Die Plage der Fantasien 2

1Die sieben Schleier der Fantasie

‘Die Wahrheit ist da draußen’

Als vor ein paar Jahren die Enthüllung von Michael Jacksons angeblich ‘unmoralischem’ Privatverhalten (seiner sexuellen Spiele mit minderjährigen Jungen) seinem unschuldigen Peter-Pan-Image, das über sexuelle und rassische Unterschiede (oder Bedenken) erhoben war, einen Schlag versetzte, stellten einige scharfsinnige Kommentatoren die naheliegende Frage: Was soll die ganze Aufregung? War diese sogenannte ‘dunkle Seite von Michael Jackson’ nicht immer schon für uns alle sichtbar, in den Videoclips, die seine musikalischen Veröffentlichungen begleiteten und die von ritualisierter Gewalt und obszönen sexualisierten Gesten gesättigt waren (besonders unverblümt im Fall von Thriller und Bad)? Das Unbewusste ist außen, nicht in irgendwelchen unergründlichen Tiefen verborgen – oder, um das Motto der X Files zu zitieren: ‘Die Wahrheit ist da draußen’.

Ein solches Fokussieren auf materielle Äußerlichkeit erweist sich als sehr fruchtbar für die Analyse dessen, wie Fantasie sich zu den inhärenten Antagonismen eines ideologischen Gefüges verhält. Enthüllen nicht die beiden entgegengesetzten architektonischen Entwürfe der Casa del Fascio (des lokalen Hauptquartiers der faschistischen Partei), Adolfo Coppedes neoimperialer Pastiche (1928) und Giuseppe Teragnis hochmodernistisches transparentes Glashaus (1934–36), in ihrer einfachen Gegenüberstellung, den inhärenten Widerspruch des faschistischen ideologischen Projekts, das zugleich eine Rückkehr zu vormodernem organizistischem Korporatismus befürwortet und die unerhörte Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte in den Dienst einer raschen Modernisierung stellt? Ein noch besseres Beispiel liefern die großen Projekte öffentlicher Gebäude in der Sowjetunion der 1930er Jahre, die auf ein flaches mehrstöckiges Bürogebäude eine gigantische Statue des idealisierten Neuen Menschen setzten, oder ein Paar: Im Laufe weniger Jahre wurde die Tendenz, das Bürogebäude (den tatsächlichen Arbeitsplatz für lebende Menschen) immer stärker zu verflachen, deutlich erkennbar, so dass es sich zunehmend in einen bloßen Sockel für die überlebensgroße Statue verwandelte – offenbart nicht dieses äußere, materielle Merkmal der architektonischen Gestaltung die ‘Wahrheit’ der stalinistischen Ideologie, in der wirkliche, lebende Menschen zu Instrumenten reduziert, als Sockel für das Gespenst des zukünftigen Neuen Menschen geopfert werden, ein ideologisches Monster, das tatsächliche lebende Menschen unter seinen Füßen zerquetscht? Das Paradox ist, dass, hätte jemand in der Sowjetunion der 1930er Jahre offen gesagt, die Vision des sozialistischen Neuen Menschen sei ein ideologisches Monster, das reale Menschen zerdrücke, er sofort verhaftet worden wäre. Es war jedoch erlaubt – ja sogar gefördert –, diesen Punkt über architektonische Gestaltung zu machen … wieder: ‘Die Wahrheit ist da draußen’. Was wir damit behaupten, ist also nicht einfach, dass Ideologie auch die angeblich extraideologischen Schichten des Alltagslebens durchdringt, sondern dass diese Materialisierung der Ideologie in äußerer Materialität inhärente Antagonismen offenlegt, deren explizite Formulierung die Ideologie sich nicht leisten kann anzuerkennen: Es ist, als müsse ein ideologisches Gefüge, wenn es ‘normal’ funktionieren soll, einer Art ‘Kobold der Perversion’ gehorchen und seinen inhärenten Antagonismus in der Äußerlichkeit seiner materiellen Existenz artikulieren.

Diese Äußerlichkeit, die Ideologie direkt verkörpert, wird zugleich als ‘Nützlichkeit’ verdeckt. Das heißt: Im Alltagsleben wirkt Ideologie besonders in der scheinbar unschuldigen Bezugnahme auf reine Nützlichkeit – man sollte nie vergessen, dass im symbolischen Universum ‘Nützlichkeit’ als reflexiver Begriff fungiert; das heißt, sie beinhaltet stets die Behauptung von Nützlichkeit als Bedeutung (zum Beispiel führt ein Mann, der in einer Großstadt lebt und einen Land Rover besitzt, nicht einfach ein sachliches, ‘bodenständiges’ Leben; vielmehr besitzt er ein solches Auto, um zu signalisieren, dass er sein Leben unter dem Zeichen einer sachlichen, ‘bodenständigen’ Haltung führt). Der unübertroffene Meister einer solchen Analyse war natürlich Claude Lévi-Strauss, dessen semiotisches Dreieck der Zubereitung von Nahrung (roh, gebacken, gekocht) zeigte, wie Nahrung auch als ‘Nahrung für das Denken’ dient. Wir alle erinnern uns wahrscheinlich an die Szene aus Buñuels Das Gespenst der Freiheit, in der die Beziehungen zwischen Essen und Ausscheiden invertiert sind: Menschen sitzen auf ihren Toiletten rund um den Tisch, unterhalten sich angenehm, und wenn sie essen wollen, fragen sie leise die Haushälterin: ‘Wo ist dieser Ort … du weißt schon?’ und schleichen in einen kleinen Raum hinten. Als Ergänzung zu Lévi-Strauss ist man also versucht vorzuschlagen, dass Scheiße ebenfalls als matière-à-penser dienen kann: Bilden nicht die drei grundlegenden Typen von Toiletten eine Art exkrementales Korrelativ-Kontrapunkt zum Lévi-Strauss’schen Dreieck des Kochens?

In einer traditionellen deutschen Toilette liegt das Loch, in dem die Scheiße nach dem Spülen verschwindet, weit vorn, so dass die Scheiße zunächst vor uns ausgebreitet wird, damit wir daran schnuppern und sie auf Spuren einer Krankheit untersuchen; in der typischen französischen Toilette dagegen ist das Loch hinten – das heißt, die Scheiße soll so schnell wie möglich verschwinden; schließlich bietet die angelsächsische (englische oder amerikanische) Toilette eine Art Synthese, eine Vermittlung zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen – das Becken ist voll Wasser, so dass die Scheiße darin schwimmt – sichtbar, aber nicht zu inspizieren. Kein Wunder, dass Erica Jong in der berühmten Diskussion unterschiedlicher europäischer Toiletten zu Beginn ihres halb vergessenen Fear of Flying spöttisch behauptet: ‘Deutsche Toiletten sind wirklich der Schlüssel zu den Schrecken des Dritten Reichs. Menschen, die Toiletten so bauen können, sind zu allem fähig.’ Es ist klar, dass keine dieser Versionen rein utilitaristisch erklärt werden kann: Eine bestimmte ideologische Auffassung davon, wie das Subjekt sich zu dem unangenehmen Exkrement verhalten soll, das aus unserem Körperinneren kommt, ist klar erkennbar – wieder, zum dritten Mal, ‘Die Wahrheit ist da draußen’.

Hegel gehörte zu den ersten, die die geographische Triade Deutschland-Frankreich-England als Ausdruck dreier verschiedener existenzieller Haltungen interpretierten: deutsche reflektierende Gründlichkeit, französische revolutionäre Hast, englischer moderater utilitaristischer Pragmatismus; in Bezug auf politische Haltung lässt sich diese Triade als deutscher Konservatismus, französischer revolutionärer Radikalismus und englischer moderater Liberalismus lesen; im Hinblick auf die Dominanz einer der Sphären des sozialen Lebens ist es deutsche Metaphysik und Dichtung versus französische Politik und englische Ökonomie. Der Verweis auf Toiletten ermöglicht es uns nicht nur, dieselbe Triade im intimsten Bereich der Ausübung der exkrementalen Funktion zu erkennen, sondern auch den zugrunde liegenden Mechanismus dieser Triade in den drei unterschiedlichen Haltungen gegenüber exkrementalem Überschuss zu erzeugen: ambivalente kontemplative Faszination; der hastige Versuch, den unangenehmen Überschuss so schnell wie möglich loszuwerden; der pragmatische Zugang, den Überschuss als gewöhnlichen Gegenstand zu behandeln, der auf angemessene Weise zu entsorgen ist. So kann ein Akademiker leicht an einem runden Tisch behaupten, wir lebten in einem postideologischen Universum – in dem Moment, in dem er nach der hitzigen Diskussion die Toilette aufsucht, steht er wieder knietief in Ideologie. Die ideologische Besetzung solcher Verweise auf Nützlichkeit wird durch ihren dialogischen Charakter bezeugt: Die angelsächsische Toilette erhält ihre Bedeutung nur durch ihre differentielle Relation zu französischen und deutschen Toiletten. Wir haben eine solche Vielzahl von Toilettentypen, weil es einen traumatischen Überschuss gibt, den jede von ihnen zu fassen versucht – nach Lacan ist eines der Merkmale, die den Menschen von den Tieren unterscheiden, gerade dies, dass bei Menschen die Entsorgung von Scheiße zu einem Problem wird.

Dasselbe gilt für die unterschiedlichen Arten, Geschirr zu spülen: In Dänemark etwa stellt ein detailliertes Bündel von Merkmalen die Art, wie Geschirr gespült wird, der Art gegenüber, wie man es in Schweden macht, und eine genaue Analyse zeigt bald, wie diese Opposition dazu dient, die grundlegende Wahrnehmung dänischer nationaler Identität zu indizieren, die in Opposition zu der Schwedens definiert ist.¹ Und – um zu einem noch intimeren Bereich zu gelangen – begegnen wir nicht demselben semiotischen Dreieck in den drei wichtigsten Frisuren der Schambehaarung des weiblichen Geschlechtsorgans? Wild gewachsene, ungepflegte Schambehaarung indiziert die Hippie-Haltung natürlicher Spontaneität; Yuppies bevorzugen das disziplinierende Verfahren eines französischen Gartens (man rasiert die Haare beidseitig nahe an den Beinen, so dass nur ein schmaler Streifen in der Mitte mit einer scharf gezogenen Rasierlinie bleibt); in der Punk-Haltung ist die Vagina vollständig rasiert und mit Ringen versehen (gewöhnlich an einer perforierten Klitoris befestigt). Ist dies nicht eine weitere Version des Lévi-Strauss’schen semiotischen Dreiecks von ‘rohem’ wildem Haar, gepflegtem ‘gebackenem’ Haar und rasiertem ‘gekochtem’ Haar? Man kann sehen, wie selbst die intimste Haltung zum eigenen Körper genutzt wird, um eine ideologische Aussage zu machen.² Wie verhält sich also diese materielle Existenz von Ideologie zu unseren bewussten Überzeugungen? Apropos Molières Tartuffe hat Henri Bergson hervorgehoben, dass Tartuffe nicht wegen seiner Heuchelei komisch ist, sondern weil er in seiner eigenen Maske der Heuchelei ertappt wird:

Er versenkte sich so sehr in die Rolle des Heuchlers, dass er sie sozusagen aufrichtig spielte. Auf diese Weise und nur auf diese Weise wird er komisch. Ohne diese rein materielle Aufrichtigkeit, ohne die Haltung und die Rede, die ihm durch die lange Praxis der Heuchelei zu einer natürlichen Art zu handeln geworden waren, wäre Tartuffe einfach abstoßend.³

Bergsons Ausdruck ‘rein materielle Aufrichtigkeit’ passt vollkommen zur althusserianischen Vorstellung der Ideologischen Staatsapparate – des äußeren Rituals, das Ideologie materialisiert: Das Subjekt, das Distanz zum Ritual wahrt, ist sich nicht bewusst, dass das Ritual es bereits von innen her beherrscht. Wie Pascal sagte: Wenn du nicht glaubst, knie nieder, handle so, als ob du glaubst, und der Glaube wird von selbst kommen. Darum geht es auch beim marxistischen ‘Warenfetischismus’: In seinem expliziten Selbstbewusstsein ist ein Kapitalist ein nominalistischer Mensch des gesunden Menschenverstands, aber die ‘rein materielle Aufrichtigkeit’ seiner Handlungen zeigt die ‘theologischen Schrullen’ des Warenuniversums.⁴ Diese ‘rein materielle Aufrichtigkeit’ des äußeren ideologischen Rituals, nicht die Tiefe der inneren Überzeugungen und Wünsche des Subjekts, ist der wahre Ort der Fantasie, die ein ideologisches Gefüge stützt.

Die Standardvorstellung davon, wie Fantasie innerhalb der Ideologie funktioniert, ist die eines Fantasie-Szenarios, das den wahren Schrecken einer Situation verschleiert: Statt einer vollständigen Darstellung der Antagonismen, die unsere Gesellschaft durchziehen, geben wir uns der Vorstellung der Gesellschaft als eines organischen Ganzen hin, zusammengehalten durch Kräfte der Solidarität und Kooperation … Auch hier ist es jedoch viel produktiver, diese Vorstellung von Fantasie dort zu suchen, wo man sie nicht erwarten würde: in marginalen und, wieder, scheinbar rein utilitaristischen Situationen. Erinnern wir uns einfach an die Sicherheitsanweisungen vor dem Start eines Flugzeugs – werden sie nicht durch ein phantasmatisches Szenario davon getragen, wie ein möglicher Flugzeugabsturz aussehen wird? Nach einer sanften Wasserlandung (wundersamerweise soll es immer auf Wasser passieren!) legt jeder Passagier die Schwimmweste an und rutscht, wie auf einer Rutschbahn am Strand, ins Wasser und schwimmt los, wie eine nette kollektive Lagunen-Ferienerfahrung unter Anleitung eines erfahrenen Schwimmlehrers. Ist diese ‘Gentrifizierung’ einer Katastrophe (eine schöne weiche Landung, Stewardessen, die in tanzähnlichem Stil anmutig auf die ‘Exit’-Schilder zeigen …) nicht ebenfalls Ideologie in ihrer reinsten Form? Der psychoanalytische Begriff der Fantasie lässt sich jedoch nicht auf den eines Fantasie-Szenarios reduzieren, das den wahren Schrecken einer Situation verschleiert; das erste, recht offensichtliche Hinzuzufügen ist, dass die Beziehung zwischen Fantasie und dem Schrecken des Realen, den sie verdeckt, viel ambivalenter ist, als es scheinen mag: Fantasie verdeckt diesen Schrecken, und zugleich schafft sie das, was sie zu verdecken vorgibt, ihren ‘verdrängten’ Bezugspunkt (sind nicht die Bilder des ultimativ schrecklichen Dings, vom gigantischen Tiefsee-Kalmar bis zum verwüstenden Tornado, phantasmatische Schöpfungen par excellence?).⁵ Darüber hinaus sollte man den Begriff der Fantasie durch eine ganze Reihe von Merkmalen präzisieren.⁶

Fantasies transzendentales Schematismus

Als erstes ist festzuhalten, dass Fantasie nicht einfach einen Wunsch auf halluzinatorische Weise realisiert: Vielmehr ist ihre Funktion jener des kantischen ‘transzendentalen Schematismus’ ähnlich: Eine Fantasie konstituiert unser Begehren, liefert seine Koordinaten; das heißt, sie ‘lehrt uns’ buchstäblich, wie man begehrt. Die Rolle der Fantasie ist damit in gewisser Weise analog zu der unglückseligen Zirbeldrüse in Descartes’ Philosophie, diesem Vermittler zwischen res cogitans und res extensa: Fantasie vermittelt zwischen der formalen symbolischen Struktur und der Positivität der Objekte, denen wir in der Realität begegnen – das heißt, sie liefert ein ‘Schema’, nach dem bestimmte positive Objekte in der Realität als Objekte des Begehrens fungieren können, indem sie die leeren Stellen ausfüllen, die durch die formale symbolische Struktur geöffnet werden. Um es etwas vereinfacht zu sagen: Fantasie bedeutet nicht, dass ich, wenn ich einen Erdbeerkuchen begehre und ihn in der Realität nicht bekommen kann, davon fantasiere, ihn zu essen; das Problem ist vielmehr: Woher weiß ich überhaupt, dass ich einen Erdbeerkuchen begehre? Das ist es, was Fantasie mir sagt. Diese Rolle der Fantasie beruht auf der Tatsache, dass ‘es kein sexuelles Verhältnis gibt’, keine universelle Formel oder Matrix, die ein harmonisches sexuelles Verhältnis mit dem Partner garantiert: Wegen des Fehlens dieser universellen Formel muss jedes Subjekt eine Fantasie eigener Art erfinden, eine ‘private’ Formel für das sexuelle Verhältnis – für einen Mann ist das Verhältnis zu einer Frau nur insofern möglich, als sie in seine Formel passt.

