2Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!
Von Narren und Schurken
In seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse arbeitet Lacan die Unterscheidung zwischen zwei Typen zeitgenössischer Intellektueller aus, dem Narren und dem Schurken :
Der ‘Narr’ ist ein Unschuldiger, ein Einfaltspinsel, aber aus seinem Mund kommen Wahrheiten, die nicht einfach nur geduldet, sondern übernommen werden, kraft der Tatsache, dass dieser ‘Narr’ mitunter in die Insignien des Spaßmachers gekleidet ist. Und meiner Ansicht nach ist es ein ähnlich glücklicher Schatten, eine ähnlich grundlegende ‘Narrheit’, die die Bedeutung des linksgerichteten Intellektuellen erklärt.
Und dem stelle ich die Bezeichnung gegenüber für das, wofür dieselbe Tradition einen strikt zeitgenössischen Ausdruck liefert, einen Ausdruck, der zusammen mit dem ersteren gebraucht wird, nämlich ‘Schurke’ … Er ist kein Zyniker mit dem Element von Heroismus, das diese Haltung impliziert. Er ist, genau genommen, das, was Stendhal einen ‘unverhohlenen Schurken’ nannte. Das heißt, nicht mehr als Ihr Herr Jedermann, aber Ihr Herr Jedermann mit größerer Charakterstärke.
Jeder weiß, dass eine bestimmte Weise, sich zu präsentieren, die einen Teil der Ideologie des rechtsgerichteten Intellektuellen ausmacht, genau darin besteht, die Rolle dessen zu spielen, was er in der Tat ist, nämlich ein ‘Schurke’. Mit anderen Worten, er weicht nicht vor den Konsequenzen dessen zurück, was Realismus genannt wird; das heißt, wenn erforderlich, gibt er zu, dass er ein Gauner ist.¹
Kurz gesagt: Der rechtsgerichtete Intellektuelle ist ein Schurke, ein Konformist, der sich auf das bloße Bestehen der gegebenen Ordnung als Argument für sie beruft und die Linke wegen ihrer ‘utopischen’ Pläne verspottet, die notwendig in die Katastrophe führen; während der linksgerichtete Intellektuelle ein Narr ist, ein Hofnarr, der öffentlich die Lüge der bestehenden Ordnung zur Schau stellt, jedoch auf eine Weise, die die performative Wirksamkeit seiner Rede suspendiert. Heute, nach dem Fall des Sozialismus, ist der Schurke ein neokonservativer Verfechter des freien Marktes, der alle Formen sozialer Solidarität grausam als kontraproduktiven Sentimentalismus zurückweist, während der Narr ein dekonstruktivistischer Kulturkritiker ist, der mit seinen ludischen Verfahren, die dazu bestimmt sind, die bestehende Ordnung zu ‘subvertieren’, tatsächlich als ihr Supplement dient.²
Was die Psychoanalyse tun kann, um uns zu helfen, diesen Teufelskreis von Narr–Schurke zu durchbrechen, ist, seine zugrunde liegende libidinöse Ökonomie freizulegen – den libidinösen Gewinn, das ‘Mehr-Genießen’, das jede der beiden Positionen trägt. Zwei derbe Witze über Hoden aus Osteuropa illustrieren die Narr–Schurke-Gegensatzstellung perfekt. Im ersten sitzt ein Gast an einer Bar und trinkt Whisky; ein Affe kommt tanzend über den Tresen, hält bei seinem Glas an, wäscht seine Eier darin und tanzt weiter. Schwer schockiert bestellt der Gast ein weiteres Glas Whisky. Der Affe schlendert wieder entlang und macht dasselbe. Wütend fragt der Gast den Barkeeper: ‘Wissen Sie, warum dieser Affe seine Eier in meinem Whisky wäscht?’ Der Barkeeper antwortet: ‘Keine Ahnung – fragen Sie den Zigeuner, der weiß alles!’ Der Gast wendet sich an den Zigeuner, der in der Bar umherstreift und die Gäste mit seiner Geige und Liedern unterhält, und fragt ihn: ‘Wissen Sie, warum dieser Affe seine Eier in meinem Whisky wäscht?’ Der Zigeuner antwortet ruhig: ‘Ja, sicher!’, und er beginnt ein melancholisches Lied zu singen: ‘Warum wäscht dieser Affe seine Eier in meinem Whisky, oh warum …’ – der Punkt ist natürlich, dass Zigeunermusiker angeblich Hunderte von Liedern kennen und sie auf Wunsch der Kunden vortragen, sodass der Zigeuner die Frage des Gasts als Wunsch nach einem Lied über einen Affen verstanden hat, der seine Eier in Whisky wäscht … Der zweite Witz spielt im mittelalterlichen Russland unter der tatarischen Besatzung, wo ein tatarischer Reiter auf einer einsamen Landstraße einem Bauern mit seiner jungen Frau begegnet. Der tatarische Krieger will nicht nur Sex mit ihr, sondern – um noch Salz in die Wunde zu streuen und den Bauern noch weiter zu demütigen – befiehlt er ihm, seine (des Tataren) Eier sanft in den Händen zu halten, damit sie beim Verkehr mit der Frau auf der staubigen Straße nicht zu schmutzig werden. Nachdem der Tatar die sexuelle Begegnung beendet hat und davongeritten ist, beginnt der Bauer vergnügt zu kichern; von seiner Frau gefragt, was daran so komisch sei, dass sie vor den Augen ihres Mannes vergewaltigt wurde, antwortet er: ‘Begreifst du es nicht, mein Liebling? Ich habe ihn reingelegt – ich habe seine Eier gar nicht wirklich gehalten, sie sind voller Staub und Dreck!’
Also: Wenn der konservative Schurke dem Zigeuner nicht unähnlich ist, da auch er in seiner Antwort auf eine konkrete Klage (‘Warum sind die Dinge so schrecklich für uns … /Schwule, Schwarze, Frauen/?’) sein tragisches Lied vom ewigen Schicksal singt (‘Warum sind die Dinge so schlecht für uns Menschen, o warum?’) – das heißt, auch er verändert gewissermaßen die Tonalität der Frage von der konkreten Beschwerde zur abstrakten Akzeptanz des Rätsels des Schicksals –, so ist die Befriedigung des progressiven Narren, eines ‘Sozialkritikers’, von derselben Art wie die des armen russischen Bauern, die typische hysterische Befriedigung, dem Herrn ein kleines Stück Jouissance zu entwenden. Wäre das Opfer im ersten Witz ein Narr, würde es dem Affen erlauben, seine Eier noch ein weiteres Mal im Whisky zu waschen, würde aber zuvor etwas Dreck oder klebriges Zeug in sein Glas geben, sodass es nach dem Abgang des Affen triumphierend behaupten könnte: ‘Ich habe ihn reingelegt! Seine Eier sind jetzt noch schmutziger als vorher!’
Es ist leicht, sich eine weit erhabenere Version der Umkehrung vorzustellen, die der Zigeunermusiker vollzieht – ist nicht dieselbe Umkehrung zum Beispiel in der subjektiven Position von Kastratensängern am Werk? Sie werden dazu gebracht, ‘zum Himmel zu klagen’: Nachdem sie eine schreckliche Verstümmelung erlitten haben, sollen sie ihr weltliches Unglück und ihren Schmerz nicht beklagen und nicht nach den dafür Verantwortlichen suchen, sondern stattdessen ihre Klage an den Himmel selbst richten. Auf gewisse Weise müssen sie eine Art magische Umkehrung vollbringen und all ihre weltlichen Beschwerden gegen eine Beschwerde eintauschen, die an das göttliche Schicksal selbst gerichtet ist – diese Umkehrung erlaubt es ihnen, ihr irdisches Leben in vollen Zügen zu genießen … Das ist die (singende) Stimme in ihrer elementarsten Form: die Verkörperung des ‘Mehr-Genießens’ im präzisen Sinn der paradoxen ‘Lust im Schmerz’. Das heißt: Wenn Lacan den Begriff plus-de-jouir verwendet, muss man eine naive, aber entscheidende Frage stellen: Worin besteht dieses Mehr? Ist es bloß eine qualitative Steigerung gewöhnlicher Lust? Die Mehrdeutigkeit des französischen Ausdrucks ist hier entscheidend: Er kann ‘Mehr an Genuss’ ebenso bedeuten wie ‘kein Genuss mehr’ – das Mehr an Genuss gegenüber bloßer Lust wird durch die Anwesenheit des genauen Gegenteils der Lust erzeugt, nämlich des Schmerzes. Schmerz erzeugt Mehr-Genießen über die magische Umkehrung-in-sich-selbst, durch die die materielle Textur unseres Ausdrucks von Schmerz (die klagende Stimme) Genuss hervorbringt – und ist es nicht das, was gegen Ende des Witzes über den Affen geschieht, der seine Eier in meinem Whisky wäscht, wenn der Zigeuner meine wütende Beschwerde in eine selbstbefriedigende Melodie verwandelt? Was wir hier finden, ist eine saubere Exemplifizierung der lacanschen Formel des fetischistischen Objekts (Minus-Phi unter kleinem a): Wie die Stimme des Kastraten entsteht das objet petit a – das Mehr-Genießen – genau am Ort der Kastration. Und gilt nicht dasselbe für Liebeslyrik und ihr letztes Thema: die Klage des Dichters, der seine Geliebte verloren hat (weil sie seine Liebe nicht erwidert, weil sie gestorben ist, weil ihre Eltern ihre Verbindung nicht billigen und ihm den Zugang zu ihr versperren …)? Poesie, die spezifische poetische Jouissance, entsteht, wenn die symbolische Artikulation dieses Verlusts eine eigene Lust hervorbringt.³
Finden wir nicht dieselbe elementare ideologische Geste in die jüdische Identität eingeschrieben? Juden ‘evakuieren das Gesetz der Jouissance’, sie sind ‘das Volk des Buches’, das an Regeln festhält und keine ekstatische Erfahrung des Heiligen zulässt; zugleich finden sie jedoch ein exzessives Genießen gerade in ihrem Umgang mit dem Text des Buches: das ‘talmudische’ Genießen daran, wie man ihn richtig liest, wie man ihn so interpretiert, dass wir ihn trotzdem auf unsere Weise haben können. Ist nicht die Tradition lebhafter Debatten und Streitgespräche, die Ausländer (Nichtjuden) als sinnlose Haarspalterei empfinden, ein klares Beispiel dafür, wie der Verzicht auf die Ding-Jouissance seine eigene Jouissance hervorbringt (in der Interpretation des Textes)? Vielleicht war Kafka selbst als der westliche ‘protestantische’ Jude schockiert, diesen obszönen Aspekt des jüdischen Gesetzes zu entdecken⁴ – ist diese Jouissance am Buchstaben nicht deutlich erkennbar im Gespräch zwischen dem Priester und K. am Ende von Der Prozess, nach der Parabel von der Tür des Gesetzes? Was einen hier trifft, ist die ‘sinnlose’ detaillierte Haarspalterei, die im genauen Gegensatz zur westlichen Tradition metaphorisch-gnostischer Lektüre die offenkundige Bedeutung nicht dadurch unterminiert, dass sie darunter Schichten ‘tieferer’ analogischer Bedeutungen zu erkennen versucht, sondern indem sie auf einer zu nahen, zu wörtlichen Lektüre insistiert (‘der Mann vom Lande wurde nie angewiesen, überhaupt dorthin zu kommen’, usw.).
Jede der beiden Positionen, die des Narren und die des Schurken, wird somit von ihrer eigenen Art von Jouissance getragen: dem Genuss, dem Herrn einen Teil der Jouissance zurückzurauben, die er uns gestohlen hat (im Fall des Narren); dem Genuss, der direkt den Schmerz des Subjekts betrifft (im Fall des Schurken). Was die Psychoanalyse tun kann, um der Ideologiekritik zu helfen, ist gerade, den Status dieser paradoxen Jouissance als Bezahlung zu klären, die der Ausgebeutete, der Diener, dafür erhält, dem Herrn zu dienen. Diese Jouissance entsteht natürlich immer innerhalb eines bestimmten phantasmatischen Feldes; die entscheidende Voraussetzung, um die Ketten der Knechtschaft zu sprengen, ist daher, die ‘Phantasie zu durchqueren’, die unsere Jouissance so strukturiert, dass sie uns an den Herrn bindet – uns den Rahmen der sozialen Dominanzbeziehung akzeptieren lässt.
