinen Verhältnissen zu seinen Signifikaten: das ist das Regime des Terrors. Was das Gesetz zu bedeuten vorgibt, wird man erst später wissen, wenn es sich entwickelt und die neue Gestalt angenommen hat, die es dem Despotismus zu widersprechen scheint. Aber von Beginn an drückt es den Imperialismus des Signifikanten aus, der seine Signifikate als Effekte produziert, umso wirksamer und notwendiger, als sie sich der Erkenntnis entziehen und alles ihrer eminenten Ursache verdanken. Es kommt noch vor, dass die jungen Hunde die Rückkehr zum despotischen Signifikanten fordern, ohne Exegese und ohne Interpretation, wenn das Gesetz doch erklären will, was es bedeutet, eine Unabhängigkeit seines Signifikats geltend machen will (gegen den Despoten, sagt es). Denn die Hunde, nach Kafkas Beobachtungen, lieben es, dass das Begehren eng das Gesetz heiratet in der reinen Erschöpfung des Todestriebs, statt, es ist wahr, heuchlerische Doktoren zu hören, die erklären, was das alles heißen soll. Doch all das, die Entwicklung des demokratischen Signifikats oder die Einrollung des despotischen Signifikanten, gehört dennoch zur selben Frage, bald geöffnet und bald gesperrt, dieselbe fortgesetzte Abstraktion, Refoulementmaschinerie, die uns stets von den begehrenden Maschinen entfernt. Denn es gab niemals mehr als einen einzigen Staat. Wozu dient das? verblasst immer mehr und verschwindet im Nebel des Pessimismus, des Nihilismus, Nada, Nada! Und tatsächlich gibt es etwas Gemeinsames im Regime des Gesetzes, wie es unter der imperialen Formation erscheint und wie es sich später entwickeln wird: die Gleichgültigkeit gegenüber der Bezeichnung. Es ist die Eigenart des Gesetzes, zu bedeuten, ohne irgendetwas zu bezeichnen. Das Gesetz bezeichnet nichts und niemanden (die demokratische Auffassung des Gesetzes wird daraus ein Kriterium machen). Das komplexe Verhältnis der Bezeichnung, wie wir es im System der primitiven Konnotation haben entstehen sehen, das Stimme, Graphismus und Auge ins Spiel brachte, verschwindet hier im neuen barbarischen Unterordnungsverhältnis. Wie sollte die Bezeichnung bestehen bleiben, wenn das Zeichen aufgehört hat, Position des Begehrens zu sein, um zu jenem imperialen Zeichen zu werden, universelle Kastration, die das Begehren ans Gesetz schweißt? Es ist das Zerdrücken des alten Codes, es ist das neue Bedeutungsverhältnis, es ist die Notwendigkeit dieses neuen Verhältnisses, gegründet in der Überkodierung, die die Bezeichnungen der Willkür überantworten (oder sie in den beibehaltenen Ziegeln des alten Systems fortbestehen lassen). Warum finden Linguisten unablässig die Wahrheiten des despotischen Zeitalters wieder? Und ist es schließlich möglich, dass diese Willkür der Bezeichnungen als Kehrseite einer Notwendigkeit der Bedeutung nicht nur die Subjekte des Despoten betrifft, ja nicht einmal nur seine Diener, sondern den Despoten selbst, seine Dynastie und seinen Namen („Das Volk weiß nicht, welcher Kaiser regiert, und der Name der Dynastie bleibt ihm ungewiss“)? Das würde bedeuten, dass der Todestrieb im Staat noch tiefer sitzt, als man glaubte, und dass die Latenz nicht nur die Subjekte bearbeitet, sondern in den höchsten Getrieben. Die Rache wird zur Rache der Subjekte gegen den Despoten. Im System der Latenz des Terrors wird das, was nicht mehr aktiv, erlitten oder reagiert ist, „was durch Gewalt latent gemacht, zusammengeschnürt, refoulisiert, nach innen zurückgenommen ist“, jetzt empfunden: dem ewigen Ressentiment der Subjekte entspricht die ewige Rache der Despoten. Die Einschreibung wird „empfunden“, wenn sie nicht mehr getan noch erwidert wird. Wenn das deterritorialiserte Zeichen zum Signifikanten wird, geht eine gewaltige Menge Reaktion in den latenten Zustand über, das ganze Resonieren, das ganze Retinieren ändern Volumen und Zeit („Nachträglichkeit“). Rache und Ressentiment: das ist gewiss nicht der Beginn der Gerechtigkeit, aber ihr Werden und ihr Schicksal in der imperialen Formation, wie Nietzsche sie analysiert. Und würde der Staat selbst, gemäß seiner Prophezeiung, jener Hund sein, der sterben will? Aber auch der aus seiner Asche wiedergeboren wird. Denn es ist dieses ganze Ensemble der neuen Allianz oder der unendlichen Schuld – der Imperialismus des Signifikanten, die metaphorische oder metonymische Notwendigkeit der Signifikate, zusammen mit der Willkür der Bezeichnungen –, das den Fortbestand des Systems sichert und bewirkt, dass ein Name auf den Namen folgt, eine Dynastie auf die andere, ohne dass die Signifikate sich ändern und ohne dass die Mauer des Signifikanten durchbrochen wird. Darum war das Regime der Latenz in den afrikanischen, chinesischen, ägyptischen usw. Reichen das der ständigen Aufstände und Sezessionen, nicht das der Revolution. Auch dort wird der Tod von innen her empfunden werden müssen, aber von außen her wird er kommen.
Sie haben alles in den latenten Zustand versetzt, die Reichsgründer; sie haben die Rache erfunden und das Ressentiment hervorgerufen, diese Gegen-Rache. Und doch sagt Nietzsche noch von ihnen, was er schon vom primitiven System sagte: nicht bei ihnen hat das „schlechte Gewissen“ – sagen wir: Ödipus – Wurzeln geschlagen und zu wachsen begonnen, die schreckliche Pflanze. Nur ist ein Schritt weiter in diese Richtung getan: Ödipus, das schlechte Gewissen, die Innerlichkeit, sie haben es möglich gemacht…64 Was will Nietzsche sagen, der Cäsar als despotischen Signifikanten mit sich schleppte und seine beiden Signifikate, seine Schwester und seine Mutter, und sie immer schwerer auf sich lasten fühlte, je näher er dem Wahnsinn kam? Es ist wahr, dass Ödipus seine zelluläre, ovulare Migration in der imperialen Repräsentation begonnen hat: vom verschobenen Repräsentierten des Begehrens ist er zur refoulierenden Repräsentation selbst geworden. Das Unmögliche ist möglich geworden; die unbesetzte Grenze wird jetzt vom Despoten besetzt. Ödipus hat seinen Namen erhalten, der Klumpfuß-Despot, der den doppelten Inzest durch Überkodierung vollzieht, mit seiner Schwester und seiner Mutter als den Körperrepräsentationen, die der verbalen Repräsentation unterworfen sind. Mehr noch: Ödipus ist dabei, jede der formalen Operationen zu montieren, die ihn möglich machen werden: die Extrapolation eines abgelösten Objekts; der Double Bind der Überkodierung oder des königlichen Inzests; die Bi-Univokisierung, die Anwendung und die Linearisierung der Kette zwischen Herren und Sklaven; die Einführung des Gesetzes ins Begehren und des Begehrens unter das Gesetz; die schreckliche Latenz mit ihrem Danach oder ihrer Nachträglichkeit. Alle Teile der fünf Paralogismen scheinen so vorbereitet. Aber wir bleiben sehr weit vom psychoanalytischen Ödipus entfernt, und die Hellenisten haben recht, die Geschichte nicht recht zu erfassen, die ihnen die Psychoanalyse um jeden Preis ins Ohr erzählt. Es ist sehr wohl die Geschichte des Begehrens und seine sexuelle Geschichte (eine andere gibt es nicht). Aber alle Teile spielen hier als Getriebe des Staates. Das Begehren spielt gewiss nicht zwischen einem Sohn, einer Mutter und einem Vater. Das Begehren vollzieht eine libidinöse Investition einer Staatsmaschine, die die territorialen Maschinen überkodiert und, mit einem zusätzlichen Dreh der Schraube, die begehrenden Maschinen refoulisiert. Der Inzest folgt aus dieser Investition und nicht umgekehrt und bringt zunächst nur den Despoten, die Schwester und die Mutter ins Spiel: er ist die überkodierende und refoulierende Repräsentation. Der Vater greift nur als Repräsentant der alten territorialen Maschine ein; aber die Schwester ist der Repräsentant der neuen Allianz, die Mutter der Repräsentant der direkten Filiation. Vater und Sohn sind noch nicht geboren. Die ganze Sexualität spielt sich zwischen Maschinen ab, Kampf zwischen ihnen, Überlagerung, Einziegelung. Staunen wir noch einmal über die von Freud berichtete Erzählung. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion spürt er wohl, dass die Latenz eine Staatsangelegenheit ist. Aber dann darf sie nicht dem „Ödipuskomplex“ folgen, nicht das Refoulement des Komplexes oder gar seine Aufhebung markieren. Sie muss aus der refoulierenden Wirkung der inzestuösen Repräsentation resultieren, die noch keineswegs ein Komplex als refoulisiertes Begehren ist, da sie im Gegenteil ihre refoulierende Wirkung auf das Begehren selbst ausübt. Der Ödipuskomplex, so wie ihn die Psychoanalyse nennt, wird aus der Latenz hervorgehen, nach der Latenz, und bedeutet die Wiederkehr des Refoulisierten unter Bedingungen, die das Begehren entstellen, verschieben und sogar dekodieren. Der Ödipuskomplex erscheint erst nach der Latenz; und wenn Freud zwei Zeiten erkennt, die durch diese getrennt sind, verdient nur die zweite Zeit den Namen des Komplexes, während die erste nur seine Teile und seine Getriebe ausdrückt, die von einem ganz anderen Standpunkt aus funktionieren, in einer ganz anderen Organisation. Das ist die Manie der Psychoanalyse mit all ihren Paralogismen: als Auflösung oder Versuch einer Auflösung des Komplexes zu präsentieren, was seine endgültige Einsetzung oder seine innere Installation ist, und als Komplex zu präsentieren, was noch sein Gegenteil ist. Denn was wird nötig sein, damit Ödipus zum Ödipus wird, zum Ödipuskomplex? Vieles in Wahrheit – genau das, was Nietzsche in der Entwicklung der unendlichen Schuld teilweise geahnt hat.
Die Ödipuszelle wird ihre Migration vollenden müssen; sie darf sich nicht damit begnügen, vom Zustand des verschobenen Repräsentierten in den Zustand der verdrängenden Repräsentation überzugehen, sondern sie muss aus der verdrängenden Repräsentation schließlich der Repräsentant des Begehrens selbst werden. Und sie muss es im Titel des verschobenen Repräsentierten werden. Die Schuld wird nicht nur unendliche Schuld werden müssen, sondern sie wird als unendliche Schuld verinnerlicht und spiritualisiert werden müssen (das Christentum und das, was daraus folgt). Vater und Sohn werden sich bilden müssen, das heißt, die königliche Triade wird sich „maskulinisieren“, und dies als direkte Folge der nun verinnerlichten unendlichen Schuld.65 Ödipus-Despot wird durch Ödipusse-Subjekte ersetzt werden müssen, durch Ödipusse-Unterworfene, Ödipusse-Väter und Ödipusse-Söhne. Alle formalen Operationen werden in einem dekodierten sozialen Feld wiederaufgenommen werden müssen und im reinen und privaten Element der Innerlichkeit nachklingen, der inneren Reproduktion. Der Repressions-Verdrängungsapparat wird eine vollständige Reorganisation erfahren müssen. Das Begehren wird also, nachdem es seine Migration vollendet hat, dieses äußerste Elend kennen müssen: gegen sich selbst zurückgewendet zu werden, die Rückwendung gegen sich, das schlechte Gewissen, die Schuld, die es an das am meisten dekodierte soziale Feld bindet wie an die krankhafteste Innerlichkeit, die Falle des Begehrens, seine giftige Pflanze. Solange die Geschichte des Begehrens dieses Ende nicht kennt, spukt Ödipus in allen Gesellschaften, aber als der Alptraum dessen, was ihnen noch nicht zugestoßen ist – seine Stunde ist nicht gekommen. (Und ist das nicht immer die Stärke Lacans gewesen, die Psychoanalyse vor der rasenden Ödipianisierung zu retten, an die sie ihr Schicksal band, diese Rettung zu vollziehen, sei es um den Preis einer Regression, sei es um den Preis, das Unbewusste unter dem Gewicht des despotischen Apparats zu halten, es von diesem Apparat her neu zu interpretieren, das Gesetz und den Signifikanten, Phallus und Kastration ja, Ödipus nein!, das despotische Zeitalter des Unbewussten.)
Stadt Ur, Ausgangspunkt Abrahams oder der neuen Allianz. Der Staat hat sich nicht allmählich gebildet, sondern er entsteht vollständig bewaffnet, Meisterstreich auf einmal, ursprünglicher Urstaat, ewiges Modell dessen, was jeder Staat sein will und begehrt. Die sogenannte asiatische Produktion, mit dem Staat, der sie ausdrückt oder ihre objektive Scheinbewegung konstituiert, ist keine eigene Formation; sie ist die Grundformation, sie bildet den Horizont der ganzen Geschichte. Von allen Seiten kehrt die Entdeckung imperialer Maschinen zu uns zurück, die den traditionellen historischen Formen vorausgingen und die sich durch Staatseigentum, eingeziegelten Gemeinbesitz und kollektive Abhängigkeit auszeichnen. Jede „weiter entwickelte“ Form ist wie ein Palimpsest: sie überdeckt eine despotische Einschreibung, ein mykenisches Manuskript. Unter jedem Schwarzen und jedem Juden ein Ägypter, ein Mykenier unter den Griechen, ein Etrusker unter den Römern. Und doch fällt ein solches Vergessen auf den Ursprung, eine Latenz, die den Staat selbst trifft, und in der mitunter die Schrift verschwindet. Unter den Schlägen des Privateigentums, dann der Warenproduktion, erlebt der Staat sein Absterben. Die Erde tritt in die Sphäre des Privateigentums und in die der Waren ein. Klassen erscheinen, insofern die herrschenden nicht mehr mit dem Staatsapparat zusammenfallen, sondern eigene Bestimmungen sind, die sich dieses umgebildeten Apparats bedienen. Zunächst dem Gemeineigentum benachbart, dann Bestandteil oder Bedingung, dann immer bestimmender, führt das Privateigentum eine Verinnerlichung der Gläubiger-Schuldner-Beziehung in den Verhältnissen antagonistische Klassen herbei.66 Aber wie zugleich diese Latenz erklären, in die der despotische Staat eintritt, und diese Kraft, mit der er sich auf veränderten Grundlagen neu bildet, um umso „lügnerischer“, „kälter“, „heuchlerischer“ als je zuvor zurückzuspringen? Dieses Vergessen und diese Rückkehr. Einerseits setzen die antike Stadt, die germanische Gemeinde, die Feudalität die großen Imperien voraus und können nur im Hinblick auf den Urstaat verstanden werden, der ihnen als Horizont dient. Andererseits besteht das Problem dieser Formen darin, den Urstaat so weit wie möglich zu rekonstituieren, unter den Anforderungen ihrer neuen, getrennten Bestimmungen. Denn was bedeuten Privateigentum, Reichtum, Ware, Klassen? Den Zusammenbruch der Codes. Das Auftreten, das Hervorbrechen von nun dekodierten Flüssen, die über den Socius fließen und ihn von einem Ende zum anderen durchqueren. Der Staat kann sich nicht mehr damit begnügen, territoriale, schon kodierte Elemente zu überkodieren, er muss spezifische Codes für immer deterritorialisiertere Flüsse erfinden: den Despotismus in den Dienst des neuen Klassenverhältnisses stellen; die Verhältnisse von Reichtum und Armut, von Ware und Arbeit integrieren; das Handelsgeld mit dem Steuer-Geld versöhnen; überall Urstaat in den neuen Zustand der Dinge rückeinblasen. Und überall das latente Modell, das man nicht mehr erreichen kann, das man aber nicht umhin kann zu imitieren. Die melancholische Warnung des Ägypters an die Griechen hallt nach: „Ihr Griechen, ihr werdet niemals mehr als Kinder sein!“
Diese besondere Stellung des Staates als Kategorie, Vergessen und Rückkehr, muss erklärt werden. Der ursprüngliche despotische Staat ist nämlich keine Zäsur wie die anderen. Von allen Institutionen ist er vielleicht die einzige, die vollständig bewaffnet im Gehirn derer hervorbricht, die sie einsetzen, „die Künstler mit dem ehernen Blick“. Darum wusste man im Marxismus nicht recht, was man mit ihm anfangen sollte: er passt nicht in die berühmten fünf Stadien, Urkommunismus, antike Stadt, Feudalität, Kapitalismus, Sozialismus.67 Er ist keine Formation unter anderen, noch der Übergang von einer Formation zu einer anderen. Er scheint zurückversetzt gegenüber dem, was er schneidet, und gegenüber dem, was er überschneidet, als zeuge er von einer anderen Dimension, einer zerebralen Idealität, die sich zur materiellen Evolution der Gesellschaften hinzusetzt, regulative Idee oder Reflexionsprinzip (Terror), das die Teile und die Flüsse zu einem Ganzen organisiert. Was der ursprüngliche despotische Staat schneidet, überschneidet oder überkodiert, ist das, was vorher kommt, die territoriale Maschine, die er auf den Zustand von Ziegeln, von arbeitenden Teilen reduziert, fortan der zerebralen Idee unterworfen. In diesem Sinne ist der despotische Staat wohl der Ursprung, aber der Ursprung als Abstraktion, die ihren Unterschied zum konkreten Anfang begreifen muss. Wir wissen, dass der Mythos immer einen Übergang und einen Abstand ausdrückt. Aber der primitive territoriale Anfangsmythos drückte den Abstand einer eigentlich intensiven Energie (was Griaule „den metaphysischen Teil der Mythologie“ nannte, die vibrierende Spirale) gegenüber dem sozialen System in Extension aus, das sie bedingte, und das, was von der einen zur anderen überging – Allianz und Filiation. Der imperiale Ursprungsmythos drückt etwas anderes aus: den Abstand dieses Anfangs vom Ursprung selbst, der Extension von der Idee, der Genesis von Ordnung und Macht (neue Allianz), und das, was von der zweiten zur ersten zurückgeht, was von der zweiten wieder aufgenommen wird. J.-P. Vernant zeigt so, dass die imperialen Mythen kein dem Universum immanentes Organisationsgesetz denken können: sie müssen diesen Unterschied zwischen Ursprung und Anfängen, zwischen souveräner Macht und Weltgenese setzen und verinnerlichen; „der Mythos konstituiert sich in dieser Distanz, er macht sie zum eigentlichen Gegenstand seiner Erzählung, indem er durch die Folge der göttlichen Generationen die Wechselfälle der Souveränität nachzeichnet bis zu dem Moment, in dem eine endgültige Überlegenheit dieser dramatischen Ausarbeitung der dunesteia ein Ende setzt“.68 So dass man im Grenzfall nicht mehr wirklich weiß, was zuerst ist, und ob die territoriale Linienmaschinen nicht eine despotische Maschine voraussetzt, der sie die Ziegel entnimmt oder die sie ihrerseits segmentiert. Und in gewisser Weise muss man dasselbe von dem sagen, was nach dem ursprünglichen Staat kommt, von dem, was dieser Staat überschneidet. Er überschneidet das, was vorher kommt, aber er überschneidet auch die späteren Formationen. Auch dort ist er wie die Abstraktion, die zu einer anderen Dimension gehört, stets zurückversetzt und von Latenz geschlagen, die aber umso besser in den späteren Formen zurückspringt und wiederkehrt, die ihr eine konkrete Existenz geben. Proteischer Staat, doch es gab niemals mehr als einen einzigen Staat. Daher die Variationen, alle Varianten der neuen Allianz, und doch unter derselben Kategorie. Zum Beispiel setzt die Feudalität nicht nur einen abstrakten despotischen Staat voraus, den sie nach dem Regime ihres Privateigentums und dem Aufschwung ihrer Warenproduktion segmentiert; sondern diese induzieren umgekehrt die konkrete Existenz eines eigentlich feudalen Staates, in dem der Despot als absoluter Monarch wiederkehrt. Denn es ist ein doppelter Irrtum zu glauben, die Entwicklung der Warenproduktion genüge, um die Feudalität zu sprengen (in vielen Punkten stärkt sie sie im Gegenteil, sie gibt ihr neue Existenz- und Überlebensbedingungen), und zu glauben, die Feudalität stelle sich dem Staat als solchem entgegen, der im Gegenteil als feudaler Staat fähig ist, zu verhindern, dass die Ware die Dekodierung der Flüsse einführt, die allein für das betrachtete System ruinös wäre.69 Und in neueren Beispielen müssen wir Wittfogel folgen, wenn er zeigt, in welchem Maß moderne kapitalistische und sozialistische Staaten am ursprünglichen despotischen Staat teilhaben. Demokratien, wie könnte man darin nicht den Despoten erkennen, kälter und heuchlerischer geworden, berechnender, da er selbst rechnen und kodieren muss, statt die Rechnungen zu überkodieren? Es nützt nichts, die Unterschiede aufzuzählen, nach Art gewissenhafter Historiker: hier Dorfgemeinschaften, dort Industriegesellschaften usw. Die Unterschiede wären nur bestimmend, wenn der despotische Staat eine konkrete Formation unter anderen wäre, vergleichend zu behandeln. Aber er ist die Abstraktion, die sich gewiss in den imperialen Formationen realisiert, sich dort aber nur als Abstraktion realisiert (eminente überkodierende Einheit). Seine konkrete immanente Existenz nimmt er erst in den späteren Formen an, die ihn unter anderen Figuren und unter anderen Bedingungen zurückkehren lassen. Gemeinsamer Horizont dessen, was vorher kommt, und dessen, was nachher kommt, bedingt er die Universalgeschichte nur unter der Bedingung, nicht außerhalb zu sein, sondern immer daneben, das kalte Ungeheuer, das dafür steht, wie die Geschichte „im Kopf“, im „Gehirn“ ist, der Urstaat.
Marx erkannte an, dass es eine Weise gab, in der die Geschichte vom Abstrakten zum Konkreten ging: „die einfachen Kategorien drücken Verhältnisse aus, in denen das unzureichend entwickelte Konkrete sich vielleicht verwirklicht hat, ohne das komplexere Verhältnis oder die komplexere Beziehung schon gesetzt zu haben, die theoretisch in der konkreteren Kategorie ausgedrückt ist; während das weiter entwickelte Konkrete dieselbe Kategorie als untergeordnetes Verhältnis beibehält“.70 Der Staat war zunächst diese abstrakte Einheit, die getrennt funktionierende Untergesamtheiten integriert; er ist nun einem Kraftfeld untergeordnet, dessen Flüsse er koordiniert und dessen autonome Verhältnisse von Herrschaft und Unterordnung er ausdrückt. Er begnügt sich nicht mehr damit, beibehaltene und eingeziegelte Territorialitäten zu überkodieren; er muss Codes für die deterritorialisierten Flüsse des Geldes, der Ware und des Privateigentums konstituieren, erfinden. Er bildet nicht mehr von selbst eine oder mehrere herrschende Klassen; er wird nun von diesen unabhängig gewordenen Klassen gebildet, die ihn in den Dienst ihrer Macht und ihrer Widersprüche delegieren, ihrer Kämpfe und ihrer Kompromisse mit den beherrschten Klassen. Er ist nicht mehr transzendentes Gesetz, das Fragmente regiert; er muss mehr schlecht als recht ein Ganzes zeichnen, dem er sein immanentes Gesetz verleiht. Er ist nicht mehr der reine Signifikant, der seine Signifikate ordnet; er erscheint nun hinter ihnen und hängt von dem ab, was er bedeutet. Er produziert nicht mehr eine überkodierende Einheit; er ist selbst im Feld dekodierter Flüsse produziert. Als Maschine bestimmt er nicht mehr ein soziales System; er wird durch das soziale System bestimmt, dem er sich im Spiel seiner Funktionen einverleibt. Kurz, er hört nicht auf, künstlich zu sein, aber er wird konkret, er „tendiert zur Konkretisierung“, während er sich zugleich den herrschenden Kräften unterordnet. Man hat das Bestehen einer analogen Evolution für die technische Maschine zeigen können, wenn sie aufhört, abstrakte Einheit oder intellektuelles System zu sein, das über getrennte Untergesamtheiten herrscht, um zu einem einem Kraftfeld untergeordneten Verhältnis zu werden, das sich als konkretes physisches System ausübt.71 Aber ist diese Tendenz zur Konkretisierung in der technischen oder sozialen Maschine nicht eben die Bewegung des Begehrens? Wir fallen immer wieder auf das monströse Paradox zurück: der Staat ist Begehren, das aus dem Kopf des Despoten ins Herz der Subjekte übergeht, und vom intellektuellen Gesetz in das ganze physische System, das sich davon löst oder sich davon befreit. Begehren des Staates: die phantastischste Repressionsmaschine ist noch Begehren, Subjekt, das begehrt, und Objekt des Begehrens. Begehren: das ist die Operation, die immer darin besteht, Urstaat in den neuen Zustand der Dinge zurück einzublasen, ihn so weit wie möglich dem neuen System immanent zu machen, ihm innerlich. Und im Übrigen: bei Null wieder anfangen, ein geistiges Reich gründen, dort und in den Formen, in denen der Staat im physischen System nicht mehr als solcher funktionieren kann. Als die Christen das Reich ergriffen, fand sich diese komplementäre Dualität wieder zwischen denen, die den Urstaat so weit wie möglich mit den Elementen rekonstruieren wollten, die sie in der Immanenz der objektiven römischen Welt vorfanden, und dann den Reinen, denen, die in der Wüste neu anfangen wollten, eine neue Allianz beginnen, die ägyptische und syrische Inspiration eines transzendenten Urstaats wiederfinden. Welche seltsamen Maschinen tauchten auf, auf Säulen und in Baumstämmen! In diesem Sinn verstand es das Christentum, ein ganzes Spiel paranoischer und célibatärer Maschinen zu entfalten, einen ganzen Zug von Paranoikern und Perversen, die auch zum Horizont unserer Geschichte gehören und unseren Kalender bevölkern.72 Das sind die zwei Aspekte eines Werdens des Staates: seine Verinnerlichung in einem Kraftfeld immer stärker dekodierter sozialer Kräfte, die ein physisches System bilden; seine Spiritualisierung in einem überirdischen Feld, das immer stärker überkodiert und ein metaphysisches System bildet. In dem Maße, wie die unendliche Schuld sich verinnerlicht und spiritualisiert, nähert sich die Stunde des schlechten Gewissens; es wird auch die Stunde des größten Zynismus sein, „jene in das innere Leben zurückgekehrte Grausamkeit des Tiermenschen, der in seiner Individualität erschrocken zurückweicht; im Staat eingeschlossen, um gezähmt zu werden…“.