Kürzlich reagierten slowenische Feministinnen mit großem Aufschrei auf ein Werbeplakat einer großen Kosmetikfabrik für Sonnenlotion, das eine Reihe gut gebräunter Frauenhintern in engen Badeanzügen zeigte, begleitet vom Slogan ‘Jede hat ihren eigenen Faktor’. Natürlich beruht diese Werbung auf einer ziemlich vulgären Doppeldeutigkeit: Der Slogan bezieht sich vordergründig auf die Sonnenlotion, die den Kunden mit unterschiedlichen Lichtschutzfaktoren angeboten wird, um den unterschiedlichen Hauttypen zu entsprechen; seine gesamte Wirkung beruht jedoch auf seiner offensichtlichen männlich-chauvinistischen Lesart: ‘Jede Frau ist zu haben, wenn der Mann nur ihren Faktor kennt, ihren spezifischen Katalysator, das, was sie erregt!’ Der freudianische Punkt hinsichtlich der grundlegenden Fantasie wäre, dass jedes Subjekt, weiblich oder männlich, einen solchen ‘Faktor’ besitzt, der ihr oder sein Begehren reguliert: ‘eine Frau, von hinten gesehen, auf Händen und Knien’ war der Faktor des Wolfsmanns; eine statuenhafte Frau ohne Schamhaar war Ruskíns Faktor; und so weiter. An unserem Bewusstsein dieses ‘Faktors’ ist nichts Erhebendes: Dieses Bewusstsein kann niemals subjektiviert werden; es ist unheimlich – sogar erschreckend –, da es das Subjekt irgendwie ‘enteignet’ und es auf ein marionettenhaftes Niveau ‘jenseits von Würde und Freiheit’ reduziert.

Intersubjektivität

Das zweite Merkmal betrifft den radikal intersubjektiven Charakter der Fantasie. Die kritische Abwertung und Aufgabe des Begriffs ‘Intersubjektivität’ beim späten Lacan (in klarem Gegensatz zu seiner früheren Betonung, dass der eigentliche Bereich psychoanalytischer Erfahrung weder subjektiv noch objektiv, sondern der der Intersubjektivität ist) beinhaltet keineswegs eine Aufgabe der Vorstellung, dass die Beziehung des Subjekts zu seinem/ihrem Anderen und das Begehren des Anderen für die Identität des Subjekts selbst entscheidend sind – paradoxerweise sollte man behaupten, dass Lacans Aufgabe der ‘Intersubjektivität’ strikt korrelativ ist zur Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Rätsel des undurchdringlichen Begehrens des Anderen (‘Che vuoi?’). Was der späte Lacan mit Intersubjektivität macht, sollte den hegelianisch-kojèvianischen Motiven des frühen Lacan entgegengesetzt werden: dem Kampf um Anerkennung, der dialektischen Verbindung zwischen Anerkennung des Begehrens und Begehren nach Anerkennung, ebenso wie dem ‘strukturalistischen’ Motiv des mittleren Lacan vom großen Anderen als anonymer symbolischer Struktur.

Am einfachsten lassen sich diese Verschiebungen vielleicht erkennen, wenn man sich auf den veränderten Status des Objekts konzentriert. Beim frühen Lacan wird das Objekt hinsichtlich seiner inhärenten Qualitäten abgewertet; es zählt nur als Einsatz in intersubjektiven Kämpfen um Anerkennung und Liebe (die Milch, die ein Kind von der Mutter verlangt, wird auf ein ‘Liebeszeichen’ reduziert, das heißt, die Forderung nach Milch zielt effektiv darauf, die Mutter dazu zu bringen, ihre Liebe zum Kind zu zeigen; ein eifersüchtiges Subjekt verlangt von seinen Eltern ein bestimmtes Spielzeug; dieses Spielzeug wird zum Objekt seiner Forderung, weil es weiß, dass es auch von seinem Bruder begehrt wird, usw.). Beim späten Lacan dagegen verlagert sich der Fokus auf das Objekt, das das Subjekt selbst ‘ist’, auf das agalma, den geheimen Schatz, der dem Sein des Subjekts ein Minimum an phantasmatischer Konsistenz garantiert. Das heißt: objet petit a, als Objekt der Fantasie, ist das ‘Etwas in mir, mehr als ich selbst, um dessentwillen ich mich’ als ‘würdig des Begehrens des Anderen’ wahrnehme.

Man sollte stets im Auge behalten, dass das in der Fantasie ‘realisierte’ (inszenierte) Begehren nicht das eigene des Subjekts ist, sondern das Begehren des Anderen: Fantasie, phantasmatische Formation, ist eine Antwort auf das Rätsel ‘Che vuoi?’ – ‘Du sagst dies, aber was meinst du wirklich damit, dass du es sagst?’ – das die ursprüngliche, konstitutive Position des Subjekts begründet. Die ursprüngliche Frage des Begehrens lautet nicht direkt ‘Was will ich?’, sondern ‘Was wollen die anderen von mir? Was sehen sie in mir? Was bin ich für die anderen?’ Ein kleines Kind ist in ein komplexes Netzwerk von Beziehungen eingebettet; es dient als eine Art Katalysator und Schlachtfeld für die Begehrensbewegungen der Menschen um es herum: sein Vater, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern usw. führen ihre Kämpfe um es herum, die Mutter sendet dem Vater über ihre Fürsorge für den Sohn eine Botschaft. Während das Kind sich dieser Rolle sehr wohl bewusst ist, kann es nicht ergründen, welches Objekt es für die anderen genau ist, welcher Natur die Spiele genau sind, die sie mit ihm spielen, und die Fantasie liefert eine Antwort auf dieses Rätsel: In ihrer grundlegendsten Form sagt mir die Fantasie, was ich für meine anderen bin. Es ist wiederum der Antisemitismus, die antisemitische Paranoia, die diesen radikal intersubjektiven Charakter der Fantasie in exemplarischer Weise sichtbar macht: Fantasie (die soziale Fantasie der jüdischen Verschwörung) ist ein Versuch, eine Antwort auf ‘Was will die Gesellschaft von mir?’ zu liefern, den Sinn der trüben Ereignisse zu enthüllen, an denen ich gezwungen bin teilzunehmen. Aus diesem Grund ist die Standardtheorie der ‘Projektion’, nach der der Antisemit auf die Figur des Juden den verleugneten Teil seiner selbst ‘projiziert’, nicht ausreichend: Die Figur des ‘begrifflichen Juden’ lässt sich nicht auf die Externalisierung meines (antisemitischen) ‘inneren Konflikts’ reduzieren; im Gegenteil, sie bezeugt (und versucht damit umzugehen), dass ich ursprünglich dezentriert bin, Teil eines opaken Netzwerks, dessen Sinn und Logik meiner Kontrolle entgleiten.

Diese radikale Intersubjektivität der Fantasie ist selbst in den elementarsten Fällen erkennbar, wie dem (von Freud berichteten) Fall seiner kleinen Tochter, die davon fantasierte, einen Erdbeerkuchen zu essen – was wir hier haben, ist keineswegs ein einfacher Fall direkter halluzinatorischer Wunscherfüllung (sie wollte einen Kuchen, sie bekam ihn nicht, also fantasierte sie davon …). Das heißt: Was man hier einführen sollte, ist gerade die Dimension der Intersubjektivität: Das entscheidende Merkmal ist, dass das kleine Mädchen, während es gierig einen Erdbeerkuchen aß, bemerkte, wie tief zufrieden ihre Eltern von diesem Schauspiel waren, davon, sie ihn voll genießen zu sehen – so geht es bei der Fantasie, einen Erdbeerkuchen zu essen, in Wirklichkeit um ihren Versuch, eine Identität zu bilden (diejenige, die das Essen eines von den Eltern gegebenen Kuchens voll genießt), die ihre Eltern zufriedenstellen würde, sie zum Objekt ihres Begehrens machen würde …

Man kann den Unterschied hier deutlich erkennen zum frühen Lacan, für den das Objekt auf ein Zeichen reduziert ist, das an sich völlig unbedeutend ist, da es nur als Punkt zählt, in dem sich mein eigenes und das Begehren des Anderen schneiden: Für den späten Lacan ist das Objekt genau das, was ‘im Subjekt mehr ist als das Subjekt selbst’, das, was ich mir als das fantasiere, was der Andere (von mir fasziniert) in mir sieht. So ist es nicht mehr das Objekt, das als Vermittler zwischen meinem Begehren und dem Begehren des Anderen dient; vielmehr ist es das Begehren des Anderen selbst, das als Vermittler zwischen dem ‘gestrichenen’ Subjekt $ und dem verlorenen Objekt, das das Subjekt ‘ist’, dient – das dem Subjekt ein Minimum phantasmatischer Identität verschafft. Und man kann auch sehen, worin la traversée du fantasme besteht: in einer Annahme der Tatsache, dass es keinen geheimen Schatz in mir gibt, dass die Stütze von mir (dem Subjekt) rein phantasmatisch ist.

Wir können nun auch klar die Opposition zwischen Lacan und Habermas sehen. Habermas insistiert auf dem Unterschied zwischen der Subjekt-Objekt-Beziehung und eigentlicher Intersubjektivität: In letzterer ist das andere Subjekt gerade nicht eines der Objekte in meinem Erfahrungsfeld, sondern der Partner in einem Dialog, dessen Interaktion mit mir, innerhalb einer konkreten Lebenswelt, den irreduziblen Hintergrund meiner Erfahrung der Realität bildet. Was er dabei jedoch verdrängt, ist einfach und genau die Schnittstelle dieser beiden Beziehungen – die Ebene, auf der ein anderes Subjekt noch nicht Partner intersubjektiver symbolischer Kommunikation und/oder Interaktion ist, sondern ein Objekt bleibt, ein Ding, das, was einen ‘Nachbarn’ in eine schmierige abstoßende Präsenz verwandelt – dieser Andere qua Objekt, das einem unerträglichen Überschuss an jouissance Körper gibt, ist das eigentliche ‘Objekt der Psychoanalyse’. Lacans Punkt ist damit, dass symbolische Intersubjektivität nicht der letzte Horizont ist, hinter den man nicht gelangen kann: Was ihr vorausgeht, ist nicht eine ‘monadische’ Subjektivität, sondern eine vorsymbolische ‘unmögliche’ Beziehung zu einem Anderen, der der reale Andere ist, der Andere als Ding, und noch nicht der Andere, der innerhalb des Feldes der Intersubjektivität lokalisiert ist.

The narrative Verdeckung des Antagonismus

Der dritte Punkt: Fantasie ist die ursprüngliche Form von Narration, die dazu dient, eine ursprüngliche Blockade zu verdecken. Die soziopolitische Fantasie par excellence ist natürlich der Mythos der ‘ursprünglichen Akkumulation’: die Erzählung von zwei Arbeitern, der eine faul und freigebig, der andere fleißig und unternehmerisch, der akkumuliert und investiert, die den Mythos der ‘Ursprünge des Kapitalismus’ liefert und die Gewalt seiner tatsächlichen Genealogie verschleiert. Trotz seiner Betonung von Symbolisierung und/oder Historisierung in den 1950er Jahren ist Lacan damit radikal anti-narrativistisch: Das letztliche Ziel der psychoanalytischen Behandlung ist nicht, dass der Analysand seine verworrene Lebenserfahrung zu einer (weiteren) kohärenten Erzählung ordnet, mit allen Traumata ordnungsgemäß integriert, und so weiter. Es ist nicht nur so, dass manche Erzählungen ‘falsch’ sind, weil sie auf dem Ausschluss traumatischer Ereignisse beruhen und die von diesen Ausschlüssen hinterlassenen Lücken flicken – Lacans These ist viel stärker: Die Antwort auf die Frage ‘Warum erzählen wir Geschichten?’ lautet, dass Narration als solche entsteht, um einen grundlegenden Antagonismus zu lösen, indem sie seine Termini in eine zeitliche Sukzession umordnet. Es ist also die Form der Narration selbst, die von einem verdrängten Antagonismus Zeugnis ablegt. Der Preis, den man für die narrative Lösung zahlt, ist die petitio principii der zeitlichen Schleife – die Erzählung setzt stillschweigend als bereits gegeben voraus, was sie zu reproduzieren vorgibt (die Erzählung der ‘ursprünglichen Akkumulation’ erklärt effektiv nichts, da sie bereits einen Arbeiter voraussetzt, der sich wie ein voll entfalteter Kapitalist verhält).⁷

Lassen wir uns dieses Vorgehen der narrativen Auflösung des Antagonismus am Beispiel der Spaltung des Rechtsbereichs in das neutrale öffentliche Gesetz und sein obszönes Über-Ich-Supplement genauer ausführen. Das Problem bei der Definition von ‘Totalitarismus’ als der Verfinsterung des neutralen symbolischen Gesetzes, so dass der gesamte Rechtsbereich vom obszönen Über-Ich ‘befleckt’ ist,⁸ ist, wie wir die vorherige Epoche zu denken haben – das heißt, wo war die obszöne Über-Ich-Seite vor dem Auftreten des ‘Totalitarismus’? Zwei entgegengesetzte Erzählungen drängen sich hier auf:

•Die Erzählung, nach der mit dem Aufkommen der Moderne das in konkreten traditionellen Gemeinschaften verwurzelte Recht, und als solches noch von jouissance einer spezifischen ‘Lebensweise’ durchdrungen, in das neutrale symbolische Gesetz und sein Über-Ich-Supplement obszöner ungeschriebener Regeln gespalten wird: Erst mit dem Aufkommen der Moderne entsteht die neutrale Rechtsordnung des Gesetzes, entbunden von substantieller jouissance.

•Die (foucaultsche) Gegen-Erzählung, nach der in der Epoche der Moderne die Herrschaft des traditionellen Rechtsgesetzes durch das Netz disziplinierender Praktiken ersetzt wird. Die Moderne beinhaltet die ‘Investiturkrise’, die Unfähigkeit der Subjekte, symbolische Mandate zu übernehmen: Was sie daran hindert, den Akt symbolischer Identifizierung zu vollziehen, ist die Wahrnehmung eines ‘Genussflecks’ im großen Anderen des Gesetzes, die Wahrnehmung des Rechtsbereichs als von obszönem Genuss durchdrungen. Folglich ist die disziplinierende Machtausübung, die das reine symbolische Gesetz ersetzt, per Definition mit Über-Ich-Genuss befleckt (dass Schreber von der Vision des obszönen Gottes besessen war, der ihn als den weiblichen Partner im Akt der Kopulation benutzen wollte, ist damit strikt korrelativ zu der Tatsache, dass er das Opfer eines proto-foucaultschen disziplinierenden Vaters war).⁹

Das Problem ist, dass diese beiden Erzählungen in ihren entscheidenden Aspekten einander ausschließen: Nach der ersten ist das neutrale Gesetz, von dem Genussfleck befreit, mit der Moderne entstanden; während nach der zweiten die Moderne die ‘Investiturkrise’ signalisiert, die Tatsache, dass das Gesetz als mit Über-Ich-Genuss befleckt wahrgenommen wird … Die einzige Lösung dieses Deadlocks besteht natürlich darin, diese beiden Erzählungen als die zwei komplementären ideologischen Gesten der Auflösung/Verschleierung des zugrunde liegenden Deadlocks zu begreifen, der darin besteht, dass das Gesetz im Moment seines Auftretens als neutrales-universales formales Gesetz durch Genuss beschmiert, stigmatisiert war. Das Auftreten eines reinen neutralen Gesetzes, frei von seiner konkreten ‘organischen’ Lebenswelt-Stütze, gebiert die obszöne Über-Ich-Unterseite, weil diese Lebenswelt-Stütze selbst, sobald sie dem reinen Gesetz gegenübersteht, auf einmal als obszön wahrgenommen wird.¹⁰

Es ist leicht, dasselbe Paradox in der Standard-New-Age-Kritik an Descartes zu erkennen: Descartes wird ‘Anthropozentrismus’ vorgeworfen – beinhaltet cartesianische Subjektivität (als Korrelat des Universums der modernen Wissenschaft) jedoch nicht die ‘kopernikanische Wende’, dezentriert sie nicht den Menschen und reduziert ihn auf ein unbedeutendes Geschöpf auf einem kleinen Planeten? Mit anderen Worten: Was man immer im Auge behalten sollte, ist, wie die cartesianische Entsubstanzialisierung des Subjekts, seine Reduktion auf $, auf das reine Vakuum sich-auf-sich-beziehender Negativität, strikt korrelativ ist zur gegenteiligen Reduktion des Menschen auf ein Staubkorn in der Unendlichkeit des Universums, auf eines unter den endlosen Objekten in ihm: Das sind die zwei Seiten desselben Prozesses. In diesem präzisen Sinn ist Descartes radikal anti-humanistisch; das heißt, er löst die Einheit des Renaissance-Humanismus, des Menschen als höchstes Geschöpf, als Gipfel der Schöpfung, in reines cogito und dessen körperlichen Rest auf: Die Erhebung des Subjekts zum transzendentalen Agenten der für die Realität konstitutiven Synthese ist korrelativ zur Erniedrigung seines materiellen Trägers zu einem unter den weltlichen Objekten. Obwohl Descartes auch patriarchale Voreingenommenheit vorgeworfen wird (die unverkennbar männlichen Züge des cogito), markiert nicht seine Formulierung des cogito als reines Denken, das als solches ‘kein Geschlecht hat’, den ersten Bruch mit der vormodernen sexualisierten Ontologie? Descartes wird auch vorgeworfen, das Subjekt als Eigentümer natürlicher Objekte zu denken, so dass Tiere und die Umwelt im Allgemeinen zu bloßen Objekten reduziert werden, die zur Ausbeutung verfügbar sind, ohne Schutz. Ist es jedoch nicht wahr, dass natürliche Objekte erst dann, wenn wir ihnen den Status von Eigentum verleihen, zum ersten Mal rechtlich geschützt werden (da nur ein Eigentum geschützt werden kann)?