Warum Jouissance nicht historisch ist
Jouissance betrifft die allergrundlegendsten Dinge dessen, was man versucht ist, psychoanalytische Ontologie zu nennen.⁵ Die Psychoanalyse stößt auf die grundlegende ontologische Frage: ‘Warum gibt es etwas statt nichts?’ anlässlich der Erfahrung des ‘Realitätsverlusts [Realitätsverlust]’, wenn eine traumatische, exzessiv intensive Begegnung die Fähigkeit des Subjekts beeinträchtigt, das volle ontologische Gewicht seiner Welterfahrung zu tragen. Von Beginn seiner Lehre an betonte Lacan den inhärenten und irreduziblen traumatischen Status der Existenz: ‘Per definitionem ist an aller Existenz etwas so Unwahrscheinliches, dass man sich in der Tat ständig über ihre Realität befragt.’⁶ Später, nach dem entscheidenden Wendepunkt seiner Lehre, verbindet er die Existenz (‘als solche’, möchte man hinzufügen) mit der Jouissance als dem eigentlich Traumatischen – das heißt als dem, dessen Existenz niemals vollständig übernommen werden kann und das daher immer als gespenstisch, vor-ontologisch wahrgenommen wird. In einer Schlüsselpassage aus ‘Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens’ beantwortet er zum Beispiel die Frage ‘Was bin ich?’
‘Ich’ bin an dem Ort, von dem aus eine Stimme zu hören ist, die ruft: ‘Das Universum ist ein Defekt in der Reinheit des Nicht-Seins’.
Und nicht ohne Grund, denn indem er sich schützt, lässt dieser Ort das Sein selbst verkümmern. Dieser Ort heißt Jouissance, und es ist die Abwesenheit davon, die das Universum nichtig macht.⁷
Jouissance ist somit die ontologische Aberration, das gestörte Gleichgewicht (clinamen, um den alten philosophischen Ausdruck zu verwenden), das für den Übergang vom Nichts zum Etwas verantwortlich ist; sie bezeichnet die minimale Kontraktion (im Sinne Schellings), die die Dichte der Realität des Subjekts bereitstellt. Jemand kann glücklich verheiratet sein, einen guten Job und viele Freunde haben, mit seinem Leben vollkommen zufrieden sein und dennoch absolut an eine bestimmte Formation (‘Sinthom’) der Jouissance gebunden sein, bereit, alles zu riskieren, statt darauf zu verzichten (Drogen, Tabak, Alkohol, eine bestimmte sexuelle Perversion …). Obwohl sein symbolisches Universum schön eingerichtet sein mag, bringt dieses völlig sinnlose Eindringen, dieses clinamen, alles durcheinander, und es ist nichts zu machen, da das Subjekt nur in diesem ‘Sinthom’ der Dichte des Seins begegnet – wird es ihm entzogen, ist sein Universum leer. Auf einer weniger extremen Ebene gilt dasselbe für jede authentische intersubjektive Begegnung: Wann begegne ich dem Anderen tatsächlich ‘jenseits der Wand der Sprache’, im Real seines oder ihres Seins? Nicht dann, wenn ich sie beschreiben kann, nicht einmal dann, wenn ich ihre Werte, Träume und so weiter erfahre, sondern nur dann, wenn ich dem Anderen in ihrem Moment der Jouissance begegne : wenn ich an ihr ein winziges Detail bemerke (eine zwanghafte Geste, einen übermäßigen Gesichtsausdruck, einen Tick), das die Intensität des Realen der Jouissance signalisiert. Diese Begegnung mit dem Realen ist immer traumatisch; an ihr ist stets etwas zumindest minimal Obszönes; ich kann sie nicht einfach in mein Universum integrieren, es bleibt immer ein Abgrund, der mich davon trennt.
Jouissance ist somit der ‘Ort’ des Subjekts – man ist versucht zu sagen: sein ‘unmögliches’ Da-Sein, Da-Sein; und gerade deshalb ist das Subjekt ihr gegenüber immer schon verschoben, aus dem Takt, out-of-joint. Darin liegt die ursprüngliche ‘Dezentrierung’ des lacanschen Subjekts: viel radikaler und elementarer als die Dezentrierung des Subjekts gegenüber dem ‘großen Anderen’, der symbolischen Ordnung, die der äußere Ort seiner Wahrheit ist, ist die Dezentrierung gegenüber der traumatischen Ding-Jouissance, die das Subjekt niemals ‘subjektivieren’, übernehmen, integrieren kann. Jouissance ist jenes berüchtigte Heimliche, das zugleich das unheimlichste ist, immer schon hier und gerade als solches immer schon verloren. Was die grundlegende subjektive Position eines Hysterikers charakterisiert (und man sollte im Blick behalten, dass für Lacan der Status des Subjekts als solchen hysterisch ist), ist gerade das unaufhörliche Befragen seiner oder ihrer Existenz qua Genießen – das heißt, die Weigerung, sich vollständig mit dem Objekt zu identifizieren, das er oder sie ‘ist’, das ewige Staunen über dieses Objekt: ‘Bin ich wirklich das?’
Eine andere Weise, den Punkt auszudrücken, ist zu sagen, dass Jouissance den nicht-historischen Kern des Prozesses der Historisierung bezeichnet. Jacques-Alain Miller definiert den Analytiker als das Subjekt, das im Gegensatz zu uns ‘gewöhnlichen’ Individuen, die im alltäglichen symbolischen Kreislauf gefangen sind, nicht länger verwechselt, was es hört [ j’ouis], mit dem, was es genießt [jouir ]; Miller spielt hier natürlich auf Lacans berühmtes Wortspiel aus ‘Die Subversion des Subjekts …’ über das Über-Ich-Gebot Jouis ! (‘Genieße!’) an, ‘auf das das Subjekt nur mit J’ouis (‘Ich höre’) antworten kann, die Jouissance ist nicht mehr als eine halbgehörte Anspielung’.⁸ Das Subjekt kann diese Verwechslung nur vermeiden, indem es die ‘Phantasie durchquert’, da gerade seine Grundphantasie den Rahmen bereitstellt, der seine Jouissance in dem verankert, was es hören/verstehen kann: Wenn ich Distanz zum phantasmatischen Rahmen gewinne, reduziere ich Jouissance nicht länger auf das, was ich höre/verstehe, auf den Rahmen der Bedeutung.
Der schwierigste und schmerzhafteste Aspekt dessen, was Lacan ‘Trennung’ nennt, besteht daher darin, die Distanz zwischen dem harten Kern der Jouissance und den Weisen aufrechtzuerhalten, in denen dieser Kern in unterschiedlichen ideologischen Feldern eingefangen ist – Jouissance ist ‘unentscheidbar’, ‘frei schwebend’. Die Begeisterung von Fans für ihren Lieblingsrockstar und die religiöse Trance eines frommen Katholiken in der Gegenwart des Papstes sind libidinös dasselbe Phänomen ; sie unterscheiden sich nur im unterschiedlichen symbolischen Netzwerk, das sie stützt. Sergej Eisensteins provokativ betitelter Essay ‘Die Zentrifuge oder der Gral’ zielt genau darauf, diese ‘unhistorische’ Neutralität der Ekstase (sein Name für Jouissance) zu betonen: Prinzipiell sind die Ekstase eines Ritters in der Gegenwart des Grals und die Ekstase eines Liebenden in der Gegenwart der Geliebten von derselben Natur wie die Ekstase des Kolchosbauern in der Gegenwart einer neuen Zentrifuge zum Entrahmen der Milch. Eisenstein selbst verweist auf den heiligen Ignatius von Loyola, der bei der Ausarbeitung der Technik religiöser Ekstase anerkennt, dass die positive Gestalt Gottes erst an zweiter Stelle kommt, nach dem Moment der ‘gegenstandslosen’ Ekstase: Zuerst haben wir die Erfahrung gegenstandsloser Ekstase; anschließend wird diese Erfahrung an irgendeine historisch bestimmte Repräsentation geheftet – hier begegnen wir einem exemplarischen Fall des Realen als dessen, was ‘in allen möglichen (symbolischen) Universen gleich bleibt’. Wenn also jemand, während er seine tiefe religiöse Erfahrung beschreibt, seinen Kritikern nachdrücklich entgegnet: ‘Ihr versteht das überhaupt nicht! Da ist mehr, etwas, das Worte nicht ausdrücken können!’, dann ist er Opfer einer Art Perspektiventäuschung: Das kostbare agalma, das er als den einzigartigen unaussprechlichen Kern wahrnimmt, der anderen (Nichtgläubigen) nicht zugänglich ist, ist gerade die Jouissance als das, was immer dasselbe bleibt. Jede Ideologie heftet sich an einen Kern von Jouissance, der jedoch den Status eines mehrdeutigen Exzesses behält. Die einzigartige ‘religiöse Erfahrung’ ist daher in ihre zwei Komponenten zu spalten, wie in der bekannten Szene aus Terry Gilliams Brazil, in der das Essen auf einem Teller in seinen symbolischen Rahmen (ein Farbfoto des Gerichts über dem Teller) und den formlosen Schleim der Jouissance, den wir tatsächlich essen, gespalten wird …
Die philosophische Konsequenz dieser Spaltung, dieses Exzesses an Jouissance, der nicht historisiert werden kann, ist, dass man auf der Differenz zwischen historischem und dialektischem Materialismus bestehen sollte. Glengarry Glen Ross, ein Film nach dem Stück von David Mamet, scheint Hitchcocks bekanntes Diktum zu bestätigen: ‘Je besser der Bösewicht, desto besser der Film’. Einerseits liefert der Film eine überzeugende Beschreibung des schrecklichen und demütigenden Bittstellerlebens, das Immobilienmakler erdulden (erbitterte Konkurrenz, moralische Korruption, Lügen und erniedrigende Schmeichelei im Dienst bloßen Überlebens als Ernährer …). Doch ist nicht der (libidinös) befriedigendste Teil des Films der kurze Auftritt von Alec Baldwin als glatter, höflich grausamer Manager, der die Makler demütigt, indem er sie mit aggressiven Bonmots bombardiert? Es ist das exzessive Genießen, das Baldwins Auftreten in dieser Szene hervorruft, das für die Zufriedenheit des Zuschauers beim Anblick der Demütigung der armen Makler verantwortlich ist. Solches exzessive Genießen ist die notwendige Stütze sozialer Dominanzbeziehungen – wir sehen das in Oliver Stones Wall Street, dessen libidinöser Fokus zweifellos das fortwährende Bonmotfeuerwerk des korrupten Gordon Gekko (Michael Douglas) ist; oder in der Beziehung zwischen Burt Lancaster und Tony Curtis in Sweet Smell of Success, deren unterschiedliche, doch komplementäre Korruption sehr aufschlussreich für die soziale Krise in Amerika in den 1950er Jahren ist – aber wiederum ist es das, was den Zuschauer wirklich fasziniert, nämlich die Weise, in der diese beiden Figuren exzessives Genießen an ihrer völligen Korruption haben …
Aus demselben Grund scheinen die standardmäßigen feministischen Analysen der Figur der femme fatale im Noir-Universum (all die bekannten Variationen darüber, wie die femme fatale der Angst vor der emanzipierten Weiblichkeit, die als Bedrohung männlicher Identität wahrgenommen wird, Körper gibt, usw., usw.) irgendwie am Punkt vorbeizugehen, und zwar daran, dass gerade die Merkmale, die die kritische Analyse als Produkt der männlichen paranoiden Haltung denunziert (das weiningerianische Bild der Frau als von Natur aus böse; als Verkörperung einer kosmischen Korruption, eines grundlegenden Fehlers in der ontologischen Struktur des Universums selbst; als Verführerin, deren Hass und Zerstörung der Männer auf perverse Weise ihr Bewusstsein davon ausdrücken, wie sehr ihre Identität vom männlichen Blick abhängt, und die daher insgeheim nach ihrer eigenen Auslöschung als einzigem Mittel der Befreiung verlangt), auch den unwiderstehlichen Reiz dieser Figur ausmachen; als ob all dieses Theoretisieren letztlich betrieben wird, um uns ein Alibi für unser Genießen der femme fatale zu liefern.