Die erste große Bewegung der Deterritorialisierung erschien mit der Überkodierung des despotischen Staates. Aber sie ist nichts gegenüber der anderen großen Bewegung, derjenigen, die durch Dekodierung der Flüsse geschehen wird. Doch es genügen nicht dekodierte Flüsse, damit die neue Zäsur den Socius durchschneidet und verwandelt, das heißt, damit der Kapitalismus geboren wird. Dekodierte Flüsse versetzen den despotischen Staat in Latenz, überfluten den Tyrannen, lassen ihn aber ebenso gut unter unerwarteten Formen zurückkehren – sie demokratisieren ihn, oligarchisieren ihn, segmentarisieren ihn, monarchisieren ihn, und immer verinnerlichen und spiritualisieren sie ihn, mit dem latenten Urstaat am Horizont, über dessen Verlust man sich nicht tröstet. Nun ist es am Staat, so gut es geht, durch reguläre oder außergewöhnliche Operationen das Produkt der dekodierten Flüsse wieder zu kodieren. Nehmen wir das Beispiel Rom: die Dekodierung der Grund- und Bodenflüsse durch Privatisierung des Eigentums, die Dekodierung der Geldflüsse durch Bildung großer Vermögen, die Dekodierung der Handelsflüsse durch Entwicklung einer Warenproduktion, die Dekodierung der Produzenten durch Enteignung und Proletarisierung, alles ist da, alles ist gegeben, ohne einen Kapitalismus im eigentlichen Sinn hervorzubringen, sondern ein Sklavenregime.73 Oder das Beispiel der Feudalität: auch dort bringen Privateigentum, Warenproduktion, Geldzufluss, Marktausdehnung, Stadtentwicklung, das Auftreten einer grundherrlichen Geldrente oder einer vertraglichen Vermietung von Arbeitskraft keineswegs eine kapitalistische Ökonomie hervor, sondern eine Verstärkung der feudalen Lasten und Beziehungen, bisweilen eine Rückkehr zu primitiveren Stadien der Feudalität, bisweilen sogar die Wiederherstellung einer Art Sklaverei. Und es ist bekannt, dass die monopolistische Aktion zugunsten der Zünfte und Kompanien nicht den Aufschwung einer kapitalistischen Produktion begünstigt, sondern die Einfügung des Bürgertums in einen Stadt- und Staatsfeudalismus, der darin besteht, für dekodierte Flüsse als solche Codes neu zu machen und den Kaufmann, nach der Formel Marx’, „in den Poren selbst“ des alten vollen Körpers der sozialen Maschine zu halten. Es ist also nicht der Kapitalismus, der die Auflösung des feudalen Systems nach sich zieht, sondern eher das Umgekehrte: darum brauchte es Zeit zwischen beiden. Es gibt in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen dem despotischen Zeitalter und dem kapitalistischen Zeitalter. Denn sie kommen wie der Blitz, die Staatsgründer; die despotische Maschine ist synchronisch, während die Zeit der kapitalistischen Maschine diachronisch ist: die Kapitalisten treten nacheinander in einer Reihe hervor, die eine Art Kreativität der Geschichte begründet, seltsame Menagerie; schizoide Zeit der neuen kreativen Zäsur.
Die Auflösungen definieren sich durch eine bloße Dekodierung der Flüsse, stets kompensiert durch Überlebensformen oder Transformationen des Staates. Man spürt den Tod von innen her aufsteigen und das Begehren selbst Todestrieb sein, Latenz, aber zugleich auf die Seite jener Flüsse übergehen, die virtuell ein neues Leben tragen. Dekodierte Flüsse: wer wird den Namen dieses neuen Begehrens sagen? Flüsse von Eigentum, das verkauft wird, Flüsse von Geld, das fließt, Flüsse von Produktion und Produktionsmitteln, die sich im Schatten vorbereiten, Flüsse von Arbeitern, die sich deterritorialisieren: es wird das Zusammentreffen all dieser dekodierten Flüsse brauchen, ihre Konjunktion, ihre Reaktion aufeinander, die Kontingenz dieses Zusammentreffens, dieser Konjunktion, dieser Reaktion, die sich einmal ereignen, damit der Kapitalismus geboren wird und das alte System diesmal von außen stirbt, während zugleich das neue Leben geboren wird und das Begehren seinen neuen Namen empfängt. Es gibt keine Universalgeschichte außer der der Kontingenz. Kehren wir zu dieser eminent kontingenten Frage zurück, die moderne Historiker zu stellen wissen: warum Europa, warum nicht China? Braudel fragt zur Hochseenavigation: warum nicht chinesische oder japanische Schiffe, oder gar muslimische? Warum nicht Sindbad der Seefahrer? Es ist nicht die Technik, die fehlt, die technische Maschine. Ist es nicht vielmehr das Begehren, das in den Netzen des despotischen Staates gefangen bleibt, ganz in die Maschine des Despoten investiert? „Dann wäre der Verdienst des Westens, eingeklemmt auf seinem schmalen asiatischen Vorgebirge, gewesen, die Welt gebraucht zu haben, das Bedürfnis gehabt zu haben, aus sich herauszugehen?“74 Es gibt nur eine Reise, die schizophren ist (später der amerikanische Sinn der Grenzen: etwas zu überschreiten, Grenzen zu durchbrechen, Flüsse passieren zu lassen, unkodierte Räume zu betreten). Dekodierte Begehrungen, Begehrungen nach Dekodierung, gab es immer, die Geschichte ist voll davon. Aber die dekodierten Flüsse bilden erst dann ein Begehren, ein Begehren, das produziert statt zu träumen oder zu fehlen, eine begehrende Maschine, zugleich sozial und technisch, durch ihr Zusammentreffen an einem Ort, ihre Konjunktion in einem Raum, der Zeit braucht. Darum definiert sich der Kapitalismus und seine Zäsur nicht einfach durch dekodierte Flüsse, sondern durch die generalisierte Dekodierung der Flüsse, die neue massive Deterritorialisierung, die Konjunktion der deterritorialisierten Flüsse. Es war die Singularität dieser Konjunktion, die die Universalität des Kapitalismus machte. Wenn wir stark vereinfachen, können wir sagen, dass die wilde territoriale Maschine von den Produktionsverknüpfungen ausging und dass die barbarische despotische Maschine sich auf die Einschreibungsdisjunktionen von der eminenten Einheit her gründete. Aber die kapitalistische, die zivilisierte Maschine wird sich zunächst auf der Konjunktion etablieren. Dann bezeichnet die Konjunktion nicht mehr bloß Reste, die der Kodierung entkämen, noch Konsumationen-Verzehrungen wie in den primitiven Festen oder gar die „maximale Konsumation“ im Luxus des Despoten und seiner Agenten. Wenn die Konjunktion in der sozialen Maschine an die erste Stelle tritt, zeigt sich im Gegenteil, dass sie aufhört, mit dem Genuss verbunden zu sein wie mit dem Konsumationsüberschuss einer Klasse, dass sie den Luxus selbst zu einem Mittel der Investition macht und alle dekodierten Flüsse auf die Produktion zurückfaltet, in einem „produzieren um zu produzieren“, das die primitiven Arbeitsverknüpfungen wiederfindet, unter der Bedingung, unter der einzigen Bedingung, sie an das Kapital als den neuen deterritorialisierten vollen Körper anzubinden, den wahren Konsumenten, von dem sie auszugehen scheinen (wie im von Marx beschriebenen Teufelspakt, „der industrielle Eunuch“: also gehört es dir, wenn…).75
Im Innern des Kapitals zeigt Marx das Zusammentreffen zweier „Hauptelemente“: auf der einen Seite der deterritorialisierte Arbeiter, der zum freien und nackten Arbeiter geworden ist, der seine Arbeitskraft zu verkaufen hat; auf der anderen Seite das dekodierte Geld, das zu Kapital geworden ist und sie kaufen kann. Dass diese beiden Elemente aus der Segmentarisierung des despotischen Staates zur Feudalität und aus der Zersetzung des feudalen Systems selbst und seines Staates hervorgehen, gibt uns noch nicht die extrinsische Konjunktion dieser beiden Flüsse, Fluss der Produzenten und Fluss des Geldes. Das Zusammentreffen hätte ausbleiben können; die freien Arbeiter und das Geld-Kapital existierten „virtuell“ hüben und drüben. Das eine Element hängt von einer Transformation der agrarischen Strukturen ab, die den alten sozialen Körper konstituieren; das andere von einer ganz anderen Reihe, die über den Kaufmann und den Wucherer verläuft, wie sie marginal in den Poren dieses alten Körpers existieren.76 Mehr noch: jedes dieser Elemente setzt mehrere Dekodierungs- und Deterritorialisierungsprozesse sehr unterschiedlicher Herkunft in Gang: für den freien Arbeiter: Deterritorialisierung des Bodens durch Privatisierung; Dekodierung der Produktionsinstrumente durch Aneignung; Entzug der Konsumtionsmittel durch Auflösung der Familie und der Korporation; schließlich Dekodierung des Arbeiters zugunsten der Arbeit selbst oder der Maschine – und für das Kapital: Deterritorialisierung des Reichtums durch monetäre Abstraktion; Dekodierung der Produktionsflüsse durch Handelskapital; Dekodierung der Staaten durch Finanzkapital und öffentliche Schulden; Dekodierung der Produktionsmittel durch die Bildung des Industriekapitals usw. Sehen wir noch genauer, wie die Elemente sich treffen, mit Konjunktion all ihrer Prozesse. Es ist nicht mehr das Zeitalter der Grausamkeit noch des Terrors, sondern das Zeitalter des Zynismus, das von einer seltsamen Frömmigkeit begleitet wird (beides bildet den Humanismus: der Zynismus ist die physische Immanenz des sozialen Feldes, und die Frömmigkeit die Aufrechterhaltung eines spiritualisierten Urstaats; der Zynismus ist das Kapital als Mittel, Mehrarbeit zu erpressen, aber die Frömmigkeit ist dasselbe Kapital als Kapital-Gott, von dem alle Arbeitskräfte auszugehen scheinen). Dieses Zeitalter des Zynismus ist das der Kapitalakkumulation; es ist es, das Zeit impliziert, gerade für die Konjunktion aller dekodierten und deterritorialisierten Flüsse. Wie Maurice Dobb gezeigt hat, braucht es in einem ersten Moment eine Akkumulation von Eigentumstiteln, etwa an Land, in einer günstigen Konjunktur, zu einem Zeitpunkt, da diese Güter wenig kosten (Desintegration des feudalen Systems); und einen zweiten Moment, in dem diese Güter in einer Phase des Anstiegs verkauft werden, und unter Bedingungen, die die industrielle Investition besonders interessant machen („Preisrevolution“, reichliche Reserve an Arbeitskräften, Bildung eines Proletariats, leichter Zugang zu Rohstoffquellen, günstige Bedingungen für die Produktion von Werkzeugen und Maschinen).77 Alle möglichen kontingenten Faktoren begünstigen diese Konjunktionen. Wie viele Begegnungen, für die Bildung der Sache, des Unnennbaren! Aber der Effekt der Konjunktion ist sehr wohl die immer tiefere Kontrolle der Produktion durch das Kapital: die Definition des Kapitalismus oder seiner Zäsur, die Konjunktion aller dekodierten und deterritorialisierten Flüsse, definiert sich nicht durch das Handelskapital noch durch das Finanzkapital, die nur Flüsse unter anderen sind, Elemente unter anderen, sondern durch das Industriekapital. Gewiss wirkte der Kaufmann sehr früh auf die Produktion ein, sei es, indem er selbst in Gewerben, die auf Handel beruhen, zum Industriellen wurde, sei es, indem er Handwerker zu seinen eigenen Zwischenhändlern oder Angestellten machte (Kämpfe gegen Zünfte und Monopole). Aber der Kapitalismus beginnt, die kapitalistische Maschine ist erst montiert, wenn das Kapital sich die Produktion unmittelbar aneignet und wenn das Finanzkapital und das Handelskapital nur noch spezifische Funktionen sind, die einer Arbeitsteilung im allgemein kapitalistischen Produktionsmodus entsprechen. Man findet dann die Produktion von Produktionen, die Produktion von Registrierungen, die Produktion von Konsumtionen wieder – aber eben in dieser Konjunktion der dekodierten Flüsse, die das Kapital zum neuen sozialen vollen Körper macht, während der Handels- und Finanzkapitalismus in seinen primitiven Formen sich nur in den Poren des alten Socius einrichtete, dessen früheren Produktionsmodus er nicht veränderte.
Noch bevor die kapitalistische Produktionsmaschine montiert ist, bewirken Ware und Geld eine Dekodierung der Flüsse durch Abstraktion. Aber nicht auf dieselbe Weise. Zunächst schreibt der einfache Austausch die Warenprodukte als die besonderen Quanta einer Einheit abstrakter Arbeit ein. Es ist die abstrakte Arbeit, die im Austauschverhältnis gesetzt ist und die disjunktive Synthese der scheinbaren Bewegung der Ware bildet, insofern sie sich in die qualifizierten Arbeiten teilt, denen dieses oder jenes bestimmte Quantum entspricht. Aber erst wenn ein „allgemeines Äquivalent“ als Geld erscheint, gelangt man in das Reich der quantitas, die alle möglichen besonderen Werte haben oder für alle möglichen Quanta gelten kann. Diese abstrakte Menge muss dennoch irgendeinen besonderen Wert haben, so dass sie noch nur als Größenverhältnis zwischen Quanta erscheint. In diesem Sinne verbindet das Austauschverhältnis formell partielle Objekte, die unabhängig von ihm produziert und sogar eingeschrieben sind. Die kommerzielle und monetäre Einschreibung bleibt überkodiert und sogar repressiert durch die Charaktere und Modi der vorhergehenden Einschreibung eines Socius, der unter seinem spezifischen Produktionsmodus betrachtet wird und der die abstrakte Arbeit weder kennt noch anerkennt. Wie Marx sagt, ist diese zwar das einfachste und älteste Verhältnis der produktiven Tätigkeit, erscheint aber als solche und wird praktisch wahr erst in der modernen kapitalistischen Maschine.78 Darum verfügt die kommerzielle monetäre Einschreibung zuvor über keinen eigenen Körper und fügt sich nur in die Zwischenräume des vorbestehenden sozialen Körpers ein. Der Kaufmann spielt unablässig mit den beibehaltenen Territorialitäten, um dort zu kaufen, wo es billig ist, und dort zu verkaufen, wo es teuer ist. Vor der kapitalistischen Maschine steht das Handels- oder Finanzkapital nur in einem Allianzverhältnis zur nichtkapitalistischen Produktion; es geht in jene neue Allianz ein, die die vorkapitalistischen Staaten charakterisiert (daher die Allianz der Handels- und Bankbourgeoisie mit der Feudalität). Kurz: die kapitalistische Maschine beginnt, wenn das Kapital aufhört, ein Allianzkapital zu sein, um filiativ zu werden. Das Kapital wird filiatives Kapital, wenn Geld Geld erzeugt oder Wert einen Mehrwert, „progressiver Wert, stets sprossendes, treibendes Geld und als solches Kapital… Der Wert stellt sich auf einmal dar als eine sich selbst bewegende Substanz, für die Ware und Geld nur reine Formen sind. Er unterscheidet in sich seinen ursprünglichen Wert und seinen Mehrwert, so wie Gott in seiner Person den Vater und den Sohn unterscheidet, und wie beide doch eins sind und gleich alt sind, denn nur durch den Mehrwert von zehn Pfund werden die ersten vorgeschossenen hundert Pfund Kapital“.79 Nur unter diesen Bedingungen wird das Kapital zum vollen Körper, zum neuen Socius oder zur Quasi-Ursache, die sich alle produktiven Kräfte aneignet. Wir befinden uns nicht mehr im Bereich des quantum oder der quantitas, sondern in dem des Differentialverhältnisses als Konjunktion, das das dem Kapitalismus eigene soziale Immanenzfeld definiert und der Abstraktion als solcher ihren effektiv konkreten Wert gibt, ihre Tendenz zur Konkretisierung. Das Abstrakte hat nicht aufgehört, das zu sein, was es ist, aber es erscheint nicht mehr in der bloßen Menge als variables Verhältnis zwischen unabhängigen Termen; es ist es, das die Unabhängigkeit, die Qualität der Terme und die Quantität der Verhältnisse auf sich genommen hat. Das Abstrakte setzt selbst das komplexere Verhältnis, in dem es sich „als“ etwas Konkretes entwickeln wird. Es ist das Differentialverhältnis dy/dx, wobei dy von der Arbeitskraft hergeleitet ist und die Fluktuation des variablen Kapitals konstituiert, und wobei dx vom Kapital selbst hergeleitet ist und die Fluktuation des konstanten Kapitals konstituiert („der Begriff des konstanten Kapitals schließt in keiner Weise eine Wertänderung seiner konstitutiven Teile aus“). Aus der Fluxion der dekodierten Flüsse, aus ihrer Konjunktion, geht die filiative Form des Kapitals x + dx hervor. Was das Differentialverhältnis ausdrückt, ist das grundlegende kapitalistische Phänomen der Transformation des Code-Mehrwerts in Fluss-Mehrwert. Dass hier ein mathematischer Anschein die alten Codes ersetzt, bedeutet einfach, dass man einem Zusammenbruch der Codes und der verbleibenden Territorialitäten zugunsten einer Maschine anderer Art beiwohnt, die ganz anders funktioniert. Es ist nicht mehr die Grausamkeit des Lebens, noch der Terror eines Lebens gegen ein anderes, sondern ein postmortaler Despotismus, der Despot zum Anus und Vampir geworden: „Das Kapital ist tote Arbeit, die sich, einem Vampir gleich, nur belebt, indem sie lebendige Arbeit saugt, und desto munterer lebt, je mehr sie davon einsaugt.“ Das Industriekapital präsentiert so eine neue-neue Filiation, konstitutiv für die kapitalistische Maschine, gegenüber der Handelskapital und Finanzkapital nun die Form einer neuen-neuen Allianz annehmen werden, indem sie spezifische Funktionen übernehmen.
Das berühmte Problem des tendenziellen Falls der Profitrate, das heißt des Mehrwerts im Verhältnis zum Gesamtkapital, lässt sich nur im Ganzen des Immanenzfeldes des Kapitalismus und unter den Bedingungen verstehen, unter denen ein Code-Mehrwert in Fluss-Mehrwert verwandelt wird. Zunächst zeigt sich (gemäß den Bemerkungen Balibars), dass diese Tendenz zum Fall der Profitrate kein Ende hat, sondern sich selbst reproduziert, indem sie die Faktoren reproduziert, die ihr entgegenwirken. Aber warum hat sie kein Ende? Gewiss aus denselben Gründen, die die Kapitalisten und ihre Ökonomen lachen lassen, wenn sie feststellen, dass der Mehrwert mathematisch nicht bestimmbar ist. Doch sie haben nicht so sehr Grund zur Freude. Sie sollten vielmehr daraus schließen, was sie zu verbergen suchen: nämlich dass es nicht dasselbe Geld ist, das in die Tasche des Lohnempfängers geht und das in der Bilanz eines Unternehmens eingeschrieben ist. Im einen Fall ohnmächtige Geldzeichen des Tauschwerts, ein Fluss von Zahlungsmitteln in Bezug auf Konsumgüter und Gebrauchswerte, eine bi-univoke Beziehung zwischen dem Geld und einer auferlegten Palette von Produkten („worauf ich Anspruch habe, was mir zusteht, das ist also mein…“); im anderen Fall Machtzeichen des Kapitals, Finanzierungsflüsse, ein System differentialer Produktionskoeffizienten, das eine prospektive Kraft oder eine langfristige Bewertung bezeugt, die hic et nunc nicht realisierbar ist, und als Axiomatik abstrakter Quantitäten funktioniert. Im einen Fall stellt das Geld eine mögliche Schnitt-Entnahme an einem Konsumtionsfluss dar; im anderen Fall eine Möglichkeit der Schnitt-Abtrennung und der Reartikulation ökonomischer Ketten in dem Sinne, dass Produktionsflüsse sich den Disjunktionen des Kapitals aneignen. Man hat die Bedeutung im kapitalistischen System der bankmäßigen Dualität zwischen der Bildung von Zahlungsmitteln und der Finanzierungsstruktur, zwischen Geldverwaltung und Finanzierung der kapitalistischen Akkumulation, zwischen Tauschgeld und Kreditgeld zeigen können.80 Dass die Bank an beiden teilhat, gleichsam am Scharnier beider, Finanzierung und Zahlung, zeigt nur ihre vielfachen Wechselwirkungen. So hat im Kreditgeld, das alle Handels- oder Bankforderungen umfasst, der rein kommerzielle Kredit seine Wurzeln in der einfachen Zirkulation, in der sich das Geld als Zahlungsmittel entwickelt (der Wechsel mit bestimmter Fälligkeit, der eine Geldform der endlichen Schuld darstellt). Umgekehrt bewirkt der Bankkredit eine Entmonetarisierung oder Entmaterialisierung des Geldes und beruht auf der Zirkulation der Wechsel statt auf der Zirkulation des Geldes, durchläuft einen besonderen Kreislauf, in dem er seinen Wert als Tauschmittel gewinnt und verliert, und in dem die Bedingungen des Flusses die des Rückflusses implizieren und der unendlichen Schuld ihre kapitalistische Form geben; doch der Staat als Regulator sichert eine prinzipielle Konvertibilität dieses Kreditgeldes, sei es direkt durch Bindung an Gold, sei es indirekt durch eine Zentralisationsweise, die einen Rückhalt des Kredits umfasst, einen einheitlichen Zinssatz, eine Einheit der Kapitalmärkte usw. Man hat also Recht, von einer tiefen Verschleierung der Dualität der beiden Geldformen zu sprechen, Zahlung und Finanzierung, die beiden Aspekte der Bankpraxis. Aber diese Verschleierung hängt weniger von einem Nichtwissen ab, als dass sie das kapitalistische Immanenzfeld ausdrückt, die objektive Scheinbewegung, in der die niedrigere und untergeordnete Form nicht weniger notwendig ist als die andere (es ist notwendig, dass das Geld auf beiden Tafeln spielt) und in der keine Integration der beherrschten Klassen stattfinden könnte ohne den Schatten dieses nicht angewandten Prinzips der Konvertibilität, das doch genügt, damit das Begehren des am meisten benachteiligten Geschöpfes das kapitalistische soziale Feld in seiner Gesamtheit mit all seinen Kräften investiert, unabhängig von jeder ökonomischen Kenntnis oder Unkenntnis. Flüsse: wer begehrt Flüsse, und Verhältnisse zwischen Flüssen, und Schnitte von Flüssen? – die der Kapitalismus unter ihm bis dahin unbekannten Geldbedingungen hat fließen und schneiden lassen. Wenn es wahr ist, dass der Kapitalismus in seinem Wesen oder Produktionsmodus industriell ist, so funktioniert er doch nur als Handelskapitalismus. Wenn es wahr ist, dass er in seinem Wesen filiatives Industriekapital ist, so funktioniert er doch nur durch seine Allianz mit dem Handels- und dem Finanzkapital. In gewisser Weise ist es die Bank, die das ganze System hält, und die Begehreninvestition.81 Einer der Beiträge Keynes’ bestand darin, das Begehren in das Geldproblem wieder einzuführen; eben das ist den Anforderungen der marxistischen Analyse zu unterwerfen. Darum ist es bedauerlich, dass marxistische Ökonomen allzu oft bei Überlegungen zum Produktionsmodus und bei der Geldtheorie als allgemeinem Äquivalent stehenbleiben, wie sie im ersten Abschnitt des Kapitals erscheint, ohne der Bankpraxis, den Finanzoperationen und der spezifischen Zirkulation des Kreditgeldes genügend Bedeutung beizumessen (dies wäre der Sinn einer Rückkehr zu Marx, zur marxistischen Geldtheorie).
Kehren wir zur Dualität des Geldes zurück, zu den zwei Tafeln, zu den zwei Einschreibungen, der einen im Konto des Lohnempfängers, der anderen in der Bilanz des Unternehmens. Beide Größenordnungen mit derselben analytischen Einheit zu messen ist eine reine Fiktion, ein kosmischer Betrug, als ob man intergalaktische oder intraatomare Distanzen mit Metern und Zentimetern messen würde. Es gibt kein gemeinsames Maß zwischen dem Wert der Unternehmen und dem der Arbeitskraft der Lohnempfänger. Darum hat der tendenzielle Fall keinen Endpunkt. Ein Quotient von Differentialen ist wohl berechenbar, wenn es um die Grenze der Variation der Produktionsflüsse unter dem Gesichtspunkt eines vollen Ertrags geht, aber er ist es nicht, wenn es um den Produktionsfluss und den Arbeitsfluss geht, von dem der Mehrwert abhängt. Dann hebt sich die Differenz nicht in dem Verhältnis auf, das sie als Naturdifferenz konstituiert; die „Tendenz“ hat keinen Endpunkt, sie hat keine äußere Grenze, die sie erreichen oder der sie sich auch nur annähern könnte. Die Tendenz hat nur eine innere Grenze und überschreitet sie unablässig, aber indem sie sie verschiebt, das heißt indem sie sie rekonstruiert, indem sie sie wiederfindet als innere Grenze, die erneut durch Verschiebung zu überschreiten ist: dann erzeugt sich die Kontinuität des kapitalistischen Prozesses in dieser immer verschobenen Schnitt-von-Schnitt, das heißt in dieser Einheit von Schize und Fluss. Unter diesem Aspekt bereits erweitert sich das soziale Immanenzfeld, wie es sich unter dem Rückzug und der Transformation des Urstaats entdeckt, unablässig und nimmt eine ganz besondere Konsistenz an, die zeigt, wie der Kapitalismus seinerseits das allgemeine Prinzip zu interpretieren wusste, nach dem die Dinge nur funktionieren, wenn sie sich zugleich verstimmen, die Krise als „immanentes Mittel der kapitalistischen Produktionsweise“. Wenn der Kapitalismus die äußere Grenze jeder Gesellschaft ist, so ist es deshalb, weil er für sich keine äußere Grenze hat, sondern nur eine innere Grenze, die das Kapital selbst ist, und die er nicht antrifft, sondern reproduziert, indem er sie stets verschiebt.82 Jean-Joseph Goux analysiert genau das mathematische Phänomen der Kurve ohne Tangente und den Sinn, den es in der Ökonomie nicht weniger als in der Linguistik annehmen kann: „Wenn die Bewegung gegen keine Grenze tendiert, wenn der Quotient der Differentiale nicht berechenbar ist, hat die Gegenwart keinen Sinn mehr… Der Quotient der Differentiale löst sich nicht auf, die Differenzen heben sich nicht mehr in ihrem Verhältnis auf. Keine Grenze stellt sich dem Bruch entgegen, dem Bruch dieses Bruchs. Die Tendenz findet keinen Endpunkt, das Bewegliche wird niemals dessen Herr, was die unmittelbare Zukunft ihm bereithält; es wird unablässig durch Zufälle, Abweichungen verzögert… Komplexer Begriff einer Kontinuität im absoluten Bruch.“83 In der erweiterten Immanenz des Systems tendiert die Grenze, in ihrer Verschiebung das zu rekonstituieren, was sie in ihrer ursprünglichen Lage zu senken tendierte.