In all diesen (und anderen) Fällen hat Descartes den Standard gesetzt, mittels dessen man seine positive Doktrin im Namen eines post-cartesianischen ‘holistischen’ Ansatzes misst und verwirft. Narrativierung ist somit in beiden Versionen fehlrepräsentational: sowohl in der Gestalt der Geschichte des Fortschritts vom Primitiven zur höheren, kultivierteren Form (von primitischem fetischistischem Aberglauben zur spirituellen monotheistischen Religion oder, im Fall von Descartes, von primitiver sexualisierter Ontologie zu neutralem modernem Denken), als auch in der Gestalt der Geschichte historischer Evolution als Regression oder Fall (etwa im Fall von Descartes, von organischer Einheit mit der Natur zur ausbeuterischen Haltung ihr gegenüber; von vormoderner spiritueller Komplementarität von Frau und Mann zur cartesianischen Identifizierung der Frau mit dem ‘Natürlichen’, usw.) – beide Versionen verschleiern die absolute Synchronizität des betreffenden Antagonismus.

Folglich ist das Paradox, das voll zu akzeptieren ist, dass, wenn ein bestimmter historischer Moment als Moment des Verlustes einer Qualität (fehl)wahrgenommen wird, bei näherem Hinsehen klar wird, dass die verlorene Qualität erst in eben diesem Moment ihres angeblichen Verlustes entstanden ist … Diese Koinzidenz von Entstehung und Verlust bezeichnet natürlich das grundlegende Paradox des lacanianischen objet petit a, das als Verloren-Sein entsteht – Narrativierung verdeckt dieses Paradox, indem sie den Prozess beschreibt, in dem das Objekt zuerst gegeben ist und dann verloren geht. (Obwohl es so aussehen mag, als sei die hegelianische Dialektik, mit ihrer Matrix der Vermittlung von Unmittelbarkeit, die elaborierteste philosophische Version einer solchen Narrativierung, war Hegel vielmehr der erste, der die explizite Formulierung dieser absoluten Synchronizität lieferte – wie er sagte, der in der Reflexion verlorene unmittelbare Gegenstand ‘kommt erst dadurch zustande, dass er zurückgelassen wird’.¹¹) Die Schlussfolgerung, die aus dieser absoluten Synchronizität zu ziehen ist, ist natürlich nicht, dass ‘es keine Geschichte gibt, da alles schon von Anfang an da war’, sondern dass der historische Prozess nicht der Logik der Narration folgt: tatsächliche historische Brüche sind, wenn überhaupt, radikaler als bloße narrative Entfaltungen, da sich in ihnen die gesamte Konstellation von Entstehung und Verlust verändert. Mit anderen Worten: Ein echter historischer Bruch bezeichnet nicht einfach den ‘regressiven’ Verlust (oder ‘progressiven’ Gewinn) von etwas, sondern die Verschiebung im Raster selbst, das es uns ermöglicht, Verluste und Gewinne zu messen.¹²

Das oberste Beispiel dieser paradoxen Koinzidenz von Entstehung und Verlust liefert der Begriff der Geschichte selbst – wo genau ist sein Ort; das heißt, welche Gesellschaften können als eigentlich historisch charakterisiert werden? Einerseits kennen vorkapitalistische Gesellschaften angeblich noch nicht die eigentliche Geschichte; sie sind ‘zirkulär’, ‘geschlossen’, gefangen in einer repetitiven Bewegung, die von der Tradition vorbestimmt ist – also muss Geschichte erst danach entstehen, mit dem Verfall ‘geschlossener’ organischer Gesellschaften. Andererseits sagt uns das gegenteilige Klischee, dass der Kapitalismus selbst nicht mehr historisch ist; er ist wurzellos, ohne eigene Tradition, und daher parasitär an früheren Traditionen, eine universale Ordnung, die (wie die moderne Wissenschaft) überall gedeihen kann, von Japan bis Argentinien, und die alle partikularen Lebenswelten, die auf spezifischen Traditionen beruhen, entwurzelt und langsam korrodiert. Also ist Geschichte das, was mit dem Wachstum des Kapitalismus verloren geht, mit seinem endgültigen weltweiten Triumph, der den Moment vom ‘Ende der Geschichte’ signalisiert (Fukuyamas halb vergessenes Konzept). Die Lösung ist wieder, dass Entstehung und Verlust zusammenfallen: Das eigentlich ‘Historische’ ist nur ein Moment, auch wenn dieser Moment eigentlich unendlich ist und über Jahrhunderte andauert – der Moment des Übergangs von vorkapitalistischen Gesellschaften zu einer kapitalistischen universalen Ordnung.¹³

Nach dem Fall

Damit kommen wir zum nächsten Merkmal, der Problematik des Falls. Entgegen der common-sense Vorstellung des Fantasierens als eines Schwelgens in der halluzinatorischen Realisierung von durch das Gesetz verbotenen Wünschen inszeniert die phantasmatische Erzählung nicht die Suspendierung-Übertretung des Gesetzes, sondern den Akt seiner Installation, des Eingriffs des Schnitts symbolischer Kastration – was die Fantasie zu inszenieren versucht, ist letztlich die ‘unmögliche’ Szene der Kastration. Aus diesem Grund ist Fantasie als solche, in ihrem Begriff selbst, der Perversion nahe: Das perverse Ritual inszeniert den Akt der Kastration, den ursprünglichen Verlust, der dem Subjekt erlaubt, in die symbolische Ordnung einzutreten. Oder – um es präziser zu sagen – im Gegensatz zum ‘normalen’ Subjekt, für das das Gesetz als Instanz des Verbots fungiert, die (den Zugang zum Objekt) seines Begehrens reguliert, ist für den Perversen das Objekt seines Begehrens das Gesetz selbst – das Gesetz ist das Ideal, nach dem er sich sehnt, er will vom Gesetz vollständig anerkannt, in sein Funktionieren integriert werden … Die Ironie daran sollte uns nicht entgehen: Der Perverse, dieser ‘Übertreter’ par excellence, der vorgibt, alle Regeln ‘normalen’ und anständigen Verhaltens zu verletzen, sehnt sich effektiv nach der Herrschaft des Gesetzes.¹⁴

Auf der politischen Ebene erinnern wir uns an die endlose Suche nach dem phantasmatischen Punkt, an dem die deutsche Geschichte ‘die falsche Abzweigung’ nahm, die im Nazismus endete: verspätete nationale Einigung, aufgrund der Zerstückelung des Deutschen Reiches nach dem Dreißigjährigen Krieg; die Ästhetisierung der Politik in der romantischen Reaktion auf Kant (die Theorie von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe); die ‘Investiturkrise’ und der bismarcksche Staatssozialismus in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts; bis hin zum Bericht über den Widerstand der germanischen Stämme gegen die Römer, der angeblich bereits die Züge der Volksgemeinschaft zeigte …¹⁵ Ähnliche Beispiele gibt es in Hülle und Fülle: Wann genau fiel zum Beispiel patriarchale Repression mit der Repression und Ausbeutung der Natur zusammen? Die Grundsätze des Ökofeminismus liefern eine Vielzahl ‘regressiver’ Bestimmungen dieses einzigartigen phantasmatischen Moments des Falls: das Überwiegen des westlichen Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts; moderne cartesianische Wissenschaft, mit ihrer objektivierenden Haltung gegenüber der Natur; der schädliche Einfluss der griechischen rationalistischen sokratischen Aufklärung; das Aufkommen großer barbarischer Imperien; bis hin zum Übergang von nomadischer zu agrarischer Zivilisation … Und – Jacques-Alain Miller hat darauf hingewiesen – ist nicht auch Foucault selbst in derselben phantasmatischen Schleife gefangen, in seiner Suche nach dem Moment, in dem die westliche Ordnung der Sexualität entstand? Er geht immer weiter zurück von der Moderne, bis er schließlich die Grenze dort setzt, wo die antike Ethik der ‘Sorge um das Selbst’ in die christliche Ethik des Bekenntnisses zerfällt: Die Tatsache, dass der Ton von Foucaults letzten zwei Büchern über vorchristliche Ethik vollständig von seinen früheren Erkundungen des Komplexes von Macht, Wissen und Sexualität abweicht – statt seiner üblichen Analysen der materiellen Mikropraktiken der Ideologie erhalten wir eine ziemlich standardmäßige Version der ‘Ideengeschichte’ – bezeugt, dass Foucaults Griechenland und Rom ‘vor dem Fall’ (in Sexualität-Schuld-Bekenntnis) rein phantasmatische Entitäten sind.

Vor diesem Hintergrund ist es möglich, eine präzise Theorie des Falls durch einen Verweis auf Miltons Paradise Lost auszuarbeiten. Sein erstes Merkmal ist, dass der Fall aus strukturellen Gründen niemals in der Gegenwart stattgefunden hat – Adam ‘entscheidet’, streng genommen, nicht; er stellt fest, dass er entschieden hat. Adam entdeckt seine Wahl, statt sie zu treffen.¹⁶ Warum ist das so? Wenn die Entscheidung (die Wahl des Falls) in der Gegenwart stattfinden würde, würde sie bereits voraussetzen, was sie hervorbringt – die Freiheit zu wählen. Das Paradox des Falls ist, dass er ein Akt ist, der den Raum der Entscheidung selbst eröffnet. Wie ist das möglich? Das zweite Merkmal des Falls ist, dass er aus der Wahl entsteht, zu gehorchen zu verweigern, um die erotische Ekstase Evas zu bewahren, doch das Paradox liegt darin, dass ‘weil [Adam] ungehorsam ist, er das verliert, dem er ungehorsam war, um es zu behalten’.¹⁷ Hier haben wir, noch einmal, die Struktur der Kastration: Wenn Adam wählt zu fallen, um jouissance zu bewahren, verliert er dadurch gerade jouissance – begegnen wir hier nicht der Umkehrung der Struktur der ‘Zustände, die wesentlich Nebenprodukte sind’? Adam verliert X, indem er es direkt wählt, darauf zielt, es zu behalten … Das heißt: Was genau ist symbolische Kastration? Sie ist das Inzestverbot im präzisen Sinn des Verlustes von etwas, das das Subjekt nie besessen hat. Stellen wir uns eine Situation vor, in der das Subjekt auf X zielt (sagen wir, eine Reihe lustvoller Erfahrungen); die Operation der Kastration besteht nicht darin, ihn einer dieser Erfahrungen zu berauben, sondern fügt der Reihe ein rein potentielles, nichtexistentes X hinzu, in Bezug auf das die tatsächlich zugänglichen Erfahrungen plötzlich als mangelhaft erscheinen, nicht vollständig befriedigend. Man kann hier sehen, wie der Phallus als der Signifikant der Kastration funktioniert: Der Signifikant des Mangels, der Signifikant, der dem Subjekt den Zugang zu X verbietet, erzeugt dessen Phantom …

Dieses Paradox erlaubt uns auch, das Paradies als libidinöse Ökonomie zu definieren, in der das Paradox der ‘Zustände, die wesentlich Nebenprodukte sind’ noch nicht am Werk ist: Im Paradies besteht die unmögliche Koinzidenz von Wissen und jouissance fort. Die Behauptung einiger Theologen (Aquinas unter ihnen), es habe Sex im Paradies gegeben, Adam und Eva hätten kopuliert, ihre Lust sei sogar größer gewesen als die unsere (d.h. die Lust, Sex nach dem Fall zu haben), der einzige und entscheidende Unterschied sei, dass sie beim Kopulieren das richtige Maß und die richtige Distanz wahrten und niemals die Selbstkontrolle verloren – diese Behauptung enthüllt unbewusst das Geheimnis des Paradieses: Es war das Reich der Perversion. Das heißt: Liegt das grundlegende Paradox der Perversion nicht darin, dass der Perverse den Deadlock der ‘Zustände, die wesentlich Nebenprodukte sind’ erfolgreich vermeidet? Wenn der sadomasochistische Perverse die Szene inszeniert, an der er teilnimmt, ‘bleibt er’ jederzeit ‘in Kontrolle’, hält Abstand, gibt Anweisungen wie ein Regisseur, doch sein Genuss ist dennoch viel intensiver als der einer unmittelbaren leidenschaftlichen Versenkung.

Also – welche präzise Form nahm sexuelle Aktivität in Eden an? In der Praxis des homosexuellen Fist-Fucking muss der Mann (gewöhnlich mit aktiver Penetration assoziiert) sich passiv öffnen; er wird in der Region penetriert, in der ‘Verschluss’, Widerstand gegen Penetration, die natürliche Reaktion ist (man weiß, dass die Schwierigkeit des Fist-Fucking mehr psychologisch als physisch ist: die Schwierigkeit liegt darin, die analen Muskeln genug zu entspannen, um die Faust des Partners eindringen zu lassen – die Position dessen, der beim Fist-Fucking gefistet wird, ist vielleicht die intensivste Erfahrung passiven Öffnens, die menschlicher Erfahrung verfügbar ist); zusätzlich zu diesem Sich-Öffnen für den anderen, dessen Organ buchstäblich in meinen Körper eintritt und ihn von innen erkundet, ist das andere entscheidende Merkmal, dass dieses Organ gerade nicht der Phallus ist (wie beim ‘normalen’ Analverkehr), sondern die Faust (Hand), das Organ par excellence nicht spontaner Lust, sondern instrumenteller Tätigkeit, von Arbeit und Erkundung. (Kein Wunder, dass Fist-Fucking in seinen physischen Merkmalen fast mit der Art überlappt, wie ein Arzt das Rektum auf Prostatakrebs untersucht.) In diesem präzisen Sinn ist Fist-Fucking edenisch; es ist das Nächste, was wir dem annähern können, wie Sex vor dem Fall war: Was in mich eindringt, ist nicht der Phallus, sondern ein prä-phallisches Partialobjekt, eine Hand (ähnlich den Händen, die als Objekte in den surrealistischen Alpträumen in manchen von Buñuels Filmen umherlaufen) – wir sind zurück in einem vorlapsarischen edenischen Zustand, in dem, nach den Spekulationen einiger Theologen, Sex als bloße weitere instrumentelle Tätigkeit ausgeübt wurde.

Der unmögliche Blick

Das fünfte Merkmal: Aufgrund seiner zeitlichen Schleife beinhaltet die phantasmatische Erzählung immer einen unmöglichen Blick, den Blick, mittels dessen das Subjekt bereits beim Akt seiner/ihrer eigenen Empfängnis anwesend ist. Ein exemplarischer Fall dieses Teufelskreises im Dienst der Ideologie ist ein Anti-Abtreibungs-Märchen, das in den 1980er Jahren von einem rechten slowenischen nationalistischen Dichter geschrieben wurde. Die Erzählung spielt auf einer idyllischen Südseeinsel, auf der abgetriebene Kinder ohne ihre Eltern zusammen leben: Obwohl ihr Leben schön und ruhig ist, fehlt ihnen elterliche Liebe, und sie verbringen ihre Zeit in trauriger Reflexion darüber, wie es dazu kam, dass ihre Eltern eine Karriere oder einen luxuriösen Urlaub ihnen vorzogen … Der Trick liegt natürlich darin, dass die abgetriebenen Kinder als geboren dargestellt werden, nur eben in ein alternatives Universum hinein geboren (die einsame Pazifikinsel), wobei sie die Erinnerung an Eltern behalten, die sie ‘verraten’ haben – auf diese Weise können sie ihren Eltern einen vorwurfsvollen Blick zuwerfen, der sie schuldig macht.¹⁸

In Bezug auf eine phantasmatische Szene ist die Frage, die zu stellen ist, daher immer: Für welchen Blick ist sie inszeniert? Welche Erzählung soll sie stützen? Nach einigen kürzlich veröffentlichten Dokumenten hatte der britische General Michael Rose, Leiter der UNPROFOR-Truppen in Bosnien, und sein spezielles Team von SAS-Operativen in Bosnien definitiv eine ‘hidden agenda’: Unter dem Vorwand, einen Waffenstillstand zwischen den sogenannten ‘kriegsführenden Fraktionen’ aufrechtzuerhalten, bestand ihre geheime Aufgabe auch darin, die Schuld den Kroaten und besonders den Muslimen zuzuschieben (kurz nach dem Fall von Srebrenica etwa ‘entdeckten’ Roses Operative plötzlich in Nordbosnien einige serbische Leichen, die angeblich von den Muslimen massakriert worden waren; ihre Versuche, zwischen Muslimen und Kroaten zu ‘vermitteln’, heizten den Konflikt zwischen ihnen tatsächlich an, usw.); diese Ablenkungsmanöver sollten die Wahrnehmung des Bosnienkonflikts als eine Art ‘Stammeskrieg’ erzeugen, als Bürgerkrieg aller gegen alle, in dem ‘alle Seiten gleichermaßen schuld sind’. Anstatt einer klaren Verurteilung der serbischen Aggression war diese Wahrnehmung dazu bestimmt, den Boden für eine internationale ‘Befriedungs’-Anstrengung zu bereiten, die die ‘kriegsführenden Fraktionen’ ‘versöhnen’ würde. Aus einem souveränen Staat, dem Opfer einer Aggression, wurde Bosnien plötzlich in einen chaotischen Ort verwandelt, in dem ‘machthungrige Warlords’ ihre historischen Traumata auf Kosten unschuldiger Frauen und Kinder ausagierten … Im Hintergrund lauert natürlich die pro-serbische ‘Einsicht’, nach der Frieden in Bosnien nur möglich ist, wenn wir nicht eine Seite im Konflikt ‘dämonisieren’: Verantwortung ist gleichmäßig zu verteilen, wobei der Westen die Rolle des neutralen Richters übernimmt, der über lokalen Stammeskonflikten steht.