Auf einer grundlegenderen Ebene betrifft das Problem hier die Spannung zwischen einer historisch spezifizierten Tat und ihrer ‘ewigen’ metaphysischen Dimension. Film noir etwa verbindet die Darstellung eines spezifischen historischen Moments (die verfallende amerikanische Megalopolis in den 1940er Jahren) mit einer eigentlich ‘metaphysischen’ Vision der Korruption des Universums als solchen, mit einer Haltung des Ekels vor dem Leben selbst in all seinem Kriechen und Kreischen. Robert Penn Warrens All the King’s Men, ein einzigartiger Noir-Roman, ist von derselben Ambiguität bewohnt: einerseits ein Porträt des inhärenten Fehlers des amerikanischen Populismus, dessen Versprechen, die Armen zu erlösen, in politischer Korruption und Autoritarismus endet; andererseits der tiefe Glaube an eine grundlegende Sünde, wesensgleich mit der menschlichen Existenz als solcher, verbunden mit einer Haltung zum Leben selbst als einer Art bösem Alptraum. Der Punkt ist hier wiederum, dass die historizistische Reduktion der ontologischen Haltung auf die verzerrte Spiegelung einer konkreten sozialen Konstellation (wie in der standardmäßigen marxistischen Abfertigung des ‘ontologischen Pessimismus’ und des Gefühls universalen Verfalls als aufgeblähter Fehlwahrnehmung der Sackgasse, die zur eigenen historisch spezifischen Klassensituation des Subjekts gehört – die Lektüre, nach der die schreckliche Aussicht auf die kosmische Katastrophe ‘in Wahrheit bedeutet’ die Unmöglichkeit, sich einen Ausweg aus der eigenen spezifischen historischen Blockade vorzustellen …) nicht weniger irrig ist als die traditionelle metaphysische Vorstellung konkreter Verfallsformen als bloß zeitliche Exemplifizierungen universaler ontologischer Korruption, ‘des Weges allen Fleisches’.⁹ In der Theologie bemüht sich Kierkegaard, dieses falsche Dilemma durch seinen Begriff eines zeitlichen Ereignisses (der Inkarnation) zu lösen, das in seiner singulären Einzigartigkeit den einzigen Zugang zur Ewigkeit bereitstellt.¹⁰
Man ist daher versucht, die Standardvorstellung umzukehren, wonach die Atmosphäre ontologischen Verfalls und der Katastrophe als ideologische ‘Übertreibung’ (als aufgeblähte Universalisierung) eines begrenzten Wahrheitsgehalts (der Sackgasse der sozialen Lage einer bestimmten Klasse) zu lesen sei: hier, mehr als irgendwo sonst, muss Adornos Diktum ‘In der freudschen Psychoanalyse ist nichts wahrer als ihre Übertreibungen’ angewandt werden. Wenn etwa Pascal (ein Noir-Philosoph, wenn es je einen gab) in seinem melancholischen Pessimismus, so heißt es, den sozialen Zerfall und den Einflussverlust des alten Adels ausdrückt, die den Aufstieg der absolutistischen Monarchie begleiteten, dann sollte man darauf bestehen, dass der Moment der Wahrheit in eben dieser ‘Übertreibung’ der ideologischen Form gegenüber ihrem bezeichneten konkreten sozialen Gehalt enthalten ist. Vielleicht sollte man hier die entscheidende freudsche Unterscheidung zwischen latenten Traumgedanken und dem unbewussten Wunsch, der sich im Traum artikuliert, heranziehen: Sie sind keineswegs dasselbe, da der unbewusste Wunsch sich durch eben die Verzerrung der latenten Traumgedanken artikuliert – durch ihre Übersetzung aus der Alltagssprache öffentlicher Kommunikation in die Traumsprache (in Freuds Traum von Irmas Injektion etwa ist der latente Traumgedanke schlicht Freuds Bestreben, der Verantwortung für das Scheitern von Irmas Behandlung zu entkommen, ein voll bewusstes Anliegen, das ihn Tag und Nacht umtrieb, während der unbewusste Wunsch einen weit unheimlicheren Bereich primitiver sexueller Fantasien und Begierden betrifft). In derselben Linie, und gerade insofern ein ideologischer Text als chiffrierte Formation des Unbewussten zu lesen ist, erklärt die Reduktion seines manifesten Inhalts (Pascal’s jansenistische Theologie) auf seinen latenten Gedanken (die Sackgasse der sozialen Lage des alten Adels), so angemessen sie ist, nicht seine Wirkung, nicht die Faszination, die er auf Generationen von Lesern ausübt – ein drittes Element muss eingreifen, das natürlich in der zugrunde liegenden Ökonomie der Jouissance liegt.
Der Philosoph, der als erster diesen nicht-historischen Kern der Historizität ausgearbeitet hat, war F.W.J. Schelling: Seine Relevanz für die heutige Debatte über den Historizismus liegt in seiner Vorstellung des ursprünglichen Akts der Entscheidung/Differenzierung (Ent-Scheidung), der Geste, die den Spalt zwischen der Trägheit des prähistorischen Realen und dem Bereich der Historizität öffnet, der Vielzahl und Verschiebung von Narrativierungen. Dieser Akt ist somit eine quasi-transzendentale unhistorische Möglichkeitsbedingung und zugleich eine Bedingung der Unmöglichkeit der Historisierung.¹¹ Jede ‘Historisierung’, jede Symbolisierung muss diesen Spalt, diesen Übergang vom Realen zur Geschichte ‘wieder-aufführen’. In Bezug auf Ödipus etwa ist es leicht, das Spiel der Historisierung zu spielen und zu zeigen, wie die ödipale Konstellation in einen spezifischen patriarchalen Kontext eingebettet ist, und so weiter; es erfordert eine weit größere Denkanstrengung, in der historischen Kontingenz des Ödipus selbst eine der Wiederaufführungen jenes Spalts zu erkennen, der den Horizont der Historizität eröffnet. Und legt nicht die psychoanalytische klinische Erfahrung Zeugnis ab von dem fortwährenden Ringen, sich einen Eintritt in den Bereich der Historizität zu sichern? Sind nicht die Blockaden des Patienten so viele Monumente des traumatischen Charakters unseres Eintritts in den Bereich symbolischer Geschichte, so viele Beweise dafür, dass dieser Eintritt auch scheitern kann (wie in der Psychose)? Kurz: Was die Historizisten als ursprünglich gegeben akzeptieren, als die ‘Natur der Dinge’ (‘im sozialen Leben resultiert alles aus dem Prozess kontingenter Konstruktion’), ist das, worum es in einem schwierigen Kampf bergauf geht; es muss durch einen fortwährenden Kampf (wieder)gewonnen werden; es gelingt nie vollständig … Darin liegt der Schlüsselpunkt: Historizität ist nicht der Nullzustand der Dinge, der sekundär durch ideologische Fixierungen und naturalisierende Verkennungen verdunkelt wird; Historizität selbst, der Raum kontingenter diskursiver Konstruktionen, muss durch eine Anstrengung aufrechterhalten, übernommen, immer wieder zurückgewonnen werden …
Dieser nicht-historische Kern der Jouissance ist nichts, was nur in ‘metaphysischen’ oder ‘mystischen’ Grenzerfahrungen zugänglich wäre: Er durchdringt unser Alltagsleben – man braucht nur Augen, um ihn zu sehen. Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen ich aufgrund verschiedener Arten sozialer Verpflichtungen nicht vermeiden kann, meine Verwandten zu treffen, die nichts mit lacanscher Theorie (oder mit Theorie überhaupt) zu tun haben, nimmt das Gespräch früher oder später immer dieselbe unangenehme Wendung: mit kaum verhüllter Feindseligkeit und Neid unter einer höflichen Oberfläche fragen sie mich, wie viel ich mit meinem Schreiben und Publizieren im Ausland und mit Vorträgen rund um die Welt verdiene. Überraschenderweise klingt für sie jede Antwort, die ich gebe, falsch: Wenn ich zugebe, dass ich eine Summe verdiene, die in ihren Augen beträchtlich ist, halten sie es für ungerecht, dass ich so viel für mein leeres Philosophieren verdiene, während sie, die ‘richtige Arbeit’ machen, für eine weit geringere Belohnung schwitzen müssen; wenn ich ihnen eine kleine Summe nenne, behaupten sie mit tiefer Genugtuung, selbst das sei zu viel – wer brauche in Zeiten sozialer Krise mein Philosophieren? Warum sollten wir dafür Steuergeld ausgeben? Die zugrunde liegende Prämisse ihres Denkens ist, grob gesagt, dass ich, was immer ich verdiene, zu viel verdiene – warum? Es ist nicht nur so, dass sie meine Art von Arbeit für nutzlos halten: Was man unter diesem offiziellen, öffentlichen Vorwurf erkennen kann, ist der Neid auf das Genießen. Das heißt: Es wird bald offensichtlich, was sie wirklich stört: die Vorstellung, dass ich meine Arbeit tatsächlich genieße. Sie haben eine vage Intuition davon, wie ich Jouissance in dem finde, was ich tue; weshalb Geld in ihren Augen niemals ein angemessenes Äquivalent für meine Arbeit ist. Kein Wunder also, dass mein Verdienst immer zwischen den zwei Extremen ‘zu wenig’ und ‘zu viel’ oszilliert: Eine solche Oszillation ist ein unverkennbares Zeichen dafür, dass wir es mit Jouissance zu tun haben. (In analoger Weise sind in den Augen eines Rassisten Einwandererarbeiter, die unsere Jobs stehlen, zugleich faul und überfleißig: Sie arbeiten exzessiv für niedrige Löhne und zugleich scheinen sie zu wenig zu arbeiten, unsere Gesundheits- und Sozialsysteme auszunutzen.)
Die ‘Banalität des Bösen’?
Ein interessantes Phänomen postkommunistischer Länder ist der Hass auf das kommunistische Regime und seine überlebenden Vertreter, ausgedrückt gerade von Schriftstellern und Journalisten, die nicht nur an keiner ernsthaften dissidenten Aktivität beteiligt waren, sondern sogar mehr ‘kollaborierten’, als für das (nicht nur persönliche, sondern auch professionelle) Überleben nötig war. In Slowenien etwa fordert ein älterer Dichter regelmäßig radikale Säuberungen der ‘Überreste der Vergangenheit’ und warnt, dass Kommunisten, obwohl sie die öffentliche Macht verloren hätten, noch immer heimlich das ökonomische und soziale Leben dominierten. Noch vor nicht allzu vielen Jahren jedoch war dieser Dichter ein ziemlich gefügiger Journalist, der unter anderem den verfeinerten kulturellen Geschmack eines kommunistischen Funktionärs sehr lobte, der heute beschuldigt wird, politische Schauprozesse organisiert zu haben – was für das berufliche Überleben definitiv nicht nötig war. Die Erklärung ist natürlich, dass die Feindseligkeit dieser Leute gegenüber dem kommunistischen Regime nicht einfach durch das ihnen zugefügte Unrecht erklärt werden kann – im Gegenteil, sie hassen das alte Regime, weil es sie demütigte, indem es ihnen einen ‘Über-Gehorsam’ abpresste, eine Geste der Fügsamkeit, die aus einer reinen Jouissance heraus vollzogen wurde, die ihre Teilnahme am unterdrückerischen kommunistischen ideologischen Ritual bereitstellte. Das heißt: Wie zieht man die Trennlinie zwischen dem zum Überleben notwendigen Gehorsam und ‘Über-Gehorsam’? Es gibt natürlich keine ‘objektiven’ Kriterien; es ist auch unzureichend zu sagen, wir hätten es mit ‘Über-Gehorsam’ zu tun, wenn das Subjekt Dinge tat, die über sein eigenes bescheidenes Überleben hinausgingen und ihm exzessive materielle und professionelle Gewinne oder Macht brachten. Der einzig akzeptable Begriff ist, dass wir, selbst wenn die tatsächliche Geste der Fügsamkeit sehr bescheiden war, in dem Moment mit ‘Über-Gehorsam’ zu tun haben, in dem die Geste der Fügsamkeit dem Subjekt eine Jouissance eigener Art verschafft.