Diese Verschiebungsbewegung gehört wesentlich zur Deterritorialisierung des Kapitalismus. Wie Samir Amin gezeigt hat, geht der Deterritorialisierungsprozess hier vom Zentrum zur Peripherie, das heißt von den entwickelten Ländern zu den unterentwickelten, die keine eigene Welt bilden, sondern ein wesentliches Stück der weltweiten kapitalistischen Maschine. Hinzuzufügen ist noch, dass das Zentrum selbst seine organisierten Enklaven der Unterentwicklung hat, seine Reservate und Slums als innere Peripherien (Pierre Moussa definierte die Vereinigten Staaten als ein Fragment der Dritten Welt, das Erfolg hatte und seine ungeheuren Unterentwicklungszonen bewahrt hat). Und wenn es wahr ist, dass im Zentrum wenigstens teilweise eine Tendenz zum Fall oder zur Egalisierung der Profitrate wirkt, die die Ökonomie zu den fortschrittlichsten und am stärksten automatisierten Sektoren hinträgt, so sorgt eine wirkliche „Entwicklung der Unterentwicklung“ in der Peripherie für eine Steigerung der Mehrwertrate als wachsende Ausbeutung des peripheren Proletariats im Verhältnis zu dem des Zentrums. Denn es wäre ein großer Irrtum zu glauben, die Exporte der Peripherie stammten vor allem aus traditionellen Sektoren oder archaischen Territorialitäten: sie stammen im Gegenteil aus modernen Industrien und Plantagen, die starken Mehrwert erzeugen, so sehr, dass nicht die entwickelten Länder Kapital in die unterentwickelten liefern, sondern vielmehr umgekehrt. So wahr ist es, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht einmal im Morgengrauen des Kapitalismus geschieht, sondern permanent ist und sich unablässig reproduziert. Der Kapitalismus exportiert filiatives Kapital. Gleichzeitig, während sich die kapitalistische Deterritorialisierung vom Zentrum zur Peripherie vollzieht, vollzieht sich die Dekodierung der Flüsse in der Peripherie durch eine „Desartikulation“, die den Ruin der traditionellen Sektoren, die Entwicklung extravertierter ökonomischer Kreisläufe, eine spezifische Hypertrophie des tertiären Sektors, eine extreme Ungleichheit in der Verteilung von Produktivitäten und Einkommen sicherstellt.84 Jeder Flussdurchgang ist eine Deterritorialisierung, jede verschobene Grenze eine Dekodierung. Der Kapitalismus schizophrenisiert immer mehr an der Peripherie. Dennoch bleibt es, wird man sagen, dabei, dass im Zentrum der tendenzielle Fall seinen engen Sinn behält, das heißt die relative Verminderung des Mehrwerts im Verhältnis zum Gesamtkapital, gesichert durch die Entwicklung der Produktivität, der Automation, des konstanten Kapitals.
Dieses Problem ist kürzlich von Maurice Clavel in einer Reihe entscheidender und absichtlich inkompetenter Fragen neu gestellt worden. Das heißt: Fragen, die an marxistische Ökonomen gerichtet sind von jemandem, der nicht gut versteht, wie man den menschlichen Mehrwert an der Basis der kapitalistischen Produktion aufrechterhalten kann, während man zugleich anerkennt, dass auch die Maschinen „arbeiten“ oder Wert produzieren, dass sie immer gearbeitet haben und im Verhältnis zum Menschen immer mehr arbeiten, der dadurch aufhört, konstitutiver Teil des Produktionsprozesses zu sein, um diesem Prozess nur noch adjazent zu werden.85 Es gibt also einen maschinellen Mehrwert, der vom konstanten Kapital produziert wird, der sich mit der Automation und der Produktivität entwickelt und der sich nicht durch die Faktoren erklären lässt, die dem tendenziellen Fall entgegenwirken (zunehmende Intensität der Ausbeutung menschlicher Arbeit, Preisverminderung der Elemente des konstanten Kapitals usw.), da diese Faktoren im Gegenteil von ihm abhängen. Es scheint uns, mit derselben unerlässlichen Inkompetenz, dass diese Probleme nur unter den Bedingungen der Transformation des Code-Mehrwerts in Fluss-Mehrwert betrachtet werden können. Denn solange wir die vorkapitalistischen Regime durch den Code-Mehrwert und den Kapitalismus durch eine generalisierte Dekodierung definierten, die ihn in Fluss-Mehrwert umwandelte, stellten wir die Dinge summarisch dar; wir taten da wiederum so, als würde sich die Sache ein für alle Mal regeln, in der Morgenröte eines Kapitalismus, der jeden Code-Wert verloren hätte. Doch dem ist nicht so. Einerseits bleiben Codes bestehen, selbst als Archaismus, die jedoch im personalisierten Kapital (der Kapitalist, der Arbeiter, der Kaufmann, der Bankier…) eine vollkommen aktuelle und der Situation angepasste Funktion annehmen. Andererseits aber und tiefergehend setzt jede technische Maschine Flüsse eines besonderen Typs voraus: Code-Flüsse, zugleich im Inneren und außerhalb der Maschine, die die Elemente einer Technologie und sogar einer Wissenschaft bilden. Es sind diese Code-Flüsse, die in den vorkapitalistischen Gesellschaften ebenfalls eingekastet, kodiert oder überkodiert werden, so dass sie niemals Unabhängigkeit gewinnen (der Schmied, der Astronom…). Aber die generalisierte Dekodierung der Flüsse im Kapitalismus hat die Code-Flüsse ebenso wie die anderen freigesetzt, deterritorialisiert, dekodiert – bis zu dem Punkt, dass die automatische Maschine sie immer mehr in ihren Körper oder ihre Struktur als Kraftfeld interiorisiert hat, während sie zugleich von einer Wissenschaft und einer Technologie abhing, von einer sogenannten zerebralen Arbeit, die von der manuellen Arbeit des Arbeiters unterschieden ist (Evolution des technischen Objekts). In diesem Sinne waren es nicht die Maschinen, die den Kapitalismus gemacht haben, sondern im Gegenteil der Kapitalismus, der die Maschinen macht und unablässig neue Schnitte einführt, durch die er seine technischen Produktionsweisen revolutioniert.
Allerdings sind in dieser Hinsicht mehrere Korrekturen einzuführen. Denn diese Schnitte brauchen Zeit und erstrecken sich über eine große Breite. Niemals lässt sich die diachrone kapitalistische Maschine selbst durch eine oder mehrere synchrone technische Maschinen revolutionieren, niemals verleiht sie ihren Wissenschaftlern und Technikern eine in den vorherigen Regimen unbekannte Unabhängigkeit. Ohne Zweifel kann sie Wissenschaftler, etwa Mathematiker, in ihrer Ecke „schizophrenisieren“ lassen und sozial dekodierte Code-Flüsse passieren lassen, die diese Wissenschaftler in Axiomatikern der sogenannten Grundlagenforschung organisieren. Aber die wirkliche Axiomatik ist nicht dort (die Wissenschaftler lässt man bis zu einem gewissen Punkt in Ruhe, man lässt sie ihre Axiomatik für sich machen; doch dann kommt der Moment der ernsten Dinge: etwa die indeterministische Physik mit ihren korpuskularen Flüssen muss sich mit dem „Determinismus“ versöhnen). Die wirkliche Axiomatik ist die der sozialen Maschine selbst, die sich an die Stelle der alten Kodierungen setzt und alle dekodierten Flüsse organisiert, einschließlich der wissenschaftlichen und technischen Code-Flüsse, zugunsten des kapitalistischen Systems und im Dienst seiner Zwecke. Daher hat man oft bemerkt, dass die industrielle Revolution eine hohe Rate technischen Fortschritts mit dem Fortbestand einer großen Menge „obsoleszenten“ Materials verband, mit einem großen Misstrauen gegenüber Maschinen und Wissenschaften. Eine Innovation wird nur in Abhängigkeit von der Profitrate übernommen, die ihre Investition durch Senkung der Produktionskosten ergibt; andernfalls hält der Kapitalist das bestehende Werkzeugwesen aufrecht, notfalls indem er parallel dazu in einem anderen Bereich investiert.86 Der menschliche Mehrwert behält also eine entscheidende Bedeutung, selbst im Zentrum und in hochindustrialisierten Sektoren. Was die Kostensenkung und die Erhöhung der Profitrate durch maschinellen Mehrwert bestimmt, ist nicht die Innovation selbst, deren Wert nicht messbarer ist als der des menschlichen Mehrwerts. Es ist nicht einmal die Rentabilität der neuen Technik für sich genommen, sondern ihr Effekt auf die globale Rentabilität des Unternehmens in seinen Beziehungen zum Markt und zum Handels- und Finanzkapital. Was diachrone Begegnungen und Überkreuzungen impliziert, wie man z.B. schon im 19. Jahrhundert zwischen der Dampfmaschine und den Textilmaschinen oder den Techniken der Eisenproduktion sieht. Im Allgemeinen tendiert die Einführung von Innovationen immer dazu, über die wissenschaftlich notwendige Zeit hinaus verzögert zu werden, bis zu dem Moment, da die Marktprognosen ihre Ausbeutung im großen Maßstab rechtfertigen. Auch hier übt das Allianzkapital einen starken Selektionsdruck auf die maschinellen Innovationen im Industriekapital aus. Kurz: dort, wo die Flüsse dekodiert sind, werden die besonderen Code-Flüsse, die eine technologische und wissenschaftliche Form angenommen haben, einer eigentlich sozialen Axiomatik unterworfen, die weit strenger ist als alle wissenschaftlichen Axiomatikern, aber auch weit strenger als alle alten verschwundenen Codes oder Überkodierungen: der Axiomatik des weltweiten kapitalistischen Marktes. Kurz: die in Wissenschaft und Technik durch das kapitalistische Regime „befreiten“ Code-Flüsse erzeugen einen maschinellen Mehrwert, der nicht direkt von Wissenschaft und Technik selbst abhängt, sondern vom Kapital, und der sich zum menschlichen Mehrwert hinzufügt, dessen relativen Fall korrigiert; beide bilden zusammen den Fluss-Mehrwert, der das System charakterisiert. Wissen, Information und qualifizierte Ausbildung sind nicht weniger Teile des Kapitals („Wissenskapital“) als die elementarste Arbeit des Arbeiters. Und ebenso wie wir auf der Seite des menschlichen Mehrwerts, insofern er aus den dekodierten Flüssen resultierte, eine grundlegende Inkommensurabilität oder Asymmetrie fanden (keine zuweisbare äußere Grenze) zwischen manueller Arbeit und Kapital oder zwischen zwei Geldformen, so finden wir auch hier auf der Seite des maschinellen Mehrwerts, der aus den wissenschaftlichen und technischen Code-Flüssen resultiert, keinerlei Kommensurabilität noch äußere Grenze zwischen der wissenschaftlichen oder technischen Arbeit, selbst hoch bezahlt, und dem Kapitalprofit, der in einer anderen Schrift eingeschrieben ist. Der Wissensfluss und der Arbeitsfluss befinden sich diesbezüglich in derselben Lage, die durch die kapitalistische Dekodierung oder Deterritorialisierung bestimmt wird.
Wenn es aber wahr ist, dass die Innovation nur aufgenommen wird, sofern sie eine Profitsteigerung durch Senkung der Produktionskosten bewirkt, und dass es ein hinreichend hohes Produktionsvolumen gibt, um sie zu rechtfertigen, so folgt daraus als Korollar, dass die Investition in die Innovation niemals ausreicht, um den auf der einen wie auf der anderen Seite produzierten Fluss-Mehrwert zu realisieren oder zu absorbieren.87 Marx hat die Bedeutung des Problems gut gezeigt: der stets erweiterte Kreis des Kapitalismus schließt sich, indem er seine immanenten Grenzen in stets größerem Maßstab reproduziert, nur, wenn der Mehrwert nicht nur produziert oder erpresst, sondern absorbiert, realisiert wird.88 Wenn der Kapitalist sich nicht durch Genuss definiert, dann nicht nur, weil sein Ziel das „Produzieren um des Produzierens willen“ ist, das Mehrwert erzeugt, sondern die Realisierung dieses Mehrwerts: ein nicht realisierter Fluss-Mehrwert ist wie nicht produziert und verkörpert sich in Arbeitslosigkeit und Stagnation. Man zählt leicht die wichtigsten Absorptionsweisen außerhalb von Konsum und Investition auf: Werbung, zivile Regierung, Militarismus und Imperialismus. Die Rolle des Staates in dieser Hinsicht innerhalb der kapitalistischen Axiomatik erscheint umso deutlicher, als das, was er absorbiert, nicht vom Mehrwert der Unternehmen abgezogen wird, sondern sich ihm hinzufügt, indem es die kapitalistische Ökonomie innerhalb gegebener Grenzen ihrem Vollertrag annähert und seinerseits diese Grenzen erweitert, vor allem in einer Ordnung von Militärausgaben, die der Privatunternehmung keinerlei Konkurrenz machen, im Gegenteil (nur der Krieg hat geschafft, was der New Deal verfehlt hatte). Die Rolle eines politisch-militärisch-ökonomischen Komplexes ist umso wichtiger, als er die Extraktion des menschlichen Mehrwerts in der Peripherie und in den angeeigneten Zonen des Zentrums garantiert, aber selbst einen enormen maschinellen Mehrwert erzeugt, indem er die Ressourcen des Wissens- und Informationskapitals mobilisiert, und schließlich den größten Teil des produzierten Mehrwerts absorbiert. Staat, Polizei und Armee bilden ein gigantisches Unternehmen der Antiproduktion, aber innerhalb der Produktion selbst und sie bedingend. Wir finden hier eine neue Bestimmung des eigentlich kapitalistischen Immanenzfeldes: nicht nur das Spiel der Verhältnisse und Differentialkoeffizienten der dekodierten Flüsse, nicht nur die Natur der Grenzen, die der Kapitalismus als innere Grenzen reproduziert, indem er sie in stets größerem Maßstab verlagert, sondern die Anwesenheit der Antiproduktion in der Produktion selbst. Der Apparat der Antiproduktion ist nicht mehr eine transzendente Instanz, die der Produktion entgegengesetzt ist, sie begrenzt oder bremst; im Gegenteil, er dringt überall in die produzierende Maschine ein und verbindet sich eng mit ihr, um ihre Produktivität zu regulieren und ihren Mehrwert zu realisieren (daher z.B. der Unterschied zwischen der despotischen Bürokratie und der kapitalistischen Bürokratie). Die Ausgießung des Antiproduktionsapparats charakterisiert das ganze kapitalistische System; die kapitalistische Ausgießung ist die der Antiproduktion in der Produktion auf allen Ebenen des Prozesses. Einerseits ist sie allein fähig, das höchste Ziel des Kapitalismus zu realisieren, nämlich Mangel in großen Ensembles zu produzieren, Mangel dort einzuführen, wo immer zu viel ist, durch die Absorption, die sie an überreichen Ressourcen vornimmt. Andererseits verdoppelt sie allein das Kapital und den Wissensfluss um ein Kapital und einen gleichwertigen Fluss von Dummheit, die ebenfalls deren Absorption oder Realisierung bewirken und die Integration von Gruppen und Individuen in das System sicherstellen. Nicht nur Mangel im Übermaß, sondern Dummheit im Wissen und in der Wissenschaft: man wird insbesondere sehen, wie sich auf der Ebene von Staat und Armee die fortschrittlichsten Sektoren wissenschaftlicher oder technologischer Erkenntnis und die dümmsten Archaismen verbinden, die am stärksten mit aktuellen Funktionen beladen sind.
Vollen Sinn erhält das Doppelporträt, das André Gorz vom „wissenschaftlichen und technischen Arbeiter“ zeichnet, Meister eines Wissens-, Informations- und Ausbildungsflusses, aber so sehr im Kapital absorbiert, dass mit ihm der Rückfluss einer organisierten, axiomatisierten Dummheit zusammenfällt, so dass er abends, wenn er nach Hause kommt, seine kleinen begehrenden Maschinen wiederfindet, indem er an einem Fernseher herumbastelt, o Verzweiflung.89 Gewiss hat der Wissenschaftler als solcher keine revolutionäre Macht, er ist der erste integrierte Agent der Integration, Zuflucht schlechten Gewissens, erzwungener Zerstörer seiner eigenen Kreativität. Nehmen wir das noch auffälligere Beispiel einer „Karriere“ nach amerikanischer Art, mit abrupten Mutationen, wie wir sie uns vorstellen: Gregory Bateson beginnt damit, der zivilisierten Welt zu entfliehen, indem er Ethnologe wird, indem er den primitiven Codes und den wilden Flüssen folgt; dann wendet er sich immer mehr dekodierten Flüssen zu, denen der Schizophrenie, aus denen er eine interessante psychiatrische Theorie zieht; dann wiederum, auf der Suche nach einem Jenseits, nach einer anderen Wand, die zu durchbrechen ist, wendet er sich den Delfinen zu, der Sprache der Delfine, noch seltsameren und noch deterritorialisierten Flüssen. Aber was ist am Ende des Delfinflussses, wenn nicht die Grundlagenforschungen der US-Armee, die uns zur Kriegsvorbereitung und zur Absorption des Mehrwerts zurückführen? Im Verhältnis zum kapitalistischen Staat sind die sozialistischen Staaten Kinder (und noch dazu Kinder, die ihrem Vater etwas beigebracht haben, über die axiomatisierende Rolle des Staates). Aber die sozialistischen Staaten haben größere Mühe, die unerwarteten Lecks der Flüsse zu verstopfen, außer durch direkte Gewalt. Was man umgekehrt die Wiederaneignungsfähigkeit des kapitalistischen Systems nennt, ist, dass seine Axiomatik von Natur aus nicht „flexibler“, sondern breiter und umfassender ist. Niemand in einem solchen System kann vermeiden, mit der Antiproduktionsaktivität verbunden zu sein, die das ganze produktive System belebt. „Diejenigen, die den Militärapparat bedienen und versorgen, sind nicht die einzigen, die in ein anti-menschliches Unternehmen verstrickt sind. Die Millionen Arbeiter, die (was eine Nachfrage nach) unnützen Gütern und Dienstleistungen produzieren, sind ebenfalls, und in unterschiedlichem Maß, betroffen. Die verschiedenen Sektoren und Zweige der Wirtschaft sind so voneinander abhängig, dass fast jeder auf die eine oder andere Weise in eine anti-menschliche Tätigkeit involviert ist; der Farmer, der Nahrungsmittel für die Truppen liefert, die gegen das vietnamesische Volk kämpfen, die Hersteller komplexer Instrumente, die zur Schaffung eines neuen Automodells nötig sind, die Hersteller von Papier, Tinte oder Fernsehgeräten, deren Produkte benutzt werden, um den Geist der Menschen zu kontrollieren und zu vergiften, und so weiter.“90 So schließen sich die drei Segmente der stets erweiterten kapitalistischen Reproduktion, die zugleich die drei Aspekte ihrer Immanenz definieren: 1o) dasjenige, das den menschlichen Mehrwert aus dem Differentialverhältnis zwischen dekodierten Flüssen von Arbeit und Produktion extrahiert und sich vom Zentrum zur Peripherie verlagert, dabei im Zentrum jedoch große residuale Zonen beibehält; 2o) dasjenige, das den maschinellen Mehrwert aus einer Axiomatik der wissenschaftlichen und technischen Code-Flüsse extrahiert, an den „Spitzen“-Orten des Zentrums; 3o) dasjenige, das diese beiden Formen des Fluss-Mehrwerts absorbiert oder realisiert, indem es die Emission beider garantiert und fortwährend Antiproduktion in den Apparat des Produzierens injiziert. Man schizophrenisiert in der Peripherie, aber nicht weniger im Zentrum und in der Mitte.
Die Definition des Mehrwerts muss im Hinblick auf den maschinellen Mehrwert des konstanten Kapitals umgearbeitet werden, der sich vom menschlichen Mehrwert des variablen Kapitals unterscheidet, und im Hinblick auf den nicht messbaren Charakter dieses gesamten Fluss-Mehrwerts. Er kann nicht durch die Differenz zwischen dem Wert der Arbeitskraft und dem durch die Arbeitskraft geschaffenen Wert definiert werden, sondern durch die Inkommensurabilität zwischen zwei Flüssen, die einander dennoch immanent sind, durch die Disparität zwischen zwei Aspekten des Geldes, die sie ausdrücken, und durch das Fehlen einer äußeren Grenze ihres Verhältnisses, wobei der eine die wirkliche ökonomische Macht misst, der andere eine Kaufkraft misst, die als „Einkommen“ bestimmt ist. Der erste ist der ungeheure deterritorialisierte Fluss, der den vollen Körper des Kapitals konstituiert. Ein Ökonom wie Bernard Schmitt findet seltsam lyrische Worte, um diesen Fluss der unendlichen Schuld zu charakterisieren: instantaner schöpferischer Fluss, den die Banken spontan als eine Schuld an sich selbst schaffen, creatio ex nihilo, die, statt ein vorgängiges Geld als Zahlungsmittel zu übertragen, an einem Ende des vollen Körpers ein negatives Geld (als Passivposten der Banken eingeschriebene Schuld) aushöhlt und am anderen Ende ein positives Geld projiziert (Forderung der produktiven Ökonomie an die Banken), „Fluss mit mutierender Macht“, der nicht in das Einkommen eingeht und nicht für Käufe bestimmt ist, reine Disponibilität, Nichtbesitz und Nichtreichtum.91 Der andere Aspekt des Geldes stellt den Rückfluss dar, das heißt das Verhältnis, das es zu den Gütern annimmt, sobald es durch seine Verteilung an Arbeiter oder Produktionsfaktoren Kaufkraft erlangt, durch seine Aufteilung in Einkommen, und das es verliert, sobald diese in reale Güter konvertiert werden (dann beginnt alles von neuem mit einer neuen Produktion, die zunächst unter dem ersten Aspekt entstehen wird…). Die Inkommensurabilität der beiden Aspekte, des Flusses und des Rückflusses, zeigt jedoch, dass die Nominallöhne zwar das gesamte Nationaleinkommen umfassen, die Lohnempfänger aber eine große Menge von Einkommen entgehen lassen, die von den Unternehmen eingefangen werden und die durch Konjunktion wiederum einen Zufluss, diesmal einen fortgesetzten Fluss des Bruttogewinns bilden, der „in einem einzigen Zug“ eine ungeteilte Menge konstituiert, die auf dem vollen Körper fließt, unabhängig von der Vielfalt seiner Verwendungen (Zinsen, Dividenden, Leitungsgehälter, Kauf von Produktionsgütern usw.).92 Der inkompetente Beobachter hat den Eindruck, dass dieses ganze ökonomische Schema, diese ganze Geschichte zutiefst schizo ist. Man sieht sehr wohl das Ziel der Theorie, die sich doch gegen jeden moralischen Bezug verteidigt. Wer wird bestohlen? ist die unterstellte ernste Frage, die das Echo der ironischen Frage Clavels „Wer ist entfremdet?“ bildet. Bestohlen aber wird niemand und kann niemand werden (so wie Clavel sagte, man wisse gar nicht mehr, wer entfremdet sei und wer entfremde). Wer stiehlt? Sicherlich nicht der finanzielle Kapitalist als Repräsentant des großen schöpferischen instantanen Flusses, der nicht einmal Besitz ist und keine Kaufkraft hat. Wer wird bestohlen? Sicherlich nicht der Arbeiter, der nicht einmal gekauft wird, da es der Rückfluss oder die Verteilung in Löhnen ist, die die Kaufkraft schafft, statt sie vorauszusetzen. Wer könnte stehlen? Sicherlich nicht der industrielle Kapitalist als Repräsentant des Zuflusses des Profits, denn „die Profite fließen nicht im Rückfluss, sondern neben ihm, als Abweichung und nicht als Sanktion des schöpferischen Flusses der Einkommen“. Welche Geschmeidigkeit in der Axiomatik des Kapitalismus, immer bereit, seine eigenen Grenzen zu erweitern, um einem zuvor gesättigten System ein neues Axiom hinzuzufügen. Ihr wollt ein Axiom für die Lohnempfänger, die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften: aber selbstverständlich, und fortan wird der Profit neben dem Lohn fließen, beide nebeneinander, Rückfluss und Zufluss. Man wird sogar ein Axiom für die Sprache der Delfine finden. Marx spielte oft auf das goldene Zeitalter des Kapitalisten an, als dieser seinen eigenen Zynismus nicht verbarg: zumindest am Anfang konnte er nicht ignorieren, was er tat, den Mehrwert zu erpressen. Doch wie sehr ist dieser Zynismus gewachsen, wenn er schließlich erklärt: nein, niemand wird bestohlen. Denn dann beruht alles auf der Disparität zwischen zwei Arten von Flüssen, wie in einem unergründlichen Abgrund, in dem Profit und Mehrwert entstehen: dem Fluss der ökonomischen Macht des Handelskapitals und dem Fluss, der spöttisch „Kaufkraft“ genannt wird, einem wirklich entmächtigten Fluss, der die absolute Ohnmacht des Lohnempfängers darstellt wie die relative Abhängigkeit des industriellen Kapitalisten. Das sind das Geld und der Markt, die wirkliche Polizei des Kapitalismus.
In gewisser Weise haben die kapitalistischen Ökonomen nicht Unrecht, die Ökonomie als fortwährend „zu monetarisieren“ darzustellen, als müsse man ihr von außen immer wieder Geld nach Maßgabe von Angebot und Nachfrage einflößen. Denn so hält und läuft tatsächlich das ganze System, und es erfüllt unablässig seine eigene Immanenz. So ist es tatsächlich das globale Objekt einer Investition des Begehrens. Begehren des Lohnempfängers, Begehren des Kapitalisten, alles schlägt in einem einzigen Begehren, gegründet auf dem Differentialverhältnis der Flüsse ohne zuweisbare äußere Grenze, in dem der Kapitalismus seine immanenten Grenzen in stets erweitertem, stets umfassenderem Maßstab reproduziert. Also kann man auf der Ebene einer verallgemeinerten Theorie der Flüsse auf die Frage antworten: wie kommt man dazu, die Macht zu begehren, aber auch seine eigene Ohnmacht? Wie konnte ein solches soziales Feld vom Begehren investiert werden? Und wie sehr überschreitet das Begehren das sogenannte objektive Interesse, wenn es sich um Flüsse handelt, die man fließen und schneiden lassen muss. Gewiss erinnern Marxisten daran, dass die Ausbildung des Geldes als spezifisches Verhältnis im Kapitalismus vom Produktionsmodus abhängt, der die Ökonomie zu einer Geldökonomie macht. Es bleibt jedoch, dass die objektive scheinbare Bewegung des Kapitals, die keineswegs eine Verkennung oder eine Illusion des Bewusstseins ist, zeigt, dass die produktive Essenz des Kapitalismus selbst nur unter dieser notwendig waren- oder geldförmigen Gestalt funktionieren kann, die sie kommandiert, und deren Flüsse und Flussverhältnisse das Geheimnis der Investition des Begehrens enthalten. Auf der Ebene der Flüsse, und der Geldflüsse, nicht auf der Ebene der Ideologie, vollzieht sich die Integration des Begehrens. Also, welche Lösung, welcher revolutionäre Weg? Die Psychoanalyse ist von geringem Nutzen, in ihren intimsten Beziehungen zum Geld, sie, die, indem sie sich hütet, es anzuerkennen, ein ganzes System ökonomisch-monetärer Abhängigkeiten im Herzen des Begehrens jedes Subjekts registriert, das sie behandelt, und die ihrerseits ein gigantisches Unternehmen der Absorption von Mehrwert darstellt. Aber welcher revolutionäre Weg, gibt es einen? – Sich vom Weltmarkt zurückziehen, wie Samir Amin es den Ländern der Dritten Welt rät, in einer merkwürdigen Erneuerung der faschistischen „ökonomischen Lösung“? Oder im Gegenteil in die Gegenrichtung gehen? Das heißt noch weiter gehen in der Bewegung des Marktes, der Dekodierung und der Deterritorialisierung? Denn vielleicht sind die Flüsse, vom Standpunkt einer Theorie und Praxis der Flüsse mit hohem schizophrenem Gehalt, noch nicht genug deterritorialisiert, noch nicht genug dekodiert. Nicht sich aus dem Prozess zurückziehen, sondern weiter gehen, „den Prozess beschleunigen“, wie Nietzsche sagte: in Wahrheit haben wir in dieser Materie noch nichts gesehen.