Der entscheidende Punkt für unsere Analyse ist, dass General Roses pro-serbischer ‘geheimer Krieg’ auf dem Terrain selbst nicht darauf aus war, die Beziehungen zwischen militärischen Kräften zu verändern, sondern vielmehr den Boden für eine andere narrative Wahrnehmung der Situation zu bereiten: Die ‘reale’ militärische Aktivität selbst stand hier im Dienst ideologischer Narrativierung.¹⁹ Und beiläufig: Das Schlüsselereignis, das als eine Art point de capiton fungierte, indem es die bis dahin vertretene Perspektive auf den Bosnienkrieg auf den Kopf stellte und seine entpolitisierte (Re-)Narrativierung als ‘humanitäre Katastrophe’ herbeiführte, war François Mitterrands Besuch in Sarajevo im Sommer 1992. Man ist sogar versucht zu postulieren, dass General Rose nach Bosnien geschickt wurde, um Mitterrands Vision des Konflikts vor Ort zu realisieren. Das heißt: Bis zu Mitterrands Besuch war die vorherrschende Wahrnehmung des Bosnienkonflikts noch eine politische: Im Umgang mit der serbischen Aggression war das Schlüsselproblem die Aggression des Ex-Jugoslawien gegen einen unabhängigen Staat; nachdem Mitterrand abgereist war, verlagerte sich der Akzent auf einen humanitären Aspekt – dort unten tobt ein wilder Stammeskrieg, und das Einzige, was der zivilisierte Westen tun kann, ist, seinen Einfluss auszuüben, um die aufgeheizten Leidenschaften zu besänftigen und den unschuldigen Opfern mit Nahrung und Medikamenten zu helfen.

Gerade durch seine Zurschaustellung von Mitgefühl gegenüber den leidenden Menschen Sarajevos versetzte Mitterrands Besuch den bosnischen Interessen den entscheidenden Schlag – er fungierte als der Schlüsselfaktor politischer Neutralisierung in der internationalen Wahrnehmung des Konflikts. Oder wie der Vizepräsident von Bosnien und Herzegowina, Ejup Ganic, es in einem Interview ausdrückte: ‘Zuerst waren wir froh, Mitterrand zu empfangen, in der Hoffnung, sein Besuch signalisiere eine echte Sorge des Westens. Plötzlich jedoch begriffen wir, dass wir verloren sind.’ Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass dieser Blick des äußeren unschuldigen Beobachters, für den das Spektakel des ‘Stammeskriegs auf dem Balkan’ inszeniert wurde, denselben ‘unmöglichen’ Status hat wie der Blick der abgetriebenen Kinder, die in dem slowenischen Anti-Abtreibungs-Märchen in eine andere Realität hineingeboren werden: Der Blick des unschuldigen Beobachters ist ebenfalls in gewisser Weise nicht existent, da dieser Blick der unmögliche neutrale Blick von jemandem ist, der sich fälschlich aus seiner konkreten historischen Existenz ausnimmt – das heißt, aus seiner tatsächlichen Verstrickung in den Bosnienkonflikt.

Dieselbe Operation ist leicht erkennbar in den zahlreichen Medienberichten über die ‘heiligen’ Aktivitäten von Mutter Teresa in Kalkutta, die eindeutig auf dem phantasmatischen Schirm der Dritten Welt beruhen. Kalkutta wird regelmäßig als eine Hölle auf Erden dargestellt, der exemplarische Fall der verfallenden Megalopolis der Dritten Welt, voll von sozialem Verfall, Armut, Gewalt und Korruption, mit seinen Bewohnern, die in terminaler Apathie gefangen sind (die Fakten sind natürlich eher anders: Kalkutta ist eine Stadt, die vor Aktivität platzt, kulturell viel lebendiger als Bombay, mit einer erfolgreichen lokalen kommunistischen Regierung, die ein ganzes Netz sozialer Dienste aufrechterhält). In dieses Bild völliger Düsternis bringt Mutter Teresa einen Hoffnungsschimmer für die Niedergeschlagenen mit der Botschaft, Armut sei als Weg zur Erlösung zu akzeptieren, da die Armen, indem sie ihr trauriges Schicksal mit stiller Würde und Glauben ertragen, Christi Kreuzweg wiederholen … Der ideologische Gewinn dieser Operation ist doppelt: insofern sie den Armen und unheilbar Kranken nahelegt, in ihrem Leiden selbst das Heil zu suchen, hält Mutter Teresa sie davon ab, den Ursachen ihrer misslichen Lage nachzugehen – davon, ihre Situation zu politisieren; zugleich bietet sie den Reichen aus dem Westen die Chance einer Art Ersatz-Erlösung, indem sie finanzielle Beiträge zu ihrer karitativen Tätigkeit leisten. Wiederum funktioniert all dies vor dem Hintergrund des phantasmatischen Bildes der Dritten Welt als Hölle auf Erden, als eines Ortes, der so vollkommen trostlos ist, dass keine politische Tätigkeit, sondern nur Wohltätigkeit und Mitgefühl, das Leiden lindern können.²⁰

Die inhärente Übertretung

Um wirksam zu sein, muss Fantasie ‘implizit’ bleiben, sie muss eine Distanz zur expliziten symbolischen Textur wahren, die von ihr getragen wird, und als deren inhärente Übertretung funktionieren. Diese konstitutive Lücke zwischen der expliziten symbolischen Textur und ihrem phantasmatischen Hintergrund ist in jedem Kunstwerk offensichtlich. Aufgrund des Vorrangs des Ortes vor dem Element, das ihn ausfüllt, ist selbst das harmonischste Kunstwerk a priori fragmentarisch, in Bezug auf seinen Ort mangelhaft: Der ‘Trick’ eines künstlerischen Erfolgs liegt in der Fähigkeit des Künstlers, diesen Mangel in einen Vorteil zu verwandeln – das zentrale Vakuum und seine Resonanz in den Elementen, die es umkreisen, geschickt zu manipulieren. So lässt sich das ‘Paradox der Venus von Milo’ erklären: Heute wird die Verstümmelung der Statue nicht mehr als Defizit erlebt, sondern im Gegenteil als positiver Bestandteil ihrer ästhetischen Wirkung. Ein einfaches Gedankenexperiment bestätigt diese Vermutung: Wenn wir uns die unbeschädigte, vollständige Statue vorstellen (im neunzehnten Jahrhundert waren Kunsthistoriker tatsächlich damit beschäftigt, sie zu ‘ergänzen’; in unterschiedlichen ‘Rekonstruktionen’ hält die fehlende Hand einen Speer, eine Fackel, sogar einen Spiegel …), ist der Effekt unmissverständlich der von Kitsch, die eigentliche ästhetische Wirkung geht verloren. Signifikant an diesen ‘Rekonstruktionen’ ist ihre bloße Vielheit: Das Objekt, das dazu bestimmt ist, das Vakuum zu füllen, ist a priori sekundär und als solches austauschbar. Ein typisch ‘postmoderner’ Gegenpart zu diesem Kitsch des neunzehnten Jahrhunderts sind jüngere Versuche, das Vakuum zu füllen, um das herum ein kanonisches Werk strukturiert ist; wieder ist der Effekt unweigerlich der obszöner Vulgarität. Nehmen wir Heathcliff, einen jüngeren Roman, der sich mit dem zentralen Vakuum von Wuthering Heights befasst: Was tat Heathcliff zwischen seinem Verschwinden aus Wuthering Heights und seiner Rückkehr als reicher Mann mehrere Jahre später? Eines der früheren, erfolgreicheren Beispiele ist der klassische Film noir Killers, basierend auf Hemingways gleichnamiger Kurzgeschichte: In seinen ersten zehn Minuten folgt der Film der Originalgeschichte treu; was dann folgt, ist jedoch ein Prequel dazu – ein Versuch, die geheimnisvolle vergangene traumatische Erfahrung zu rekonstruieren, die den ‘Schweden’ dazu brachte, wie ein lebender Toter zu vegetieren und ruhig seinen Tod abzuwarten.

Kunst ist also fragmentarisch, selbst wenn sie ein organisches Ganzes ist, da sie stets auf der Distanz zur Fantasie beruht. In dem ‘unveröffentlichbaren Fragment’ ihrer unvollendeten Erzählung ‘Beatrice Palmato’²¹ liefert Edith Wharton eine detaillierte X-rated Beschreibung eines Vater–Tochter-Inzests, mit gegenseitiger Masturbation, Cunnilingus und Fellatio, sowie natürlich dem Akt selbst. Es ist leicht, sich einer schnellen psychoanalytischen Erklärung hinzugeben, wonach dieses Fragment den ‘Schlüssel’ zu Whartons gesamtem literarischen Œuvre liefert, am besten verdichtet im Syntagma ‘das “Nein” der Mutter’ (der Titel eines Unterkapitels in Erlichs Buch über Wharton). In Whartons Kernfamilie war es ihre Mutter, die als Instanz des Verbots fungierte, während ihr Vater eine Art verbotenes Wissen verkörperte, durchdrungen von Genuss. Weiterhin ist es leicht, hier das Spiel des sexuellen Kindesmissbrauchs zu spielen und darauf hinzuweisen, dass hinreichende ‘indizienhafte Belege’ Whartons sexuellen Kindesmissbrauch durch ihren Vater als das traumatische Ereignis nahelegen, das den Verlauf ihres Lebens und ihrer literarischen Karriere prägte. Es ist auch leicht, die Ambiguität zwischen Fantasie und ‘Realität’ zu betonen: Es ist praktisch unmöglich, ihre jeweiligen Anteile klar zu unterscheiden (war väterlicher Inzest nur ihre Fantasie, oder wurde dieses Fantasieren durch ‘realen’ sexuellen Missbrauch ausgelöst?). In jedem Fall bezeugt dieser Teufelskreis die Tatsache, dass Edith nicht ‘unschuldig’ ist: Sie nahm am Inzest auf der Ebene der Fantasie teil. Ein solcher Zugang verfehlt jedoch zu erkennen, dass mehr Wahrheit in der Entfernung der Künstlerin von der Fantasie liegt als in ihrer direkten Darstellung: populäres Melodram und Kitsch stehen der Fantasie viel näher als ‘wahre Kunst’. Mit anderen Worten: Um die Verzerrung der ‘ursprünglichen Fantasie’ zu erklären, reicht es nicht aus, auf soziale Verbote zu verweisen: Was sich in Gestalt dieser Verbote einschaltet, ist die Tatsache, dass Fantasie selbst eine ‘ursprüngliche Lüge’ ist, ein Schirm, der die grundlegende Unmöglichkeit maskiert (im Fall von Edith Wharton haben wir es natürlich mit der phantasmatischen Vorstellung zu tun, dass es, es mit dem eigenen Vater zu tun, wirklich ‘es’ wäre, das voll realisierte sexuelle Verhältnis, das die Frau in ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann oder anderen Partnern vergeblich sucht). Das Kunststück ‘wahrer Kunst’ besteht also darin, die Zensur der zugrunde liegenden Fantasie so zu manipulieren, dass die radikale Falschheit dieser Fantasie sichtbar wird.

Veranschaulichen wir diese Lücke zwischen einer expliziten Textur und ihrer phantasmatischen Stütze weiter anhand eines Beispiels aus dem Kino. Entgegen seinem irreführenden Anschein ist Robert Altmans MASH ein vollkommen konformistischer Film – bei all ihrem Spott über Autorität, praktischen Streichen und sexuellen Eskapaden verrichten die Mitglieder der MASH-Crew ihre Arbeit exemplarisch und stellen damit absolut keine Bedrohung für den reibungslosen Ablauf der militärischen Maschine dar. Mit anderen Worten: Das Klischee, das MASH als antimilitaristischen Film betrachtet, der die Schrecken des sinnlosen militärischen Gemetzels zeigt, die nur durch ein gesundes Maß an Zynismus, praktische Streiche, Lachen über pompöse offizielle Rituale und so weiter ertragen werden können, verfehlt den Punkt – gerade diese Distanz ist Ideologie. Diese Dimension von MASH wird noch greifbarer in dem Moment, in dem man ihn mit zwei anderen bekannten Filmen über das Militärleben vergleicht, An Officer and a Gentleman und Full Metal Jacket. MASH und An Officer zeigen die zwei Versionen des perfekt funktionierenden militärischen Subjekts: Identifikation mit der militärischen Maschine wird entweder durch ironisches Misstrauen, Schwelgen in praktischen Streichen und sexuellen Eskapaden gestützt (MASH), oder durch das Bewusstsein, dass hinter dem grausamen Drill Sergeant ein ‘warmer menschlicher Mensch’ steht, ein helfender Vater-Ersatz, der nur Grausamkeit vortäuscht (in An Officer and a Gentleman), in strikter Analogie zum – zutiefst antifeministischen – Mythos einer Hure, die im Innersten ihres Herzens danach verlangt, eine gute Mutter zu sein. Full Metal Jacket hingegen widersteht erfolgreich dieser ideologischen Versuchung, den Drill Sergeant oder andere Crewmitglieder zu ‘humanisieren’, und legt damit die Karten der militärischen ideologischen Maschine auf den Tisch: Die Distanz zu ihr, weit davon entfernt, die Begrenzung der ideologischen Maschine zu signalisieren, fungiert als deren positive Möglichkeitsbedingung. Was wir im ersten Teil des Films bekommen, ist der militärische Drill, die direkte körperliche Disziplinierung, gesättigt mit der einzigartigen Mischung aus demütigender Machtdemonstration, Sexualisierung und obszöner Blasphemie (zu Weihnachten wird den Soldaten befohlen zu singen: ‘Happy birthday dear Jesus…’) – kurz, die Über-Ich-Maschine der Macht in ihrer reinsten Form. Dieser Teil des Films endet mit einem Soldaten, der aufgrund seiner Überidentifikation mit der militärischen ideologischen Maschine ‘amokläuft’ und zuerst den Drill Sergeant, dann sich selbst erschießt; die radikale, unvermittelte Identifikation mit der phantasmatischen Über-Ich-Maschine führt notwendig zu einem mörderischen passage à l’acte. Der zweite, Hauptteil des Films endet mit einer Szene, in der ein Soldat (Matthew Modine), der im Verlauf des Films eine Art ironische ‘menschliche Distanz’ zur militärischen Maschine gezeigt hat (auf seinem Helm wird die Aufschrift ‘Born to kill’ vom Peace-Zeichen begleitet, usw. – kurz, es sieht so aus, als sei er direkt aus MASH herausgetreten!), ein verwundetes vietnamesisches Vietcong-Scharfschützenmädchen erschießt. Er ist derjenige, bei dem die Interpellation durch den militärischen großen Anderen vollständig gelungen ist; er ist das vollständig konstituierte militärische Subjekt.

Die Lehre ist daher klar: Eine ideologische Identifikation übt gerade dann einen echten Griff auf uns aus, wenn wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir nicht vollständig mit ihr identisch sind, dass darunter eine reiche menschliche Person ist: ‘Nicht alles ist Ideologie, unter der ideologischen Maske bin ich auch eine menschliche Person’ ist die eigentliche Form der Ideologie, ihrer ‘praktischen Wirksamkeit’. Eine genaue Analyse selbst des ‘totalitärsten’ ideologischen Gefüges zeigt unvermeidlich, dass nicht alles darin ‘Ideologie’ ist (im populären Sinn der ‘politisch instrumentalisierten Legitimierung von Machtverhältnissen’): In jedem ideologischen Gefüge gibt es eine Art ‘transideologischen’ Kern, da eine Ideologie, wenn sie wirksam werden und Individuen effektiv ‘ergreifen’ soll, sich an eine Art ‘trans-ideologische’ Vision anheften und sie manipulieren muss, die nicht auf ein bloßes Instrument der Legitimierung von Machtansprüchen reduziert werden kann (Vorstellungen und Gefühle von Solidarität, Gerechtigkeit, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, usw.). Ist nicht selbst im Nazismus (die Vorstellung der tiefen Solidarität, die die ‘Volksgemeinschaft’ zusammenhält), von Stalinismus ganz zu schweigen, eine Art ‘authentische’ Vision erkennbar? Der Punkt ist also nicht, dass es keine Ideologie ohne einen transideologischen ‘authentischen’ Kern gibt, sondern vielmehr, dass erst der Verweis auf einen solchen transideologischen Kern eine Ideologie ‘funktionsfähig’ macht.