Auf einer traumatischeren Ebene macht dieser Bezug auf Jouissance die Unzulänglichkeit von Hannah Arendts Begriff der ‘Banalität des Bösen’ aus ihrem berühmten Bericht über den Eichmann-Prozess deutlich – nämlich wie Eichmann, weit davon entfernt, von einem dämonischen Willen angetrieben zu sein, Leiden zuzufügen und Menschenleben zu zerstören, schlicht ein Musterbeamter war, der seinen Job machte, Befehle ausführte und sich nicht um deren moralische usw. Implikationen kümmerte: Entscheidend für ihn war die reine ‘langweilige’ symbolische Form des Befehls, aller imaginären – oder in kantischen Begriffen ‘pathologischen’ – Reste entkleidet (die Schrecken, die seine Ausführung mit sich bringen wird, private Motive finanziellen Profits oder sadistischer Befriedigung, usw., usw.). Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Durchführung des Holocaust vom NS-Apparat selbst als eine Art obszönes schmutziges Geheimnis behandelt wurde, nicht öffentlich anerkannt, einer einfachen und direkten Übersetzung in die anonyme bürokratische Maschine widerstehend. Um die Art und Weise zu erklären, wie die Vollstrecker die Holocaust-Maßnahmen durchführten, sollte man daher die rein symbolische bürokratische Logik, die im Begriff der ‘Banalität des Bösen’ enthalten ist, um zwei weitere Komponenten ergänzen: den imaginären Schirm von Befriedigungen, Mythen und so weiter, der es den Subjekten ermöglicht, Distanz zu den Schrecken zu halten, an denen sie beteiligt sind (und sie so zu ‘neutralisieren’), und zu dem Wissen, das sie darüber haben (sich einzureden, Juden würden nur in neue östliche Lager transportiert; zu behaupten, nur eine kleine Zahl von ihnen sei tatsächlich getötet worden; abends klassische Musik zu hören und sich so zu überzeugen, ‘schließlich sind wir Kulturmenschen, leider gezwungen, einige unangenehme, aber notwendige Dinge zu tun’, usw.); und vor allem das Reale der perversen (sadistischen) Jouissance an dem, was sie taten (foltern, töten, Körper zerstückeln …). Es ist besonders wichtig, im Blick zu behalten, wie die ‘Bürokratisierung’ des Verbrechens in ihrer libidinösen Wirkung mehrdeutig war: Einerseits ermöglichte sie (einigen) Beteiligten, den Horror zu neutralisieren und ihn als ‘bloß einen weiteren Job’ zu nehmen; andererseits gilt hier auch die grundlegende Lehre des perversen Rituals: Diese ‘Bürokratisierung’ war an sich eine Quelle zusätzlicher Jouissance (gibt es nicht einen zusätzlichen Kick, wenn man das Töten als komplizierte administrativ-kriminelle Operation vollzieht? Ist es nicht befriedigender, Gefangene als Teil eines geordneten Verfahrens zu foltern – etwa der sinnlosen ‘Morgenübungen’, die nur dazu dienten, sie zu quälen – gab es nicht einen weiteren ‘Kick’ für die Befriedigung der Wächter, wenn sie ihren Opfern Schmerz zufügten nicht durch direktes Verprügeln, sondern unter dem Deckmantel einer Tätigkeit, die offiziell dazu bestimmt war, ihre Gesundheit zu erhalten?).
Darin liegt auch das Interesse von Goldhagens viel diskutiertem Hitlers willige Vollstrecker, einem Buch, dessen Zurückweisung aller Standardversionen der Erklärung, wie ‘gewöhnliche, anständige’ Deutsche bereit waren, am Holocaust teilzunehmen, einen unbestreitbaren Wahrheitseffekt hervorbringt.¹² Man kann nicht behaupten, die große Mehrheit habe nicht gewusst, was vor sich ging, sie sei von der Minderheit der Nazi-Bande terrorisiert worden (eine Vorstellung, die einige Linke verbreiteten, um das deutsche ‘Volk’ vor kollektiver Verurteilung zu retten): Sie wussten es; genug Gerüchte und selbstwiderlegende Dementis waren im Umlauf. Man kann nicht behaupten, sie seien graue, leidenschaftslose Bürokraten gewesen, die blind Befehlen folgten gemäß der deutschen autoritären Tradition bedingungslosen Gehorsams: Zahlreiche Zeugnisse belegen den Überschuss an Genießen, den die Vollstrecker in ihrem Unternehmen fanden (siehe die vielen Beispiele ‘unnötigen’ zusätzlichen Zufügens von Schmerz oder Demütigung – auf den Kopf einer alten jüdischen Frau zu urinieren, usw.). Man kann nicht behaupten, die Vollstrecker seien ein Haufen verrückter Fanatiker gewesen, die selbst die elementarsten moralischen Normen nicht kannten: Dieselben Menschen, die den Holocaust ausführten, waren oft in der Lage, sich in ihrem privaten oder öffentlichen Leben ehrenhaft zu verhalten, ein vielfältiges Kulturleben zu führen, gegen soziale Ungerechtigkeit zu protestieren und so weiter. Man kann nicht behaupten, sie seien in Unterwerfung terrorisiert worden, da jede Weigerung, einen Befehl auszuführen, hart bestraft worden wäre: Vor jeder ‘Drecksarbeit’ wurden die Mitglieder der Polizeieinheit regelmäßig gefragt, ob sie dazu in der Lage seien, und diejenigen, die sich weigerten, wurden ohne jede Bestrafung entschuldigt. So mag das Buch in Teilen seiner historischen Forschung problematisch sein, seine Grundprämisse ist schlicht unbestreitbar: Die Vollstrecker hatten eine Wahl; sie waren im Durchschnitt voll verantwortlich, reif, ‘zivilisierte’ Deutsche.
Goldhagens Erklärung (die Tradition eines eliminatorischen Antisemitismus, die bereits im neunzehnten Jahrhundert als zentraler Bestandteil der ‘deutschen Ideologie’ und damit der deutschen kollektiven Identität vollständig etabliert war) ist jedoch zu nah an der Standardthese ‘kollektiver Schuld’, die einen ‘leichten Ausweg’ durch Verweis auf das kollektive Schicksal erlaubt (‘Was hätten wir tun können? Das kollektive ideologische Erbe hat unser Handeln vorbestimmt!’). Außerdem scheint Goldhagen in seinen konkreten Beschreibungen (oder vielmehr in seinen Interpretationen konkreter Zeugnisse) die Weise nicht zu berücksichtigen, wie Ideologie und Macht auf der Ebene ihrer ‘Mikrophysik’ funktionieren. Man sollte ihm voll zustimmen, dass Arendts Begriff der ‘Banalität des Bösen’ unzureichend ist, insofern er – in lacanschen Begriffen – das obszöne, öffentlich nicht anerkannte Mehr-Genießen, das das Ausführen von Befehlen bereitstellt, nicht berücksichtigt, manifestiert in den ‘unnötigen’ Exzessen dieser Ausführung (wie Goldhagen zeigt, wurden diese Exzesse nicht nur nicht von Vorgesetzten ermutigt – niedrig rangige Soldaten wurden oft sogar sanft dafür gerügt, nicht aus Mitgefühl für Juden, sondern weil solche Exzesse als unvereinbar mit der ‘Würde’ eines deutschen Soldaten galten). Dennoch blieb trotz des öffentlichen Charakters des NS-Antisemitismus das Verhältnis zwischen den beiden Ebenen, dem Text der öffentlichen Ideologie und ihrem ‘obszönen’ Über-Ich-Supplement, voll wirksam: Die Nazis selbst behandelten den Holocaust als eine Art kollektives ‘schmutziges Geheimnis’. Diese Tatsache stellte nicht nur kein Hindernis für die Durchführung des Holocaust dar – sie diente vielmehr genau als sein libidinöser Träger, da das Bewusstsein, ‘wir stecken alle gemeinsam drin’, dass wir an einer gemeinsamen Übertretung teilnehmen, als ‘Zement’ für die NS-kollektive Kohärenz diente.
Goldhagens Beharren darauf, die Vollstrecker hätten in der Regel keinerlei ‘Scham’ über das, was sie taten, empfunden, ist daher verfehlt: Sein Punkt ist natürlich, dass diese Abwesenheit von Scham beweise, in welchem Ausmaß ihr Foltern und Töten von Juden in ihr ideologisches Bewusstsein als völlig akzeptabel integriert war. Eine genaue Lektüre der Zeugnisse aus seinem eigenen Buch zeigt jedoch, wie die Vollstrecker ihre Taten als eine Art ‘transgressive’ Aktivität erlebten, als eine Art pseudo-bachtinsche ‘karnevaleske’ Aktivität, in der die Zwänge ‘normalen’ Alltagslebens momentweise suspendiert waren – es war gerade dieser ‘transgressive’ Charakter (transgressiv gegenüber den öffentlich anerkannten ethischen Normen der NS-Gesellschaft selbst), der das ‘Mehr-Genießen’ erklärte, das man aus dem exzessiven Foltern der Opfer bezog. Das Schamgefühl beweist also wiederum in keiner Weise, dass die Vollstrecker ‘nicht völlig korrumpiert’ waren, dass ‘ein Minimum an Anständigkeit in ihnen fortbestand’: Im Gegenteil, diese Scham war das unverkennbare Zeichen des Überschusses an Genießen, den sie aus ihren Taten bezogen.
Also – wenn wir zum Schlüsselelement in Goldhagens Argumentation zurückkehren (vor jeder Beteiligung an der Razzia im Ghetto und am gewaltsamen Zusammentreiben von Juden wurden die Mitglieder der deutschen Einheit ausdrücklich gefragt, ob sie sich imstande fühlten, diese unangenehme Aufgabe zu erfüllen, und diejenigen, die sich weigerten, erlitten keinerlei Konsequenzen): Ist es nicht plausibel anzunehmen, dass wir es hier – zumindest bis zu einem gewissen Grad – mit einer Situation erzwungener Wahl zu tun haben? Aus diesem Grund war diese Wahl gewissermaßen sogar schlimmer als offene Nötigung: Nicht nur waren die Subjekte gezwungen, an abstoßenden obszönen Gewalttaten teilzunehmen, sie mussten sogar so tun, als täten sie es frei und freiwillig. (Eine Minderheit, die sich weigerte teilzunehmen, wurde vermutlich gerade toleriert, um den Schein freier Wahl aufrechtzuerhalten.) Aber wiederum ist unser Punkt, dass diese subtile Nötigung unter dem Deckmantel freier Wahl (du bist frei zu wählen und die Teilnahme zu verweigern, unter der Bedingung, dass du die richtige Wahl triffst und dich frei für die Teilnahme entscheidest) die Verantwortung des Subjekts in keiner Weise aufhebt: Man ist verantwortlich, insofern man es gern tut, und es ist klar, dass die subtile (implizite) Nötigung die zusätzliche Jouissance erzeugte, Teil eines größeren, trans-individuellen Körpers zu sein – in einem ‘kollektiven Willen zu schwimmen’.
Heinrich Himmler machte diesen Punkt in seiner berüchtigten Aussage klar, der Holocaust sei eines der ruhmreichsten Kapitel einer deutschen Geschichte, das leider ungeschrieben bleiben müsse; die zugrunde liegende Vorstellung dieser Aussage ist, dass man seine wahre Hingabe an sein Vaterland nicht einfach dadurch beweist, dass man Edles für es tut (sein Leben für es opfert, usw.), sondern dadurch, dass man bereit ist, für es schreckliche Taten zu vollbringen, wenn die Notwendigkeit entsteht: das heißt, indem man den Forderungen des Vaterlandes Vorrang gibt vor kleinlichen Sorgen um persönliche Integrität und Ehrlichkeit – der wahre Held ist derjenige, der bereit ist, sich für die noble Sache die Hände schmutzig zu machen. Obwohl man dieselbe Logik in der stalinistischen Rechtfertigung des revolutionären Terrors antrifft, folgt daraus in keiner Weise, dass der Nationalsozialismus Jouissance auf dieselbe Weise mobilisiert wie der Stalinismus – das heißt, gemäß irgendeinem universellen ‘totalitären’ Mechanismus.