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Die Schrift war niemals die Sache des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist zutiefst analphabetisch. Der Tod der Schrift ist wie der Tod Gottes oder des Vaters, das ist längst geschehen, auch wenn das Ereignis lange braucht, um zu uns zu gelangen, und in uns die Erinnerung an verschwundene Zeichen überlebt, mit denen wir immer noch schreiben. Der Grund ist einfach: Die Schrift impliziert einen Gebrauch der Sprache im Allgemeinen, nach dem sich das Graphische auf die Stimme ausrichtet, sie aber auch überkodiert und eine fiktive Stimme aus den Höhen induziert, die als Signifikant funktioniert. Die Willkür des Bezeichneten, die Subordination des Signifikats, die Transzendenz des despotischen Signifikanten und schließlich seine anschließende Zerlegung in minimale Elemente innerhalb eines Immanenzfeldes, das durch den Rückzug des Despoten freigelegt wird, all dies markiert die Zugehörigkeit der Schrift zur despotischen imperialen Repräsentation. Wenn man also das Zerbrechen der „Gutenberg-Galaxis“ ankündigt, was will man dann genau sagen? Gewiss hat der Kapitalismus die Schrift stark benutzt und benutzt sie; nicht nur passt die Schrift zur Münze als allgemeinem Äquivalent, sondern die spezifischen Funktionen des Geldes im Kapitalismus gingen durch Schrift und Druck und gehen zum Teil weiterhin durch sie. Dennoch spielt die Schrift im Kapitalismus typisch die Rolle eines Archaismus, wobei der Gutenberg-Druck dann das Element ist, das dem Archaismus eine aktuelle Funktion gibt. Aber der kapitalistische Gebrauch der Sprache ist dem Recht nach anderer Natur und realisiert sich oder wird konkret im dem Kapitalismus eigenen Immanenzfeld selbst, wenn die technischen Ausdrucksmittel erscheinen, die der generalisierten Dekodierung der Flüsse entsprechen, statt unter direkter oder indirekter Form noch auf die despotische Überkodierung zu verweisen. So scheint uns der Sinn von McLuhans Analysen zu sein: gezeigt zu haben, was eine Sprache der dekodierten Flüsse ist, im Gegensatz zu einem Signifikanten, der die Flüsse drosselt und überkodiert. Zunächst ist alles gut für die nicht-signifikante Sprache: kein phonetischer, graphischer, gestischer usw. Fluss wird in dieser Sprache privilegiert, die gegenüber ihrer Substanz oder ihrem Träger als amorphem Kontinuum indifferent bleibt; der elektrische Fluss kann als Realisierung eines solchen beliebigen Flusses als solchen betrachtet werden. Aber eine Substanz heißt geformt, wenn ein Fluss in Beziehung zu einem anderen Fluss tritt, wobei der erste dann einen Inhalt und der zweite eine Expression definiert.93 Die deterritorialisierten Inhalts- und Expressionsflüsse stehen in einem Zustand der Konjunktion oder wechselseitigen Voraussetzung, der Figuren als letzte Einheiten des einen und des anderen konstituiert. Diese Figuren sind keineswegs Signifikant, nicht einmal Zeichen als minimale Elemente des Signifikanten; es sind Nicht-Zeichen, oder vielmehr nicht-signifikante Zeichen, Punkt-Zeichen mit mehreren Dimensionen, Fluss-Schnitte, Schizen, die durch ihre Vereinigung in einem Ensemble Bilder bilden, aber von einem Ensemble zum anderen keinerlei Identität bewahren. Die Figuren, das heißt die Schizen oder Schnitte-Flüsse, sind also keineswegs „figurativ“; sie werden es nur in einer besonderen Konstellation, die sich zugunsten einer anderen auflöst. Drei Millionen Punkte pro Sekunde, die durch das Fernsehen übertragen werden, von denen nur einige wenige behalten werden. Die elektrische Sprache geht weder über Stimme noch Schrift; die Informatik kommt ohne sie aus, oder jene treffend benannte Disziplin, die Fluidik, die mit Gasstößen operiert; der Computer ist eine Maschine der instantanen und generalisierten Dekodierung. Michel Serres bestimmt in diesem Sinne die Korrelation von Schnitt und Fluss in den Zeichen der neuen technischen Sprachmaschinen, dort, wo die Produktion eng durch die Information bestimmt ist: „Nehmen wir ein Autobahnkreuz… Es ist ein Quasi-Punkt, der durch multiple Überdeckungen entlang einer Dimension, die zum Raum des Netzes normal steht, die Flusslinien analysiert, deren Empfänger er ist. Auf ihm kann man von jeder ankommenden Richtung zu jeder abgehenden Richtung gehen, und in jeder Richtung, ohne je auf eine der anderen Richtungen zu treffen… Ich werde niemals, wenn ich will, zum selben Punkt zurückkehren, obwohl es derselbe ist… Topologischer Knoten, wo alles ohne Verwechslung verbunden ist, wo alles zusammenfließt und sich verteilt… Denn ein Knoten ist, wenn man will, ein Punkt, aber mit mehreren Dimensionen“, der die Flüsse enthält und passieren lässt, weit davon entfernt, sie zu annullieren.94 Diese Rasterung der Produktion durch die Information zeigt einmal mehr, dass die produktive Essenz des Kapitalismus nur in der Sprache der Zeichen funktioniert oder „spricht“, die ihm das Handelskapital oder die Axiomatik des Marktes auferlegen.
Es gibt große Unterschiede zwischen einer solchen Linguistik der Flüsse und der Linguistik des Signifikanten. Die saussurische Linguistik etwa entdeckt zwar ein Immanenzfeld, das durch den „Wert“ konstituiert ist, das heißt durch das System der Verhältnisse zwischen letzten Elementen des Signifikanten; aber abgesehen davon, dass dieses Immanenzfeld noch die Transzendenz des Signifikanten voraussetzt, die es schon durch dessen Rückzug entdeckt, haben die Elemente, die dieses Feld bevölkern, als Kriterium eine minimale Identität, die sie ihren Oppositionsverhältnissen verdanken und die sie durch alle Variationen hindurch bewahren, die sie betreffen. Die Elemente des Signifikanten als distinktive Einheiten werden durch „kodierte Abstände“ geregelt, die der Signifikant seinerseits überkodiert. Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen, stets jedoch konvergierende: der Vergleich der Sprache mit einem Spiel; das Verhältnis Signifikat–Signifikant, in dem das Signifikat seiner Natur nach dem Signifikanten untergeordnet ist; die Figuren, definiert als Effekte des Signifikanten selbst; die formalen Elemente des Signifikanten, bestimmt in Bezug auf eine phonetische Substanz, der selbst die Schrift ein geheimes Privileg verleiht. Wir glauben, dass sich Hjelmslevs Linguistik von all diesen Standpunkten aus und trotz gewisser Anscheinungen tiefgehend gegen das saussurische und post-saussurische Unternehmen wendet. Weil sie jede privilegierte Referenz aufgibt. Weil sie ein reines Feld algebraischer Immanenz beschreibt, das sich von keiner transzendenten Instanz mehr überfliegen lässt, selbst nicht in Rückzug. Weil sie in dieses Feld ihre Form- und Substanzflüsse, ihre Inhalts- und Expressionsflüsse einströmen lässt. Weil sie an die Stelle des Subordinationsverhältnisses Signifikant–Signifikat das Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung Expression–Inhalt setzt. Weil die doppelte Artikulation sich nicht mehr zwischen zwei hierarchisierten Ebenen der Sprache vollzieht, sondern zwischen zwei deterritorialisierten, konvertierbaren Ebenen, die durch die Relation zwischen der Form des Inhalts und der Form der Expression konstituiert werden. Weil man in dieser Relation zu Figuren gelangt, die keine Signifikanteneffekte mehr sind, sondern Schizen, Punkt-Zeichen oder Fluss-Schnitte, die die Mauer des Signifikanten durchbrechen, hindurchgehen und darüber hinausgehen. Weil diese Zeichen eine neue Schwelle der Deterritorialisierung überschritten haben. Weil diese Figuren endgültig die Bedingungen minimaler Identität verloren haben, die die Elemente des Signifikanten selbst definierten. Weil die Ordnung der Elemente dort sekundär ist gegenüber der Axiomatik der Flüsse und Figuren. Weil das Modell des Geldes im Punkt-Zeichen oder in der Figuren-Schnitt ohne Identität, die nur noch eine schwebende Identität besitzt, dazu tendiert, das Modell des Spiels zu ersetzen. Kurz: die sehr besondere Stellung Hjelmslevs in der Linguistik und die Reaktionen, die er hervorruft, scheinen uns dadurch erklärbar, dass er dazu tendiert, eine rein immanente Theorie der Sprache zu machen, die das doppelte Spiel der Dominanz Stimme–Graphismus bricht, die Form und Substanz, Inhalt und Expression als Begehrenflüsse fließen lässt und diese Flüsse nach Punkt-Zeichen oder Figuren-Schizen schneidet.95 Weit davon entfernt, eine Überdeterminierung des Strukturalismus und seiner Bindung an den Signifikanten zu sein, zeigt Hjelmslevs Linguistik dessen konzertierte Zerstörung an und konstituiert eine dekodierte Theorie der Sprachen, von der man ebenso gut sagen kann, als ambiges Lob, dass sie die einzige ist, die zugleich der Natur der kapitalistischen und schizophrenen Flüsse angepasst ist: bis jetzt die einzige moderne (und nicht archaische) Theorie der Sprache.
Die außerordentliche Bedeutung des jüngsten Buches von J.-F. Lyotard besteht darin, die erste verallgemeinerte Kritik des Signifikanten zu sein. In seiner allgemeinsten These zeigt er nämlich, dass der Signifikant sowohl nach außen hin von den figurativen Bildern überschritten wird als auch nach innen hin von den reinen Figuren, die sie zusammensetzen, oder besser „das Figürliche“, das die kodierten Abstände des Signifikanten durcheinanderbringt, sich zwischen sie einschiebt, unter den Bedingungen der Identität ihrer Elemente arbeitet. In der Sprache und in der Schrift selbst konstituieren bald die Buchstaben als Schnitte, zerplatzte partielle Objekte, bald die Wörter als unteilbare Flüsse, unzerlegbare Blöcke oder volle Körper tonischen Wertes asignifikante Zeichen, die sich der Ordnung des Begehrens überlassen, Atemzüge und Schreie. (Insbesondere ändern formale Untersuchungen der handschriftlichen oder gedruckten Schrift ihren Sinn je nachdem, ob die Charaktere der Buchstaben und die Qualitäten der Wörter im Dienst eines Signifikanten stehen, dessen Effekte sie nach exegetischen Regeln ausdrücken, oder ob sie im Gegenteil diese Mauer überschreiten, um Flüsse fließen zu lassen, Schnitte einzusetzen, die die Bedingungen der Identität des Zeichens überschreiten oder brechen, die so viele Bücher im „Buch“ fließen und bersten lassen, in multiple Konfigurationen eintreten, von denen schon Mallarmés typographische Übungen zeugen – immer unter dem Signifikanten hindurchgehen, die Mauer feilen: was wiederum zeigt, dass der Tod der Schrift unendlich ist, solange er aufsteigt und von innen her kommt.) Ebenso in den bildenden Künsten: das reine Figürliche, gebildet durch die aktive Linie und den multidimensionalen Punkt, und auf der anderen Seite die multiplen Konfigurationen, gebildet durch die passive Linie und die Fläche, die sie erzeugt, um, wie bei Paul Klee, jene „Zwischenwelten“ zu öffnen, „die vielleicht nur für Kinder, Verrückte, Primitive sichtbar sind“. Oder im Traum: Lyotard zeigt in sehr schönen Seiten, dass es nicht der Signifikant ist, der arbeitet, sondern ein Figürliches darunter, das Bildkonfigurationen hervorbringt, die sich der Wörter bedienen, sie fließen lassen und sie schneiden nach Flüssen und Punkten, die nicht linguistisch sind und weder vom Signifikanten noch von seinen geregelten Elementen abhängen. Überall also kehrt Lyotard die Ordnung von Signifikant und Figur um. Nicht die Figuren hängen vom Signifikanten und seinen Effekten ab, vielmehr hängt die signifikante Kette von den figurativen Effekten ab, selbst aus asignifikanten Zeichen gemacht, die Signifikanten wie Signifikate zerdrücken, Wörter als Dinge behandeln, neue Einheiten fabrizieren, mit nicht-figurativen Figuren Bildkonfigurationen herstellen, die sich machen und wieder auflösen. Und diese Konstellationen sind wie Flüsse, die auf den Schnitt der Punkte verweisen, wie diese auf die Fluxion dessen verweisen, was sie fließen oder sickern lassen: die einzige Einheit ohne Identität ist die des Fluss-Schize oder des Schnitt-Flusses. Das Element des reinen Figürlichen, die „Figur-Matrix“, nennt Lyotard zu Recht Begehren, das uns an die Tore der Schizophrenie als Prozess führt.96 Aber woher kommt dennoch der Eindruck des Lesers, dass Lyotard nicht aufhört, den Prozess anzuhalten und die Schizen auf die Ufer zurückzuklappen, die er eben verlassen hat, kodierte oder überkodierte Territorien, Räume und Strukturen, wo sie nur noch „Übertretungen“, Störungen und dennoch sekundäre Deformationen bringen, statt die begehrenden Maschinen zu bilden und weiter mitzunehmen, die sich den Strukturen entgegensetzen, die Intensitäten, die sich den Räumen entgegensetzen? Es ist, weil Lyotard trotz seines Versuchs, das Begehren an ein fundamentales Ja zu binden, den Mangel und die Abwesenheit wieder in das Begehren einführt, es unter dem Gesetz der Kastration hält und damit das Risiko eingeht, mit ihm den ganzen Signifikanten zurückzubringen, und die Matrix der Figur im Phantasma entdeckt, dem bloßen Phantasma, das die begehrende Produktion verdeckt, das ganze Begehren als effektive Produktion. Aber wenigstens für einen Augenblick ist die Hypothek des Signifikanten aufgehoben worden: dieser enorme despotische Archaismus, der so viele von uns stöhnen und sich beugen lässt, und dessen andere sich bedienen, um einen neuen Terrorismus einzurichten, indem sie Lacans imperialen Diskurs in einen Universitätsdiskurs reiner Wissenschaftlichkeit abzweigen, diese „Wissenschaftlichkeit“, gerade gut genug, unsere Neurosen wieder zu speisen, den Prozess noch einmal zu drosseln, Ödipus durch Kastration zu überkodieren, indem sie uns an die aktuellen strukturellen Funktionen eines verschwundenen archaischen Despoten ketten. Denn gewiss gehen weder Kapitalismus noch Revolution noch Schizophrenie über die Wege des Signifikanten, selbst und vor allem nicht in ihren extremen Gewalttätigkeiten.
Zivilisation definiert sich durch die Dekodierung und Deterritorialisierung der Flüsse in der kapitalistischen Produktion. Alle Verfahren sind gut, um diese universelle Dekodierung zu sichern: die Privatisierung, die die Güter und die Produktionsmittel betrifft, aber auch die Organe des „Privatmenschen“ selbst; die Abstraktion der Geldquantitäten, aber auch der Arbeitsquantität; die Unbegrenztheit des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeitskraft, ebenso zwischen Finanzierungsflüssen und Einkommens- oder Zahlungsmittelflüssen; die wissenschaftliche und technische Form, die die Code-Flüsse selbst annehmen; die Bildung schwebender Konfigurationen aus Linien und Punkten ohne unterscheidbare Identität. Die jüngere Geldgeschichte, die Rolle des Dollars, kurzfristig wandernde Kapitale, das Floaten der Währungen, die neuen Finanzierungs- und Kreditmittel, die Sonderziehungsrechte, die neue Form der Krisen und Spekulationen markieren den Weg der dekodierten Flüsse. Unsere Gesellschaften zeigen einen lebhaften Geschmack für alle Codes, fremde oder exotische Codes, aber es ist ein zerstörerischer und todeshafter Geschmack. Wenn dekodieren zweifellos heißen kann, einen Code zu verstehen und zu übersetzen, so heißt es noch mehr, ihn als Code zu zerstören, ihm eine archaische, folkloristische oder residuale Funktion zuzuweisen, was die Psychoanalyse und die Ethnologie zu zwei in unseren modernen Gesellschaften geschätzten Disziplinen macht. Und doch wäre es ein großer Fehler, die kapitalistischen Flüsse und die schizophrenen Flüsse unter dem allgemeinen Thema einer Dekodierung der Begehrenflüsse zu identifizieren. Gewiss ist ihre Affinität groß: überall lässt der Kapitalismus Schizo-Flüsse passieren, die „unsere“ Künste und „unsere“ Wissenschaften beleben, ebenso wie sie in der Produktion „unserer“ Kranken, der Schizophrenen, erstarren. Wir haben gesehen, dass das Verhältnis der Schizophrenie zum Kapitalismus die Probleme von Lebensweise, Umwelt, Ideologie usw. weit übersteigt und auf der tiefsten Ebene ein- und derselben Ökonomie, ein- und desselben Produktionsprozesses zu stellen ist. Unsere Gesellschaft produziert Schizos wie Dop-Shampoo oder Renault-Autos, mit dem einzigen Unterschied, dass sie nicht verkäuflich sind. Aber gerade: wie erklären, dass die kapitalistische Produktion nicht aufhört, den schizophrenen Prozess anzuhalten, sein Subjekt in eine eingeschlossene klinische Entität zu verwandeln, als sähe sie in diesem Prozess das Bild ihres eigenen, von innen kommenden Todes? Warum macht sie aus dem Schizophrenen einen Kranken, nicht nur im Wort, sondern in der Realität? Warum sperrt sie ihre Verrückten ein, statt darin ihre eigenen Helden zu sehen, ihre eigene Vollendung? Und wo sie die Figur einer bloßen Krankheit nicht mehr erkennen kann, warum überwacht sie mit so großer Sorgfalt ihre Künstler und sogar ihre Wissenschaftler, als liefen sie Gefahr, für sie gefährliche Flüsse fließen zu lassen, mit revolutionärem Potential geladen, solange sie nicht durch die Gesetze des Marktes wiederangeeignet oder absorbiert sind? Warum bildet sie ihrerseits eine gigantische Maschine der Repression-Verdrängung gegenüber dem, was doch ihre eigene Realität ausmacht, den dekodierten Flüssen? Denn wie wir gesehen haben, ist der Kapitalismus zwar die Grenze jeder Gesellschaft, insofern er die Flüsse dekodiert, die die anderen sozialen Formationen kodierten und überkodierten. Doch ist er deren Grenze oder relative Schnitte, weil er an die Stelle der Codes eine äußerst strenge Axiomatik setzt, die die Energie der Flüsse in einem gebundenen Zustand auf dem Körper des Kapitals als deterritorialisiertem Sozius hält, und zwar ebenso und sogar noch unbarmherziger als jeder andere Sozius. Die Schizophrenie dagegen ist die absolute Grenze, die die Flüsse in den freien Zustand auf einem entsozialisierten organlosen Körper übergehen lässt. Man kann also sagen, dass die Schizophrenie die äußere Grenze des Kapitalismus selbst oder der Term seiner tiefsten Tendenz ist, dass aber der Kapitalismus nur funktioniert, indem er diese Tendenz inhibiert oder diese Grenze zurückstößt und verschiebt, indem er an ihre Stelle seine eigenen immanenten relativen Grenzen setzt, die er unablässig in erweitertem Maßstab reproduziert. Was er mit der einen Hand dekodiert, axiomatziert er mit der anderen. So ist das marxistische Gesetz der entgegenwirkenden Tendenz neu zu interpretieren. So durchdringt die Schizophrenie das ganze kapitalistische Feld von einem Ende zum anderen. Aber es geht für ihn darum, ihre Ladungen und Energien in einer weltweiten Axiomatik zu binden, die der revolutionären Macht der dekodierten Flüsse immer neue innere Grenzen entgegensetzt. Und es ist in einem solchen Regime unmöglich, auch nur in zwei Zeiten, die Dekodierung und die Axiomatisierung zu unterscheiden, die die verschwundenen Codes ersetzt. In demselben Moment werden die Flüsse vom Kapitalismus dekodiert und axiomatziert. Die Schizophrenie ist also nicht die Identität des Kapitalismus, sondern im Gegenteil seine Differenz, sein Abstand und sein Tod. Die Geldflüsse sind vollkommen schizophrene Realitäten, die aber nur in der immanenten Axiomatik existieren und funktionieren, die diese Realität beschwört und zurückstößt. Die Sprache eines Bankiers, eines Generals, eines Industriellen, eines mittleren oder großen leitenden Angestellten, eines Ministers, ist eine vollkommen schizophrene Sprache, die aber nur statistisch in der abflachenden Bindungsaxiomatik funktioniert, die sie in den Dienst der kapitalistischen Ordnung stellt.97 (Auf der oberen Ebene der Linguistik als Wissenschaft kann Hjelmslev eine weite Dekodierung der Sprachen nur betreiben, indem er von Anfang an eine axiomatische Maschine in Gang setzt, gegründet auf die als endlich angenommene Zahl der betrachteten Figuren.) Was geschieht dann mit der „wirklich“ schizophrenen Sprache und den „wirklich“ dekodierten, entbundenen Flüssen, die es schaffen, die Mauer oder die absolute Grenze zu passieren? Die kapitalistische Axiomatik ist so reich, man fügt ein Axiom mehr hinzu, für die Bücher eines großen Schriftstellers, deren buchhalterische Merkmale von Wortschatz und Stil man stets durch elektronische Maschine studieren kann, oder für den Diskurs der Verrückten, den man stets im Rahmen einer hospitalen, administrativen und psychiatrischen Axiomatik anhören kann. Kurz: der Begriff des Fluss-Schize oder des Schnitt-Flusses schien uns ebenso den Kapitalismus wie die Schizophrenie zu definieren. Aber keineswegs auf dieselbe Weise, und es sind keineswegs dieselben Dinge, je nachdem, ob die Dekodierungen in einer Axiomatik wiederaufgenommen werden oder nicht, je nachdem, ob man bei den großen Ensembles bleibt, die statistisch funktionieren, oder ob man die Barriere überschreitet, die sie von den entbundenen molekularen Positionen trennt, je nachdem, ob die Begehrenflüsse diese absolute Grenze erreichen oder sich damit begnügen, eine immanente relative Grenze zu verschieben, die sich weiter vorn wieder konstituiert, je nachdem, ob die Prozesse der Deterritorialisierung von Reterritorialisierungen verdoppelt werden oder nicht, die sie kontrollieren, je nachdem, ob das Geld brennt oder lodert.
Warum nicht einfach sagen, der Kapitalismus ersetze einen Code durch einen anderen, er vollziehe einen neuen Typ von Kodierung? Aus zwei Gründen, von denen der eine eine Art moralischer Unmöglichkeit darstellt, der andere eine logische Unmöglichkeit. In den vorkapitalistischen Formationen begegnen sich alle Grausamkeiten und Schrecken, Fragmente der Signifikantenkette sind vom Geheimnis getroffen, Geheimgesellschaften oder Initiationsgruppen – aber es gibt niemals, im eigentlichen Sinn, etwas Unaussprechliches. Mit der Sache, dem Kapitalismus, beginnt das Unaussprechliche: Es gibt keine ökonomische oder finanzielle Operation, die, als Code übersetzt, nicht ihren unansprechbaren Charakter sprengen würde, das heißt ihre intrinsische Perversion oder ihren wesentlichen Zynismus (das Zeitalter des schlechten Gewissens ist auch das des reinen Zynismus). Aber gerade solche Operationen zu kodieren ist unmöglich: Ein Code bestimmt zunächst die jeweilige Qualität der Flüsse, die durch den Sozius gehen (zum Beispiel die drei Kreisläufe von Konsumgütern, Prestigegütern, Frauen und Kindern); der eigentliche Gegenstand des Codes ist also, notwendig indirekte Verhältnisse zwischen diesen qualifizierten und als solchen inkommensurablen Flüssen herzustellen. Solche Verhältnisse implizieren zwar quantitative Abschöpfungen an Flüssen verschiedener Art, doch gehen diese Quantitäten nicht in Äquivalenzen ein, die „etwas“ Unbegrenztes voraussetzen würden; sie bilden lediglich Komposita, die selbst qualitativ sind, wesentlich mobil und begrenzt, deren Unterschied der Elemente das Ungleichgewicht kompensiert (so das Verhältnis von Prestige und Konsum im endlichen Schuldenblock). Alle diese Merkmale des Code-Verhältnisses, indirekt, qualitativ und begrenzt, zeigen hinreichend, dass ein Code niemals ökonomisch ist und es auch nicht sein kann: Er bringt vielmehr die objektive scheinbare Bewegung zum Ausdruck, nach der ökonomische Kräfte oder produktive Verknüpfungen einer außerökonomischen Instanz zugeschrieben werden, als gingen sie aus ihr hervor, einer Instanz, die als Träger und Agent der Einschreibung dient. Das zeigen Althusser und Balibar so gut: wie rechtliche und politische Verhältnisse dazu bestimmt sind, dominant zu sein, im Fall der Feudalität etwa, weil die Mehrarbeit als Form des Mehrwerts einen qualitativ und zeitlich vom Arbeitsfluss unterschiedenen Fluss bildet und daher in ein Kompositum eingehen muss, das selbst qualitativ ist und nicht-ökonomische Faktoren impliziert.98 Oder wie die autochthonen Verhältnisse von Allianz und Filiationslinie dazu bestimmt sind, dominant zu sein in den sogenannten primitiven Gesellschaften, wo die ökonomischen Kräfte und Flüsse auf dem vollen Körper der Erde eingeschrieben werden und ihm zugeschrieben werden. Kurz, es gibt nur dort einen Code, wo ein voller Körper als Instanz der Anti-Produktion sich auf die Ökonomie zurückklappt, die sie sich aneignet. Deshalb verdoppelt sich das Zeichen des Begehrens, insofern es ein ökonomisches Zeichen ist, das darin besteht, die Flüsse fließen und schneiden zu lassen, in ein notwendig außerökonomisches Machtzeichen, auch wenn es in der Ökonomie seine Ursachen und seine Effekte hat (zum Beispiel das Allianzzeichen in Bezug auf die Macht des Gläubigers). Oder, was auf dasselbe hinausläuft, der Mehrwert wird hier als Code-Mehrwert bestimmt. Das Code-Verhältnis ist also nicht nur indirekt, qualitativ, begrenzt, es ist dadurch auch außerökonomisch und vollzieht als solches die Kopplungen zwischen qualifizierten Flüssen. Es impliziert folglich ein System kollektiver Einschätzung oder Bewertung, ein Ensemble von Wahrnehmungsorganen, oder besser von Glauben als Existenz- und Überlebensbedingung der betrachteten Gesellschaft: so die kollektive Investition der Organe, die bewirkt, dass die Menschen direkt kodiert sind, und das wertende Auge, wie wir es im primitiven System analysiert haben. Man wird bemerken, dass diese allgemeinen Züge, die einen Code charakterisieren, sich genau in dem wiederfinden, was man heute genetischen Code nennt; nicht weil er von einem Signifikanteneffekt abhinge, sondern im Gegenteil, weil die Kette, die er bildet, selbst nur sekundär signifikant ist, insofern sie Kopplungen zwischen qualifizierten Flüssen, ausschließlich indirekte Interaktionen, wesentlich begrenzte qualitative Komposita, Wahrnehmungsorgane und außerkhemische Faktoren ins Spiel bringt, die zelluläre Verknüpfungen selektieren und sich aneignen.