In einer seiner Reden vor der Nazi-Menge in Nürnberg machte Hitler eine selbstreferentielle Bemerkung darüber, wie diese Zusammenkunft selbst wahrgenommen werden soll: Ein äußerer Beobachter, unfähig, die ‘innere Größe’ der NS-Bewegung zu erfahren, wird nur die Zurschaustellung äußerer militärischer und politischer Stärke sehen; während sie für uns, Mitglieder der Bewegung, die sie leben und atmen, unendlich mehr ist: die Bekräftigung der inneren Verbindung, die uns verknüpft … auch hier begegnen wir wieder dem Verweis auf den extra-ideologischen Kern. Hitlers Lieblings-Wagneroper war weder die offen deutsche Meistersinger noch Lohengrin, mit seinem Ruf zu den Waffen zur Verteidigung Deutschlands gegen die östlichen Horden, sondern Tristan, mit seiner Tendenz, den Tag (das Alltagsleben symbolischer Verpflichtungen, Ehren und Schulden) hinter sich zu lassen und sich in die Nacht zu versenken, ekstatisch den eigenen Tod zu umarmen. Diese ‘ästhetische Suspendierung des Politischen’ (um Kierkegaard zu paraphrasieren) stand im Kern des phantasmatischen Hintergrunds der Nazi-Haltung: Auf dem Spiel stand ‘mehr als Politik’, eine ekstatische ästhetisierte Erfahrung von Gemeinschaft.²² So ist paradoxerweise die gefährliche Zutat des Nazismus nicht seine ‘totale Politisierung’ des gesamten sozialen Lebens, sondern im Gegenteil die Suspendierung des Politischen durch den Verweis auf einen extra-ideologischen Kern, viel stärker als in einer ‘normalen’ demokratischen politischen Ordnung. Darin liegt vielleicht das Problem an Judith Butlers Frage

Muss Politisierung immer Disidentifikation überwinden? Was sind die Möglichkeiten, Disidentifikation zu politisieren, diese Erfahrung von Verkennung, dieses unbehagliche Gefühl, unter einem Zeichen zu stehen, zu dem man gehört und nicht gehört?²³

Ist jedoch die Haltung der Helden von MASH nicht genau die einer aktiven Disidentifikation? Natürlich kann man argumentieren, dass diese Disidentifikation etwas völlig anderes ist als die lesbische parodische Imitation-Subversion weiblicher Codes – nichtsdestoweniger bleibt der Punkt, dass der Unterschied einer zwischen zwei Modi der Disidentifikation ist, nicht zwischen Identifikation und ihrer Subversion. Aus diesem Grund kann ein ideologisches Gefüge durch eine allzu wörtliche Identifikation unterminiert werden, weshalb sein erfolgreiches Funktionieren eine minimale Distanz zu seinen expliziten Regeln erfordert. Liefert nicht Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk, der Roman, dessen Held völliges Chaos anrichtet, indem er die Befehle seiner Vorgesetzten in übertrieben eifrigem und allzu wörtlichem Sinn ausführt, einen exemplarischen Fall einer solchen Subversion-durch-Identifikation? Die unvermeidliche Schlussfolgerung aus diesem Paradox ist, dass das Merkmal, das Identifikation effektiv stützt, der berühmte freudianisch-lacanianische einziger Zug, das unäre Merkmal, nicht das offensichtliche ist, das große ‘offizielle’ Abzeichen, sondern ein kleines Merkmal, sogar das des Markierens einer Distanz zum offiziellen Abzeichen. Wenn eine Lesbe den Standardcode des Weiblichen imitiert-parodiert-wiederholt-subvertiert, behauptet sie damit nicht zugleich auf einer ‘tieferen’ Ebene ihre ‘wahre’ queere Identität, die eine solche ironisch-subvertierend-parodierende Haltung erfordert? Ein anderes Beispiel derselben Logik liefert der ‘Führer, der mit heruntergelassenen Hosen ertappt wird’: Die Solidarität der Gruppe wird durch das gemeinsame Verleugnen der Mitglieder des Unglücks gestärkt, das das Versagen oder die Impotenz des Führers bloßlegte – eine geteilte Lüge ist ein unvergleichlich wirksameres Band für eine Gruppe als die Wahrheit. Wenn in einem akademischen Fachbereich Mitglieder des inneren Kreises um einen berühmten Professor auf irgendeinen Makel an ihm aufmerksam werden (er ist drogensüchtig, ein Kleptomane, ein sexueller masochistischer Perverser, er hat einem Studenten eine zentrale Argumentationslinie gestohlen, usw., usw.), ist dieses Wissen um den Makel – gekoppelt mit der Bereitschaft, dieses Wissen zu verleugnen – das wahre Identifikationsmerkmal, das die Gruppe zusammenhält … (Der Haken ist natürlich, dass das von der charismatischen Figur eines Führers faszinierte Subjekt notwendigerweise Opfer einer Art Perspektiv-Illusion ist: Es [miss]wahrnimmt das ‘wegen’ als ‘trotz’: in seiner subjektiven Erfahrung verehrt es den Führer trotz des Zeichens seiner Schwäche, nicht wegen ihm.)

The Duelists, Ridley Scotts extraordinäres Regiedebüt (basierend auf einer Kurzgeschichte, ‘The Duel’, von Joseph Conrad), zeigt den lebenslangen Kampf zwischen zwei hochrangigen Soldaten, einem echten adligen Oberklassenmann und einem aufstrebenden Offizier mittelständischer Herkunft – was sie für immer trennt, ist der Unterschied in der Art, wie sich jeder von ihnen auf den Oberklassen-Ehrenkodex bezieht: Der aufstrebende mittelständische Offizier folgt diesem Kodex hartnäckig und erzeugt gerade deshalb einen dauerhaften Eindruck unbeholfener Lächerlichkeit; sein Gegenpart, der Adlige, verletzt ständig die expliziten Regeln des offiziellen Kodex und behauptet dadurch seine wahre Oberklassigkeit. Das Problem der aufstrebenden unteren Mittelschichten ist, dass sie die wahre Ursache ihres Scheiterns missverstehen: Sie denken, ihnen fehle etwas, irgendeine versteckte Regel, und fühlen sich daher gezwungen, allen Regeln noch genauer zu folgen. Was sie jedoch missverstehen, ist, dass das geheimnisvolle X, das für wahre Oberklassigkeit verantwortlich ist, nicht auf ein spezifisches positives symbolisches Merkmal festgelegt werden kann. Hier begegnen wir wieder dem objet petit a: Wenn wir mit zwei Verhaltensreihen konfrontiert sind, die sich durch kein klar definiertes positives symbolisches Merkmal unterscheiden lassen, die Differenz zwischen beiden jedoch die unmissverständliche Differenz zwischen wahrer Oberklassigkeit und ihrer plumpen Imitation ist, jenes unergründliche X, das je ne sais quoi, das diese Lücke erklärt – kurz, das Objekt, das den Unterschied macht, wo man keinen positiven Unterschied feststellen kann – das ist genau das objet petit a als das unergründliche Objekt-Ursache des Begehrens.

Als die Clinton-Regierung den Deadlock der Schwulen in der US-Armee mit dem Kompromiss ‘Don’t ask, don’t tell!’ löste (d.h. Soldaten werden nicht direkt gefragt, ob sie schwul sind, so dass sie auch nicht gezwungen sind, zu lügen und es zu leugnen, obwohl sie formal nicht in der Armee erlaubt sind – sie werden toleriert, insofern sie ihre sexuelle Orientierung privat halten und nicht aktiv versuchen, andere darin einzubeziehen), wurde diese opportunistische Maßnahme zu Recht dafür kritisiert, im Grunde die homophobe Haltung gegenüber Homosexualität zu billigen: Obwohl das direkte Verbot der Homosexualität nicht durchgesetzt werden soll, beeinflusst seine bloße Existenz als virtuelle Drohung, die Schwule zwingt, im Schrank zu bleiben, ihren tatsächlichen sozialen Status. Mit anderen Worten: Was diese Lösung bedeutete, war eine explizite Erhebung der Heuchelei zu einem sozialen Prinzip, wie die Haltung zur Prostitution in traditionellen katholischen Ländern – wenn wir so tun, als gäbe es Schwule in der Armee nicht, ist es, als gäbe es sie tatsächlich nicht (für den großen Anderen). Schwule sind zu tolerieren, unter der Bedingung, dass sie die grundlegende Zensur bezüglich ihrer Identität akzeptieren.

Während sie auf ihrer eigenen Ebene voll gerechtfertigt ist, scheint der in dieser Kritik am Werk befindliche Begriff der Zensur, mit seinem foucaultschen Hintergrund einer Macht, die im Akt der Zensur und anderer Formen des Ausschlusses den Überschuss erzeugt, den sie zu enthalten und zu beherrschen versucht, dennoch an einem entscheidenden Punkt zu kurz zu greifen. Was sie verfehlt, ist die Art, wie Zensur nicht nur den Status der marginalen oder subversiven Kraft betrifft, die der Machtdiskurs zu beherrschen versucht, sondern auf einer noch radikaleren Ebene den Machtdiskurs selbst von innen her spaltet. Man sollte hier eine naive, aber dennoch entscheidende Frage stellen: Warum widersetzt sich die Gemeinschaft der Armee so stark der öffentlichen Aufnahme von Schwulen in ihre Reihen? Es gibt nur eine mögliche konsistente Antwort: nicht weil Homosexualität eine Bedrohung für die angeblich ‘phallische und patriarchale’ libidinöse Ökonomie der Armeegemeinschaft darstellt, sondern im Gegenteil, weil die libidinöse Ökonomie der Armeegemeinschaft selbst auf einer vereitelten/verleugneten Homosexualität als Schlüsselkomponente der männlichen Bindung der Soldaten beruht.

Aus eigener Erfahrung erinnere ich mich daran, wie die alte berüchtigte Jugoslawische Volksarmee homophob bis zum Äußersten war (wenn bei jemandem homosexuelle Neigungen entdeckt wurden, wurde er sofort zu einem Paria gemacht, als Nicht-Person behandelt, bevor er formal aus der Armee entlassen wurde), und doch war zugleich das alltägliche Armeeleben übermäßig von der Atmosphäre homosexueller Anspielungen durchdrungen. So war es etwa, während die Soldaten für ihr Essen in einer Reihe standen, ein gebräuchlicher vulgärer Scherz, dem Vordermann einen Finger in den Arsch zu stecken und ihn dann schnell zurückzuziehen, so dass, wenn der überraschte Betroffene sich umdrehte, er nicht wusste, wer unter den Soldaten, die hinter seinem Rücken mit einem dummen obszönen Grinsen dastanden, es getan hatte. Eine vorherrschende Form, einen Kameraden in meiner Einheit zu begrüßen, statt einfach ‘Hallo!’ zu sagen, war, ‘Lutsch meinen Schwanz!’ zu sagen (‘Pu i kurac!’ auf Serbokroatisch); diese Formel war so standardisiert, dass sie jede obszöne Konnotation vollständig verlor und auf völlig neutrale Weise ausgesprochen wurde, als ein reiner Akt der Höflichkeit.

Bezüge auf Homosexualität durchdrangen sogar die (manchmal überraschend komplexen) praktischen Streiche der Soldaten. Einmal, als ich die große Schlafbaracke betrat, wurde ich Zeuge einer seltsamen Szene: Drei Soldaten hielten den Kopf eines anderen Soldaten fest auf einem Kissen, während ein vierter Soldat, der seinen halb erigierten Penis als Stock benutzte, die Stirn des Soldaten schlug, dessen Kopf auf dem Kissen fixiert war. Die Erklärung dieses seltsamen ritualisierten Verfahrens beinhaltet eine Reihe sprachlicher Bezüge und Verschiebungen, die Freuds berühmtem Fall des Vergessens des Namens Signorelli würdig sind. Auf Serbokroatisch ist der gebräuchliche Ausdruck für Hoden nicht ‘Bälle’, sondern ‘Eier’ (‘Ich zerquetsche dir die Eier!’, nicht ‘deine Bälle’). Weiterhin heißt der Ausdruck für Spiegeleier ‘Eier aufs Auge’. Diese beiden Merkmale liefern den Hintergrund für ein standardmäßiges serbokroatisches vulgäres Rätsel-Witzchen: ‘Wie macht man Eier aufs Auge? Indem man den Schwanz auf die Stirn legt!’ All diese Elemente zusammengenommen erklären die Szene, der ich in der Baracke beiwohnte: Nach einem besonders geschmacklosen Abendessen, das von den meisten Soldaten unangetastet gelassen wurde, beschwerte sich der unglückliche Soldat, das Opfer des praktischen Scherzes, laut, dass er noch sehr hungrig sei und nichts gegen eine einfache Mahlzeit hätte, vielleicht ein Paar Eier aufs Auge; seine Kameraden ergriffen sofort die Gelegenheit und verschafften ihm ‘Eier aufs Auge’, indem sie einen Schwanz auf seine Stirn setzten.

Der entscheidende Punkt, der hier nicht zu übersehen ist, ist, wie dieses fragile Nebeneinander von extremer und gewaltsamer Homophobie mit einer vereitelten – das heißt öffentlich nicht anerkannten, ‘unterirdischen’ – homosexuellen libidinösen Ökonomie davon Zeugnis ablegt, dass der Diskurs der militärischen Gemeinschaft nur operieren kann, indem er sein eigenes libidinöses Fundament zensiert. Auf einer etwas anderen Ebene gilt dasselbe für die Praxis des Hazing (das zeremonielle Verprügeln und Erniedrigen der US-Marines durch ihre älteren Peers: das direkte Aufstecken ihrer Medaillen auf die Brusthaut, usw.): Als die öffentliche Enthüllung dieser Praktiken (jemand filmte sie heimlich auf Video und machte das Band öffentlich) einen solchen Aufruhr verursachte, störte die Öffentlichkeit nicht die Praxis des Hazing selbst (jeder wusste, dass so etwas vor sich ging), sondern die Tatsache, sie öffentlich zu machen.

Außerhalb der Grenzen des Militärlebens begegnen wir nicht einem streng analogen Selbstzensur-Mechanismus im zeitgenössischen konservativen Populismus, mit seiner sexistischen und rassistischen Voreingenommenheit? Man erinnere sich an die Wahlkampagnen von Jesse Helms, in denen die rassistische und sexistische Botschaft nicht öffentlich anerkannt wird (auf der öffentlichen Ebene wird sie manchmal sogar heftig verleugnet), sondern stattdessen ‘zwischen den Zeilen’ unausgesprochen bleibt, in einer Reihe von Doppeldeutigkeiten und codierten Anspielungen. Der Punkt ist, dass diese Art von Selbstzensur (die eigene grundlegende Botschaft nicht offen zuzugeben) notwendig ist, wenn Helms’ Diskurs unter den gegenwärtigen ideologischen Bedingungen operativ bleiben soll: Würde er seine rassistische Voreingenommenheit direkt, öffentlich artikulieren, würde ihn das in den Augen des vorherrschenden politischen diskursiven Regimes inakzeptabel machen; würde er die selbstzensierte codierte rassistische Botschaft effektiv aufgeben, würde er die Unterstützung seines anvisierten Wählerkörpers gefährden. Konservativer populistischer politischer Diskurs ist daher ein ausgezeichnetes Beispiel für einen Machtdiskurs, dessen Effizienz vom Mechanismus der Selbstzensur abhängt: Er beruht auf einem Mechanismus, der nur insofern operativ ist, als er zensiert bleibt. Gegen das in der Kulturkritik allgegenwärtige Bild eines radikalen subversiven Diskurses oder einer Praxis, die von der Macht ‘zensiert’ wird, ist man sogar versucht zu behaupten, dass heute, mehr denn je, der Mechanismus der Zensur überwiegend eingreift, um die Effizienz des Machtdiskurses selbst zu steigern.

Die Versuchung, die hier zu vermeiden ist, ist die alte linke Vorstellung ‘für uns ist es besser, es mit dem Feind zu tun zu haben, der seine (rassistische, homophobe …) Voreingenommenheit offen zugibt, als mit der heuchlerischen Haltung, öffentlich zu denunzieren, was man heimlich und tatsächlich befürwortet’. Diese Vorstellung unterschätzt fatal die ideologisch-politische Bedeutung des Aufrechterhaltens des Scheins: Ein Schein ist niemals ‘bloß ein Schein’, er beeinflusst die tatsächliche sozi-symbolische Position der Betroffenen tiefgreifend. Wenn rassistische Haltungen für den mainstream ideologisch-politischen Diskurs akzeptabel gemacht würden, würde dies das Gleichgewicht der gesamten ideologischen Hegemonie radikal verschieben. Das ist vermutlich, was Alain Badiou im Sinn hatte, als²⁴ er sein Werk spöttisch als eine Suche nach dem ‘guten Terror’ bezeichnete. Heute, angesichts des Auftretens neuen Rassismus und Sexismus, sollte die Strategie darin bestehen, solche Äußerungen unsagbar zu machen, so dass jeder, der sich auf sie stützt, sich automatisch disqualifiziert (wie in unserem Universum jene, die sich zustimmend auf den Faschismus beziehen). Man sollte entschieden nicht darüber diskutieren, ‘wie viele Menschen wirklich in Auschwitz gestorben sind’, was ‘die guten Aspekte der Sklaverei’ sind, ‘die Notwendigkeit, die kollektiven Rechte der Arbeiter zu beschneiden’, und so weiter; die Position sollte hier ganz ungeniert ‘dogmatisch’ und ‘terroristisch’ sein: Dies ist keine Sache für ‘offene, rationale, demokratische Diskussion’.²⁵

Wir sind nun in der Lage, die Unterscheidung zwischen der foucaultschen Verflechtung von Macht und Widerstand und unserem Begriff der ‘inhärenten Übertretung’ zu präzisieren. Beginnen wir mit der Matrix der möglichen Beziehungen zwischen Gesetz und seiner Übertretung. Die elementarste ist die einfache Beziehung der Äußerlichkeit, der äußeren Opposition, in der die Übertretung der legalen Macht direkt entgegengesetzt ist und eine Bedrohung für sie darstellt. Der nächste Schritt ist zu behaupten, dass Übertretung am Hindernis hängt, das sie verletzt: Ohne Gesetz gibt es keine Übertretung; Übertretung braucht ein Hindernis, um sich zu behaupten. Foucault verwirft natürlich in Band I von The History of Sexuality beide Versionen und behauptet die absolute Immanenz des Widerstands zur Macht. Der Punkt der ‘inhärenten Übertretung’ ist jedoch nicht nur, dass Widerstand der Macht immanent ist, dass Macht und Gegenmacht einander erzeugen; es ist nicht nur, dass die Macht selbst den Überschuss des Widerstands erzeugt, den sie nicht mehr beherrschen kann; es ist auch nicht nur, dass – im Fall der Sexualität – die disziplinierende ‘Repression’ einer libidinösen Besetzung diese Geste der Repression selbst erotisiert, wie im Fall des zwanghaften Neurotikers, der libidinöse Befriedigung aus den zwanghaften Ritualen selbst gewinnt, die dazu bestimmt sind, die traumatische jouissance in Schach zu halten.