Der grundlegende Unterschied zwischen der jeweiligen Natur stalinistischer und faschistischer ‘Totalitarismen’ lässt sich an einem winzigen, aber signifikanten Detail erkennen: Nachdem der faschistische Führer seine öffentliche Rede beendet hat und die Menge applaudiert, erkennt der Führer sich selbst als Adressaten des Applauses an (er starrt in einen fernen Punkt, verbeugt sich vor dem Publikum oder etwas Ähnliches), während der stalinistische Führer (etwa der Generalsekretär der Partei, nachdem er seinen Bericht an den Parteitag beendet hat) selbst aufsteht und zu applaudieren beginnt. Diese Veränderung signalisiert eine grundlegend andere diskursive Position: Der stalinistische Führer ist ebenfalls gezwungen zu applaudieren, da der wahre Adressat des Applauses des Volkes nicht er selbst ist, sondern der große Andere der Geschichte, dessen demütiger Diener-Instrument er ist … Insofern – nach Lacan – die Position des Objekt-Instruments der Jouissance des großen Anderen das ist, was die Ökonomie des Perversen charakterisiert, kann man auch sagen, dass der Unterschied der zwischen dem faschistischen Paranoiker und dem stalinistischen Perversen ist. In Bezug auf ‘beobachtet werden’ etwa ist der Paranoiker überzeugt, dass er während seiner sexuellen Aktivität beobachtet wird – er ‘sieht einen Blick, wo in Wirklichkeit keiner ist’ –, während der Perverse den Blick des Anderen selbst organisiert, damit er seine sexuelle Aktivität begleitet (etwa indem er einen Freund oder eine unbekannte Person bittet, ihm beim Liebemachen mit seiner Frau zuzusehen). Und war es nicht dasselbe mit der Vorstellung einer Verschwörung gegen das Regime? Die paranoiden Nazis glaubten wirklich an die jüdische Verschwörung, während die pervertierten Stalinisten ‘konterrevolutionäre Verschwörungen’ aktiv organisierten/erfanden als präventive Schläge. Die größte Überraschung für den stalinistischen Ermittler war, zu entdecken, dass das Subjekt, das beschuldigt wurde, ein deutscher oder amerikanischer Spion zu sein, wirklich ein Spion war: Im eigentlichen Stalinismus zählten Geständnisse nur insofern, als sie falsch und erpresst waren …
Worin sollen wir diese Differenz begründen? In Bezug auf das Paar Stalinismus und Faschismus räumt Heidegger dem Faschismus stillschweigend Priorität ein – an diesem Punkt unterscheiden wir uns von ihm und folgen Alain Badiou,¹³ der behauptet, dass der stalinistische Kommunismus trotz der in seinem Namen verübten Schrecken (oder vielmehr im Namen der spezifischen Form dieser Schrecken) seiner Struktur nach mit einem Wahrheits-Ereignis (der Oktoberrevolution) verbunden war, während der Faschismus ein Pseudo-Ereignis war, eine Lüge im Gewand der Authentizität. Badiou bezieht sich hier auf den Unterschied zwischen désastre (der stalinistischen ‘Ontologisierung’ des Wahrheits-Ereignisses zu einer positiven Struktur des Seins) und désêtre (der faschistischen Imitation/Inszenierung eines Pseudo-Ereignisses namens ‘faschistische Revolution’): mieux vaut un désastre qu’un désêtre, da désastre immerhin inhärent mit dem Wahrheits-Ereignis verbunden bleibt, dessen katastrophale Konsequenz es ist, während désêtre das Ereignis lediglich als ästhetisches Spektakel ohne die Substanz der Wahrheit imitiert. Gerade aus diesem Grund waren die Säuberungen unter dem Stalinismus so viel wilder und, in gewisser Weise, viel ‘irrationaler’ als die faschistische Gewalt: Im Faschismus, selbst im nationalsozialistischen Deutschland, war es möglich zu überleben, den Anschein eines ‘normalen’ Alltagslebens aufrechtzuerhalten, wenn man sich in keine oppositionelle politische Aktivität einließ (und natürlich, wenn man nicht jüdischer Herkunft war …), während im Stalinismus der späten 1930er Jahre niemand sicher war, jeder unerwartet denunziert, verhaftet und als Verräter erschossen werden konnte. Mit anderen Worten: Die ‘Irrationalität’ des Nationalsozialismus war im Antisemitismus ‘verdichtet’, in seinem Glauben an die jüdische Verschwörung; während die stalinistische ‘Irrationalität’ den gesamten sozialen Körper durchdrang. Deshalb suchten NS-Polizeiermittler noch nach Beweisen und Spuren tatsächlicher Aktivitäten gegen das Regime, während stalinistische Ermittler sich mit klaren und unzweideutigen Fabrikationen befassten (erfundene Verschwörungen und Sabotagen, usw.).
Diese vom kommunistischen Machtapparat seinen eigenen Mitgliedern zugefügte Gewalt legt Zeugnis ab von der radikalen Selbstwidersprüchlichkeit des Regimes, von der inneren Spannung zwischen seinem kommunistischen Projekt und dem désastre seiner Verwirklichung: davon, dass an den Ursprüngen des Regimes ein ‘authentisches’ revolutionäres Projekt stand – unablässige Säuberungen waren nötig nicht nur, um die Spuren der eigenen Ursprünge des Regimes auszulöschen, sondern auch als eine Art ‘Wiederkehr des Verdrängten’, als Erinnerung an die radikale Negativität im Herzen des Regimes, ein Punkt, der von Nikita Michalkows Die Sonne, die uns täuscht (1994) perfekt ausgedrückt wird, der Geschichte vom letzten Tag der Freiheit des Obersten Kotow, eines hochrangigen Mitglieds der Nomenklatura, eines berühmten Helden der Revolution, glücklich verheiratet mit einer schönen jungen Frau. Im Sommer 1936 genießt Kotow einen idyllischen Sonntag auf seiner Datscha mit seiner Frau und seiner Tochter. Dmitri, ein früherer Liebhaber von Kotows Frau, stattet ihnen einen unerwarteten Besuch ab: Was als angenehmes Beisammensein beginnt – Spiele spielen, singen und alte Erinnerungen auffrischen –, verwandelt sich in einen Albtraum … Während Dmitri mit Kotows Frau flirtet und seine Tochter mit Geschichten und Musik bezaubert, wird Kotow bald klar, dass Dmitri ein NKWD-Agent ist, der gekommen ist, ihn am Ende des Tages als Verräter zu verhaften …¹⁴
Entscheidend ist hier die vollständige Willkür und der Unsinn von Dmitris gewaltsamem Eindringen, das die Ruhe des idyllischen Sommertages stört: Diese Idylle ist als emblematisch für die neue Ordnung zu lesen, in der die Nomenklatura ihre Herrschaft stabilisierte, sodass die Intervention des NKWD-Agenten, der die Idylle stört, in ihrer traumatischen Willkür – oder, hegelianisch, ‘abstrakten Negativität’ – Zeugnis ablegt von der grundlegenden Falschheit dieser Idylle, das heißt davon, dass die neue Ordnung auf dem Verrat an der Revolution gründet. Die stalinistischen Säuberungen der höheren Parteiebenen stützten sich auf diesen grundlegenden Verrat: Die Angeklagten waren faktisch schuldig, insofern sie als Mitglieder der neuen Nomenklatura die Revolution verrieten. Der stalinistische Terror ist somit nicht einfach der Verrat an der Revolution – der Versuch, die Spuren der authentischen revolutionären Vergangenheit auszulöschen; vielmehr legt er Zeugnis ab von einer Art ‘Kobold der Perversität’, der die postrevolutionäre neue Ordnung zwingt, ihren Verrat an der Revolution in sich selbst (wieder)einzuschreiben, ihn in Gestalt willkürlicher Verhaftungen und Tötungen, die alle Mitglieder der Nomenklatura bedrohten, zu ‘reflektieren’ oder ‘zu markieren’ – wie in der Psychoanalyse verbirgt das stalinistische Schuldbekenntnis die wahre Schuld. (Wie bekannt ist, rekrutierte Stalin klugerweise in den NKWD Menschen niedrigerer sozialer Herkunft, die so ihren Hass auf die Nomenklatura ausagieren konnten, indem sie hochrangige Apparatschiks verhafteten und folterten.)
Diese inhärente Spannung zwischen der Stabilität der Herrschaft der neuen Nomenklatura und der pervertierten ‘Wiederkehr des Verdrängten’ in Gestalt wiederholter Säuberungen in den Reihen der Nomenklatura steht im Zentrum des stalinistischen Phänomens: Säuberungen sind die Form selbst, in der das verratene revolutionäre Erbe fortlebt und das Regime heimsucht. Der Traum Gennadi Sjuganows, des kommunistischen Präsidentschaftskandidaten von 1996 (in der Sowjetunion wäre alles gut ausgegangen, wenn Stalin nur wenigstens fünf Jahre länger gelebt und sein letztes Projekt vollendet hätte, mit dem Kosmopolitismus Schluss zu machen und die Versöhnung zwischen dem russischen Staat und der orthodoxen Kirche herbeizuführen – mit anderen Worten, wenn Stalin nur seine antisemitische Säuberung verwirklicht hätte …), zielt genau auf den Punkt der Befriedung, an dem das revolutionäre Regime seine inhärente Spannung endlich loswürde und sich stabilisierte – das Paradox ist natürlich, dass, um diese Stabilität zu erreichen, Stalins letzte Säuberung, die geplante ‘Mutter aller Säuberungen’, die im Sommer 1953 hätte stattfinden sollen und durch seinen Tod verhindert wurde, hätte gelingen müssen.
Die Poesie der ethnischen Säuberung
Derselbe Bezug auf Jouissance erlaubt es uns, die Schrecken des Bosnienkriegs, wie sie sich in Emir Kusturicas Film Underground spiegeln, in ein neues Licht zu rücken. Wie wir aus der philosophischen Phänomenologie wissen, wird der Gegenstand der Wahrnehmung durch die Haltung des Subjekts zu ihm konstituiert. Die anschaulichste Illustration dafür ist ein nackter Körper: Dieser Körper kann unsere sexuelle Erregung hervorrufen; er kann als Objekt eines uninteressierten ästhetischen Blicks dienen; er kann Objekt wissenschaftlicher (biologischer) Untersuchung sein; im äußersten Fall kann er unter hungernden Männern sogar Objekt kulinarischen Interesses sein … In Bezug auf ein Kunstwerk begegnet man oft demselben Problem: Wenn seine politische Investierung zu offensichtlich ist, wird es praktisch unmöglich, die politische Leidenschaft zu suspendieren und eine uninteressierte ästhetische Haltung einzunehmen. Und das ist das Problem bei Underground : Man kann sich ihm als einem ästhetischen Objekt nähern; insofern Politik Leidenschaft nicht weniger als Sex involviert, kann man sich ihm als einem enjeu in unseren politisch-ideologischen Kämpfen nähern; er kann als Objekt wissenschaftlichen Interesses dienen (für das Subjekt, das den Blick eines Historikers einzunehmen vermag und den Film studiert, um etwas über den Hintergrund der jugoslawischen Krise zu lernen); im äußersten Fall kann er als Objekt eines reinen technischen Interesses fungieren (wie wurde er gemacht?). Was die leidenschaftlichen Reaktionen betrifft, die Underground hervorrief, insbesondere in Frankreich, so scheint es, dass seine Rolle als das enjeu im politischen Kampf um die Bedeutung des postjugoslawischen Krieges seine inhärenten ästhetischen Qualitäten vollständig in den Schatten stellte.
Während ich diese Wahrnehmung in letzter Instanz akzeptiere, ist mein Punkt etwas spezifischer. Die politische Bedeutung von Underground ist nicht primär in seiner offenen Tendenziosität zu finden, in der Art und Weise, wie er im postjugoslawischen Konflikt Partei ergreift (heldenhafte Serben versus die verräterischen, pro-nazistischen Slowenen und Kroaten …), sondern vielmehr in seiner geradezu ‘entpolitisierten’ ästhetizistischen Haltung. Das heißt: Als Kusturica in seinen Gesprächen mit den Journalisten der Cahiers du cinéma darauf bestand, Underground sei überhaupt kein politischer Film, sondern eine Art liminale tranceartige subjektive Erfahrung, ein ‘aufgeschobener Selbstmord’, legte er damit unbewusst seine wahren politischen Karten auf den Tisch und deutete an, dass Underground den ‘apolitischen’ phantasmatischen Hintergrund der postjugoslawischen ethnischen Säuberung und der Kriegsgräuel inszeniert – wie?