So viele Gründe, den Kapitalismus durch eine soziale Axiomatik zu bestimmen, die sich in jeder Hinsicht den Codes entgegenstellt. Zunächst stellt das Geld als allgemeines Äquivalent eine abstrakte Quantität dar, gleichgültig gegenüber der qualifizierten Natur der Flüsse. Doch die Äquivalenz verweist selbst auf die Setzung eines Unbegrenzten: In der Formel G-W-G „hat die Zirkulation des Geldes als Kapital ihren Zweck in sich selbst, denn nur durch diese stets erneuerte Bewegung setzt sich der Wert fort, sich zu verwerten; die Bewegung des Kapitals hat also keine Grenzen“.99 Die Studien von Bohannan über die Tiv in Niger oder von Salisbury über die Siane in Neuguinea haben gezeigt, wie sehr die Einführung des Geldes als Äquivalent, die es ermöglicht, mit Geld zu beginnen und mit Geld zu enden, also niemals zu enden, genügt, um die Kreisläufe qualifizierter Flüsse zu stören, die endlichen Schuldenblöcke zu zersetzen und die Grundlage der Codes selbst zu zerstören. Zweitens bleibt, dass das Geld als unbegrenzte abstrakte Quantität von einem Werden-zum-Konkreten nicht zu trennen ist, ohne das es nicht Kapital würde und sich die Produktion nicht aneignete. Wir haben gesehen, dass dieses Werden-zum-Konkreten im Differentialverhältnis erscheint; aber gerade das Differentialverhältnis ist kein indirektes Verhältnis zwischen qualifizierten oder kodierten Flüssen, es ist ein direktes Verhältnis zwischen dekodierten Flüssen, deren jeweilige Qualität ihm nicht vorausgeht. Die Qualität der Flüsse resultiert allein aus ihrer Konjunktion als dekodierte Flüsse; außerhalb dieser Konjunktion blieben sie rein virtuell; diese Konjunktion ist ebenso die Disjunktion der abstrakten Quantität, durch die sie etwas Konkretes wird. Dx und dy sind nichts unabhängig von ihrem Verhältnis, das das eine als reine Qualität des Arbeitsflusses, das andere als reine Qualität des Kapitalflusses bestimmt. Es ist also das umgekehrte Verfahren eines Codes, und es bringt die kapitalistische Transformation des Code-Mehrwerts in Fluss-Mehrwert zum Ausdruck. Daher der grundlegende Wandel im Regime der Macht. Denn wenn einer der Flüsse dem anderen untergeordnet und dienstbar gemacht wird, dann gerade weil sie nicht in derselben Potenz stehen (x und y2 zum Beispiel) und weil sich das Verhältnis zwischen einer Potenz und einer gegebenen Größe herstellt. Das erschien uns, als wir die Analyse von Kapital und Arbeit auf der Ebene des Differentialverhältnisses zwischen Finanzierungsflüssen und Flüssen der Zahlungsmittel oder der Einkommen weiterführten; eine solche Erweiterung bedeutete nur, dass es keine industrielle Essenz des Kapitals gibt, die nicht als Handels-, Finanz- und Kommerzkapital funktioniert, und in der das Geld nicht andere Funktionen annähme als seine Form als Äquivalent. So aber hören die Machtzeichen vollständig auf, das zu sein, was sie vom Standpunkt eines Codes waren: Sie werden zu unmittelbar ökonomischen Koeffizienten, statt die ökonomischen Zeichen des Begehrens zu verdoppeln und ihrerseits nicht-ökonomische Faktoren auszudrücken, die dazu bestimmt sind, dominant zu sein. Dass der Finanzierungsfluss in einer ganz anderen Potenz steht als der Fluss der Zahlungsmittel, bedeutet, dass die Macht unmittelbar ökonomisch geworden ist. Und auf der anderen Seite, auf der Seite der bezahlten Arbeit, ist offensichtlich, dass es keines Codes mehr bedarf, um die Mehrarbeit zu sichern, wenn diese qualitativ und zeitlich mit der Arbeit selbst in einer einzigen und derselben einfachen Größe zusammenfällt (Bedingung des Fluss-Mehrwerts).
Das Kapital als Sozius oder voller Körper unterscheidet sich also von jedem anderen, insofern es aus sich selbst als eine unmittelbar ökonomische Instanz gilt und sich auf die Produktion zurückklappt, ohne außerökonomische Faktoren eingreifen zu lassen, die in einem Code eingeschrieben würden. Mit dem Kapitalismus wird der volle Körper wirklich nackt, wie der Arbeiter selbst, der an diesem vollen Körper hängt. In diesem Sinne hört der Apparat der Anti-Produktion auf, transzendent zu sein, er durchdringt die ganze Produktion und wird ihr koextensiv. Drittens bewirken diese entwickelten Bedingungen der Zerstörung jedes Codes im Werden-zum-Konkreten, dass die Abwesenheit von Grenze einen neuen Sinn erhält. Sie bezeichnet nicht mehr einfach die unbegrenzte abstrakte Quantität, sondern das effektive Fehlen einer Grenze oder eines Endpunkts für das Differentialverhältnis, in dem das Abstrakte etwas Konkretes wird. Vom Kapitalismus sagen wir zugleich, dass er keine äußere Grenze hat, und dass er eine hat: Er hat eine, die die Schizophrenie ist, das heißt die absolute Dekodierung der Flüsse, aber er funktioniert nur, indem er diese Grenze zurückstößt und bannend abwehrt. Und ebenso hat er innere Grenzen, und er hat keine: Er hat sie in den spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Produktion und Zirkulation, das heißt im Kapital selbst, aber er funktioniert nur, indem er diese Grenzen in stets größerem Maßstab reproduziert und erweitert. Und es ist gerade die Macht des Kapitalismus, dass seine Axiomatik niemals gesättigt ist, dass er immer fähig ist, den vorhergehenden Axiomen ein neues Axiom hinzuzufügen. Der Kapitalismus definiert ein Immanenzfeld und hört nicht auf, dieses Feld zu füllen. Aber dieses deterritorialisierte Feld wird durch eine Axiomatik bestimmt, im Gegensatz zum territorialen Feld, das durch die primitiven Codes bestimmt ist. Die Differentialverhältnisse, insofern sie durch den Mehrwert gefüllt sind, die Abwesenheit äußerer Grenzen, insofern sie durch die Erweiterung innerer Grenzen „gefüllt“ ist, die Ausgießung der Anti-Produktion in die Produktion, insofern sie durch die Absorption des Mehrwerts gefüllt ist, konstituieren die drei Aspekte der immanenten Axiomatik des Kapitalismus. Und überall kommt die Monetarisierung, um den Abgrund der kapitalistischen Immanenz zu füllen und in ihn, wie Schmitt sagt, „eine Deformation, eine Konvulsion, eine Explosion, kurz eine Bewegung extremer Gewalt“ einzuführen. Daraus folgt schließlich ein vierter Charakter, der die Axiomatik den Codes entgegensetzt. Die Axiomatik hat nämlich keinerlei Bedarf, in vollem Fleisch zu schreiben, die Körper und Organe zu markieren oder den Menschen ein Gedächtnis zu machen. Anders als die Codes findet die Axiomatik in ihren verschiedenen Aspekten ihre eigenen Organe der Ausführung, der Wahrnehmung, der Speicherung. Das Gedächtnis ist zu einer schlechten Sache geworden. Vor allem braucht es keinen Glauben mehr, und nur mit spitzen Lippen beklagt sich der Kapitalist darüber, dass man heute an nichts mehr glaube. „Denn so sprecht ihr: wir sind ganz, wirklich, ohne Glauben und ohne Aberglauben; so plustert ihr euch auf, ohne auch nur eine Kehle zu haben!“ Die Sprache bedeutet nicht mehr etwas, das geglaubt werden soll, sondern zeigt an, was getan werden wird, und was die Schlauen oder die Kompetenten zu dekodieren wissen, am halben Wort. Mehr noch: Trotz der Fülle von Ausweiskarten, Akten und Kontrollmitteln braucht der Kapitalismus nicht einmal, in Büchern zu schreiben, um die verschwundenen Körpermarken zu ersetzen. Das sind nur Überreste, Archaismen mit aktueller Funktion. Die Person ist wirklich „privat“ geworden, insofern sie von abstrakten Quantitäten ableitet und im Werden-zum-Konkreten eben dieser Quantitäten konkret wird. Diese werden markiert, nicht mehr die Personen selbst: dein Kapital oder deine Arbeitskraft, der Rest ist unwichtig, man wird dich immer in den erweiterten Grenzen des Systems wiederfinden, selbst wenn man ein Axiom nur für dich machen muss. Es gibt kein Bedürfnis mehr, die Organe kollektiv zu investieren, sie sind hinreichend gefüllt durch die schwebenden Bilder, die der Kapitalismus unablässig produziert. Nach einer Bemerkung von Henri Lefebvre vollziehen diese Bilder weniger eine Publikation des Privaten als eine Privatisierung des Öffentlichen: die ganze Welt rollt sich in der Familie ab, ohne dass man den Fernseher verlassen müsste. Das verleiht den Privatpersonen, wie wir sehen werden, eine sehr besondere Rolle im System: eine Rolle der Applikation, nicht mehr der Implikation in einem Code. Die Stunde des Ödipus nähert sich.
Wenn der Kapitalismus so durch eine Axiomatik verfährt und nicht durch Code, darf man nicht glauben, er ersetze den Sozius, die soziale Maschine, durch ein Ensemble technischer Maschinen. Der Unterschied der Natur zwischen beiden Maschinentypen bleibt bestehen, obwohl beide, ohne Metapher, Maschinen im eigentlichen Sinn sind. Die Originalität des Kapitalismus besteht eher darin, dass die soziale Maschine dort die technischen Maschinen als konstantes Kapital zu ihren Teilen hat, die sich an den vollen Körper des Sozius anhängen, und nicht mehr die Menschen, die den technischen Maschinen gegenüber benachbart geworden sind (daher die Einschreibung sich nicht mehr, oder jedenfalls prinzipiell nicht mehr direkt, auf die Menschen zu richten braucht). Aber eine Axiomatik ist keineswegs aus sich heraus eine bloße technische Maschine, selbst eine automatische oder kybernetische. Bourbaki sagt es gut von den wissenschaftlichen Axiomatiksystemen: Sie bilden kein Taylor-System und kein mechanisches Spiel isolierter Formeln, sondern implizieren „Intuitionen“, die an die Resonanzen und Konjunktionen der Strukturen gebunden sind und nur von „den mächtigen Hebeln“ der Technik unterstützt werden. Wie viel mehr gilt das noch für die soziale Axiomatik: die Art, wie sie ihre eigene Immanenz füllt, wie sie ihre Grenzen zurückstößt oder erweitert, wie sie noch Axiome hinzufügt, indem sie verhindert, dass das System gesättigt wird, wie sie nur gut funktioniert, indem sie knarrt, sich verstellt, sich wieder fängt, all das impliziert soziale Organe der Entscheidung, der Verwaltung, der Reaktion, der Einschreibung, eine Technokratie und eine Bürokratie, die sich nicht auf das Funktionieren technischer Maschinen reduzieren. Kurz: die Konjunktion der dekodierten Flüsse, ihre Differentialverhältnisse und ihre vielfachen Schizen oder Brüche verlangen eine ganze Regulation, deren Hauptorgan der Staat ist. Der kapitalistische Staat ist der Regulator der dekodierten Flüsse als solcher, insofern sie in der Axiomatik des Kapitals gefasst sind. In diesem Sinn vollendet er tatsächlich das Werden-zum-Konkreten, das uns der Evolution des abstrakten despotischen Urstaats vorzustehen schien: von transzendenter Einheit wird er dem Feld der sozialen Kräfte immanent, tritt in deren Dienst und dient als Regulator der dekodierten und axiomatisierten Flüsse. Er vollendet es so sehr, dass er in einem anderen Sinn allein einen wirklichen Bruch darstellt, einen Schnitt mit jenem Urstaat, im Unterschied zu den anderen Formen, die sich auf dessen Ruinen errichtet hatten. Denn der Urstaat definierte sich durch Überkodierung; und seine Derivate, von der antiken Stadt bis zum monarchischen Staat, standen bereits vor dekodierten oder im Begriff der Dekodierung befindlichen Flüssen, die den Staat zweifellos immer immanenter und dem wirklichen Kräftefeld untergeordneter machten; aber gerade weil die Umstände nicht gegeben waren, damit diese Flüsse in Konjunktion träten, konnte der Staat sich damit begnügen, Fragmente von Überkodierung und Codes zu retten, andere zu erfinden, ja mit all seiner Kraft verhindern, dass die Konjunktion sich ereignete (und im Übrigen den Urstaat so weit wie möglich wiederauferstehen lassen). Der kapitalistische Staat ist in einer anderen Lage: Er wird durch die Konjunktion der dekodierten oder deterritorialisierten Flüsse hervorgebracht, und wenn er das Werden-zum-Immanenten auf die Spitze treibt, dann insofern, als er den generalisierten Bankrott der Codes und Überkodierungen sanktioniert, insofern er sich ganz in dieser neuen Axiomatik der Konjunktion bewegt, einer bis dahin unbekannten Natur. Noch einmal: diese Axiomatik erfindet er nicht, da sie mit dem Kapital selbst zusammenfällt. Er entsteht vielmehr aus ihr, er ergibt sich aus ihr, er sichert nur ihre Regulation, er regelt oder organisiert sogar ihre Fehlgänge als Funktionsbedingungen, er überwacht oder leitet ihre Sättigungsfortschritte und die entsprechenden Grenzerweiterungen. Nie hat ein Staat so sehr die Macht verloren, um sich mit so viel Kraft in den Dienst des Zeichens ökonomischer Macht zu stellen. Und diese Rolle hat der kapitalistische Staat sehr früh gehabt, was immer man auch sagt, von Anfang an, schon in seiner Austragung unter noch halbfeudalen oder monarchischen Formen: vom Standpunkt des Flusses „freier“ Arbeiter, Kontrolle der Arbeitskraft und der Löhne; vom Standpunkt des Flusses industrieller und kaufmännischer Produktion, Gewährung von Monopolen, günstige Bedingungen der Akkumulation, Kampf gegen Überproduktion. Es hat nie einen liberalen Kapitalismus gegeben: die Aktion gegen Monopole verweist zunächst auf einen Moment, in dem Handels- und Finanzkapital noch Allianz mit dem alten Produktionssystem halten und in dem der entstehende industrielle Kapitalismus Produktion und Markt nur sichern kann, indem er die Aufhebung dieser Privilegien erwirkt. Dass es dabei keinen Kampf gegen das Prinzip staatlicher Kontrolle selbst gibt, sofern es der passende Staat ist, sieht man klar im Merkantilismus, insofern er die neuen kommerziellen Funktionen eines Kapitals ausdrückt, das sich direkte Interessen in der Produktion gesichert hat. Im Allgemeinen neigen staatliche Kontrollen und Regulierungen nur zu verschwinden oder zu verblassen bei Überfluss an Arbeitskraft und ungewöhnlicher Marktexpansion.100 Das heißt, wenn der Kapitalismus mit einer sehr kleinen Zahl von Axiomen in hinreichend weiten relativen Grenzen funktioniert. Diese Situation ist seit langem vorbei, und man muss als entscheidenden Faktor dieser Entwicklung die Organisation einer mächtigen Arbeiterklasse betrachten, die ein stabiles und hohes Beschäftigungsniveau verlangt und den Kapitalismus dazu zwingt, seine Axiome zu vermehren, während er seine Grenzen in stets erweitertem Maßstab reproduzieren musste (Axiom der Verschiebung vom Zentrum zur Peripherie). Der Kapitalismus konnte die russische Revolution nur verdauen, indem er unablässig neue Axiome zu den alten hinzufügte, Axiom für die Arbeiterklasse, für die Gewerkschaften usw. Aber Axiome hinzuzufügen ist er immer bereit, er fügt sie auch für anderes hinzu, und für viel geringfügigere, ganz lächerliche Dinge: das ist seine eigene Leidenschaft, die am Wesentlichen nichts ändert. Der Staat ist dann dazu bestimmt, eine immer wichtigere Rolle in der Regulation der axiomatisierten Flüsse zu spielen, sowohl gegenüber der Produktion und ihrer Planung als auch gegenüber der Ökonomie und ihrer „Monetarisierung“, dem Mehrwert und seiner Absorption (durch den Staatsapparat selbst).
Die regulativen Funktionen des Staates implizieren keinerlei Art von Schiedsgericht zwischen Klassen. Dass der Staat ganz im Dienst der sogenannten herrschenden Klasse steht, ist eine praktische Evidenz, die aber ihre theoretischen Gründe noch nicht liefert. Diese Gründe sind einfach: vom Standpunkt der kapitalistischen Axiomatik gibt es nur eine einzige Klasse, mit universalistischer Berufung, die Bourgeoisie. Plechanow bemerkt, dass die Entdeckung des Klassenkampfs und seiner Rolle in der Geschichte der französischen Schule des 19 Jahrhunderts unter dem Einfluss Saint-Simons zukomme; nun gerade die, die den Kampf der Bourgeoisieklasse gegen Adel und Feudalität besingen, halten vor dem Proletariat inne und leugnen, dass es einen Klassenunterschied geben könne zwischen Industriellem oder Bankier und Arbeiter, sondern nur Verschmelzung in einem einzigen Fluss wie zwischen Profit und Lohn.101 Das ist mehr als eine ideologische Blindheit oder Verleugnung. Klassen sind das Negativ der Kasten und Ränge; Klassen sind dekodierte Ordnungen, Kasten und Ränge. Die ganze Geschichte durch den Klassenkampf zu lesen heißt, sie in Funktion der Bourgeoisie als dekodierender und dekodierter Klasse zu lesen. Sie ist die einzige Klasse als solche, insofern sie den Kampf gegen die Codes führt und mit der generalisierten Dekodierung der Flüsse zusammenfällt. In diesem Sinne genügt sie, das kapitalistische Immanenzfeld zu füllen. Und tatsächlich geschieht mit der Bourgeoisie etwas Neues: das Verschwinden der Genießung als Zweck, die neue Konzeption der Konjunktion, nach der der einzige Zweck der abstrakte Reichtum ist und seine Realisierung in anderen Formen als der Konsumtion. Die generalisierte Sklaverei des despotischen Staates implizierte wenigstens Herren und einen von der Sphäre der Produktion unterschiedenen Anti-Produktionsapparat. Aber das bürgerliche Immanenzfeld, wie es durch die Konjunktion der dekodierten Flüsse, die Negation jeder Transzendenz oder äußeren Grenze, die Ausgießung der Anti-Produktion in die Produktion selbst definiert ist, setzt eine unvergleichliche Sklaverei ein, eine beispiellose Unterwerfung: Es gibt nicht einmal mehr Herren, nur noch Sklaven befehlen Sklaven, es braucht nicht mehr, das Tier von außen zu beladen, es belädt sich selbst. Nicht dass der Mensch je Sklave der technischen Maschine wäre; aber als Sklave der sozialen Maschine gibt der Bourgeois das Beispiel, er absorbiert den Mehrwert zu Zwecken, die im Ganzen nichts mit seiner Genießung zu tun haben: mehr Sklave als der letzte der Sklaven, erster Diener der hungrigen Maschine, Reproduktionsvieh des Kapitals, Verinnerlichung der unendlichen Schuld. Ich auch bin Sklave, das sind die neuen Worte des Herrn. „Der Kapitalist ist nur respektabel, soweit er das Kapital zum Menschen gemacht ist. In dieser Rolle ist er, wie der Schatzbildner, beherrscht von seiner blinden Leidenschaft für den abstrakten Reichtum, den Wert. Doch was bei dem einen als individuelle Manie erscheint, ist bei dem anderen die Wirkung des sozialen Mechanismus, dessen bloßes Rädchen er ist.“102 Man wird sagen, es gebe dennoch eine herrschende und eine beherrschte Klasse, definiert durch den Mehrwert, die Unterscheidung des Kapitalflusses und des Arbeitsflusses, des Finanzierungsflusses und des Lohn-Einkommensflusses. Aber das ist nur teilweise wahr, da der Kapitalismus aus der Konjunktion beider in Differentialverhältnissen entsteht und beide in die stets erweiterte Reproduktion seiner eigenen Grenzen integriert. So dass der Bourgeois mit Recht sagen kann, nicht in Ideologietermen, sondern in der Organisation seiner Axiomatik selbst: es gibt nur eine Maschine, die des großen mutierenden, dekodierten Flusses, von den Gütern abgeschnitten, und nur eine Klasse von Dienern, die dekodierende Bourgeoisie, die die Kasten und Ränge dekodiert und der Maschine einen ungeteilten Einkommensfluss entnimmt, der in Konsum- oder Produktionsgüter konvertierbar ist und in dem Löhne und Profite verschmelzen. Kurz: die theoretische Opposition ist nicht zwischen zwei Klassen, denn der Klassenbegriff selbst, insofern er das „Negativ“ der Codes bezeichnet, impliziert, dass es nur eine gibt. Die theoretische Opposition liegt anderswo: Sie liegt zwischen den dekodierten Flüssen, insofern sie in eine Klassenaxiomatik auf dem vollen Körper des Kapitals eingehen, und den dekodierten Flüssen, die sich von dieser Axiomatik nicht weniger befreien als vom despotischen Signifikanten, die diese Mauer und diese Mauer der Mauer überschreiten und auf dem vollen Körper ohne Organe zu fließen beginnen. Sie liegt zwischen der Klasse und den Außer-Klasse. Zwischen den Dienern der Maschine und denen, die sie sprengen oder die Zahnräder sprengen. Zwischen dem Regime der sozialen Maschine und dem der begehrenden Maschinen. Zwischen den relativen inneren Grenzen und der absoluten äußeren Grenze. Wenn man will: zwischen den Kapitalisten und den Schizos, in ihrer grundlegenden Intimität auf der Ebene der Dekodierung, in ihrer grundlegenden Feindschaft auf der Ebene der Axiomatik (daher die Ähnlichkeit, im Portrait, das die Sozialisten des 19 Jahrhunderts vom Proletariat zeichnen, zwischen diesem und einem vollkommenen Schizo).
Darum gehört das Problem einer proletarischen Klasse zunächst zur Praxis. Eine Bipolarisierung des sozialen Feldes zu organisieren, eine Bipolarität der Klassen, war die Aufgabe der revolutionären sozialistischen Bewegung. Gewiss kann man eine theoretische Bestimmung der proletarischen Klasse auf der Ebene der Produktion denken (die, denen der Mehrwert abgepresst wird) oder auf der Ebene des Geldes (Lohneinkommen). Aber nicht nur sind diese Bestimmungen bald zu eng und bald zu weit; das objektive Sein, das sie als Klasseninteresse definieren, bleibt rein virtuell, solange es sich nicht in einem Bewusstsein verkörpert, das es zwar nicht erzeugt, es aber als organisierte Partei aktualisiert, fähig, sich die Eroberung des Staatsapparats vorzunehmen. Wenn die Bewegung des Kapitalismus im Spiel seiner Differentialverhältnisse darin besteht, jeder zuweisbaren festen Grenze auszuweichen, seine inneren Grenzen zu überschreiten und zu verschieben und stets Schnitte von Schnitten zu vollziehen, so scheint die sozialistische Bewegung notwendig dahin gebracht, eine Grenze festzulegen oder zuzuweisen, die das Proletariat von der Bourgeoisie unterscheidet, der große Schnitt, der einen nicht nur ökonomischen und finanziellen, sondern politischen Kampf antreiben wird. Gerade aber, was eine solche Eroberung des Staatsapparats bedeutet, hat immer ein Problem dargestellt und stellt es noch. Ein vermeintlich sozialistischer Staat impliziert eine Transformation der Produktion, der Produktionseinheiten und der ökonomischen Kalkulation. Aber diese Transformation kann sich nur von einem bereits eroberten Staat aus vollziehen, der vor denselben axiomatischen Problemen der Extraktion eines Überschusses oder eines Mehrwerts, der Akkumulation, der Absorption, des Marktes und der monetären Kalkulation steht. Von da an: Entweder setzt sich das Proletariat gemäß seinem objektiven Interesse durch, aber diese Operationen vollziehen sich unter der Herrschaft seiner Bewusstseins- oder Parteivorhut, das heißt zugunsten einer Bürokratie und einer Technokratie, die für die Bourgeoisie als „große Abwesende“ gelten; oder die Bourgeoisie behält die Kontrolle über den Staat, sei es auch, dass sie ihre eigene Techno-Bürokratie absondert, und vor allem einige zusätzliche Axiome hinzufügt für die Anerkennung und Integration des Proletariats als zweite Klasse. Es ist richtig zu sagen, dass die Alternative nicht zwischen Markt und Planung liegt, so sehr sich die Planung notwendig in den kapitalistischen Staat einschreibt und so sehr der Markt im sozialistischen Staat fortbesteht, wenn auch nur als staatlich-monopolistischer Markt. Aber wie die wirkliche Alternative definieren, ohne alle Probleme als gelöst vorauszusetzen? Das ungeheure Werk Lenins und der russischen Revolution bestand darin, ein Klassenbewusstsein zu schmieden, das dem objektiven Sein oder Interesse entspricht, und folglich den kapitalistischen Ländern eine Anerkennung der Klassenbipolarität aufzuzwingen. Aber dieser große leninistische Schnitt verhinderte nicht die Wiederkehr eines Staatskapitalismus im Sozialismus selbst, so wenig wie er den klassischen Kapitalismus daran hinderte, ihn zu unterlaufen, indem er seine eigentliche Maulwurfsarbeit fortsetzte: immer Schnitte von Schnitten, die es ihm erlaubten, in seine Axiomatik Sektionen der anerkannten Klasse zu integrieren, während er die unkontrollierten revolutionären Elemente weiter hinauswarf, an die Peripherie oder in Enklaven (nicht stärker kontrolliert vom offiziellen Sozialismus als vom Kapitalismus). Da erschien die Wahl nur noch zwischen der neuen terroristischen und starren, rasch gesättigten Axiomatik des sozialistischen Staates und der alten zynischen, umso gefährlicher, je geschmeidiger und niemals gesättigt, Axiomatik des kapitalistischen Staates. In Wahrheit ist jedoch die direkteste Frage nicht, ob eine Industriegesellschaft ohne Überschuss, ohne Absorption des Überschusses, ohne planenden und kaufmännischen Staat und sogar ohne ein Äquivalent der Bourgeoisie auskommen könne: zugleich ist offensichtlich, dass nein, aber auch, dass die in diesen Termen gestellte Frage schlecht gestellt ist. Sie ist auch nicht die, ob das Klassenbewusstsein, verkörpert in einer Partei, in einem Staat, das objektive Klasseninteresse verrät oder nicht, dem man eine Art möglicher Spontaneität zuschriebe, die von den Instanzen erstickt wird, die vorgeben, es zu vertreten. Sartres Analyse in der Kritik der dialektischen Vernunft scheint uns tief richtig, nach der es keine Klassenspontaneität gibt, sondern nur eine des „Gruppen“-Seins: daher die Notwendigkeit, „Gruppen in Fusion“ zu unterscheiden und die Klasse, die „seriell“ bleibt, repräsentiert durch Partei oder Staat. Und beide sind nicht im selben Maßstab. Denn das Klasseninteresse bleibt von der Ordnung großer molarer Gesamtheiten; es definiert nur ein kollektives Vorbewusstes, notwendig repräsentiert in einem getrennten Bewusstsein, bei dem man sich auf dieser Ebene nicht einmal zu fragen hat, ob es verrät oder nicht, entfremdet oder nicht, verformt oder nicht. Das wirkliche Unbewusste dagegen liegt im Gruppenbegehren, das die molekulare Ordnung der begehrenden Maschinen ins Spiel bringt. Da liegt das Problem, zwischen den unbewussten Gruppenbegehren und den vorbewussten Klasseninteressen. Nur von dort aus, werden wir sehen, kann man die Fragen stellen, die sich daraus indirekt ergeben, über das Klassen-Vorbewusste und die repräsentativen Formen des Klassenbewusstseins, über die Natur der Interessen und den Prozess ihrer Realisierung. Reich kehrt stets wieder, mit seinen unschuldigen Anforderungen, die die Rechte einer vorgängigen Unterscheidung von Begehren und Interesse einfordern: „Die Leitung (darf) keine dringendere Aufgabe (haben), außer der präzisen Kenntnis des objektiven historischen Prozesses, als zu verstehen: a) welche progressiven Ideen und welche progressiven Wünsche nach Schichten, Berufen, Altersklassen und Geschlechtern existieren; b) welche Wünsche, Ängste und Ideen die Entwicklung des progressiven Aspekts hemmen – traditionelle Fixierungen.“103 (Die Leitung neigt eher dazu zu antworten: Wenn ich das Wort Begehren höre, ziehe ich meinen Revolver.)