Dieser letzte Punkt muss weiter radikalisiert werden: Das Machtgebäude selbst ist von innen gespalten: Um sich zu reproduzieren und sein Anderes einzudämmen, muss es sich auf einen inhärenten Überschuss stützen, der es begründet – um es in hegelianischen Begriffen spekulativer Identität zu sagen: Macht ist immer schon ihre eigene Übertretung; soll sie funktionieren, muss sie sich auf eine Art obszönes Supplement stützen. Es reicht daher nicht aus, in foucaultscher Weise zu behaupten, dass Macht untrennbar mit Gegenmacht verbunden ist, sie erzeugt und selbst von ihr bedingt wird: In selbstreflexiver Weise ist die Spaltung immer schon in das Machtgebäude selbst zurückgespiegelt, spaltet es von innen, so dass die Geste der Selbstzensur wesensgleich mit der Ausübung der Macht ist. Weiterhin reicht es nicht aus zu sagen, dass die ‘Repression’ irgendeines libidinösen Inhalts die Geste der ‘Repression’ selbst nachträglich erotisiert – diese ‘Erotisierung’ der Macht ist kein sekundärer Effekt ihrer Ausübung an ihrem Objekt, sondern ihr verleugnetes Fundament, ihr ‘konstitutives Verbrechen’, ihre gründende Geste, die unsichtbar bleiben muss, wenn Macht normal funktionieren soll. Was wir in der Art militärischen Drills bekommen, die im ersten Teil von Full Metal Jacket gezeigt wird, ist zum Beispiel keine sekundäre Erotisierung des disziplinierenden Verfahrens, das militärische Subjekte hervorbringt, sondern das konstitutive obszöne Supplement dieses Verfahrens, das es operativ macht. Judith Butler liefert ein perfektes Beispiel dafür, wieder, Jesse Helms, der in seiner Formulierung des Textes des Anti-Pornographie-Gesetzes die Konturen einer bestimmten Fantasie zeigt – ein älterer Mann, der sadomasochistische sexuelle Aktivität mit einem anderen, jüngeren Mann ausübt, vorzugsweise einem Kind –, die von seinem eigenen perversen sexuellen Begehren Zeugnis ablegt.²⁶ Helms bringt so ungewollt das obszöne libidinöse Fundament seines eigenen Kreuzzugs gegen Pornographie ans Licht.

Die leere Geste

Wie interagieren diese beiden Ebenen, der öffentliche Text und seine phantasmatische Stütze? Wo schneiden sie sich? Bertolt Brecht hat diesem Schnittpunkt in seinen ‘Lehrstücken’, insbesondere in Jasager, einen eindringlichen Ausdruck gegeben, wo der junge Junge gebeten wird, sich frei mit dem einverstanden zu erklären, was in jedem Fall sein Schicksal sein wird (in das Tal geworfen zu werden). Wie sein Lehrer ihm erklärt, ist es üblich, das Opfer zu fragen, ob es seinem Schicksal zustimmt, aber es ist auch üblich, dass das Opfer ja sagt … Jedes Zugehören zu einer Gesellschaft beinhaltet einen paradoxen Punkt, an dem dem Subjekt befohlen wird, frei zu umarmen, als Ergebnis seiner Wahl, was ihm ohnehin auferlegt ist (wir müssen alle unser Land, unsere Eltern lieben …). Dieses Paradox, zu wollen (frei zu wählen), was in jedem Fall notwendig ist, so zu tun (den Schein aufrechtzuerhalten), als gebe es eine freie Wahl, obwohl es sie tatsächlich nicht gibt, ist strikt wechselseitig abhängig von der Vorstellung einer leeren symbolischen Geste, einer Geste – eines Angebots –, das zurückgewiesen werden soll: Was die leere Geste anbietet, ist die Gelegenheit, das Unmögliche zu wählen, das, was unvermeidlich nicht geschehen wird (in Brechts Fall, dass die Expedition umkehrt mit dem kranken Jungen, statt ihn loszuwerden, indem sie ihn ins Tal wirft). Und ist nicht etwas Ähnliches Teil unserer alltäglichen Sitten? In John Irvings A Prayer for Owen Meany, nachdem der kleine Junge Owen aus Versehen Johns (seines besten Freundes, des Erzählers) Mutter getötet hat, ist er natürlich furchtbar aufgewühlt; um zu zeigen, wie leid es ihm tut, übergibt er John diskret ein Geschenk der vollständigen Sammlung von Farbfotos von Baseballstars, seinem wertvollsten Besitz; jedoch sagt Dan, Johns pingeliger Stiefvater, ihm, dass das Richtige sei, das Geschenk zurückzugeben.

Stellen wir uns eine bodenständigere Situation vor: Wenn ich nach einem erbitterten Wettbewerb um eine Beförderung mit meinem engsten Freund gewinne, ist das Richtige, anzubieten, zurückzuziehen, so dass er die Beförderung bekommt, und das Richtige für ihn ist, mein Angebot zurückzuweisen – so kann vielleicht unsere Freundschaft gerettet werden … Was wir hier haben, ist symbolischer Austausch in seiner reinsten Form: eine Geste, die dazu gemacht ist, zurückgewiesen zu werden; der Punkt, die ‘Magie’ des symbolischen Austauschs, ist, dass, obwohl wir am Ende wieder dort sind, wo wir am Anfang waren, das Gesamtergebnis der Operation nicht Null ist, sondern ein deutlicher Gewinn für beide Seiten, der Solidaritätspakt. Natürlich ist das Problem: Was, wenn der andere, dem das Angebot, das zurückgewiesen werden soll, gemacht wird, es tatsächlich annimmt? Was, wenn ich, nachdem ich im Wettbewerb geschlagen wurde, das Angebot meines Freundes annehme, die Beförderung statt seiner zu bekommen? Eine solche Situation ist eigentlich katastrophal: Sie verursacht den Zerfall des Scheins (der Freiheit), der zur sozialen Ordnung gehört – da jedoch auf dieser Ebene die Dinge gewissermaßen das sind, was sie zu sein scheinen, ist dieser Zerfall des Scheins gleichbedeutend mit dem Zerfall der sozialen Substanz selbst, der Auflösung des sozialen Bandes.

Die Notwendigkeit der phantasmatischen Stütze der öffentlichen symbolischen Ordnung (materialisiert in den sogenannten ungeschriebenen Regeln) bezeugt somit die Verletzlichkeit des Systems: Das System ist gezwungen, Möglichkeiten von Wahlen zuzulassen, die niemals tatsächlich stattfinden dürfen, da ihr Eintreten das System zum Zerfall bringen würde, und die Funktion der ungeschriebenen Regeln besteht gerade darin, die Aktualisierung dieser vom System formal erlaubten Wahlen zu verhindern. In der Sowjetunion der 1930er und 1940er Jahre – um das extremste Beispiel zu nehmen – war es nicht nur verboten, Stalin zu kritisieren, es war vielleicht sogar noch mehr verboten, dieses Verbot selbst zu verkünden: öffentlich zu sagen, dass es verboten sei, Stalin zu kritisieren. Das System musste den Schein aufrechterhalten, dass man Stalin kritisieren dürfe, den Schein, dass das Ausbleiben von Kritik (die Tatsache, dass es keine Oppositionspartei oder -bewegung gab, dass die Partei bei Wahlen 99,99 Prozent der Stimmen bekam …) einfach zeige, dass Stalin tatsächlich der Beste sei und (fast) immer recht habe. In hegelianischen Begriffen war dieser Schein als Schein wesentlich.

Oder – anders gesagt – die paradoxe Rolle ungeschriebener Regeln besteht darin, dass sie in Bezug auf das explizite, öffentliche Gesetz zugleich transgressiv sind (sie verletzen explizite soziale Regeln) und stärker zwingend (sie sind zusätzliche Regeln, die das Feld der Wahl einengen, indem sie die Möglichkeiten verbieten, die vom öffentlichen Gesetz erlaubt – ja sogar garantiert – werden). Als im späten achtzehnten Jahrhundert universelle Menschenrechte proklamiert wurden, verdeckte ihre Universalität natürlich die Tatsache, dass sie weiße Eigentumsmänner privilegierten; diese Einschränkung wurde jedoch nicht offen zugegeben, sie wurde in scheinbar tautologischen ergänzenden Qualifikationen codiert wie ‘alle Menschen haben Rechte, insofern sie wirklich rational und frei sind’, was dann implizit die geistig Kranken, ‘Wilden’, Kriminellen, Kinder, Frauen … ausschloss. Fantasie bezeichnet genau diesen ungeschriebenen Rahmen, der uns sagt, wie wir den Buchstaben des Gesetzes zu verstehen haben. Und man kann leicht beobachten, wie heute, in unserer aufgeklärten Ära universeller Rechte, Rassismus und Sexismus sich hauptsächlich auf der Ebene der phantasmatischen ungeschriebenen Regeln reproduzieren, die universelle ideologische Proklamationen stützen und qualifizieren. Die Lehre daraus ist, dass – zumindest manchmal – das wirklich Subversive nicht darin besteht, den expliziten Buchstaben des Gesetzes im Namen der zugrunde liegenden Fantasien zu missachten, sondern an diesem Buchstaben gegen die Fantasie festzuhalten, die ihn stützt.²⁷ Mit anderen Worten: Der Akt, die leere Geste (das Angebot, das zurückgewiesen werden soll) wörtlich zu nehmen – die erzwungene Wahl als echte Wahl zu behandeln – ist vielleicht eine der Weisen, in die Praxis umzusetzen, was Lacan ‘die Fantasie durchqueren’ nennt: Indem das Subjekt diesen Akt vollzieht, suspendiert es den phantasmatischen Rahmen ungeschriebener Regeln, die ihm sagen, wie es frei zu wählen hat – kein Wunder, dass die Konsequenzen dieses Akts so katastrophal sind.

Es ist daher entscheidend, die radikale Ambiguität der Fantasie innerhalb eines ideologischen Raums im Auge zu behalten: Fantasie wirkt in beide Richtungen, sie schließt zugleich die tatsächliche Spannweite der Wahlmöglichkeiten (Fantasie macht und stützt die Struktur der erzwungenen Wahl, sie sagt uns, wie wir wählen sollen, wenn wir die Freiheit der Wahl aufrechterhalten wollen – das heißt, sie überbrückt die Lücke zwischen dem formalen symbolischen Rahmen der Wahlmöglichkeiten und der sozialen Realität, indem sie die Wahl verhindert, die, obwohl formal erlaubt, wenn tatsächlich getroffen, das System ruinieren würde) und hält die falsche Öffnung aufrecht, die Idee, dass die ausgeschlossene Wahl hätte geschehen können, und tatsächlich nur aufgrund kontingenter Umstände nicht stattfindet – wie in Buñuels The Discreet Charm of the Bourgeoisie, in dem drei Oberklassenpaare versuchen, gemeinsam zu dinieren, aber es gibt immer einen unvorhergesehenen Zwischenfall (sie missverstehen das Datum des Dinners; die Polizei platzt herein und durchsucht den Ort nach Drogen, usw., usw.). In diesem Film ist die Rolle des phantasmatischen Rahmens genau, die (Fehl-)Wahrnehmung aufrechtzuerhalten, dass die drei Paare hätten Erfolg haben können, das geplante Dinner gemeinsam zu haben, und dass das, was dies verhindert, bloß eine Reihe unglücklicher Umstände ist – wodurch verschleiert wird, dass diese unglücklichen Umstände notwendig eingreifen, so dass das Dinner gleichsam von der grundlegenden Struktur des Universums selbst her ausgeschlossen ist.

Dieses Vakuum der möglichen Andersheit ist es, was hysterisches Begehren trägt (das heißt, Begehren tout court) – diese Nicht-Akzeptanz der endgültigen Schließung, diese vergebliche Hoffnung, dass das andere Ding gerade um die Ecke auf uns wartet. In meiner persönlichen Version davon habe ich immer Angst, das Telefonklingeln zu verpassen, zu spät zu sein, um den Hörer abzunehmen; wenn ein Telefon klingelt, erwarte ich immer, dass es der Anruf ist, und ich bin immer enttäuscht, wenn ich die Stimme des tatsächlichen Anrufers höre, wer immer er oder sie ist. Es gibt kein positives Merkmal oder keinen Inhalt, um diesen Anruf zu identifizieren (eine geliebte Person, die mir sexuelle Gefälligkeiten verspricht, ein Vertrag, der mir viel Geld anbietet, oder was auch immer) – er steht für reine, leere Andersheit. Und ‘die Fantasie durchqueren’ beinhaltet genau die Annahme der traumatischen Tatsache radikaler Schließung: Es gibt keine Öffnung, Kontingenz als solche ist notwendig … Wenn man im Auge behält, dass unsere Fähigkeit zu begehren die paradoxe Struktur der erzwungenen Wahl beinhaltet (der leeren symbolischen Geste eines Angebots, das zurückgewiesen werden soll; der Lücke zwischen der expliziten symbolischen Textur, die die Wahl garantiert, und dem phantasmatischen obszönen Supplement, das sie ausschließt – das heißt, der Lücke, die den öffentlichen symbolischen Raum, in dem das Subjekt wohnt, vom phantasmatischen Kern seines/ihres Seins trennt), kann man den radikalen Charakter des ‘Durchquerens der Fantasie’ würdigen: Durch dieses Durchqueren wird die Lücke geschlossen, die Struktur der erzwungenen Wahl suspendiert, die Schließung des Seins vollständig akzeptiert, das hysterische Spiel ‘Ich biete dir X (die Gelegenheit, unsere Gemeinschaft zu verlassen) an, unter der Bedingung, dass du es zurückweist’, das unser Zugehören zu einer Gemeinschaft strukturiert, ist vorbei. Sobald wir über das Begehren hinausgehen – das heißt, über die Fantasie hinaus, die das Begehren stützt –, betreten wir den seltsamen Bereich des Triebs: den Bereich der geschlossenen zirkulären Pulsation, die Befriedigung darin findet, die gleiche misslungene Geste endlos zu wiederholen.

Drive’s ‘ewige Wiederkehr des Gleichen’

Der freudsche Trieb ist somit ein anderer Name für die radikale ontologische Schließung. Drückt nicht Nietzsches berühmtes ‘Trunkenes Lied’ aus dem vierten Teil von Zarathustra (‘Die Welt ist tief, / Und tiefer als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, / Lust – tiefer noch als Herzeleid : / Weh spricht : Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!’²⁸) perfekt die exzessive Lust-im-Schmerz aus, auf die der späte Lacan in seiner Rehabilitierung des Triebs zielt? Diese nietzscheanische ‘Ewigkeit’ ist dem Sein-zum-Tode entgegenzusetzen: Sie ist die Ewigkeit des Triebs gegen die Endlichkeit des Begehrens. Das ‘Ja!’ der ‘ewigen Wiederkehr des Gleichen’ zielt somit auf dasselbe wie Lacans ‘Encore!’ (‘Mehr!’ – Nietzsche selbst sagt im vorausgehenden Absatz, dass ‘der Name / dieses Liedes / ist “Noch einmal” ’), was (auch) als Evokation des sprichwörtlichen weiblichen ‘Mehr!’ während des Sexualakts zu lesen ist – es steht für mehr vom Gleichen, für die volle Annahme des Schmerzes selbst als dem Exzess der Lust inhärent, der jouissance ist. Die ‘ewige Wiederkehr des Gleichen’ beinhaltet damit nicht länger den Willen zur Macht (zumindest nicht im Standardsinn des Begriffs): vielmehr indiziert sie die Haltung, die passive Konfrontation mit objet petit a aktiv zu bejahen, unter Umgehung der vermittelnden Rolle des Schirms der Fantasie. In diesem präzisen Sinn steht die ‘ewige Wiederkehr des Gleichen’ für den Moment, in dem das Subjekt ‘die Fantasie durchquert’.