Man hört oft die Warnung, man solle im Fall des Bosnienkriegs das Klischee der Dämonisierung der Serben vermeiden. Abgesehen davon jedoch, dass diese Warnung selbst (beruhend auf der Tendenz, zu allen Seiten im Konflikt eine ‘Äquidistanz’ zu wahren – ‘man kann nicht nur einer Seite die ganze Schuld geben; in dieser brüderlichen Orgie tribalen Tötens ist niemand unschuldig’) eines der Hauptklischees des Bosnienkriegs ist, ist es interessant, in dieser ambivalenten Dämonisierung die Kluft zwischen ‘offiziellem’ und wahrem Begehren zu erkennen. Das heißt: In eben dieser ‘offiziellen’, öffentlichen Verurteilung der Serben und dem kontrastierenden Mitgefühl für die Bosnier, wo die Serben als unbesiegbare Krieger und Sieger wahrgenommen werden, während die Bosnier auf die Rolle leidender Opfer fixiert werden, bestand das Hauptbestreben des Westens darin, diesen zugrunde liegenden phantasmatischen Rahmen ungestört zu lassen. Aus diesem Grund erhöhte der Westen in dem Moment, als die Serben auf dem Schlachtfeld zu verlieren begannen, sofort den Druck und beendete den Krieg: Die Bosnier mussten Opfer bleiben – in dem Moment, in dem sie nicht mehr verloren, wandelte sich ihr Bild zu dem fanatischer muslimischer Fundamentalisten … Die Wahrheit der sogenannten ‘Dämonisierung der Serben’ lag in der Faszination für ihre Opfer, klar wahrnehmbar in der westlichen Haltung gegenüber den entsetzlichen Bildern der verstümmelten Leichen, der verwundeten und weinenden Kinder und so weiter: Man war von ihnen entsetzt, und doch konnte man zugleich ‘die Augen nicht von ihnen lassen’.
Ein weiteres vorherrschendes Klischee ist, dass die Balkanvölker im phantasmatischen Strudel historischer Mythen gefangen seien. Kusturica selbst bekräftigt diese Sicht und sagt in einem Interview für Cahiers du cinéma: ‘In dieser Region ist Krieg ein natürliches Phänomen. Er ist wie eine Naturkatastrophe, wie ein Erdbeben, das von Zeit zu Zeit ausbricht. In meinem Film habe ich versucht, den Zustand der Dinge in diesem chaotischen Teil der Welt zu klären. Es scheint, dass niemand in der Lage ist, die Wurzeln dieses schrecklichen Konflikts zu lokalisieren.’ Was wir hier finden, ist natürlich ein exemplarischer Fall von ‘Balkanismus’, der in ähnlicher Weise funktioniert wie Edward Saids ‘Orientalismus’: der Balkan als zeitloser Raum, auf den der Westen seinen phantasmatischen Gehalt projiziert. Aus diesem Grund sollte man der Falle des ‘zu verstehen versuchen’ ausweichen; was man tun sollte, ist genau das Gegenteil ; in Bezug auf den postjugoslawischen Krieg sollte man eine Art umgekehrte phänomenologische Reduktion vollziehen und die Vielzahl der Bedeutungen, den Reichtum der Gespenster der Vergangenheit, die es uns erlauben, die Situation zu ‘verstehen’, in Klammern setzen. Man sollte der Versuchung widerstehen, ‘zu verstehen’, und eine Geste vollziehen, die dem Ausschalten des Tons eines Fernsehers analog ist: Plötzlich wirken die Bewegungen der Menschen auf dem Bildschirm, ihres stimmlichen Rückhalts beraubt, wie sinnlose, lächerliche Gestikulationen. Erst eine solche Suspendierung des ‘Verstehens’ macht die Analyse dessen möglich, was in der postjugoslawischen Krise auf dem Spiel steht – ökonomisch, politisch, ideologisch –, der politischen Kalküle und strategischen Entscheidungen, die zum Krieg führten.
Der schwache Punkt des universalen multikulturalistischen Blicks liegt nicht in seiner Unfähigkeit, ‘das Badewasser auszuschütten, ohne das Kind zu verlieren’: Es ist zutiefst falsch zu behaupten, wenn man das nationalistische schmutzige Wasser (‘exzessiven’ Fanatismus) ausschütte, müsse man aufpassen, das Kind einer ‘gesunden’ nationalen Identität nicht zu verlieren – das heißt, man müsse die Trennlinie ziehen zwischen dem richtigen Maß an ‘gesundem’ Nationalismus, das das notwendige Minimum nationaler Identität garantiert, und ‘exzessivem’ (fremdenfeindlichem, aggressivem) Nationalismus. Eine solche gesunde Menschenverstand-Unterscheidung reproduziert gerade die nationalistische Argumentation, die darauf abzielt, den ‘unreinen’ Exzess loszuwerden. Man ist daher versucht, eine Analogie zur psychoanalytischen Behandlung vorzuschlagen, deren Ziel ebenfalls nicht darin besteht, das schmutzige Wasser (von Symptomen, von pathologischen Tics) loszuwerden, um das Kind (den Kern des gesunden Ichs) sicher zu bewahren, sondern vielmehr das Kind hinauszuwerfen (das Ich des Patienten zu suspendieren), um den Patienten mit seinem ‘schmutzigen Wasser’ zu konfrontieren, mit den Symptomen und Phantasien, die seine Jouissance strukturieren.¹⁵ In der Sache der nationalen Identität sollte man sich ebenfalls darum bemühen, das Kind hinauszuwerfen (die geistige Reinheit der nationalen Identität), um die phantasmatische Stütze freizulegen, die die Jouissance im nationalen Ding strukturiert. Und das Verdienst von Underground ist, dass er dieses schmutzige Wasser unbewusst enthüllt.
Underground bringt das obszöne ‘Untergrund’-Gebiet des öffentlichen, offiziellen Diskurses (im Film repräsentiert durch das titoistische kommunistische Regime) ans Tageslicht. Man sollte im Blick behalten, dass der ‘Untergrund’, auf den der Filmtitel verweist, nicht nur der Bereich des ‘aufgeschobenen Selbstmords’ ist, der ewigen Orgie des Trinkens, Singens und Kopulierens, die in der Suspendierung der Zeit und außerhalb des öffentlichen Raums stattfindet; er steht auch für die ‘Untergrund’-Werkstatt, in der die versklavten Arbeiter – von der übrigen Welt isoliert und dadurch in dem Glauben belassen, der Zweite Weltkrieg gehe noch immer weiter – Tag und Nacht arbeiten und Waffen produzieren, die Marko, der Held des Films, ihr ‘Besitzer’ und der große Manipulator, verkauft, der Einzige, der zwischen dem ‘Untergrund’ und der öffentlichen Welt vermittelt. Kusturica bezieht sich hier auf das alteuropäische Märchenmotiv fleißiger Zwerge (gewöhnlich von einem bösen Zauberer kontrolliert), die in der Nacht, während die Menschen schlafen, aus ihrem Versteck hervorkommen und ihre Aufgaben erledigen (das Haus in Ordnung bringen, das Essen kochen …), sodass die Menschen, wenn sie morgens aufwachen, ihre Arbeit wie durch Zauber getan vorfinden. Kusturicas ‘Untergrund’ ist die letzte Verkörperung dieses Motivs, das uns von Richard Wagners Rheingold (den Nibelungen, die in ihren unterirdischen Höhlen arbeiten, angetrieben von ihrem grausamen Herrn, dem Zwerg Alberich) bis zu Fritz Langs Metropolis herabkommt, in dem die versklavten Industriearbeiter tief unter der Erdoberfläche leben und arbeiten, um Reichtum für die herrschenden Kapitalisten zu produzieren.
Dieses Motiv der ‘Untergrund’-Sklaven, die von einem manipulativen bösen Herrn beherrscht werden, ist vor dem Hintergrund der Opposition zwischen den zwei Figuren des Herrn gesetzt: auf der einen Seite die ‘sichtbare’ öffentliche symbolische Autorität; auf der anderen Seite die ‘unsichtbare’ gespenstische Erscheinung. Wenn das Subjekt mit symbolischer Autorität ausgestattet ist, handelt es als Anhängsel seines symbolischen Titels – das heißt, es ist der ‘große Andere’, die symbolische Institution, der durch es handelt: Nehmen wir zum Beispiel einen Richter, der ein elender und korrupter Mensch sein mag, doch in dem Moment, in dem er seine Robe und andere Insignien anlegt, sind seine Worte die Worte des Gesetzes selbst … Auf der anderen Seite ist der ‘unsichtbare’ Herr (exemplifiziert in der antisemitischen Figur des ‘Juden’, der, dem öffentlichen Auge unsichtbar, die Fäden des gesellschaftlichen Lebens zieht) eine Art unheimlicher Doppelgänger öffentlicher Autorität: Er muss im Schatten handeln, dem öffentlichen Auge unsichtbar, eine phantomartige, gespenstische Allmacht ausstrahlend.¹⁶
Der unglückliche Marko aus Kusturicas Underground ist in dieser Traditionslinie des bösen Zauberers zu verorten, der ein unsichtbares Imperium versklavter Arbeiter kontrolliert: Er ist eine Art unheimlicher Doppelgänger Titos als des öffentlichen symbolischen Herrn. Die Schlüsselfrage ist jedoch: Wie verhält sich Kusturica zu dieser Dualität? Das Problem mit Underground ist, dass er in die zynische Falle tappt, diesen obszönen ‘Untergrund’ aus wohlwollender Distanz zu präsentieren. Underground ist natürlich vielschichtig und äußerst selbstreflexiv. Er spielt mit einer Mischung aus Klischees (dem serbischen Mythos vom echten Mann, der, selbst wenn um ihn herum Bomben fallen, ruhig seine Mahlzeit fortsetzt); er ist voller Verweise auf die Geschichte des Kinos, bis hin zu Vigos Atalante, und auf das Kino als solches (wenn der ‘unterirdische’ Kriegsheld, der für tot gehalten wird, aus seinem Versteck auftaucht, begegnet er Cineasten, die einen Film über seinen heroischen Tod drehen), ebenso wie anderer Formen postmoderner Selbstreferenzialität (Rückgriff auf die Perspektive von Märchen: ‘Es war einmal ein Land namens …’; der Übergang vom Realismus zur reinen Fantasie: die Idee eines Netzes unterirdischer Tunnel unter Europa, von denen einer direkt von Berlin nach Athen führt …). All dies ist natürlich ironisch gemeint; es ‘ist nicht wörtlich zu nehmen’ – doch gerade durch eine solche Selbst-Distanz funktioniert ‘postmoderne’ zynische Ideologie. Umberto Eco hat kürzlich die Reihe von Merkmalen aufgezählt, die den Kern der faschistischen Haltung definieren: dogmatische Hartnäckigkeit, Abwesenheit von Humor, Unempfindlichkeit gegenüber rationaler Argumentation … er hätte nicht falscher liegen können. Der heutige Neo-Faschismus ist immer mehr ‘postmodern’, zivilisiert, spielerisch, mit ironischer Selbst-Distanz … und dennoch deshalb nicht weniger faschistisch.
Also hat Kusturica in gewisser Weise in seinem Interview für Cahiers du cinéma recht: Er ‘klärt den Zustand der Dinge in diesem chaotischen Teil der Welt’ irgendwie, indem er seine ‘unterirdische’ phantasmatische Stütze ans Licht bringt. Damit liefert er unbewusst die libidinöse Ökonomie des serbischen ethnischen Schlachtens in Bosnien: die pseudo-bataillesche Trance exzessiver Verausgabung, den kontinuierlichen irren Rhythmus von Trinken-Essen-Singen-Fornizieren. Und das ist der Stoff des ‘Traums’ der ethnischen Säuberer; darin liegt die Antwort auf die Frage ‘Wie konnten sie das tun?’. Wenn die Standarddefinition des Krieges die ist, er sei ‘eine Fortsetzung der Politik mit der Beimischung anderer Mittel’, dann können wir sagen, dass die Tatsache, dass Radovan Karadžič, der Führer der bosnischen Serben, ein Dichter ist, mehr als ein zufälliger Zufall ist: ethnische Säuberung in Bosnien war die Fortsetzung (einer Art von) Poesie mit der Beimischung anderer Mittel.