Denn das Begehren wird niemals getäuscht. Das Interesse kann getäuscht, verkannt oder verraten werden, aber nicht das Begehren. Daher Reichs Schrei: Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus begehrt, und das ist es, was erklärt werden muss… Es kommt vor, dass man gegen sein Interesse begehrt: der Kapitalismus profitiert davon, aber auch der Sozialismus, die Partei und die Parteileitung. Wie erklären, dass das Begehren sich Operationen hingibt, die keine Verkennungen sind, sondern vollkommen reaktionäre unbewusste Investitionen? Und was meint Reich, wenn er von „traditionellen Fixierungen“ spricht? Auch sie gehören zum historischen Prozess, und sie führen uns zurück zu den modernen Funktionen des Staates. Die modernen zivilisierten Gesellschaften definieren sich durch Prozesse der Dekodierung und Deterritorialisierung. Aber was sie auf der einen Seite deterritorialisieren, reterritorialisieren sie auf der anderen. Diese Neo-Territorialitäten sind oft künstlich, residual, archaisch; nur sind es Archaismen mit vollkommen aktueller Funktion, unsere moderne Art zu „verziegeln“, zu rasterisieren, Codefragmente wieder einzuführen, alte wiederzubeleben, Pseudocodes oder Jargons zu erfinden. Neo-Archaismen, nach Edgar Morins Formel. Diese modernen Territorialitäten sind äußerst komplex und vielfältig. Die einen sind eher folkloristisch, stellen aber dennoch soziale und gegebenenfalls politische Kräfte dar (von Boulespielern bis zu Schnapsbrennern und über die Veteranen). Andere sind Enklaven, deren Archaismus ebenso gut einen modernen Faschismus nähren wie eine revolutionäre Ladung freisetzen kann (ethnische Minderheiten, das baskische Problem, die irischen Katholiken, die Indianerreservate). Einige bilden sich gewissermaßen spontan im Strom der Deterritorialisierungsbewegung selbst (Territorialitäten von Vierteln, Territorialitäten der Großsiedlungen, die „Banden“). Andere werden vom Staat organisiert oder begünstigt, auch wenn sie sich gegen ihn wenden und ihm ernste Probleme stellen (Regionalismus, Nationalismus). Der faschistische Staat war im Kapitalismus zweifellos der fantastischste Versuch ökonomischer und politischer Reterritorialisierung. Aber der sozialistische Staat hat ebenfalls seine eigenen Minderheiten, seine eigenen Territorialitäten, die sich gegen ihn neu bilden, oder die er hervorruft und organisiert (russischer Nationalismus, Parteiterritorialität: das Proletariat konnte sich nur auf der Basis künstlicher Neo-Territorialitäten als Klasse konstituieren; parallel reterritorialisiert sich die Bourgeoisie in bisweilen den archaischsten Formen). Die berühmte Personalisierung der Macht ist wie eine Territorialität, die die Deterritorialisierung der Maschine verdoppelt. Wenn es wahr ist, dass die Funktion des modernen Staates die Regulation der dekodierten, deterritorialisierten Flüsse ist, dann besteht ein Hauptaspekt dieser Funktion darin, zu reterritorialisieren, um zu verhindern, dass die dekodierten Flüsse an allen Enden der sozialen Axiomatik entweichen. Man hat mitunter den Eindruck, dass sich die Kapitalflüsse gern auf den Mond schießen würden, wenn der kapitalistische Staat nicht da wäre, sie auf die Erde zurückzuholen. Zum Beispiel: Deterritorialisierung der Finanzierungsflüsse, aber Reterritorialisierung durch Kaufkraft und Zahlungsmittel (Rolle der Zentralbanken). Oder die Deterritorialisierungsbewegung, die vom Zentrum zur Peripherie geht, wird von einer peripheren Reterritorialisierung begleitet, von einer Art ökonomischer und politischer Selbstzentrierung der Peripherie, sei es in den modernistischen Formen eines Staatssozialismus oder Staatskapitalismus, sei es in der archaischen Form lokaler Despoten. Im Grenzfall ist es unmöglich, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung zu unterscheiden, die ineinander gefasst sind oder wie die Kehrseite und die Vorderseite eines einzigen Prozesses sind.
Dieser wesentliche Aspekt der staatlichen Regulation erklärt sich noch besser, wenn man sieht, dass er direkt in der ökonomischen und sozialen Axiomatik des Kapitalismus als solcher begründet ist. Es ist die Konjunktion der deterritorialisierten Flüsse selbst, die archaische oder künstliche Neo-Territorialitäten zeichnet. Marx hat gezeigt, worin das Fundament der politischen Ökonomie im eigentlichen Sinn besteht: in der Entdeckung einer abstrakten subjektiven Essenz des Reichtums in der Arbeit oder Produktion – man könnte ebenso gut sagen: im Begehren („Es war ein ungeheurer Fortschritt, als Adam Smith jede Bestimmung der schöpferischen Reichtumstätigkeit verwarf und nur die Arbeit schlechthin betrachtete: weder Manufakturarbeit noch Handelsarbeit noch Landwirtschaft, sondern alle Tätigkeiten ohne Unterschied… die abstrakte Universalität der reichtumsschöpferischen Tätigkeit“).104 Das für die große Bewegung der Dekodierung oder Deterritorialisierung: Die Natur des Reichtums wird nicht mehr auf der Seite des Objekts gesucht, in äußeren Bedingungen, territorialer Maschine oder despotischer Maschine. Marx fügt jedoch sofort hinzu, dass diese wesentlich „zynische“ Entdeckung durch eine neue Territorialisation korrigiert wird, wie ein neuer Fetischismus oder eine neue „Heuchelei“. Die Produktion als abstrakte subjektive Essenz wird nur in den Formen des Eigentums entdeckt, die sie wieder objektivieren, die sie entfremden, indem sie sie reterritorialisieren. Nicht nur hatten die Merkantilisten, während sie die subjektive Natur des Reichtums ahnten, sie als eine besondere Tätigkeit bestimmt, noch an eine despotische „geldmachende“ Maschine gebunden; nicht nur hatten die Physiokraten, indem sie diese Ahnung noch weiter trieben, die subjektive Tätigkeit an eine territoriale oder reterritorialisierte Maschine gebunden, in Gestalt von Landwirtschaft und Grundeigentum. Selbst Adam Smith entdeckt die große Essenz des Reichtums, abstrakt und subjektiv, industriell und deterritorialisiert, nur indem er sie sofort wieder in das Privateigentum an den Produktionsmitteln reterritorialisiert. (Und man kann in dieser Hinsicht nicht sagen, das sogenannte Gemeineigentum ändere den Sinn dieser Bewegung.) Mehr noch: Wenn es nicht mehr darum geht, die Geschichte der politischen Ökonomie zu schreiben, sondern die reale Geschichte der entsprechenden Gesellschaft, versteht man noch besser, warum der Kapitalismus nicht aufhört, zu reterritorialisieren, was er aus erster Hand deterritorialisiert. In Das Kapital analysiert Marx den wahren Grund der Doppelbewegung: Einerseits kann der Kapitalismus nur verfahren, indem er unablässig die subjektive Essenz des abstrakten Reichtums entwickelt, produzieren um zu produzieren, das heißt „die Produktion als Selbstzweck, die absolute Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit“; andererseits und zugleich kann er es nur im Rahmen seines eigenen begrenzten Ziels tun, als bestimmter Produktionsmodus, „Produktion für das Kapital“, „Verwertung des vorhandenen Kapitals“.105 Unter dem ersten Aspekt überschreitet der Kapitalismus unablässig seine eigenen Grenzen, deterritorialisiert immer weiter, „sich ausdehnend in eine universelle kosmopolitische Energie, die jede Schranke und jedes Band umwirft“; aber unter dem zweiten Aspekt, streng komplementär, hört der Kapitalismus ebenso unablässig nicht auf, innere, immanente Grenzen und Schranken zu haben, die, gerade weil sie immanent sind, nur überschritten werden können, indem sie in erweitertem Maßstab reproduziert werden (immer mehr Reterritorialisierung, lokal, global und planetar). Daher schien uns das Gesetz des tendenziellen Falls, das heißt der Grenzen, die nie erreicht werden, weil sie stets überschritten und stets reproduziert werden, als Korrelat und sogar als direkte Manifestation die Gleichzeitigkeit der beiden Bewegungen der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung zu haben.
Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Die soziale Axiomatik der modernen Gesellschaften ist zwischen zwei Polen gefasst und hört nicht auf, von einem Pol zum anderen zu oszillieren. Aus der Dekodierung und Deterritorialisierung geboren, auf den Ruinen der despotischen Maschine, sind diese Gesellschaften zwischen dem Urstaat gefasst, den sie gern als überkodierende und reterritorialisierende Einheit wiederauferstehen lassen würden, und den entfesselten Flüssen, die sie zu einer absoluten Schwelle hinreißen. Sie kodieren mit vollen Händen, mit Welt-Diktatur, lokalen Diktatoren und allmächtiger Polizei, während sie die fließenden Quantitäten ihrer Kapitale und Bevölkerungen dekodieren oder dekodieren lassen. Sie sind zwischen zwei Richtungen gefasst: Archaismus und Futurismus, Neo-Archaismus und Ex-Futurismus, Paranoia und Schizophrenie. Sie schwanken zwischen zwei Polen: dem paranoischen despotischen Zeichen, dem Zeichen-Signifikanten des Despoten, den sie als Codeeinheit wiederzubeleben versuchen; dem Zeichen-Figur des Schizo als Einheit dekodierten Flusses, Schize, Punkt-Zeichen oder Schnitt-Fluss. Am einen schnüren sie ab, aber am anderen fließen oder ergießen sie sich. Sie hören zugleich nicht auf, hinter sich zurück und vor sich voraus zu sein.106 Wie die Nostalgie und Notwendigkeit des Urstaats mit der Forderung und Unvermeidlichkeit der Fluxion der Flüsse versöhnen? Wie machen, dass Dekodierung und Deterritorialisierung, konstitutiv für das System, es nicht an irgendeinem Ende entweichen lassen, das der Axiomatik entginge und die Maschine in Panik versetzte (ein Chinese am Horizont, ein kubanischer Raketenwerfer, ein arabischer Flugzeugentführer, ein Konsulententführer, ein Black Panther, ein Mai 68, oder sogar zugedröhnte Hippies, wütende Schwule usw.). Man oszilliert zwischen reaktionären paranoischen Überladungen und unterirdischen, schizophrenen und revolutionären Ladungen. Mehr noch: Man weiß nicht recht, wie es nach der einen oder anderen Seite kippt: die zwei ambivalenten Pole des Delirs, ihre Transformationen, die Weise, wie ein Archaismus oder Folklore unter dieser oder jener Bedingung plötzlich mit gefährlichem progressivem Wert aufgeladen werden kann. Wie es faschistisch oder revolutionär kippt, das ist das Problem des universellen Delirs, über das alle schweigen, zuerst und vor allem die Psychiater (sie haben dazu keine Idee; warum sollten sie eine haben?). Kapitalismus, und auch Sozialismus, sind wie zerrissen zwischen dem despotischen Signifikanten, den sie verehren, und der schizophrenen Figur, die sie mitreißt. Daher sind wir berechtigt, zwei vorhergehende Schlussfolgerungen beizubehalten, die einander zu widersprechen schienen. Einerseits bildet der moderne Staat einen wirklichen Schnitt nach vorn gegenüber dem despotischen Staat, aufgrund seines Vollzugs eines Werdens-zum-Immanenten, seiner generalisierten Dekodierung der Flüsse, seiner Axiomatik, die die Codes und Überkodierungen ersetzt. Andererseits gab es niemals und gibt es nur einen einzigen Staat, den Urstaat, die asiatische despotische Formation, die rückversetzt den einzigen Schnitt für die ganze Geschichte bildet, weil selbst die moderne soziale Axiomatik nur funktionieren kann, indem sie ihn als einen der Pole wiederauferstehen lässt, zwischen denen sich ihr eigener Schnitt ausübt. Welche Demokratie, welcher Faschismus oder Sozialismus ist nicht vom Urstaat als unerreichbarem Modell heimgesucht? Der Polizeichef des lokalen Diktators Duvalier hieß Desyr.
Nur sind es nicht dieselben Verfahren, durch die eine Sache wiederaufersteht und durch die sie hervorgerufen wurde. Wir haben drei große soziale Maschinen unterschieden, die den Wilden, den Barbaren und den Zivilisierten entsprechen. Die erste ist die zugrunde liegende territoriale Maschine, die darin besteht, die Flüsse auf dem vollen Körper der Erde zu kodieren. Die zweite ist die transzendente imperiale Maschine, die darin besteht, die Flüsse auf dem vollen Körper des Despoten und seines Apparats zu überkodieren, den Urstaat: sie vollzieht die erste große Deterritorialisierungsbewegung, aber weil sie ihre eminente Einheit den territorialen Gemeinschaften hinzufügt, die sie bewahrt, indem sie sie sammelt, überkodiert, sich die Mehrarbeit aneignet. Die dritte ist die moderne immanente Maschine, die darin besteht, die Flüsse auf dem vollen Körper des Kapital-Geldes zu dekodieren: sie hat die Immanenz realisiert, das Abstrakte als solches konkret gemacht, das Künstliche naturalisiert, die territorialen Codes und die despotische Überkodierung durch eine Axiomatik der dekodierten Flüsse und eine Regulation dieser Flüsse ersetzt; sie vollzieht die zweite große Deterritorialisierungsbewegung, aber diesmal, weil sie nichts von den Codes und Übercodes bestehen lässt. Dennoch findet sie durch ihre eigenen originellen Mittel wieder, was sie nicht bestehen lässt: sie reterritorialisiert dort, wo sie Territorialitäten verloren hat, sie schafft neue Archaismen dort, wo sie die alten zerstört – und beides verbindet sich. Der Historiker sagt: Nein, der moderne Staat, seine Bürokratie, seine Technokratie ähneln nicht dem alten despotischen Staat. Offensichtlich, da es im einen Fall darum geht, dekodierte Flüsse zu reterritorialisieren, während es im anderen darum geht, territoriale Flüsse zu überkodieren. Das Paradox ist, dass der Kapitalismus sich des Urstaats bedient, um seine Reterritorialisierungen zu vollziehen. Aber unbeirrt reproduziert die moderne Axiomatik im Grund ihrer Immanenz den transzendenten Urstaat als ihre zur inneren gewordene Grenze oder als einen ihrer Pole, zwischen denen sie zu oszillieren bestimmt ist. Und unter ihrem unbeirrbaren und zynischen Charakter arbeiten große Kräfte an ihr, die den anderen Pol der Axiomatik bilden, ihre Unfälle, ihre Fehlgänge und ihre Chancen, zu springen, das, was sie dekodiert, über die Mauer ihrer immanenten Regulationen ebenso wie ihrer transzendentalen Auferstehungen hinaus passieren zu lassen. Jeder Typ sozialer Maschine produziert eine bestimmte Art von Repräsentation, deren Elemente sich an der Oberfläche des Sozius organisieren: das System der Konnotation-Verknüpfung in der wilden territorialen Maschine, das der Kodierung der Flüsse entspricht; das System der Subordination-Disjunktion in der barbarischen despotischen Maschine, das der Überkodierung entspricht; das System der Koordination-Konjuktion in der zivilisierten kapitalistischen Maschine, das der Dekodierung der Flüsse entspricht. Deterritorialisierung, Axiomatik und Reterritorialisierung, das sind die drei Oberflächenelemente der Begehrenrepräsentation im modernen Sozius. Wir fallen dann auf die Frage zurück: Was ist in jedem Fall das Verhältnis der sozialen Produktion und der begehrenden Produktion, wenn gesagt ist, dass es zwischen beiden immer Identität der Natur gibt, aber auch Unterschied des Regimes? Kann es sein, dass die Identität der Natur im Regime der modernen kapitalistischen Repräsentation am höchsten ist, weil sie sich dort „universal“ in der Immanenz und in der Fluxion der dekodierten Flüsse realisiert? Aber auch, dass der Unterschied des Regimes dort am größten ist und diese Repräsentation am Begehren eine Repressions-Verdrängungs-Operation stärker als jede andere ausübt, weil sich, begünstigt durch Immanenz und Dekodierung, die Anti-Produktion durch die ganze Produktion ausgebreitet hat, statt im System lokalisiert zu bleiben, und einen fantastischen Todestrieb freisetzt, der nun das Begehren durchdringt und niederdrückt? Und was ist dieser Tod, der immer von innen her aufsteigt, aber von außen her ankommen muss – und der im Fall des Kapitalismus mit umso größerer Macht aufsteigt, als man noch nicht gut sieht, welches Außen es ist, das ihn ankommen lassen wird? Kurz: Die allgemeine Theorie der Gesellschaft ist eine verallgemeinerte Theorie der Flüsse; in deren Funktion muss man das Verhältnis der sozialen Produktion und der begehrenden Produktion einschätzen, die Variationen dieses Verhältnisses in jedem Fall, die Grenzen dieses Verhältnisses im kapitalistischen System.
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In der territorialen oder sogar despotischen Maschine ist die soziale ökonomische Reproduktion niemals unabhängig von der menschlichen Reproduktion, von der sozialen Form dieser menschlichen Reproduktion. Die Familie ist also eine offene Praxis, eine Strategie, die dem sozialen Feld koextensiv ist; die Verhältnisse der Filiations- und Allianzbeziehungen sind bestimmend, oder vielmehr „dazu bestimmt, dominant zu sein“. Was nämlich auf dem Socius markiert, eingeschrieben wird, das sind unmittelbar die Produzenten (oder Nicht-Produzenten) nach dem Rang ihrer Familie und ihrem Rang in der Familie. Der Reproduktionsprozess ist nicht direkt ökonomisch, sondern geht durch die nicht-ökonomischen Faktoren der Verwandtschaft. Das gilt nicht nur für die territoriale Maschine und die lokalen Gruppen, die den Platz eines jeden in der sozialen ökonomischen Reproduktion nach seinem Rang vom Standpunkt der Allianzen und Filiationen bestimmen, sondern auch für die despotische Maschine, die diese durch die Verhältnisse der neuen Allianz und der direkten Filiation verdoppelt (daher die Rolle der Familie des Souveräns in der despotischen Überkodierung und der „Dynastie“, welche auch immer ihre Mutationen, ihre Ungewissheiten sein mögen, die sich stets in dieselbe Kategorie der neuen Allianz einschreiben). Ganz und gar nicht mehr verhält es sich so im kapitalistischen System.107 Die Repräsentation bezieht sich nicht mehr auf ein unterschiedliches Objekt, sondern auf die produktive Tätigkeit selbst. Der Socius als voller Körper ist in Gestalt des Kapital-Geldes unmittelbar ökonomisch geworden; er duldet keine andere Voraussetzung. Was eingeschrieben oder markiert wird, das sind nicht mehr die Produzenten oder Nicht-Produzenten, sondern die Produktionskräfte und Produktionsmittel als abstrakte Quantitäten, die in ihrer Verhältnisbildung oder Konjunktion effektiv konkret werden: Arbeitskraft oder Kapital, konstantes Kapital oder variables Kapital, filiatives Kapital oder Allianzkapital… Das Kapital hat die Allianz- und Filiationverhältnisse an sich gezogen. Es folgt eine Privatisierung der Familie, der zufolge sie aufhört, der ökonomischen Reproduktion ihre soziale Form zu geben: sie ist gleichsam desinvestiert, aus dem Feld gesetzt; um mit Aristoteles zu sprechen: sie ist nur noch die Form der Materie oder des menschlichen Materials, das der autonomen sozialen Form der ökonomischen Reproduktion untergeordnet wird und den Platz einnimmt, den diese ihm zuweist. Das heißt: Die Elemente der Produktion und der Anti-Produktion reproduzieren sich nicht wie die Menschen selbst, sondern finden in ihnen ein bloßes Material, das die Form der ökonomischen Reproduktion vororganisiert, auf eine von derjenigen, die es als menschliche Reproduktion hat, gänzlich verschiedene Weise. Gerade weil sie privatisiert, aus dem Feld gesetzt ist, erzeugt die Form des Materials oder der menschlichen Reproduktion Menschen, die man ohne Mühe als untereinander alle gleich voraussetzen kann; aber im Feld selbst hat die Form der sozialen ökonomischen Reproduktion die Form des Materials bereits vorgeformt, um dort, wo es nötig ist, den Kapitalisten als vom Kapital abgeleitete Funktion, den Arbeiter als von der Arbeitskraft abgeleitete Funktion usw. hervorzubringen, derart, dass die Familie von vornherein durch die Klassenordnung geschnitten wird (in diesem Sinn ist die Segregation der einzige Ursprung der Gleichheit…)108
Dieses Aus-dem-sozialen-Feld-Setzen der Familie ist auch ihre größte soziale Chance. Denn es ist die Bedingung, unter der das ganze soziale Feld auf die Familie angewandt werden kann. Die individuellen Personen sind zunächst soziale Personen, das heißt von den abstrakten Quantitäten abgeleitete Funktionen; sie werden selbst in der Verhältnisbildung oder Axiomatik dieser Quantitäten, in ihrer Konjunktion, konkret. Es sind genau Konfigurationen oder Bilder, die von den Punkt-Zeichen, den Schnitt-Flüssen, den reinen „Figuren“ des Kapitalismus produziert werden: der Kapitalist als personifiziertes Kapital, das heißt als vom Kapitalfluss abgeleitete Funktion, der Arbeiter als personifizierte Arbeitskraft, vom Arbeitsfluss abgeleitete Funktion. Der Kapitalismus füllt so sein Immanenzfeld mit Bildern: selbst das Elend, die Verzweiflung, der Aufruhr und auf der anderen Seite die Gewalt und Unterdrückung des Kapitals werden zu Bildern des Elends, der Verzweiflung, des Aufruhrs, der Gewalt oder Unterdrückung. Aber ausgehend von den nicht-figurativen Figuren oder den Schnitt-Flüssen, die sie produzieren, werden diese Bilder selbst nur dann figürlich und reproduktiv sein, wenn sie ein menschliches Material informieren, dessen spezifische Reproduktionsform aus dem sozialen Feld herausfällt, das sie doch bestimmt. Die privaten Personen sind also Bilder zweiter Ordnung, Bilder von Bildern, das heißt Simulakren, die so die Fähigkeit erhalten, das Bild erster Ordnung der sozialen Personen zu repräsentieren. Diese privaten Personen sind formal im Ort der Kleinfamilie als Vater, Mutter, Kind bestimmt. Doch statt dass diese Familie eine Strategie wäre, die sich, mit Allianzen und Filiationen, auf das ganze soziale Feld öffnet, ihm koextensiv wäre und seine Koordinaten schneidet, ist sie, so könnte man sagen, nur noch eine einfache Taktik, über der sich das soziale Feld schließt, auf die es seine autonomen Reproduktionserfordernisse anwendet und die es in all seinen Dimensionen schneidet. Die Allianzen und Filiationen gehen nicht mehr durch die Menschen, sondern durch das Geld; dann wird die Familie zum Mikrokosmos, geeignet, auszudrücken, was sie nicht mehr beherrscht. In gewisser Weise hat sich die Situation nicht geändert; denn was durch die Familie investiert wird, das ist immer das soziale ökonomische, politische und kulturelle Feld, seine Schnitte und seine Flüsse. Die privaten Personen sind eine Illusion, Bilder von Bildern oder Abgeleitete von Abgeleiteten. Doch in anderer Weise hat sich alles geändert, weil die Familie, statt die dominanten Faktoren der sozialen Reproduktion zu konstituieren und zu entwickeln, sich darauf beschränkt, diese Faktoren in ihrem eigenen Reproduktionsmodus anzuwenden und einzuhüllen. Vater, Mutter, Kind werden so zum Simulakrum der Bilder des Kapitals („Herr Kapital, Frau Erde“ und ihr Kind, der Arbeiter…), so dass diese Bilder im Begehren, das nur noch das Simulakrum zu investieren bestimmt ist, überhaupt nicht mehr erkannt werden. Die familiären Bestimmungen werden zur Anwendung der sozialen Axiomatik. Die Familie wird zum Teilbereich, auf den sich der Gesamtbereich des sozialen Feldes anwendet. Da jeder privat einen Vater und eine Mutter hat, ist es ein distributiver Teilbereich, der für jeden den kollektiven Gesamtbereich der sozialen Personen simuliert, der dessen Bereich schließt und dessen Bilder verwischt. Alles wird auf das Dreieck Vater-Mutter-Kind zurückgefaltet, das widerhallt, indem es „Papa-Mama“ antwortet, sooft man es mit den Bildern des Kapitals stimuliert. Kurz: Ödipus kommt; er wird im kapitalistischen System aus der Anwendung der sozialen Bilder erster Ordnung auf die privaten familiären Bilder zweiter Ordnung geboren. Er ist die Ankunftsmenge, die auf eine gesellschaftlich bestimmte Ausgangsmenge antwortet. Er ist unsere intime Kolonialformation, die der Form der sozialen Souveränität entspricht. Wir sind alle kleine Kolonien, und es ist Ödipus, der uns kolonisiert. Wenn die Familie aufhört, eine Einheit von Produktion und Reproduktion zu sein, wenn die Konjunktion in ihr den Sinn einer bloßen Konsumeinheit wiederfindet, dann konsumieren wir Vater-Mutter. In der Ausgangsmenge gibt es den Patron, den Chef, den Pfarrer, den Polizisten, den Steuereinnehmer, den Soldaten, den Arbeiter, alle Maschinen und Territorialitäten, alle sozialen Bilder unserer Gesellschaft; aber in der Ankunftsmenge gibt es im Grenzfall nur noch Papa, Mama und mich, das despotische Zeichen, von Papa aufgenommen, die residuale Territorialität, von Mama übernommen, und das geteilte, geschnittene, kastrierte Ich. Ist diese Operation des Rückfaltens, Faltens oder Anwendens nicht das, was Lacan sagen lässt, indem er freiwillig das Geheimnis der Psychoanalyse als angewandte Axiomatik verrät: Was „freier zu spielen scheint in dem, was man analytischen Dialog nennt, hängt tatsächlich von einem Unterbau ab, der vollkommen auf einige wesentliche und formalisierbare Artikulationen reduzierbar ist“.109 Alles ist vorgeformt, im Voraus arrangiert. Das soziale Feld, in dem jeder handelt und leidet als kollektiver Agent der Äußerung, Agent der Produktion und der Anti-Produktion, wird auf den Ödipus zurückgefaltet, wo jeder sich nun in seiner Ecke wiederfindet, geschnitten entlang der Linie, die ihn in Subjekt des Gesagten und Subjekt des Sagens als individuelle trennt. Das Subjekt des Gesagten ist die soziale Person, und das Subjekt des Sagens die private Person. Es ist „also“ dein Vater, es ist also deine Mutter, es bist also du: die familiäre Konjunktion resultiert aus den kapitalistischen Konjunktionen, insofern diese auf privatisierte Personen angewandt werden. Papa-Mama-Ich, man ist sicher, sie überall wiederzufinden, weil man alles auf sie angewandt hat. Das Reich der Bilder: so ist die neue Weise, wie der Kapitalismus die Schizen benutzt und die Flüsse ablenkt: zusammengesetzte Bilder, auf Bilder zurückgefaltete Bilder, so dass am Ende der Operation das kleine Ich eines jeden, auf seinen Vater-Mutter bezogen, wirklich das Zentrum der Welt ist. Viel hinterhältiger als das unterirdische Reich der Fetische der Erde oder das himmlische Reich der Idole des Despoten: das ist die Ankunft der ödipisch-narzisstischen Maschine: „Keine Glyphen mehr noch Hieroglyphen, … wir wollen die objektive, reale Realität, … das heißt die Kodak-Idee… Für jeden Mann, jede Frau ist das Universum nur das, was sein absolut kleines Bild von sich selbst oder ihr absolut kleines Bild von sich selbst umgibt… Ein Bild! Ein Kodak-Schnappschuss in einem universellen Film von Schnappschüssen.“110 Jeder als kleiner triangulierter Mikrokosmos, das narzisstische Ich fällt mit dem ödipischen Subjekt zusammen.