Nach der doxa steht Fantasie für den Moment der Schließung: Fantasie ist der Schirm, mittels dessen das Subjekt die radikale Öffnung des Rätsels des Begehrens des Anderen vermeidet – ist ‘die Fantasie durchqueren’ daher nicht synonym damit, der Öffnung, dem Abgrund des undurchdringlichen Begehrens des Anderen zu begegnen? Was aber, wenn die Dinge genau umgekehrt sind? Was, wenn Fantasie selbst, insofern sie das Vakuum des Begehrens des Anderen ausfüllt, die (falsche) Öffnung stützt – die Vorstellung, dass es eine radikale Andersheit gibt, die unser Universum unvollständig macht? Und folglich: Was, wenn ‘die Fantasie durchqueren’ die Annahme einer radikalen ontologischen Schließung beinhaltet? Der unerträgliche Aspekt der ‘ewigen Wiederkehr des Gleichen’ – der nietzscheanische Name für die entscheidende Dimension des Triebs – ist die radikale Schließung, die dieser Begriff impliziert: die ‘ewige Wiederkehr des Gleichen’ zu bejahen und voll auf sich zu nehmen bedeutet, auf jede Öffnung, jeden Glauben an messianische Andersheit zu verzichten – hier trennt sich der späte Lacan von der ‘dekon-struktionistischen’ Vorstellung der Gespenstlichkeit, von der derrideanisch-lévinasianischen Problematik des ontologischen Risses oder der Dislokation (‘out-of-joint’), von der Vorstellung des Universums als noch-nicht-vollständig ontologisch konstituiert. Der Punkt ist also, die radikale Schließung des ‘ewigen’ Triebs der Öffnung entgegenzusetzen, die in der Endlichkeit/Temporalität des begehrenden Subjekts involviert ist.

Diese Schließung des Triebs ist natürlich nicht mit dem Bereich vorsymbolischer tierischer Körperinstinkte zu verwechseln; entscheidend ist hier der grundlegende und konstitutive Zwiespalt zwischen Trieb und Körper: Der Trieb als ewig-‘untot’ stört den instinktiven Rhythmus des Körpers. Aus diesem Grund ist Trieb als solcher Todestrieb: Er steht für einen unbedingten Impuls, der die angemessenen Bedürfnisse des lebenden Körpers missachtet und sich einfach an ihm mästet. Es ist, als würde ein Teil des Körpers, ein Organ, sublimiert, aus seinem körperlichen Kontext herausgerissen, zur Würde des Dings erhoben und so in einen unendlich repetitiven Zyklus geraten, endlos zirkulierend um das Vakuum seiner strukturierenden Unmöglichkeit. Es ist, als wären wir nicht imstande, in unsere Körper zu passen: Trieb verlangt einen anderen, ‘untoten’ Körper. ‘Das unverwesliche Herz’, ein Gedicht des slowenischen romantischen Dichters France Prešeren, bringt das Partialobjekt des Triebs, das Libido ist, perfekt zum Ausdruck: Jahre nach dem Tod eines Dichters wird sein Körper aus irgendeinem rechtlichen Grund ausgegraben; alle Teile seines Leichnams sind längst verwest, außer dem Herzen, das voller roten Blutes bleibt und in einem irren Rhythmus weiter pulsiert – dieses untote Organ, das seinen Weg unabhängig vom physischen Tod verfolgt, steht für die blinde Insistenz; es ist der Trieb selbst, jenseits des Zyklus von Entstehen und Vergehen lokalisiert. Man ist versucht, dieses Gedicht zu untertiteln ‘Prešeren mit Stephen King’: ist nicht ein solches untotes Partialorgan eines der archetypischen Motive von Horrorgeschichten? Indiziert es nicht den Punkt, an dem sublime Dichtung mit abstoßendem Horror überlappt?

Das Problem bei Nietzsche ist vielleicht, dass er in seinem Lob des Körpers diesen absoluten Abstand zwischen dem organischen Körper und dem verrückten ewigen Rhythmus des Triebs, dem seine Organe, ‘Partialobjekte’, unterworfen werden können, herunterspielt – ja sogar missachtet. In diesem präzisen Sinn kann man sagen, dass der Trieb ‘meta-physisch’ ist: nicht im Sinn eines Jenseits des Physischen, sondern im Sinn einer anderen Materialität jenseits (oder vielmehr unterhalb) der Materialität, die in (dem, was wir als) raum-zeitlicher Realität erfahren wird. Mit anderen Worten: Das ursprüngliche Andere unserer raum-zeitlichen körperlichen Realität ist nicht Geist, sondern eine andere ‘sublime’ Materialität. Vielleicht liefert moderne Kunst den treffendsten Fall dieser anderen Materialität. Wenn typische modernistische Künstler vom Geistigen in der Malerei (Kandinsky) oder in der Musik (Schoenberg) sprechen, weist die ‘geistige’ Dimension, die sie evozieren, auf die ‘Vergeistigung’ (oder vielmehr ‘Spektralisierung’) der Materie (Farbe und Form, Klang) als solcher hin, außerhalb ihres Bezugs auf Bedeutung. Erinnern wir uns an die ‘Massivität’ der langgezogenen Flecken, die ‘gelber Himmel’ in späten Van Gogh sind, oder das Wasser oder Gras bei Munch: Diese unheimliche ‘Massivität’ gehört weder zur direkten Materialität der Farbflecken noch zur Materialität der dargestellten Objekte – sie wohnt in einer Art intermediärem spektralen Bereich dessen, was Schelling geistige Körperlichkeit nannte. Aus lacanianischer Perspektive ist es leicht, diese ‘geistige Körperlichkeit’ als materialisierte jouissance zu identifizieren, als ‘jouissance, die zu Fleisch geworden ist’.²⁹

Fantasie, Begehren, Trieb

Begehren entsteht, wenn der Trieb im Spinnennetz von Gesetz/Verbot gefangen wird, im Teufelskreis, in dem ‘jouissance verweigert werden muss, damit sie auf der umgekehrten Leiter des Gesetzes des Begehrens erreicht werden kann’ (Lacans Definition der Kastration³⁰) – und Fantasie ist die Erzählung dieses ursprünglichen Verlusts, da sie den Prozess dieser Entsagung, das Entstehen des Gesetzes, inszeniert. In diesem präzisen Sinn ist Fantasie der Schirm selbst, der Begehren vom Trieb trennt: Sie erzählt die Geschichte, die es dem Subjekt erlaubt, das Vakuum, um das der Trieb zirkuliert, als den ursprünglichen, das Begehren konstituierenden Verlust zu (fehl)wahrnehmen. Mit anderen Worten: Fantasie liefert eine Rationalisierung für den inhärenten Deadlock des Begehrens: Sie konstruiert die Szene, in der die jouissance, derer wir beraubt sind, im Anderen konzentriert ist, der sie uns gestohlen hat. In der antisemitischen ideologischen Fantasie wird sozialer Antagonismus über den Verweis auf den Juden als den geheimen Agenten weg erklärt, der soziale jouissance von uns stiehlt (Profite anhäuft, unsere Frauen verführt …).³¹ Im ‘Durchqueren der Fantasie’ finden wir jouissance im Teufelskreis des Zirkulierens um das Vakuum des (fehlenden) Objekts und verzichten auf den Mythos, jouissance müsse anderswo angehäuft werden.

Hysterie liefert den exemplarischen Fall des Begehrens als Verteidigung gegen jouissance: Im Gegensatz zum Perversen, der unablässig daran arbeitet, dem Anderen Genuss zu verschaffen, will die neurotisch-hysterische Person das Objekt des Begehrens des Anderen sein, nicht das Objekt seines Genusses – sie ist sich sehr wohl bewusst, dass der einzige Weg, begehrt zu bleiben, darin besteht, die Befriedigung, die Erfüllung des Begehrens, die Genuss bringen würde, aufzuschieben. Die Angst der Hysterischen ist, dass sie, insofern sie das Objekt des Genusses des Anderen ist, zu einem Instrument des Anderen reduziert wird, von ihm ausgebeutet, manipuliert; andererseits gibt es für einen echten Perversen nichts Genießbareres, als ein Instrument des Anderen zu sein, seiner jouissance.³² In einem typischen Fall hysterischer Triangulation kann eine Ehefrau vollen Genuss an unerlaubtem Sex nur haben, wobei ihre Botschaft an ihren Liebhaber lautet: Wenn ihr Mann von ihrer Affäre erfährt und sie verlässt, wird sie ihn auch fallen lassen müssen … Was wir hier antreffen, ist die grundlegende neurotische Strategie, dem anderen den Teil der jouissance wieder zu entreißen, den er uns genommen hat: Indem sie ihren Mann betrügt, stiehlt sie ihm einen Teil der jouissance zurück, die er ihr ‘illegitim’ gestohlen hat. Das heißt: Eine Neurotikerin hat das Opfer der jouissance gebracht (weshalb sie keine Psychotikerin ist), das ihr den Eintritt in die symbolische Ordnung ermöglicht, aber sie ist besessen von der Vorstellung, dass die geopferte jouissance, die jouissance, die ihr ‘genommen’ wurde, irgendwo im Anderen gespeichert ist, der ‘illegitim’ davon profitiert, an ihrer Stelle genießt – daher besteht ihre Strategie darin, wenigstens einen Teil davon zurückzubekommen, indem sie die Normen des Anderen übertritt (von Masturbation und Betrug bis hin zu Rasen, ohne ein Ticket zu bekommen).

Mit anderen Worten: Die grundlegende Vorstellung des Neurotikers ist, dass die Autorität des Anderen nicht ‘legitim’ ist: Hinter der Fassade der Autorität gibt es eine obszöne jouissance, die dem Neurotiker gestohlen wurde (im Fall von Dora, Freuds Patientin, wird ihr Vater von ihr als schmutziger alter Mann wahrgenommen, der sie, statt sie zu lieben, ‘kastrierte’ – sie zu einem Tauschobjekt machte und Herrn K anbot –, um seine schmutzige Affäre mit Frau K zu verfolgen). Was der Neurotiker nicht erträgt, ist die Vorstellung, dass der Andere von seinem Opfer profitiert; er (typischerweise der Zwangsneurotiker) ist bereit, alles zu opfern, unter der Bedingung, dass der Andere nicht davon profitiert, dass er die geopferte jouissance nicht anhäuft, nicht an seiner Stelle genießt. Durch psychoanalytische Behandlung muss dem Neurotiker geholfen werden, dem Anderen (Gesellschaft, Eltern, Kirche, Ehepartner …) nicht mehr die Schuld an seiner ‘Kastration’ zu geben und folglich nicht länger Vergeltung vom Anderen zu suchen. (Darin, in der Strategie, den Anderen schuldig zu machen, liegt auch die Begrenzung ‘postmoderner’ Identitätspolitik, in der die benachteiligte Minderheit in ressentiment schwelgt, indem sie den Anderen beschuldigt und Vergeltung von ihm sucht.) In der Dialektik von Herr und Knecht (fehl)wahrnimmt der Knecht den Herrn als jemanden, der jouissance anhäuft, und holt sich (stiehlt vom Herrn) kleine Krümel jouissance zurück; diese kleinen Freuden (das Bewusstsein, dass er den Herrn auch manipulieren kann), vom Herrn stillschweigend toleriert, verfehlen nicht nur, irgendeine Bedrohung für den Herrn darzustellen, sondern konstituieren in der Tat die ‘libidinöse Bestechung’, die die Knechtschaft des Knechts aufrechterhält. Kurz, die Befriedigung, dass er den Herrn dupieren kann, ist genau das, was die Knechtschaft des Knechts ihm gegenüber garantiert.

Obwohl sowohl der Neurotiker als auch der Perverse Genuss opfern: obwohl keiner der beiden ein Psychotiker ist, der direkt in jouissance eingetaucht ist – ist die Ökonomie des Opfers grundlegend verschieden: Ein Neurotiker ist durch die jouissance des Anderen traumatisiert (ein Zwangsneurotiker etwa arbeitet die ganze Zeit wie verrückt, um zu verhindern, dass der Andere genießt – oder, wie man auf Französisch sagt, pour que rien ne bouge pas dans l’autre) – während ein Perverser sich als Objekt-Instrument der jouissance des Anderen setzt; er opfert seine jouissance, um jouissance im Anderen zu erzeugen. In psychoanalytischer Behandlung ist der Zwangsneurotiker die ganze Zeit aktiv, erzählt Geschichten, präsentiert Symptome, und so weiter, damit die Dinge gleich bleiben, damit sich nichts wirklich verändert, damit der Analytiker unbeweglich bleibt und nicht effektiv interveniert – wovor er sich am meisten fürchtet, ist der Moment des Schweigens, der die völlige Leere seiner unablässigen Aktivität offenbaren wird. In einer intersubjektiven Situation, die von einer Unterströmung der Spannung durchzogen ist, wird ein Zwangsneurotiker, der diese Unterströmung wahrnimmt, ununterbrochen reden, zur Ablenkung der Menschen um ihn herum, um das peinliche Schweigen zu verhindern, in dem der zugrunde liegende Konflikt hervortreten könnte.³³

Der entscheidende Punkt ist also, den spezifischen Zwischenstatus der Perversion klar zu umreißen, zwischen Psychose und Neurose, zwischen der Verwerfung des Gesetzes durch den Psychotiker und der Integration des Neurotikers in das Gesetz. Nach der Standardansicht kann die perverse Haltung als Inszenierung der ‘Verleugnung der Kastration’ als Abwehr gegen das Motiv von ‘Tod und Sexualität’ gesehen werden, gegen die Drohung der Sterblichkeit ebenso wie gegen die kontingente Aufzwingung sexueller Differenz: Was der Perverse ausagiert, ist ein Universum, in dem, wie in Cartoons, ein Mensch jede Katastrophe überleben kann; in dem erwachsene Sexualität auf ein kindliches Spiel reduziert wird; in dem man nicht gezwungen ist zu sterben oder eines der zwei Geschlechter zu wählen.³⁴ Als solches ist das Universum des Perversen das reine Universum der symbolischen Ordnung, des Spiels des Signifikanten, das seinen Lauf nimmt, unbeschwert vom Realen menschlicher Endlichkeit. Was diese Standardansicht (die innerhalb der Grenzen von Begehren, Gesetz und Endlichkeit als den letzten Horizonten menschlicher Existenz verbleibt: das Gesetz erhebt zur – oder hebt auf in – ein symbolisches Verbot die ‘natürliche’ Schranke der Sterblichkeit und sexuellen Reproduktion) außer Acht lässt, ist der einzigartige Kurzschluss zwischen Gesetz und jouissance: Im Gegensatz zum Neurotiker, der das Gesetz anerkennt, um gelegentlich Genuss in seinen Übertretungen zu nehmen (Masturbation, Diebstahl …) und so Befriedigung dadurch erlangt, dass er dem Anderen einen Teil der gestohlenen jouissance zurück entreißt, erhebt der Perverse den genießenden großen Anderen direkt zur Instanz des Gesetzes. Wie wir bereits gesehen haben, ist das Ziel des Perversen, das Gesetz zu etablieren, nicht zu unterminieren: Der sprichwörtliche männliche Masochist erhebt seine Partnerin, die Dominatrix, zur Gesetzgeberin, deren Befehle zu befolgen sind. Ein Perverser erkennt die obszön-jouissante Unterseite des Gesetzes vollständig an, da er Befriedigung aus der Obszönität der Geste selbst gewinnt, die die Herrschaft des Gesetzes installiert – das heißt, der ‘Kastration’. Im ‘normalen’ Zustand der Dinge verhindert das symbolische Gesetz den Zugang zum (inzestuösen) Objekt und erzeugt dadurch das Begehren nach ihm; in der Perversion ist es das Objekt selbst (sagen wir, die Dominatrix im Masochismus), das das Gesetz macht. Hier berührt der theoretische Begriff des Masochismus als Perversion den common-sense Begriff eines Masochisten, der ‘genießt, vom Gesetz gefoltert zu werden’: Ein Masochist lokalisiert Genuss in der Instanz des Gesetzes selbst, die den Zugang zum Genuss verbietet.