Der desublimierte Nachbar
Die Fantasie, die dem öffentlichen ideologischen Text als seine nicht anerkannte obszöne Stütze zugrunde liegt, dient zugleich als Schirm gegen das direkte Eindringen des Realen. Nach einem populären rassistischen und sexistischen Mythos wollen italienische Männer während des sexuellen Akts, dass die Frau ihnen Obszönitäten darüber ins Ohr flüstert, was sie mit einem anderen Mann oder mit anderen Männern getan hat – nur mit Hilfe dieser mythischen Stütze können sie in der Realität als sprichwörtlich gute Liebhaber funktionieren. Hier begegnen wir dem lacanschen ‘il n’y a pas de rapport sexuel’ in seiner reinsten Form: Der theoretisch richtige Punkt dieses Mythos ist, dass selbst im Moment des intensivsten körperlichen Kontakts miteinander Liebende nicht allein sind, sie ein Minimum phantasmatischer Erzählung als symbolische Stütze brauchen – das heißt, sie können sich niemals einfach ‘gehen lassen’ und in ‘das’ eintauchen … Mutatis mutandis gilt dasselbe für religiöse oder ethnische Gewalt: Die zu stellende Frage lautet immer ‘Welche Stimmen hört ein Rassist, wenn er sich dem Schlagen von Juden, Arabern, Mexikanern, Bosniern … hingibt? Was sagen ihm diese Stimmen?’
Für Tiere ist die elementarste Form, die ‘Nullform’, der Sexualität die Kopulation; während für Menschen die ‘Nullform’ die Masturbation mit Fantasieren ist (in diesem Sinn ist für Lacan phallische Jouissance masturbatorisch und idiotisch); jeder Kontakt mit einem ‘realen’, leibhaftigen Anderen, jede sexuelle Lust, die wir im Berühren eines anderen Menschen finden, ist nichts Selbstverständliches, sondern inhärent traumatisch, und sie kann nur insofern aufrechterhalten werden, als dieser Andere in den Fantasierahmen des Subjekts eintritt. Als im achtzehnten Jahrhundert Masturbation zu einem moralischen Problem mit einem deutlich modernen Dreh wurde,¹⁷ störte die moralistischen Sexualwissenschaftler nicht primär der unproduktive Samenverlust, sondern vielmehr die ‘unnatürliche’ Weise, wie in der Masturbation das Begehren erregt wird – nicht durch ein reales Objekt, sondern durch ein phantasiertes Objekt, das das Subjekt selbst erzeugt. Wenn etwa Kant dieses Laster als so unnatürlich verurteilt, dass ‘wir es für unanständig halten, es auch nur bei seinem eigentlichen Namen zu nennen’, lautet seine Begründung wie folgt: ‘Unnatürlich heißt die Lust, wenn der Mensch dazu nicht durch ihren wirklichen Gegenstand, sondern durch seine Einbildung dieses Gegenstandes gereizt wird, und so auf eine dem Zwecke der Begierde entgegenlaufende Art, indem er selbst ihren Gegenstand hervorbringt.’¹⁸ Das Problem ist natürlich, dass ein Minimum an ‘Synthesis der Einbildungskraft’ (um Kants eigenen Ausdruck zu verwenden), die ihren Gegenstand (wieder-)hervorbringt, notwendig ist, damit Sexualität normal funktioniert. Dieser ‘eingebildete Anteil’ wird sichtbar in einer unangenehmen Erfahrung, die den meisten von uns bekannt ist: Mitten im intensivsten sexuellen Akt ist es uns allen plötzlich möglich, ‘abzukoppeln’ – plötzlich kann eine Frage auftauchen: ‘Was mache ich hier, schwitzend und diese dummen Gesten wiederholend?’; Lust kann in Ekel umschlagen oder in ein seltsames Gefühl von Distanz. Der entscheidende Punkt ist, dass sich in dieser gewaltsamen Umwälzung in der Realität nichts änderte: Was den Umschlag verursachte, war lediglich die Veränderung der Position des Anderen in Bezug auf unseren phantasmatischen Rahmen. Genau das geht in Kieslowskis Kurzem Film über die Liebe schief, einem Meisterwerk über die (Un-)Möglichkeit höfischer Liebe heute: Der Held, der junge Tomek, praktiziert voyeuristische Masturbation (masturbiert, während er die geliebte Frau durch sein ‘Hinterhoffenster’ beobachtet); in dem Moment, in dem er die phantasmatische Schwelle des Fensters überschreitet und von der Frau auf die andere Seite des Spiegelbildes verführt wird, als sie sich ihm anbietet, zerfällt alles, und er wird in den Selbstmord getrieben …
Dieselbe Erfahrung der ‘Desublimierung’ war bereits in der Tradition der höfischen Liebe wohlbekannt, in Gestalt der Figur der Frau-Welt (der Frau, die für die Welt, das irdische Leben steht): Aus der richtigen Distanz sieht sie schön aus, doch in dem Moment, in dem der Dichter oder der Ritter, der ihr dient, ihr zu nahe kommt (oder wenn sie ihn heranwinkt, näher zu kommen, damit sie ihm für seinen treuen Dienst vergelten kann), wendet sie ihm ihre andere, rückseitige Seite zu, und was zuvor der Schein faszinierender Schönheit war, wird plötzlich als verfaultes Fleisch enthüllt, das von Schlangen und Würmern wimmelt, als die widerliche Substanz des Lebens – wie in den Filmen von David Lynch, in denen ein Objekt sich in die widerliche Substanz des Lebens verwandelt, wenn die Kamera ihm zu nahe kommt. Die Kluft, die Schönheit von Hässlichkeit trennt, ist somit genau die Kluft, die Realität vom Realen trennt: Was Realität konstituiert, ist das Minimum an Idealisierung, das das Subjekt braucht, um den Horror des Realen ertragen zu können.
Dieselbe Zersetzung begegnet uns in Hamlet, wenn Ophelia ihren Status als Objekt von Hamlets Begehren verliert und für ihn zu verkörpern beginnt die widerliche unsterbliche Bewegung des ursprünglichen Lebens, des Zyklus von Erzeugung und Verfall, in dem Eros und Thanatos zusammenfallen, und jede Geburt den Beginn der Zersetzung markiert – wie die Frau-Welt, wenn wir ihr zu nahe kommen. Im Verlauf dieses Prozesses zerfällt Hamlets Fantasie, sodass er, wenn Ophelia gewissermaßen auf direkte Weise, ohne den Schirm der Fantasie, erreichbar wird, nicht mehr sicher ist, wohin sie gehört, und sie mit einer seltsamen Losgelöstheit betrachtet, als wäre sie eine Art Fremde. (In der Friedhofsszene in Akt V setzt Hamlet seine Fantasie wieder zusammen und konstituiert sich dadurch wieder als begehrendes Subjekt.)
Hier können wir klar sehen, wie Fantasie auf der Seite der Realität steht, wie sie den ‘Wirklichkeitssinn’ des Subjekts trägt: Wenn der phantasmatische Rahmen zerfällt, erleidet das Subjekt einen ‘Realitätsverlust’ und beginnt, Realität als ein ‘irreal’ alptraumhaftes Universum ohne feste ontologische Grundlage wahrzunehmen; dieses alptraumhafte Universum ist nicht ‘reine Fantasie’, sondern im Gegenteil das, was von der Realität übrig bleibt, nachdem der Realität ihre Stütze in der Fantasie entzogen wurde. Wenn also Schumanns Carnaval – mit seiner ‘Regression’ in das traumähnliche Universum, in dem der Verkehr zwischen ‘realen Menschen’ durch eine Art Maskenball ersetzt wird, wo man nie weiß, was oder wer unter der Maske verborgen ist, die uns wahnsinnig anlacht: eine Maschine, eine schleimige Lebenssubstanz oder (zweifellos der schrecklichste Fall) einfach das ‘reale’ Double der Maske selbst – Hoffmanns Unheimliches in Musik setzt, erhalten wir nicht das ‘Universum reiner Fantasie’, sondern vielmehr die einzigartige künstlerische Darstellung der Zersetzung des Fantasierahmens. Die in Carnaval musikalisch dargestellten Figuren sind wie die grauenhaften Erscheinungen, die in Munchs berühmtem Gemälde die Hauptstraße Oslos entlangschlendern, blassgesichtig und mit einer schwachen, doch seltsam intensiven Lichtquelle in ihren Augen (die den Blick als Objekt signalisiert, der das sehende Auge ersetzt): desubjektivierte lebende Tote, schwache Gespenster, ihrer materiellen Substanz beraubt.
Kein Wunder also, dass Schumann in Bezug auf seine geliebte Clara buchstäblich ein ‘gespaltenes Subjekt’ war: ihre Nähe begehrend und sie zugleich fürchtend. Kein Wunder, dass der Bezug auf Beethovens An die ferne Geliebte (‘An die ferne Geliebte’) für ihn entscheidend war: Schumanns Problem war, dass er auf dunkle Weise verzweifelt wollte, dass seine geliebte Clara in der richtigen Distanz bleibt, um ihren erhabenen Status zu bewahren und so zu vermeiden, sich in einen wirklichen Nachbarn zu verwandeln, der sich uns mit seinem abstoßenden Kriechen des Lebens aufdrängt … In dem Brief an Clara, seine zukünftige Braut, vom 10 Mai 1838 (genau in dem Moment, als sie nach langen Jahren die Hindernisse ihrer Verbindung überwanden und ihre bevorstehende Heirat planten), spricht Schumann das Geheimnis direkt aus: ‘Deine Gegenwart hier würde, glaube ich, alle meine Projekte und meine Arbeit lähmen, und das würde mich wirklich sehr unglücklich machen.’¹⁹ Noch unheimlicher ist der Traum, den er Clara in seinem Brief vom 14 April 1838 berichtet:
Ich sollte dir einen meiner Träume aus der vorigen Nacht erzählen. Ich wachte auf und konnte nicht wieder einschlafen; ich identifizierte mich dann immer tiefer mit dir, mit deinen Träumen, mit deiner Seele, so dass ich plötzlich mit aller Kraft, aus dem tiefsten Teil meiner selbst, rief: ‘Clara, ich rufe dich!’, und dann hörte ich eine grausame Stimme irgendwo nahe bei mir: ‘Aber Robert, ich bin nahe bei dir!’ Ich sank in eine Art Horror, als ob Gespenster sich auf einem weiten leeren Land begegneten. Ich rief dich nicht wieder auf diese Weise, es griff mich zu sehr an.²⁰
Begegnen wir hier nicht, in dieser heiseren und grausamen Stimme, die uns in ihrer geradezu aufdringlichen Übernähe auflauert, dem schrecklichen Gewicht der Begegnung eines Nachbarn im Real ihrer Gegenwart? Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Und diese Spaltung in Schumann, dieses radikale Oszillieren zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen Sehnsucht nach der fernen Geliebten und dem Gefühl der Entfremdung und des Abgestoßenseins von ihrer Nähe, legt keineswegs ein ‘pathologisches’ Ungleichgewicht in seiner Psyche offen: Ein solches Oszillieren ist konstitutiv für menschliches Begehren, sodass das wahre Rätsel vielmehr ist, wie ein ‘normales’ Subjekt es schafft, es zuzudecken und ein fragiles Gleichgewicht zwischen dem erhabenen Bild der Geliebten und ihrer realen Gegenwart auszuhandeln, sodass die leibhaftige Person weiterhin den erhabenen Platz besetzen und dem traurigen Schicksal entgehen kann, sich in ein abstoßendes Exkrement zu verwandeln …
Jacques Rivettes Film La Belle noiseuse konzentriert sich auf die gespannte Beziehung zwischen dem männlichen Maler (Michel Piccoli) und seinem Modell (Emmanuelle Béart): Das Modell widersetzt sich dem Künstler, es provoziert ihn aktiv, bestreitet seinen Ansatz, treibt ihn an und beteiligt sich so vollständig an der Schaffung des Kunstobjekts. Kurz: Das Modell ist buchstäblich ‘die schöne Unruhestifterin’, das traumatische Objekt, das irritiert und erzürnt, seine Einfügung in die Reihe gewöhnlicher Objekte zurückweist – ça bouge, wie man in Frankreich sagt. Und was ist Kunst (der Akt des Malens) anderes als ein Versuch, diese traumatische Dimension im Bild abzulegen, sie durch Externalisierung im Kunstobjekt zu exorzieren. In La Belle noiseuse jedoch scheitert diese Befriedung: Am Ende des Films mauert der Künstler das Gemälde in einen Spalt zwischen zwei Wänden ein, wo es für immer bleiben wird, ohne dass die zukünftigen Bewohner des Hauses davon wissen – warum? Der Punkt ist nicht, dass er es nicht geschafft hätte, in das Geheimnis seines Modells einzudringen: Er hat zu gut Erfolg gehabt – das heißt, das fertige Produkt gibt zu viel über sein Modell preis; es bricht durch ihren Schleier der Schönheit und macht sie sichtbar als das, was sie im Real ihres Seins ist: das abscheuliche kalte Ding. Kein Wunder also, dass, als das Modell schließlich einen Blick auf das fertige Bild bekommt, es in Panik und Ekel davonläuft – was sie dort draußen sieht, ist der Kern ihres Seins, ihr agalma, in Exkrement verwandelt. Das wahre Opfer der Operation ist somit nicht der Maler, sondern das Modell selbst: Es war aktiv; durch seine kompromisslose Haltung trieb es den Künstler dazu, den Kern seines Seins aus ihm herauszulösen und auf die Leinwand zu bringen, und es bekam, worum es gebeten hatte, was immer genau mehr ist, als es erbeten hat – es bekam sich selbst plus den exkrementalen Überschuss, der konstitutiv für den Kern seines Seins ist. Aus genau diesem Grund war es notwendig, dass das Gemälde für immer hinter der Wand verborgen wird und nicht einfach zerstört: Jede direkte physische Zerstörung wäre vergeblich; man kann es nur begraben und so auf Distanz halten, denn was im Gemälde ‘abgelegt’ ist, ist stricto sensu unzerstörbar – es hat den Status dessen, was Lacan in Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse lamella nennt, die mythische vorsubjektive ‘untote’ Lebenssubstanz, die Libido als Organ.