Ödipus endlich…, das ist letztlich eine sehr einfache Operation, in der Tat leicht zu formalisieren. Und doch bringt sie die Universalgeschichte ins Spiel. Wir haben gesehen, in welchem Sinn die Schizophrenie die absolute Grenze jeder Gesellschaft ist, insofern sie dekodierte und deterritorialisierte Flüsse passieren lässt, die sie der begehrenden Produktion zurückgibt, „an der Grenze“ jeder sozialen Produktion. Und der Kapitalismus ist die relative Grenze jeder Gesellschaft, insofern er die dekodierten Flüsse axiomatisiert und die deterritorialisierten Flüsse reterritorialisiert. So findet der Kapitalismus in der Schizophrenie seine eigene äußere Grenze, die er unablässig zurückstößt und beschwört, während er selbst seine immanenten Grenzen produziert, die er unablässig verschiebt und vergrößert. Aber eine verschobene innere Grenze braucht der Kapitalismus noch auf eine andere Weise: gerade um die absolute äußere Grenze, die schizophrene Grenze, zu neutralisieren oder zurückzustoßen, muss er sie verinnerlichen, diesmal, indem er sie verengt, indem er sie nicht mehr zwischen der sozialen Produktion und der begehrenden Produktion, die sich von ihr ablöst, verlaufen lässt, sondern innerhalb der sozialen Produktion, zwischen der Form der sozialen Reproduktion und der Form einer familiären Reproduktion, auf die jene zurückgefaltet wird, zwischen der sozialen Menge und der privaten Teilmenge, auf die sie angewandt wird. Ödipus ist diese verschobene oder verinnerlichte Grenze, in der sich das Begehren fangen lässt. Das ödipische Dreieck ist die intime und private Territorialität, die allen sozialen Reterritorialisierungsanstrengungen des Kapitalismus entspricht. Verschobene Grenze, denn es ist der verschobene Repräsentierte des Begehrens, so war Ödipus immer für jede Formation. Aber in den primitiven Formationen bleibt diese Grenze unbesetzt, gerade insofern die Flüsse kodiert sind und das Spiel der Allianzen und Filiationen die Großfamilien im Maßstab der Bestimmungen des sozialen Feldes hält und jedes sekundäre Rückfalten jener auf diese verhindert. In den despotischen Formationen ist die ödipische Grenze besetzt, symbolisch besetzt, aber nicht gelebt oder bewohnt, insofern der imperiale Inzest eine Überkodierung vollzieht, die seinerseits das ganze soziale Feld überfliegt (verdrängende Repräsentation): die formalen Operationen des Rückfaltens, der Extrapolation usw., die später zum Ödipus gehören werden, zeichnen sich bereits ab, aber in einem symbolischen Raum, in dem sich das Objekt der Höhen konstituiert. Erst in der kapitalistischen Formation findet sich die ödipische Grenze nicht nur besetzt, sondern bewohnt und erlebt, in dem Sinn, dass die von den dekodierten Flüssen produzierten sozialen Bilder tatsächlich auf enge familiäre Bilder zurückgefaltet werden, die vom Begehren investiert sind. An diesem Punkt des Imaginären konstituiert sich Ödipus, zugleich damit er seine Migration in den Tiefenelementen der Repräsentation vollendet: der verschobene Repräsentierte ist als solcher zum Repräsentanten des Begehrens geworden. Es versteht sich daher, dass dieses Werden oder diese Konstitution nicht unter den in den früheren sozialen Formationen vorgestellten Gestalten geschieht, da der imaginäre Ödipus aus einem solchen Werden resultiert und nicht umgekehrt. Nicht durch einen Scheißfluss oder eine Inzestflut kommt Ödipus, sondern durch die dekodierten Flüsse des Kapital-Geldes. Die Inzest- und Scheißfluten ergeben sich nur sekundär daraus, insofern sie diese privaten Personen mitführen, auf die die Kapitalflüsse zurückgefaltet oder angewandt werden (daher die ganz und gar verformte komplexe Genese in der psychoanalytischen Gleichung Scheiße = Geld: tatsächlich handelt es sich um ein System von Begegnungen oder Konjunktionen, von Derivaten und Resultanten zwischen dekodierten Flüssen).
Im Ödipus gibt es eine Rekapitulation der drei Zustände oder der drei Maschinen. Denn er wird in der territorialen Maschine vorbereitet, als leere unbesetzte Grenze. Er formt sich in der despotischen Maschine als symbolisch besetzte Grenze. Aber er füllt sich und vollzieht sich nur, indem er zum imaginären Ödipus der kapitalistischen Maschine wird. Die despotische Maschine bewahrte die primitiven Territorialitäten, und die kapitalistische Maschine lässt den Urstaat als einen der Pole ihrer Axiomatik wiederauferstehen, sie macht aus dem Despoten eines ihrer Bilder. Darum sammelt der Ödipus alles ein, alles findet sich im Ödipus wieder, der tatsächlich das Resultat der Universalgeschichte ist, aber in dem eigentümlichen Sinn, in dem es bereits der Kapitalismus ist. Da ist die ganze Reihe: Fetische, Idole, Bilder und Simulakren: territoriale Fetische, despotische Idole oder Symbole, alles wird von den Bildern des Kapitalismus wieder aufgenommen, der sie vorantreibt und auf das ödipische Simulakrum reduziert. Der Repräsentant der lokalen Gruppe mit Laios, die Territorialität mit Iokaste, der Despot mit Ödipus selbst: „bunte Malerei all dessen, was jemals geglaubt worden ist“. Es ist nicht erstaunlich, dass Freud in Sophokles das zentrale Bild des Ödipus-Despoten, den zum Tragischen gewordenen Mythos, gesucht hat, um es in zwei entgegengesetzte Richtungen ausstrahlen zu lassen: die primitive rituelle Richtung von Totem und Tabu, die private Richtung des modernen träumenden Menschen (Ödipus kann ein Mythos, eine Tragödie, ein Traum sein: er drückt stets die Verschiebung der Grenze aus). Ödipus wäre nichts, wenn die symbolische Position eines Objekts der Höhen in der despotischen Maschine nicht zuerst die Operationen des Faltens und Rückfaltens möglich machte, die ihn im modernen Feld konstituieren werden: die Ursache der Triangulierung. Daher die äußerste Wichtigkeit, aber auch die Unbestimmtheit, die Unentscheidbarkeit der These des tiefsten Erneuerers in der Psychoanalyse, der die verschobene Grenze zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären verlaufen lässt, zwischen der symbolischen Kastration und dem imaginären Ödipus. Denn die Kastration in der Ordnung des despotischen Signifikanten, als Gesetz des Despoten oder Effekt des Objekts der Höhen, ist in Wahrheit die formale Bedingung der ödipischen Bilder, die sich im Immanenzfeld entfalten werden, das der Rückzug des Signifikanten freilegt. Zum Begehren gelange ich, wenn ich zur Kastration gelange…! Was bedeutet die Gleichung Begehren-Kastration, wenn nicht eine ungeheure Operation in der Tat, die darin besteht, das Begehren unter das Gesetz des Despoten zurückzuversetzen, ihm im Innersten den Mangel einzupflanzen und uns vor Ödipus durch eine fantastische Regression zu retten. Fantastische und geniale Regression: man musste es tun, „niemand hat mir geholfen“, wie Lacan sagt, um das Joch des Ödipus abzuschütteln und ihn an den Punkt seiner Selbstkritik zu führen. Aber es ist wie die Geschichte von Widerständlern, die, einen Strommast sprengen wollend, die Plastiksprengladungen so gut ausbalancierten, dass der Mast sprang und in sein Loch zurückfiel. Vom Symbolischen zum Imaginären, von der Kastration zu Ödipus, vom despotischen Zeitalter zum Kapitalismus gibt es umgekehrt den Fortschritt, der bewirkt, dass das Objekt der Höhen, überfliegend und überkodierend, sich zurückzieht, Platz macht für ein soziales Immanenzfeld, in dem die dekodierten Flüsse Bilder produzieren und sie zurückfalten. Daher die beiden Aspekte des Signifikanten: durchgestrichenes transzendentes Objekt, in ein Maximum gefasst, das den Mangel verteilt, und immanentes System von Verhältnissen zwischen minimalen Elementen, die das freigelegte Feld füllen (ein wenig so, wie man der Tradition nach vom parmenideischen Sein zu den Atomen Demokrits übergeht).
Ein zunehmend spiritualisiertes transzendentes Objekt für ein zunehmend immanentes, zunehmend verinnerlichtes Kraftfeld: das ist die Entwicklung der unendlichen Schuld – durch den Katholizismus, dann die Reformation. Die äußerste Spiritualisierung des despotischen Staates, die äußerste Verinnerlichung des kapitalistischen Feldes definieren das schlechte Gewissen. Dieses ist nicht das Gegenteil des Zynismus; es ist bei den privaten Personen das Korrelat des Zynismus der sozialen Personen. Alle zynischen Verfahren des schlechten Gewissens, wie Nietzsche, dann Lawrence und Miller sie analysiert haben, um den europäischen Menschen der Zivilisation zu bestimmen, – das Reich der Bilder und die Hypnose, die Betäubung, die sie verbreiten, – der Hass gegen das Leben, gegen alles, was frei ist, was geht und fließt; die universelle Ausgießung des Todestriebs, – die Depression, die Schuld, als Mittel der Ansteckung benutzt, der Kuss des Vampirs: schämst du dich nicht, glücklich zu sein? nimm mich zum Beispiel, ich lasse dich nicht, bevor du nicht auch sagst „Es ist meine Schuld“, o die abscheuliche Ansteckung der Depressiven, die Neurose als einzige Krankheit, die darin besteht, die anderen krank zu machen, – die permissive Struktur: dass ich betrügen, stehlen, die Kehle durchschneiden, töten darf! aber im Namen der sozialen Ordnung, und dass Papa-Mama stolz auf mich sind, – die doppelte Richtung des Ressentiments, Rückwendung gegen sich und Projektion gegen den anderen: der Vater ist tot, es ist meine Schuld, wer hat ihn getötet? es ist deine Schuld, es ist der Jude, der Araber, der Chinese, alle Ressourcen von Rassismus und Segregation, – das niederträchtige Begehren, geliebt zu werden, das Gejammer, nicht genug geliebt, nicht „verstanden“ zu werden, zugleich mit der Reduktion der Sexualität auf das „dreckige kleine Geheimnis“, diese ganze Psychologie des Priesters: es gibt nicht ein einziges dieser Verfahren, das nicht im Ödipus seinen Nährboden und seine Nahrung fände. Und auch nicht ein einziges dieser Verfahren, das nicht in der Psychoanalyse dient und sich entwickelt: diese als neuer Avatar des „asketischen Ideals“. Noch einmal: Nicht die Psychoanalyse erfindet Ödipus; sie gibt ihm nur eine letzte Territorialität, die Couch, wie ein letztes Gesetz, den Analysten-Despoten und Geld-Eintreiber. Aber die Mutter als Simulakrum von Territorialität und der Vater als Simulakrum des despotischen Gesetzes, mit dem geschnittenen, gespaltenen, kastrierten Ich, sind die Produkte des Kapitalismus, insofern er eine Operation montiert, die in den anderen sozialen Formationen kein Äquivalent hat. Überall sonst ist die Familienposition nur ein Stimulus für die Investition des sozialen Feldes durch das Begehren: die Familienbilder funktionieren nur, indem sie sich auf soziale Bilder öffnen, an die sie sich koppeln oder denen sie sich im Lauf von Kämpfen und Kompromissen entgegenstellen; so dass, was durch die Schnitte und Segmente von Familien investiert wird, die ökonomischen, politischen, kulturellen Schnitte des Feldes sind, in das sie getaucht sind (vgl. die Ndembu-Schizo-Analyse). So ist es selbst in den peripheren Zonen des Kapitalismus, wo der vom Kolonisator unternommene Versuch, den Indigenen zu ödipianisieren, afrikanischer Ödipus, durch das Zerbrechen der Familie entlang der Linien sozialer Ausbeutung und Unterdrückung widerlegt wird. Aber im weichen Zentrum des Kapitalismus, in den gemäßigten bürgerlichen Regionen, wird die Kolonie intim und privat, im Inneren eines jeden: dann wird der Investitionsfluss des Begehrens, der vom familiären Stimulus zur sozialen Organisation (oder Desorganisation) geht, gewissermaßen von einem Rückfluss überdeckt, der die soziale Investition auf die familiäre Investition als Pseudo-Organisator zurückfaltet. Die Familie ist zum Ort der Retention und Resonanz aller sozialen Bestimmungen geworden. Es gehört zur reaktionären Investition des kapitalistischen Feldes, alle sozialen Bilder auf die Simulakren einer Kleinfamilie anzuwenden, so dass man, wohin man sich auch wendet, nur noch Vater-Mutter findet: diese ödipische Fäulnis, die an unserer Haut klebt. Ja, ich habe meine Mutter begehrt und meinen Vater töten wollen; ein einziges Subjekt der Äußerung, Ödipus, für alle kapitalistischen Äußerungen, und dazwischen der Rückfaltungsschnitt, die Kastration.
Marx sagte: Das Verdienst Luthers besteht darin, das Wesen der Religion nicht mehr auf der Seite des Objekts bestimmt zu haben, sondern als innere Religiosität; das Verdienst von Adam Smith und Ricardo besteht darin, das Wesen oder die Natur des Reichtums nicht mehr als objektive Natur, sondern als abstraktes und deterritorialisiertes subjektives Wesen, als Produktionsaktivität im Allgemeinen, bestimmt zu haben. Da aber diese Bestimmung unter den Bedingungen des Kapitalismus erfolgt, objektivieren sie das Wesen erneut, entfremden und reterritorialisieren es, diesmal in der Form des Privateigentums an den Produktionsmitteln. So ist der Kapitalismus zweifellos das Universelle jeder Gesellschaft, aber nur insofern, als er fähig ist, bis zu einem gewissen Punkt seine eigene Kritik zu führen, das heißt die Kritik der Verfahren, durch die er das, was in ihm zur Befreiung tendierte oder frei zu erscheinen tendierte, wieder ankettet.111 Man muss dasselbe von Freud sagen: seine Größe besteht darin, das Wesen oder die Natur des Begehrens nicht mehr in Bezug auf Objekte, Ziele und sogar Quellen (Territorien) zu bestimmen, sondern als abstraktes subjektives Wesen, Libido oder Sexualität. Nur bezieht er dieses Wesen immer noch auf die Familie als letzte Territorialität des Privatmenschen (daher die Lage des Ödipus, zunächst randständig in den Drei Abhandlungen, der sich dann immer mehr über dem Begehren schließt). Alles geschieht, als ob Freud uns seine tiefe Entdeckung der Sexualität verzeihen ließe, indem er uns sagt: Wenigstens wird das nicht aus der Familie herausgehen! Das schmutzige kleine Geheimnis statt der erblickten großen Weite. Die familialistische Rückfaltung statt der Drift des Begehrens. Statt der großen dekodierten Flüsse die kleinen, im Bett der Mama re-kodierten Rinnsale. Die Innerlichkeit statt einer neuen Beziehung zum Außen. Durch die Psychoanalyse erhebt sich und nährt sich immer der Diskurs des schlechten Gewissens und der Schuld (das nennt man heilen). Und in mindestens zwei Punkten spricht Freud die reale äußere Familie von jeder Schuld frei, um Schuld und Familie umso besser im kleinsten Glied, dem Kind, zu verinnerlichen. Die Weise, wie er eine autonome Verdrängung setzt, unabhängig von der Repression; die Weise, wie er auf das Thema der Verführung des Kindes durch den Erwachsenen verzichtet, um an dessen Stelle das individuelle Phantasma zu setzen, das aus den realen Eltern lauter Unschuldige oder sogar Opfer macht.112 Denn die Familie muss in zwei Formen erscheinen: die eine, in der sie zweifellos schuldig ist, aber nur in der Weise, wie das Kind sie intensiv, innerlich erlebt, und die mit seiner eigenen Schuld zusammenfällt; die andere, in der sie Instanz der Verantwortlichkeit bleibt, vor der man als Kind schuldig ist und in Bezug auf die man als Erwachsener verantwortlich wird (Ödipus als Krankheit und als Gesundheit, die Familie als Faktor der Entfremdung und als Agent der Desentfremdung, sei es nur durch die Weise, wie sie in der Übertragung wiederhergestellt wird). Das hat Foucault in so schönen Seiten gezeigt: Der der Psychoanalyse inhärente Familialismus zerstört die klassische Psychiatrie weniger, als dass er sie krönt. Nach dem Verrückten der Erde und dem Verrückten des Despoten: der Verrückte der Familie; was die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts im Asyl hatte organisieren wollen – „die imperative Fiktion der Familie“, die Vernunft-Vater und der Verrückte-Minderjährige, die Eltern, die selbst nur an ihrer Kindheit krank sind –, all das findet seine Vollendung außerhalb des Asyls, in der Psychoanalyse und im Sprechzimmer des Analytikers. Freud ist der Luther und der Adam Smith der Psychiatrie. Er mobilisiert alle Ressourcen des Mythos, der Tragödie, des Traums, um das Begehren erneut anzuketten, diesmal nach innen: ein intimes Theater. Ja, dennoch ist Ödipus das Universelle des Begehrens, das Produkt der Universalgeschichte – aber unter einer Bedingung, die Freud nicht erfüllt: dass Ödipus fähig sei, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt seine Selbstkritik zu führen. Die Universalgeschichte ist nur eine Theologie, wenn sie nicht die Bedingungen ihrer Kontingenz, ihrer Singularität, ihrer Ironie und ihrer eigenen Kritik erobert. Und was sind diese Bedingungen, dieser Punkt der Selbstkritik? Unter der familialen Rückfaltung die Natur der sozialen Investitionen des Unbewussten entdecken. Unter dem individuellen Phantasma die Natur der Gruppenphantasmen entdecken. Oder, was auf dasselbe hinausläuft, das Simulakrum bis zu dem Punkt treiben, an dem es aufhört, Bild von Bild zu sein, um die abstrakten Figuren, die Fluss-Schizen, die es birgt, indem es sie verbirgt, zu finden. An die Stelle des privaten Subjekts der Kastration, gespalten in Subjekt der Äußerung und Subjekt der Aussage, die nur auf die beiden Ordnungen persönlicher Bilder verweisen, die kollektiven Agenten setzen, die ihrerseits auf maschinelle Gefüge verweisen. Das Theater der Repräsentation in die Ordnung der begehrenden Produktion zurückführen: die ganze Aufgabe der Schizo-Analyse.
- Marx, Allgemeine Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, 1857, Pléiade, I, S. 260-261. Maurice Godelier kommentiert: «Die westliche Entwicklungslinie erscheint, weit davon entfernt, universell zu sein, weil sie sich überall wiederfände, universell, weil sie sich nirgends wiederfindet… Sie ist also typisch, weil sie in ihrem singulären Verlauf ein universelles Resultat erreicht hat. Sie hat die praktische Grundlage (die industrielle Ökonomie) und die theoretische Konzeption (den Sozialismus) geliefert, um selbst herauszugehen und alle Gesellschaften aus den ältesten oder den jüngsten Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen herauszuführen… Die wahre Universalität der westlichen Entwicklungslinie liegt also in ihrer Singularität und nicht außerhalb ihrer, in der Differenz, nicht in ihrer Ähnlichkeit mit den anderen Entwicklungslinien» (Über die asiatische Produktionsweise, Éd. Sociales, 1969, S. 92-96).
- Lewis Mumford, «Die erste Megamaschine», Diogène, Juli 1966.
- Meyer Fortes, in Recherches voltaïques, 1967, S. 135-137.
- Paul Parin u. a., Die Weißen denken zu viel, 1963, frz. Übers. Payot: «Die präobjektalen Beziehungen zu den Müttern gehen über und verteilen sich in den identifikatorischen Beziehungen zur Gruppe gleichaltriger Kameraden. Der Konflikt mit den Vätern wird neutralisiert in den identifikatorischen Beziehungen zur Gruppe der großen Brüder…» (S. 428-436). Ähnliche Analyse und Ergebnisse bei M.-C. und E. Ortigues, Ödipus afrikanisch, Plon, 1966 (S. 302-305). Doch betreiben diese Autoren eine seltsame Gymnastik, um das Bestehen eines Ödipusproblems oder eines Ödipuskomplexes aufrechtzuerhalten, trotz all der Gründe, die sie für das Gegenteil angeben, und obwohl dieser Komplex, wie sie sagen, «der Klinik nicht zugänglich» ist.
- Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II, 2-7.
- E. R. Leach, Kritik der Anthropologie, 1966, frz. Übers. P.U.F., S. 206-207.
- Louis Berthe, «Ältere und Jüngere, Allianz und Hierarchie bei den Baduj», L’Homme, Juli 1965. Vgl. die Formel von Luc de Heusch, in «Lévi-Strauss», L’Arc, Nr. 26: «Ein Verwandtschaftssystem ist auch und zuerst eine Praxis» (S. 11).
- L. G. Löffler, «Die asymmetrische Allianz bei den Mru», L’Homme, Juli 1966, S. 78-79. Leach analysiert in Kritik der Anthropologie den Unterschied zwischen Ideologie und Praxis anhand der kachinischen Ehe (S. 140-141); er treibt die Kritik der Auffassungen von Verwandtschaft als geschlossenem System sehr weit (S. 153-154).
- Pierre Clastres, «Der Bogen und der Korb», L’Homme, April 1966, S. 20.
- E. R. Leach, Kritik der Anthropologie, S. 153 (und die Kritik, die Leach an Lévi-Strauss richtet: «Lévi-Strauss behauptet zu Recht, dass die strukturellen Implikationen einer Ehe nur verstanden werden können, wenn man sie als eines der Elemente in einer globalen Serie von Transaktionen zwischen Verwandtschaftsgruppen betrachtet. Bis hierhin ist alles in Ordnung. Aber in keinem der Beispiele, die sein Buch liefert, treibt er dieses Prinzip weit genug… Im Grunde interessiert er sich nicht wirklich für die Natur oder die Bedeutung der Gegenleistungen, die als Äquivalent für die Frauen in den Systemen dienen, die er behandelt… Wir können nicht aus ersten Prinzipien vorhersagen, wie das Gleichgewicht erreicht wird, weil wir nicht wissen können, wie die verschiedenen Kategorien von Leistungen in einer bestimmten Gesellschaft bewertet werden… Es ist wesentlich, konsumierbare Güter von solchen zu unterscheiden, die es nicht sind; es ist auch sehr wichtig, sich klarzumachen, dass völlig immaterielle Elemente wie Rechte und Prestige in das Gesamtinventar der ausgetauschten Dinge eingehen», S. 154, 169, 171).
- Lévi-Strauss, Strukturelle Anthropologie, Plon, 1958, S. 132.
- Jeanne Favret, «Segmentarität im Maghreb», L’Homme, April 1966. Pierre Clastres, «Austausch und Macht», L’Homme, Januar 1962.
- E. E. Evans-Pritchard, «Die Nuer des südlichen Sudan», in Afrikanische politische Systeme, 1962, frz. Übers. P.U.F., S. 248.
- Marcel Griaule, Gott des Wassers, Fayard, 1948, insbesondere S. 46-52.
- Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 2. Aufl., Mouton, 1967, S. 152.