Die Wahrheit des Begehrens, das Wissen der Fantasie

Die Opposition Begehren/Trieb fällt mit der Opposition Wahrheit/Wissen zusammen. Wie Jacques-Alain Miller betonte, beinhaltet der psychoanalytische Begriff der ‘Konstruktion’ nicht die (zweifelhafte) Behauptung, der Analytiker habe immer recht (wenn der Patient die vom Analytiker vorgeschlagene Konstruktion akzeptiert, ist das in Ordnung; wenn der Patient sie zurückweist, ist diese Zurückweisung ein Zeichen von Widerstand, der folglich wieder bestätigt, dass die Konstruktion irgendeinen traumatischen Kern im Patienten berührt hat …). Vielmehr beruht die psychoanalytische Behandlung auf der anderen Seite derselben Medaille, die für die Psychoanalyse entscheidend ist – der Analysand ist immer, per Definition, im Unrecht (wie der Pfarrer aus Jütland, der am Ende von Kierkegaards Entweder/Oder wiederholt behauptet: ‘Du sagst nicht “Gott ist immer im Recht”; du sagst “Gegen Gott bin ich immer im Unrecht”’). Um diesen Punkt zu erfassen, sollte man sich auf die entscheidende Unterscheidung zwischen Konstruktion und ihrem Gegenstück, Interpretation, konzentrieren – dieses Paar, Konstruktion/Interpretation, ist korrelativ zum Paar Wissen/Wahrheit. Das heißt: Eine Interpretation ist eine Geste, die immer in die intersubjektive Dialektik der Anerkennung zwischen Analysand und Interpret-Analytiker eingebettet ist; sie zielt darauf, einen Wahrheitseffekt in Bezug auf eine bestimmte Formation des Unbewussten hervorzubringen (einen Traum, ein Symptom, einen Versprecher …): Das Subjekt soll sich in der vom Interpreten vorgeschlagenen Signifikation ‘wiedererkennen’, gerade um diese Signifikation zu subjektivieren, sie als ‘die seine eigene’ zu übernehmen (‘Ja, mein Gott, das bin ich, das wollte ich wirklich …’). Der Erfolg der Interpretation wird genau an diesem ‘Wahrheitseffekt’ gemessen, daran, in welchem Maß er die subjektive Position des Analysanden betrifft (Erinnerungen an bis dahin tief verdrängte traumatische Begegnungen aufwühlt, heftigen Widerstand provoziert …). In klarem Gegensatz zur Interpretation hat eine Konstruktion (typischerweise: die einer Grundfantasie) den Status eines Wissens, das niemals subjektiviert werden kann – das heißt, es kann niemals vom Subjekt als die Wahrheit über sich selbst übernommen werden, als die Wahrheit, in der es den innersten Kern seines Seins erkennt. Eine Konstruktion ist eine rein erklärende logische Voraussetzung, wie die zweite Phase (‘Ich werde von meinem Vater geschlagen’) der kindlichen Fantasie ‘Ein Kind wird geschlagen’, die, wie Freud betont, so radikal unbewusst ist, dass sie niemals erinnert werden kann:

Diese zweite Phase ist die wichtigste und folgenreichste von allen. Aber wir können sagen, dass sie in gewissem Sinn nie eine wirkliche Existenz gehabt hat. Sie wird niemals erinnert, sie hat nie Erfolg gehabt, bewusst zu werden. Sie ist eine Konstruktion der Analyse, aber darum nicht weniger eine Notwendigkeit.³⁵

Dass diese Phase ‘nie eine wirkliche Existenz gehabt hat’, zeigt natürlich ihren Status als das lacanianische Reale an; das Wissen darüber, ein ‘Wissen im Realen’, ist eine Art ‘azephales’, nicht-subjektiviertes Wissen: obwohl es eine Art ‘Du bist das!’ ist, das den Kern des Seins des Subjekts artikuliert (oder vielmehr gerade deshalb), ent-subjektiviert mich seine Übernahme – das heißt, ich kann meine Grundfantasie nur insofern übernehmen, als ich durchmache, was Lacan ‘subjektive Destitution’ nennt. Oder – anders gesagt – Interpretation und Konstruktion verhalten sich zueinander wie Symptom und Fantasie: Symptome sind zu interpretieren, Grundfantasie ist zu (re)konstruieren … Dieses Konzept eines ‘azephalen’ Wissens tritt jedoch eher spät in Lacans Lehre auf – irgendwo um die frühen 1970er Jahre, nachdem die Beziehung zwischen Wissen und Wahrheit eine tiefgreifende Verschiebung durchlaufen hat:

•Der ‘frühe’ Lacan, von den 1940ern bis zu den 1960ern, bewegt sich innerhalb der Koordinaten der Standardopposition der Philosophie zwischen dem ‘unauthentischen’ objektivierenden Wissen, das die Position der Äußerung des Subjekts missachtet, und der ‘authentischen’ Wahrheit, in der man existenziell engagiert ist, von ihr betroffen ist. In der psychoanalytischen Klinik ist diese Opposition vielleicht am besten durch den klaren Kontrast zwischen dem Zwangsneurotiker und der Hysterischen exemplifiziert: Der Zwangsneurotiker lügt in Gestalt der Wahrheit (während seine Aussagen auf der Ebene faktischer Genauigkeit immer wahr sind, benutzt er diese faktische Genauigkeit, um die Wahrheit über sein Begehren zu verschleiern: sagen wir, wenn mein Feind wegen eines Bremsdefekts einen Autounfall hat, gehe ich weit, um jedem, der mir zuhören will, zu erklären, dass ich nie in der Nähe seines Autos war und folglich nicht für den Defekt verantwortlich bin – wahr, aber diese ‘Wahrheit’ wird von mir verbreitet, um die Tatsache zu verdecken, dass der Unfall mein Begehren realisierte …), während die Hysterische die Wahrheit in Gestalt einer Lüge sagt (die Wahrheit meines Begehrens artikuliert sich in den Verzerrungen der ‘faktischen Genauigkeit’ meiner Rede selbst: wenn ich etwa statt ‘Ich eröffne hiermit diese Sitzung’ sage ‘Ich schließe hiermit diese Sitzung’, kommt mein Begehren deutlich heraus …). Das Ziel der psychoanalytischen Behandlung ist es daher, die Aufmerksamkeit von faktischer Genauigkeit zurück auf hysterische Lügen zu (re)fokussieren, die unwissentlich die Wahrheit artikulieren, und dann zu einem neuen Wissen fortzuschreiten, das am Ort der Wahrheit wohnt; das, statt Wahrheit zu verschleiern, Wahrheitseffekte hervorbringt – zu dem, was der Lacan der 1950er Jahre ‘volle Rede’ nannte, die Rede, in der subjektive Wahrheit widerhallt. Wie wir bereits betont haben, reiht Lacan seine Theorie damit wieder in eine lange Tradition ein, von Kierkegaard bis Heidegger, der Verachtung der bloßen ‘faktischen Wahrheit’.

•Seit dem späten 1960er Jahren jedoch richtet Lacan seine theoretische Aufmerksamkeit zunehmend auf den Trieb als eine Art ‘azephales’ Wissen, das Befriedigung hervorbringt. Dieses Wissen beinhaltet weder eine inhärente Beziehung zur Wahrheit noch eine subjektive Äußerungsposition – nicht weil es die subjektive Äußerungsposition verschleiert, sondern weil es an sich nicht-subjektiviert ist, ontologisch der Dimension der Wahrheit selbst vorausliegt (obwohl natürlich das Prädikat ‘ontologisch’ dadurch problematisch wird, da Ontologie per Definition ein Diskurs über Wahrheit ist …). Wahrheit und Wissen verhalten sich somit wie Begehren und Trieb: Interpretation zielt auf die Wahrheit des Begehrens des Subjekts (die Wahrheit des Begehrens ist das Begehren nach Wahrheit, wie man versucht ist, es in pseudo-heideggerianischer Weise zu formulieren), während Konstruktion das Wissen über den Trieb ausdrückt. Liefert nicht die moderne Wissenschaft,³⁶ die die ‘blinde Insistenz’ des (Todes-)Triebs exemplifiziert, den paradigmatischen Fall eines solchen ‘azephalen’ Wissens, das den Trieb betrifft? Moderne Wissenschaft folgt ihrem Weg (in der Mikrobiologie, in der Manipulation von Genen, in der Teilchenphysik …), koste es, was es wolle, Befriedigung wird durch Wissen selbst geliefert, nicht durch irgendwelche moralischen oder gemeinschaftlichen Ziele, denen wissenschaftliches Wissen angeblich dient. Und sind nicht all die ‘Ethikkomitees’, die heute im Überfluss existieren und Regeln für die ordnungsgemäße Durchführung von Genmanipulationen, medizinischen Experimenten und so weiter aufzustellen versuchen, letztlich so viele verzweifelte Versuche, diesen unerbittlichen Trieb-Fortschritt der Wissenschaft, die keine inhärente Begrenzung kennt (kurz: diese inhärente Ethik der wissenschaftlichen Haltung), in die Grenzen menschlicher Ziele zurück einzuschreiben, ihm ein ‘menschliches Gesicht’ zu geben, eine Begrenzung oder ein ‘rechtes Maß’, dem es gehorchen soll? Die Gemeinplatzweisheit heute lautet, dass ‘unsere außerordentliche Macht, die Natur durch wissenschaftliche Apparate zu manipulieren, unserer Fähigkeit vorausgeeilt ist, ein sinnvolles Dasein zu führen, von dieser immensen Macht einen menschlichen Gebrauch zu machen’ – an diesem Punkt stößt die eigentlich moderne Ethik des ‘dem Trieb Folgen’ mit der traditionellen Ethik zusammen, ein Leben zu führen, das durch rechtes Maß und Unterordnung aller seiner Aspekte unter irgendeine Vorstellung des Guten reguliert ist. Das Problem ist natürlich, dass das Gleichgewicht zwischen beiden niemals erreicht werden kann: Die Vorstellung, den wissenschaftlichen Trieb in die Zwänge der Lebenswelt zurück einzuschreiben, ist Fantasie in ihrer reinsten Form – vielleicht die grundlegende faschistische Fantasie. Jede Begrenzung dieser Art ist der inhärenten Logik der Wissenschaft völlig fremd: Wissenschaft gehört zum Realen und ist, als Modus des Realen der jouissance, gleichgültig gegenüber den Modalitäten ihrer Symbolisierung, gegenüber der Weise, wie sie das soziale Leben beeinflussen wird.

Natürlich ist, obwohl die konkrete Organisation des wissenschaftlichen Apparats bis hin zu seinen abstraktesten begrifflichen Schemata sozial ‘vermittelt’ ist, dieses Spiel, eine patriarchale (eurozentrische, männlich-chauvinistische, mechanistische und natur-ausbeutende …) Voreingenommenheit der modernen Wissenschaft zu diagnostizieren, in gewisser Weise nicht wirklich Wissenschaft betreffend, den Trieb, der sich im Lauf der wissenschaftlichen Maschine vollzieht. Heideggers Position scheint hier völlig ambivalent; vielleicht ist es allzu leicht, ihn als den raffiniertesten Verfechter der These abzutun, dass Wissenschaft a priori die Dimension der Wahrheit verfehlt (behauptete er nicht, dass ‘die Wissenschaft nicht denkt’, dass sie per Definition unfähig ist, ihr eigenes philosophisches Fundament, den hermeneutischen Horizont ihres Funktionierens, zu reflektieren, und darüber hinaus, dass diese Unfähigkeit, weit davon entfernt, die Rolle eines Hindernisses zu spielen, eine positive Bedingung der Möglichkeit ihres reibungslosen Funktionierens ist?). Sein entscheidenderer Punkt ist vielmehr, dass moderne Wissenschaft als solche in ihrem Fundament nicht auf eine begrenzte ontische, ‘sozial bedingte’ Option reduziert werden kann (die die Interessen einer bestimmten sozialen Gruppe ausdrückt, usw.), sondern vielmehr das Reale unseres historischen Moments ist, das, was in allen möglichen (‘progressiven’ und ‘reaktionären’, ‘technokratischen’ und ‘ökologischen’, ‘patriarchalen’ und ‘feministischen’) symbolischen Universen ‘dasselbe bleibt’. Heidegger ist sich daher sehr wohl bewusst, dass alle modischen ‘Kritiken der Wissenschaft’, denen zufolge Wissenschaft ein Werkzeug westlicher kapitalistischer Dominanz, patriarchaler Unterdrückung und so weiter sei, am ‘harten Kern’ des wissenschaftlichen Triebs vorbeigehen und ihn damit unbefragt lassen.³⁷ Was Lacan uns hinzuzufügen zwingt, ist, dass Wissenschaft vielleicht auch in einem noch radikaleren Sinn ‘real’ ist: Sie ist der erste (und wahrscheinlich einzige) Fall eines Diskurses, der stricto sensu unhistorisch ist, selbst im fundamentalsten heideggerianischen Sinn der Geschichtlichkeit der Epochen des Seins – das heißt, dessen Funktionieren inhärent gleichgültig gegenüber den historisch bestimmten Horizonten der Entbergung des Seins ist. Gerade insofern Wissenschaft ‘nicht denkt’, weiß sie, ignoriert die Dimension der Wahrheit und ist als solche Trieb in seiner reinsten Form … Lacans Supplement zu Heidegger wäre daher: Warum sollte dieses völlige ‘Vergessen des Seins’, das in der modernen Wissenschaft am Werk ist, nur als die größte ‘Gefahr’ wahrgenommen werden? Gibt es nicht in ihm eine bereits wahrnehmbare ‘befreiende’ Dimension? Ist die Suspendierung ontologischer Wahrheit im ungezügelten Funktionieren der Wissenschaft nicht bereits eine Art ‘Durchgang’ durch die metaphysische Schließung?

Innerhalb der Psychoanalyse nimmt dieses Wissen des Triebs, das niemals subjektiviert werden kann, die Form des Wissens über die ‘Grundfantasie’ des Subjekts an, die spezifische Formel, die seinen oder ihren Zugang zu jouissance reguliert. Das heißt: Begehren und jouissance sind inhärent antagonistisch, ja sogar exklusiv: die raison d’être des Begehrens (oder ‘utility function’, um Richard Dawkins’ Ausdruck zu verwenden) besteht nicht darin, sein Ziel zu realisieren, volle Befriedigung zu finden, sondern sich als Begehren zu reproduzieren. Wie ist es also möglich, Begehren und jouissance zu koppeln, ein Minimum an jouissance innerhalb des Raums des Begehrens zu garantieren? Es ist das berühmte lacanianische objet petit a, das zwischen den inkompatiblen Bereichen von Begehren und jouissance vermittelt. In welchem präzisen Sinn ist objet petit a das Objekt-Ursache des Begehrens? Das objet petit a ist nicht, was wir begehren, worauf wir aus sind, sondern vielmehr das, was unser Begehren in Bewegung setzt, im Sinn des formalen Rahmens, der unserem Begehren Konsistenz verleiht: Begehren ist natürlich metonymisch; es verschiebt sich von einem Objekt zum anderen, durch all diese Verschiebungen hindurch behält Begehren jedoch dennoch ein Minimum formaler Konsistenz, ein Set phantasmatischer Merkmale, die, wenn sie in einem positiven Objekt angetroffen werden, uns dieses Objekt begehren lassen – objet petit a als Ursache des Begehrens ist nichts anderes als dieser formale Rahmen der Konsistenz. In etwas anderer Weise reguliert derselbe Mechanismus das Sich-Verlieben des Subjekts: Der Automatismus der Liebe wird in Gang gesetzt, wenn irgendein kontingentes, letztlich gleichgültiges, (libidinöses) Objekt sich an einem vorgegebenen Fantasie-Platz wiederfindet.

Dieser Begriff eines unmöglichen/realen Wissens erlaubt es uns auch, die Frage anzugehen: Steht Psychoanalyse, psychoanalytisches Wissen, auf der Seite des Gesetzes (des ‘repressiven’ wissenschaftlichen Blicks, objektivierend, katalogisierend, klassifizierend, Sexualität weg erklärend und damit ihren Überschuss eliminierend) oder auf der Seite seiner Übertretung – das heißt, liefert sie eine Art initiatorisches Wissen über die Geheimnisse der jouissance, verborgen vor dem offiziellen öffentlichen Blick? Man sollte vielmehr die Hypothese vorschlagen, dass psychoanalytisches Wissen am Schnittpunkt von Gesetz und seiner Übertretung lokalisiert ist – ein Schnittpunkt, der natürlich die leere Menge ist. In den guten alten Zeiten des ‘real existierenden Sozialismus’ wurde jedem Schulkind wieder und wieder erzählt, wie Lenin gierig las, und von seinem Rat an junge Menschen: ‘Lernen, lernen, und lernen!’ – ein klassischer Witz aus dem Sozialismus erzeugt einen netten subversiven Effekt, indem er dieses Motto in einem unerwarteten Kontext verwendet. Marx, Engels und Lenin wurden jeweils gefragt, was sie bevorzugten, eine Ehefrau oder eine Geliebte. Marx, dessen Haltung in intimen Dingen bekanntlich eher konservativ war, antwortete: ‘Eine Ehefrau’; Engels, der zu genießen verstand, antwortete natürlich: ‘Eine Geliebte’; die Überraschung kommt mit Lenin, der antwortete: ‘Beides, Ehefrau und Geliebte!’ Ist er einer verborgenen Verfolgung exzessiver sexueller Vergnügungen gewidmet? Nein, denn er erklärt schnell: ‘So kannst du deiner Geliebten sagen, dass du bei deiner Ehefrau bist, und deiner Ehefrau, dass du im Begriff bist, deine Geliebte zu besuchen …’ ‘Und was tust du tatsächlich?’ ‘Lernen, lernen und lernen!’ Psychoanalytisches Wissen ist in diesem Sinn definitiv leninistisch. Oder – um es etwas anders zu sagen – die Dialektik von Gesetz und seiner Übertretung konstituiert den Bereich des Begehrens, während asexuelles (nicht-phallisches) leninistisches Wissen konstitutiv ist für den Bereich des Triebs, der aus dem Teufelskreis des Begehrens ausbricht, der vom Gesetz gestützt und in seine Übertretung verwickelt ist.

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