- Marcel Griaule, «Bemerkungen zum Mutterbruder im Sudan», Cahiers internationaux de sociologie, Januar 1954. Alfred Adler und Michel Cartry, «Die Übertretung und ihre Verspottung», L’Homme, Juli 1971.
- Die Lage in der biologischen Wissenschaft, Französische Ausgabe, Moskau, 1949, S. 16.
- Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 556-560.
- Robert Jaulin, Der Sara-Tod, S. 284.
- Adler und Cartry, «Die Übertretung und ihre Verspottung», L’Homme, Juli 1971. Jacques Derrida schrieb in einem Kommentar zu Rousseau: «Vor dem Fest gab es keinen Inzest, weil es kein Inzestverbot gab. Nach dem Fest gibt es keinen Inzest mehr, weil er verboten ist… Das Fest wäre selbst der Inzest selbst, wenn so etwas – er selbst – stattfinden könnte» (Von der Grammatologie, Éd. de Minuit, 1967, S. 372-377).
- Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 356 (Lévi-Strauss analysiert Fälle, scheinbar anormale oder paradoxe, von Begünstigten ehelicher Leistungen).
- L. G. Löffler, «Die asymmetrische Allianz bei den Mru», L’Homme, S. 80.
- Georges Devereux, «Ethnopsychoanalytische Erwägungen zum Begriff der Verwandtschaft», L’Homme, Juli 1965.
- Victor W. Turner, «A Ndembu Doctor in Practice», Magic, Faith and Healing, Collier-Macmillan, 1964.
- Robert Jaulin, Der weiße Friede, Einleitung zum Ethnozid, Éd. du Seuil, 1970, S. 309. Jaulin analysiert die Situation jener Indianer, denen die Kapuziner «einredeten», vom Gemeinschaftshaus zugunsten «kleiner persönlicher Häuser» abzusehen (S. 391-400). Im Gemeinschaftshaus waren die Familienwohnung und die persönliche Intimität in einem Verhältnis zum Nachbarn begründet, der als Alliierter definiert war, so dass die interfamiliären Beziehungen dem sozialen Feld koextensiv waren. In der neuen Situation hingegen entsteht «eine missbräuchliche Gärung der Elemente des Paares über sich selbst» und über die Kinder, so dass sich die Kleinfamilie in einen expressiven Mikrokosmos schließt, in dem jeder seine eigene Abstammung reflektiert, während ihm zugleich das soziale und produktive Werden immer mehr entgleitet. Denn Ödipus ist nicht nur ein ideologischer Prozess, sondern das Ergebnis einer Zerstörung der Umgebung, des Habitats usw.
- M.-C. und E. Ortigues, Ödipus afrikanisch, S. 305.
- Géza Roheim, Psychoanalyse und Anthropologie, 1950, frz. Übers. Gallimard, S. 417-418.
- E. R. Leach, «Magical Hair», in Myth and Cosmos, Natural History Press, 1967, S. 92.
- W. Reich, Der Einbruch der Sexualmoral, Verlag für Sexualpolitik, 1932, S. 6.
- In seiner Studie über die Marquesas-Inseln hat Kardiner die Rolle einer kollektiven oder ökonomischen Ernährungsangst gut gezeigt, die sich selbst vom Standpunkt des Unbewussten nicht auf das familiäre Verhältnis zur Mutter reduzieren lässt: The Individual and his Society, Columbia Univ. Press, 1939, S. 223 ff.
- Herbert Marcuse, Eros und Zivilisation, S. 209.
- Mikel Dufrenne, der Kardiners Konzepte analysiert, stellt diese wesentlichen Fragen: Ist es die Familie, die «primär» ist, und das Politische, das Ökonomische, das Soziale nur sekundär? Was ist vom Standpunkt der Libido her zuerst, die familiäre Investition oder die soziale Investition? Und methodologisch: Soll man vom Kind zum Erwachsenen gehen oder vom Erwachsenen zum Kind? (Die Basis-Persönlichkeit, P.U.F., 1953, S. 287 ff.).
- Laura und Paul Bohannan, The Tiv of Central Nigeria, International African Institute, London, 1953.
- Abram Kardiner, The Individual and his Society, S. 248.
- Paul Parin u. a., Die Weißen denken zu viel, 1963, frz. Übers. Payot, S. 432. Zur Koextensivität der Ehen mit dem primitiven sozialen Feld vgl. die Bemerkungen von Jaulin, Der weiße Friede, S. 256: «Die Ehen werden nicht von Verwandtschaftsgesetzen regiert, sie gehorchen einer unendlich komplexeren, weniger fixierten Dynamik, deren Erfindung in jedem Moment eine wesentlich größere Zahl von Koordinaten nutzt… Die Ehen sind eher eine Spekulation auf die Zukunft als auf die Vergangenheit, und in jedem Fall fallen diese Ehen und ihre Spekulation unter das Komplexe, nicht unter das Elementare, niemals unter das Fixierte. Und der Grund dafür ist keineswegs, dass der Mensch Gesetze nur kennt, um sie zu brechen…», Dummheit des Begriffs der Übertretung.
- Roger Bastide hat systematisch die Theorie der zwei symbolischen Sektoren entwickelt, Soziologie und Psychoanalyse, P.U.F., 1950. Aber von einem zunächst analogen Standpunkt aus wird E. R. Leach dazu geführt, die Dualität zu verschieben, sie zwischen die Frage des Sinns und die des Gebrauchs zu legen, und so die Reichweite des Problems zu verändern: vgl. «Magical Hair».
- Victor W. Turner, «Themes in the Symbolism of Ndembu Hunting Ritual», in Myth and Cosmos, Natural History Press, 1967, S. 249-269.
- Pierre Bonnafé, «Magisches Objekt, Hexerei und Fetischismus?», Nouvelle revue de psychanalyse, Nr. 2, 1970 («Die Kukuya behaupten, dass die Natur des Objekts wenig zählt: wesentlich ist, dass es wirkt.»). Vgl. auch Alfred Adler, Der Ethnologe und die Fetische. Das Interesse dieser Nummer der N.R.Ps., die den «Objekten des Fetischismus» gewidmet ist, besteht darin, dass Ethnologen darin nicht eine Theorie einer anderen entgegenstellen, sondern sich über die Tragweite psychoanalytischer Interpretationen im Hinblick auf ihre eigene Praxis als Ethnologen und auf die sozialen Praktiken, die sie untersuchen, befragen. In einem Memoire mit dem Titel Die Interpretationen Turners (Fakultät Nanterre) hat Éric Laurent die methodischen Probleme hierzu sehr tief zu stellen gewusst: die Notwendigkeit, eine Reihe von Umkehrungen vorzunehmen und den Gebrauch gegenüber der Exegese oder Rechtfertigung zu privilegieren, die Produktivität gegenüber der Expressivität, den zeitgenössischen Zustand des sozialen Feldes gegenüber den kosmologischen Mythen, das präzise Ritual gegenüber den strukturalen Modellen, das «soziale Drama», die politische Taktik und Strategie gegenüber den Verwandtschaftsdiagrammen.
- Lévi-Strauss, «Einführung in das Werk von Marcel Mauss», in Mauss, Soziologie und Anthropologie, P.U.F., S. 38-39. Und Elementare Strukturen der Verwandtschaft, S. 209: «Erklären, warum das System des generalisierten Austauschs unterliegend geblieben ist und welchen Ursachen es geschuldet ist, dass das explizite System in sehr unterschiedlichen Begriffen formuliert ist.» Wie Lévi-Strauss aus diesem Prinzip zu einer Auffassung des Unbewussten als leerer Form gelangt, gleichgültig gegenüber den Trieben des Begehrens, vgl. Strukturelle Anthropologie, S. 224. Es ist wahr, dass die Reihe der Mythologiques eine Theorie der primitiven Codes ausarbeitet, Kodierungen von Flüssen und Organen, die eine solche Austauschkonzeption von allen Seiten her überschreitet.
- Michel Cartry, «Klans, Lineages und Familiengruppierungen bei den Gourmantché», L’Homme, April 1966, S. 74.
- Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 306-308, und zur Art, wie er die These von Leach darstellt, vgl. S. 276 ff. Aber zu dieser These selbst vgl. Leach, Kritik der Anthropologie, 1966, frz. Übers. P.U.F., S. 152-154, 172-174.
- Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 222-223 (vgl. den statistischen Vergleich mit den «Radfahrern»).
- Emmanuel Terray, Der Marxismus gegenüber den primitiven Gesellschaften, Maspero, 1969, S. 164.
- André Leroi-Gourhan, Geste und Wort. Technik und Sprache, Albin-Michel, 1964, S. 270 ff., 290 ff.
- Michel Cartry, «Die Kalebasse der Beschneidung im gourmantché-Land», Journal de la Société des africanistes, 1968, 2, S. 223-225.
- Pierre Clastres, Chronik der Guayaki-Indianer, Plon, 1972.
- Nietzsche, Genealogie der Moral, II, 17.
- Jean Steinmann, Johannes der Täufer und die Spiritualität der Wüste, Éd. du Seuil, 1959, S. 69.
- Marx, Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie, 1857, Pléiade, II, S. 314.
- Kafka, Die chinesische Mauer.
- Étienne Balazs, Die himmlische Bürokratie, Gallimard, 1968, Kap. XIII, «Die Geburt des Kapitalismus in China» (insbesondere Staat und Geld und die Unmöglichkeit für die Händler, eine Autonomie zu erwerben, S. 229-300). Zu imperialen Formationen, die eher auf der Kontrolle des Handels als auf großen Arbeiten beruhen, zum Beispiel in Schwarzafrika, vgl. die Bemerkungen von Godelier und Suret-Canale, Über die asiatische Produktionsweise, Éd. Sociales, 1969, S. 87-88, S. 120-122.
- Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Vorlesung am Collège de France, 1971.
- Lewis Carroll, Sylvie und Bruno, Kap. XI.
- Pierre Gordon, Sexuelle Initiation und religiöse Entwicklung, P.U.F., 1946, S. 164: «Die heilige Person… lebte nicht im kleinen landwirtschaftlichen Dorf, sondern in den Wäldern, wie Enkidu im chaldäischen Epos, oder auf dem Berg, im heiligen Bezirk. Seine Beschäftigungen waren die eines Hirten oder eines Jägers, nicht die eines Ackerbauers. Die Verpflichtung, für die heilige Ehe, die einzige, die die Frau erhöhte, auf ihn zurückzugreifen, führte also ipso facto zu einer Exogamie. Unter diesen Bedingungen konnten nur die jungen Mädchen endogam sein, die zur selben Gruppe wie der rituelle Deflorator gehörten.»
- Luc de Heusch, Essays über den Symbolismus des königlichen Inzests in Afrika, Brüssel, 1958, S. 72-74.
- Jacques Derrida, Von der Grammatologie, Éd. de Minuit, 1967; und Schrift und Differenz, Éd. du Seuil, 1967, «Freud und die Szene der Schrift».
- Jean-François Lyotard stellt die allzu vernachlässigten Rechte einer Theorie der reinen Bezeichnung wieder her. Er zeigt den irreduziblen Abstand des Wortes und der Sache im Bezeichnungsverhältnis, das sie konnotiert. Und dank dieses Abstands wird die bezeichnete Sache selbst zum Zeichen, indem sie eine unbekannte Seite als verborgenen Inhalt enthüllt (nicht die Wörter sind an sich Zeichen, sondern sie verwandeln die Dinge oder Körper, die sie bezeichnen, in Zeichen). Zugleich wird das bezeichnende Wort sichtbar, unabhängig von jeder Schrift-Lektüre, indem es eine merkwürdige Macht, gesehen zu werden (nicht gelesen), enthüllt. Vgl. Discours, figure, éd. Klincksieck, 1971, S. 41-82 – «Die Wörter sind keine Zeichen, aber sobald es Wort gibt, wird das bezeichnete Objekt Zeichen: dass ein Objekt Zeichen wird, heißt genau, dass es in seiner manifesten Identität einen verborgenen Inhalt birgt, dass es einer anderen Sicht auf es eine andere Seite vorbehält, … die vielleicht niemals genommen werden kann», die aber dafür am Wort selbst genommen werden wird.
- Andras Zempléni, Die Interpretation und die traditionelle Therapie der geistigen Störung bei den Wolof und den Lebou, Universität Paris, 1968, II, S. 380, S. 506.
- Bernard Pautrat will eine Annäherung Nietzsche–Saussure von den Problemen der Herrschaft und Knechtschaft her herstellen (Versions du Soleil. Figures et système de Nietzsche, Éd. du Seuil, 1971, S. 207 ff.). Er bemerkt sehr gut, dass Nietzsche, im Unterschied zu Hegel, das Verhältnis von Herr und Sklave über die Sprache laufen lässt und nicht über die Arbeit. Wenn er aber zum Vergleich mit Saussure kommt, hält er die Sprache als ein System fest, dem die Masse unterworfen ist, und verweist in die Fiktion die nietzscheanische Idee einer Sprache der Herren, durch die sich diese Unterwerfung vollzieht.
- Jean Nougayrol, in Die Schrift und die Psychologie der Völker, Armand-Colin, 1963, S. 90.
- Vgl. den ausgezeichneten Artikel von Élisabeth Roudinesco über Lacan, «Die Wirkung einer Metapher», in dem sie den doppelten Aspekt der analytischen Signifikantenkette und des transzendenten Signifikanten analysiert, von dem die Kette abhängt. Sie zeigt in diesem Sinne, dass Lacans Theorie weniger als eine linguistische Konzeption des Unbewussten zu interpretieren ist denn als eine Kritik der Linguistik im Namen des Unbewussten (La Pensée, 1972).
- Guy Rosolato, Essays über das Symbolische, Gallimard, 1969, S. 25-28.
- Zum Übergang von einer königlichen Justiz, die auf dem magisch-religiösen Wort beruht, zu einer Stadtjustiz, die auf einem Wort-Dialog beruht, und zum Wandel der «Souveränität», der diesem Übergang entspricht, vgl. L. Gernet, «Recht und Vorrecht im alten Griechenland», L’Année sociologique 1948-1949, M. Detienne, Die Meister der Wahrheit im archaischen Griechenland, Maspero, 1967, M. Foucault, Der Wille zum Wissen.
- Nietzsche, Genealogie der Moral, II, § 17.
- Religionshistoriker und Psychoanalytiker kennen dieses Problem der Maskulinisierung der imperialen Triade sehr gut, in Funktion des Vater-Sohn-Verhältnisses, das dort eingeführt wird: Nietzsche sieht darin mit Recht einen wesentlichen Moment in der Entwicklung der unendlichen Schuld: «Diese Erleichterung, die der Geniestreich des Christentums war, … Gott, der sich selbst bezahlt, Gott, der allein den Menschen von dem zu befreien vermag, was für den Menschen selbst unverzeihlich geworden ist, der Gläubiger, der sich für seinen Schuldner anbietet aus Liebe (wer würde das glauben?) aus Liebe zu seinem Schuldner!» (Genealogie der Moral, II, § 21).
- Über das Regime des Privateigentums, schon im despotischen Staat selbst, Karl Wittfogel, Orientalischer Despotismus, 1957, frz. Übers. Éd. de Minuit, S. 140-149, 315-404. Im chinesischen Reich, Étienne Balazs, Die himmlische Bürokratie, Kap. VII-IX. Über die zwei Übergangswege vom despotischen Staat zur Feudalität, je nachdem, ob sich die Warenproduktion mit dem Privateigentum verbindet oder nicht, Maurice Godelier, Über die asiatische Produktionsweise, S. 90-92.
- Über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die sogenannte asiatische Produktion mit den fünf Stufen zu versöhnen, über die Gründe, die Engels dazu bringen, in Der Ursprung der Familie auf diese Kategorie zu verzichten, über den Widerstand der russischen und chinesischen Marxisten gegen diese Kategorie, vgl. Über die asiatische Produktionsweise. Man erinnere sich an die Beschimpfungen, die Wittfogel dafür trafen, dass er diese einfache Frage stellte: Ist die Kategorie des orientalischen despotischen Staates nicht aus Gründen zurückgewiesen worden, die mit ihrem besonderen paradigmatischen Status zusammenhängen, als Horizont moderner sozialistischer Staaten?
- Jean-Pierre Vernant, Die Ursprünge des griechischen Denkens, P.U.F., 1962, S. 112-113.
- Maurice Dobb hat gezeigt, wie die Entwicklung von Handel, Markt und Geld sehr unterschiedliche Wirkungen auf die Feudalität hatte und manchmal die Leibeigenschaft und die Gesamtheit der feudalen Strukturen verstärkte: Studien über die Entwicklung des Kapitalismus, frz. Übers. Maspero, S. 48-82. François Hincker hat den Begriff des «Staatsfeudalismus» ausgearbeitet, um zu zeigen, wie die französische absolute Monarchie insbesondere die Produktivkräfte und die Warenproduktion im Rahmen einer Feudalität hält, die erst im 18. Jahrhundert enden wird (Über den Feudalismus, Éd. Sociales, 1971, S. 61-66).
- Marx, Allgemeine Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, Pléiade, I, S. 256.
- Gilbert Simondon, Über die Existenzweise technischer Objekte, Aubier, 1969, S. 25-49.
- Jacques Lacarrière hat in dieser Hinsicht die Figuren und Momente des christlichen Asketismus in Ägypten, Palästina und Syrien ab dem 3. Jahrhundert gut markiert: Die von Gott Trunkenen, Arthaud, 1961. Zunächst sanfte Paranoiker, die sich in der Nähe eines Dorfes festsetzen, dann sich in die Wüste entfernen, wo sie erstaunliche asketische Maschinen erfinden, die ihren Kampf gegen die alten Allianzen und Filiationsverhältnisse ausdrücken (Stadium des heiligen Antonius); danach bilden sich Jüngergemeinschaften, Klöster, deren eine der Haupttätigkeiten darin besteht, das Leben des heiligen Gründers zu schreiben, zölibatäre Maschinen mit militärischer Disziplin, in denen der Mönch «um sich herum, in Form asketischer und kollektiver Zwänge, das aggressive Universum der alten Verfolgungen wiederaufbaut» (Stadium des heiligen Pachomius); schließlich die Rückkehr in die Stadt oder ins Dorf, bewaffnete Gruppen von Perversen, die sich die Aufgabe geben, gegen das endende Heidentum zu kämpfen (Stadium Schnoudi). Allgemeiner, zum Verhältnis des Klosters zur Stadt, vgl. Lewis Mumford, der von einer «Ausarbeitung einer neuen Form städtischer Strukturierung» in Funktion der Klöster spricht (Die Stadt in der Geschichte, Éd. du Seuil, S. 315 ff., 330 ff.).
- Marx, Antwort an Michailowski, Nov. 1877, Pléiade, II, S. 1555.
- Fernand Braudel, Materielle Zivilisation und Kapitalismus, I, Armand-Colin, 1967, S. 313.
- Marx, Ökonomie und Philosophie, 1844, Pléiade, II, S. 92.
- Vgl. den Kommentar von Balibar, in Althusser u. a., Das Kapital lesen, S. 288: «Die Einheit, die die kapitalistische Struktur besitzt, sobald sie konstituiert ist, findet sich nicht hinter ihr wieder… (Es ist erforderlich), dass die Begegnung stattgefunden hat und rigoros gedacht worden ist zwischen diesen Elementen, die vom Ergebnis ihrer Konjunktion her identifiziert werden, und dem historischen Feld, innerhalb dessen ihre eigene Geschichte zu denken ist, das in seinem Begriff nichts mit diesem Ergebnis zu tun hat, da es durch die Struktur einer anderen Produktionsweise definiert ist. In diesem historischen Feld, das durch die vorherige Produktionsweise konstituiert ist, haben die Elemente, deren Genealogie man macht, eben nur eine marginale Situation, das heißt eine nicht bestimmende.»
- Maurice Dobb, Studien über die Entwicklung des Kapitalismus, S. 189-199.
- Marx, Allgemeine Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, Pléiade, I, S. 259.
- Marx, Das Kapital, I, 2, Kap. 4, Pléiade, I, S. 701.
- Suzanne de Brunhoff, Das Geldangebot. Kritik eines Begriffs, Maspero, 1971. Und Das Geld bei Marx, Éd. Sociales, 1967 (vgl. die Kritik der Thesen Hilferdings, S. 16 ff.).
- Suzanne de Brunhoff, Das Geldangebot, S. 124: «Der Begriff der Geldmenge kann nur relativ zum Spiel eines Kreditsystems Sinn haben, in dem sich die verschiedenen Gelder kombinieren. Ohne ein solches System hätte man nur eine Summe von Zahlungsmitteln, die nicht zum sozialen Charakter des allgemeinen Äquivalents gelangen und nur in lokalen privaten Kreisläufen dienen könnten. Es gäbe keine allgemeine Geldzirkulation. Erst im zentralisierten System können die Gelder homogen werden und als Bestandteile eines gegliederten Ganzen erscheinen» (und zur objektiven Verschleierung im System vgl. S. 110, S. 114).
- Marx, Das Kapital, III, 3, Schlussfolgerungen: «Die kapitalistische Produktion tendiert unaufhörlich dazu, diese ihr immanenten Grenzen zu überschreiten, aber sie erreicht es nur, indem sie Mittel anwendet, die erneut und in imposanterem Maßstab dieselben Schranken vor ihr aufrichten. Die wirkliche Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst.» (Pléiade, II, S. 1032.)
- Jean-Joseph Goux, «Ableitbar und nicht ableitbar», Critique, Januar 1970, S. 48-49.
- Samir Amin, Akkumulation im Weltmaßstab, Anthropos, 1970, S. 373 ff.
- Maurice Clavel, Wer ist entfremdet?, S. 110-124, 320-327 (vgl. das große Kapitel von Marx über die Automation in den Grundrissen einer Kritik der politischen Ökonomie, 1857-58, Pléiade, II, S. 297 ff.
- Paul Baran und Paul Sweezy, Der Monopolkapitalismus, 1966, frz. Übers. Maspero, S. 96-98.
- Zur Amortisationsauffassung, die diese Aussage impliziert, vgl. Paul Baran und Paul Sweezy, Der Monopolkapitalismus, S. 100-104.
- Marx, Das Kapital, III, 3, Schlussfolgerungen, Pléiade, II, S. 1026.
- A. Gorz, Arbeiterstrategie und Neo-Kapitalismus, Éd. du Seuil, S. 57.
- Paul Baran und Paul Sweezy, Der Monopolkapitalismus, S. 303.
- Bernard Schmitt, Geld, Löhne und Profite, P.U.F., 1966, S. 234-236.
- S. 292.
- Marshall McLuhan, Die Medien verstehen, 1964, frz. Übers. Éd. du Seuil, S. 24: «Elektrisches Licht ist reine Information. Es ist ein Medium ohne Botschaft, könnte man sagen, solange man es nicht benutzt, um eine Marke oder eine verbale Werbung zu buchstabieren. Diese Tatsache, charakteristisch für alle Medien, bedeutet, dass der Inhalt eines Mediums, welcher Art es auch sei, immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist die Sprache, so wie das geschriebene Wort der Inhalt des Gedruckten ist und das Gedruckte der Inhalt des Telegraphen.»
- Michel Serres, «Der Bote», Bulletin de la Société française de philosophie, Nov. 1967.
- Nicolas Ruwet etwa wirft Hjelmslev vor, eine Theorie auszuarbeiten, deren Anwendungen auf der Seite von Jabberwocky oder Finnegans wake lägen (Einführung in die generative Grammatik, Plon, 1967, S. 54; und zur Indifferenz gegenüber «der Ordnung der Elemente» vgl. S. 345). André Martinet betont den Verlust der Identitätsbedingungen in Hjelmslevs Theorie (Über die Grundlagen der linguistischen Theorie von Louis Hjelmslev, 1946, Neuausg. Paulet).
- Jean-François Lyotard, Discours, figure, S. 326.
- Vgl. Herbert Marcuses Analyse der funktionalen Sprache der «totalen Administration» (insbesondere in den Siglen, den schwebenden Konfigurationen, die durch Buchstaben-Figuren gebildet werden): Der eindimensionale Mensch, 1964, frz. Übers. Éd. de Minuit, Kap. IV.
- Vgl. Marx, Das Kapital, III, 6, Kap. 24, Pléiade, II, S. 1400: «Unter diesen Bedingungen bedarf es außerökonomischer Gründe, welcher Natur sie auch seien, um sie zu zwingen, Arbeit für Rechnung des rechtmäßigen Grundeigentümers zu verrichten.»
- Marx, Das Kapital, I, 2, Kap. 4, Pléiade, I, S. 698.
- Zu all diesen Punkten, Maurice Dobb, Studien über die Entwicklung des Kapitalismus, S. 34-36, 173-177, 212-224.
- G. Plechanow, «Augustin Thierry und die materialistische Geschichtsauffassung», 1895, in Die Grundfragen des Marxismus, Éd. Sociales.
- Marx, Das Kapital, I, 7, Kap. 24, Pléiade, I, S. 1096.
- Reich, Was ist Klassenbewusstsein?, 1934, frz. Übers. Éd. Sinelnikoff, S. 18.
- Marx, Allgemeine Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, Pléiade, I, S. 258 ff. Und Ökonomie und Philosophie, Pléiade, II, S. 71-75.
- Marx, Das Kapital, III, 3, Schlussfolgerungen, Pléiade, II, S. 1031-1032.
- Suzanne de Brunhoff, Das Geld bei Marx, Éd. Sociales, 1967, S. 147: «Darum vereint im Kapitalismus selbst der Kredit, als System konstituiert, zusammengesetzte Elemente, vor-kapitalistische (das Geld, der Geldhandel) und nach-kapitalistische (der Kreditkreislauf ist eine höhere Zirkulation…). Den Bedürfnissen des Kapitalismus angepasst, ist der Kredit niemals wirklich zeitgenössisch mit dem Kapital. Das Finanzierungssystem, das aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgegangen ist, bleibt ein Bastard.»
- Vgl. die differentielle Analyse der Produktionsweisen von Emmanuel Terray, Der Marxismus gegenüber den primitiven Gesellschaften, S. 140-155 (warum in den vorkapitalistischen Gesellschaften «die Reproduktion der ökonomischen und sozialen Struktur in großem Maße von den Bedingungen abhängt, unter denen die physische Reproduktion der Gruppe erfolgt»).
- Zur Produktion «des» Kapitalisten usw., Marx, Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie, Pléiade, II, S. 357-358, und Das Kapital, I, 7, Kap. 24, Pléiade, I, S. 1095-1096.
- J. Lacan, Lettres de l’école freudienne, 7. März 1970, S. 42.
- D. H. Lawrence, «Kunst und Moral», 1925, frz. Übers. in Éros et les chiens, Éd. Bourgois, S. 48-50. (Zur «Realität» des modernen Menschen als zusammengesetztes und buntes Bild vgl. Nietzsche, Zarathustra, II, «Vom Lande der Kultur».)
- Marx, Allgemeine Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, Pléiade, I, S. 258-261.
- Erich Fromm hat, insbesondere im Zusammenhang mit der Analyse des kleinen Hans, die immer deutlichere Entwicklung Freuds gut gezeigt, die dazu tendiert, die Schuld des Kindes zu setzen und die elterliche Autorität zu entlasten: Die Krise der Psychoanalyse, frz. Übers. Anthropos, S. 79-82, 126-132.