Orson Welles war äußerst sensibel für die seltsame Logik dieses ‘geheimen Schatzes’, des verborgenen Kerns des Seins des Subjekts, der, sobald das Subjekt ihn uns offenlegt, zu einem vergifteten Geschenk wird. Um das Epigraph zu Mr. Arkadin zu zitieren: ‘Ein gewisser großer und mächtiger König fragte einst einen Dichter: “Was kann ich dir von allem geben, was ich habe?” Er antwortete weise: “Alles, Majestät … außer Ihrem Geheimnis.” ’ Warum? Weil, wie Lacan es ausdrückte: ‘Ich gebe mich dir … aber diese Gabe meiner Person … – Oh, Geheimnis! verwandelt sich unerklärlich in eine Gabe von Scheiße’ – das exzessive Sich-Öffnen (Preisgabe eines Geheimnisses, Loyalität, Gehorsam …) einer Person gegenüber einer anderen schlägt leicht zurück in eine exkrementale abstoßende Intrusion. Das ist die Bedeutung des berühmten ‘No trespassing!’-Schildes, das am Anfang und am Ende von Citizen Kane gezeigt wird: Es ist höchst riskant, dieses Gebiet äußerster Intimität zu betreten, da man mehr bekommt, als man erbeten hat – plötzlich, wenn es bereits zu spät ist, sich zurückzuziehen, findet man sich in einem schleimigen obszönen Bereich wieder … Die meisten von uns wissen aus persönlicher Erfahrung, wie unerquicklich es ist, wenn eine Autoritätsperson, die wir zutiefst bewundern und über die wir sogar mehr wissen wollen, unserem Wunsch nachkommt und uns in sein Vertrauen zieht, mit uns sein tiefstes persönliches Trauma teilt – das Charisma verdampft plötzlich, und wir verspüren den Impuls, einfach davonzulaufen. Vielleicht ist das Merkmal, das wahre Freundschaft charakterisiert, gerade ein taktvoller Sinn dafür, wann man stoppen muss, nicht über eine bestimmte Schwelle hinauszugehen und einem Freund ‘alles zu erzählen’. Dem Psychoanalytiker erzählen wir alles – aber gerade deshalb kann er niemals unser Freund sein …
Die hässliche Stimme des Nachbarn
Heinrich Kleists Erzählung ‘Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik’ fasst die (singende) Stimme in ihrem unheimlichen Status als Verkörperung ‘hässlicher’ Jouissance perfekt zusammen. Sie spielt in einer deutschen Stadt, zerrissen zwischen Protestanten und Katholiken, während des Dreißigjährigen Krieges. Die Protestanten planen, während einer Mitternachtsmesse in einer großen katholischen Kirche ein Gemetzel anzurichten; vier Personen werden platziert, um Ärger zu machen und so das Signal für die anderen zu geben, das Chaos zu beginnen. Die Dinge nehmen jedoch eine seltsame Wendung, als eine schöne Nonne, angeblich tot, auf wundersame Weise erwacht und den Chor in einem schönen Lied anführt. Dieses Lied hypnotisiert die vier Schläger: Sie sind außerstande, Ärger zu machen, und so vergeht die Nacht, da es kein Signal gibt, friedlich. Selbst nach dem Ereignis bleiben die vier protestantischen Schläger betäubt: Sie werden in eine Anstalt gesperrt, wo sie jahrelang einfach dasitzen und den ganzen Tag beten – nur um Mitternacht, jede Nacht, stehen sie alle prompt auf und singen das erhabene Lied, das sie in jener schicksalhaften Nacht gehört hatten … Hier entsteht natürlich Horror, da das, was ursprünglich das göttliche Singen von Nonnen war, das einen wundersamen erlösenden-befriedenden Effekt ausübte, nun in seiner Wiederholung eine schrecklich abstoßende obszöne Imitation ist.
Mit anderen Worten: Was wir hier haben, ist ein exemplarischer Fall der hegelianischen Tautologie als höchster Widerspruch: ‘Stimme ist … Stimme’ – das heißt, die ätherisch-erhabene Stimme eines Kirchenchores begegnet sich selbst in ihrem Anderssein im grotesken Singen der Irren. Dieses groteske Singen kehrt die Standardversion der obszönen Wendung um, die eines sanften unschuldigen Mädchengesichts, das plötzlich von Wut entstellt wird und zu fluchen beginnt, unsägliche Lästerungen ausspuckt (das besessene Mädchen in Der Exorzist, usw.). Diese Standardversion enthüllt den zugrunde liegenden Horror und die Korruption unter der sanften Oberfläche: Der Schein der Unschuld zerfällt; plötzlich nehmen wir die intensive Obszönität dahinter wahr – was könnte schlimmer sein? Genau das, was in Kleists Erzählung geschieht: Der ultimative Horror ereignet sich nicht, wenn die Maske der Unschuld zerfällt, wenn ein sanftes Mädchengesicht beginnt, Unflätigkeiten auszustoßen, sondern vielmehr dann, wenn der erhabene Text vom falschen, korrumpierten Sprecher (miss)angeeignet wird. In der Standardversion haben wir das richtige Objekt (ein sanftes unschuldiges Gesicht) am falschen Ort (verwickelt in lästerliche Obszönitäten); während wir bei Kleist das falsche Objekt (brutale hässliche Schläger) am richtigen Ort haben (sie versuchen, das erhabene religiöse Ritual zu imitieren).
Auf der Ebene ethnischer Identität geschieht etwas Ähnliches, wenn ein Subjekt, das nicht ‘einer von uns’ ist, unsere Sprache lernt und sich bemüht, sie zu sprechen, sich als Teil ‘unserer’ Gemeinschaft zu verhalten: Die automatische Reaktion jedes echten Rassisten ist, dass der Fremde, indem er dies tut, uns die Substanz unserer Identität stiehlt. In Liebesbeziehungen geschieht etwas Ähnliches, wenn der sprichwörtliche Ehemann ein schönes Kleid für seine Geliebte kauft und dann, nach Hause kommend, feststellt, dass seine Frau dieses Kleid unter seinen Sachen entdeckt hat und, in der Annahme, es sei für sie, es angezogen hat und sich ihm begeistert darin präsentiert … Geschieht nicht etwas derselben Ordnung auch in der berühmten Szene aus Hitchcocks Vertigo, in der Midge, die gewöhnliche bebrillte Freundin des Helden, die von seiner Verliebtheit in das Porträt von Carlotta, der längst verstorbenen fatalen Schönheit, weiß, ein Bild malt, das eine exakte Kopie von Carlottas Porträt ist, mit Ausnahme des Gesichts – anstelle von Carlottas Gesicht malt sie ihr eigenes gewöhnliches bebrilltes Gesicht. Der Anblick davon, dieses falschen Objekts (Midgens Gesicht) am richtigen Ort, deprimiert den Helden natürlich vollständig – warum?²¹ In der Standardversion wird erhabene Schönheit als Köder denunziert, als falscher Schein, unter dem das korrumpierte Fleisch souverän herrscht – doch gerade als solcher, als ‘bloßer Schein’, wird der Schein gerettet, während im zweiten Fall (von Kleists Erzählung bis zu Hitchcocks Vertigo) der erhabene Schein, vom falschen Subjekt angeeignet, gewissermaßen von innen her unterminiert wird.²²
Strikt analog ist das Verhältnis zwischen dem schrecklichen Inhalt (wilde Promiskuität) hinter der erhabenen Maske der Ehe und der gleichgeschlechtlichen Ehe, diesem traumatischen Punkt, der ultimativen bête noire der Moral Majority. Das heißt: Warum ist die gleichgeschlechtliche Ehe für die Moral-Majority-Haltung so traumatisch? Weil sie die Prämisse stört, nach der Homosexuelle, die nur schnelle promiskeitäre Vergnügungen suchen, unfähig sind, eine tiefe persönliche Beziehung einzugehen – die unheimliche Nähe der gleichgeschlechtlichen Ehe zur ‘heterosexuellen’ Ehe unterminiert somit die Einzigartigkeit der letzteren. Das Paradox ist somit, dass die Moral-Majority-Haltung insgeheim will, dass Homosexuelle promiske Vergnügungssucher bleiben: Wenn sie ‘mehr wollen’, die Ehe als symbolisches Ritual, das ihre tiefe persönliche Bindung behauptet, nimmt die Moral Majority dies notwendigerweise als obszöne Travestie des wahren Ehebands wahr – wie Kant, für den der Prozess und die Hinrichtung eines Monarchen eine obszöne Travestie der Gerechtigkeit ist und als solche ein crimen inexpiabile, unendlich schlimmer als eine geradewegs blutrünstige Rebellion …
Ein Frosch und eine Flasche Bier
Wie also können wir den Griff unterminieren, den die phantasmatische Jouissance über uns ausübt? Gehen wir dieses Problem über eine spezifische Frage an: Wenn ein Kunstwerk unter den Bann des protofaschistischen ideologischen Universums gerät, reicht das aus, um es als protofaschistisch zu denunzieren? Dune (Herberts Roman und besonders Lynchs Film) erzählt die Geschichte, wie ein korruptes imperialistisches Regime durch ein neues autoritäres Regime ersetzt wird, offensichtlich nach muslimischem Fundamentalismus modelliert – ist Lynch (und bereits Herbert selbst) deshalb ein misogynistischer Protofaschist? Diese Faszination wird gewöhnlich als ‘Erotisierung’ der Macht wahrgenommen, sodass die Frage umformuliert werden muss: Wie wird ein Machtgebäude erotisiert – oder genauer: sexualisiert? Wenn die ideologische Interpellation das Subjekt nicht zu ergreifen vermag (wenn das symbolische Ritual eines Machtgebäudes nicht mehr reibungslos läuft, wenn das Subjekt nicht mehr in der Lage ist, das ihm verliehene symbolische Mandat anzunehmen), ‘bleibt’ es in einem repetitiven Teufelskreis stecken, und es ist diese ‘dysfunktionale’ leere repetitive Bewegung, die die Macht sexualisiert und sie mit einem Fleck obszönen Genießens beschmiert. Der Punkt ist natürlich, dass es niemals eine rein symbolische Macht ohne ein obszönes Supplement gab: Die Struktur eines Machtgebäudes ist immer minimal inkonsistent, sodass sie ein Minimum an Sexualisierung, an dem Fleck der Obszönität, braucht, um sich zu reproduzieren. Ein weiterer Aspekt dieses Versagens ist, dass ein Machtverhältnis sexualisiert wird, wenn eine intrinsische Ambiguität eindringt, sodass nicht mehr klar ist, wer tatsächlich der Herr und wer der Diener ist. Was das masochistische Spektakel von einer einfachen Folterszene unterscheidet, ist nicht bloß die Tatsache, dass im masochistischen Spektakel die Gewalt zumeist nur angedeutet wird; entscheidender ist die Tatsache, dass der Henker selbst als Diener des Dieners handelt. Wenn in einer der denkwürdigsten Noir-Szenen (aus Nicholas Rays On Dangerous Ground) Robert Ryan in einem einsamen Hotelzimmer auf einen kleinen Gauner zugeht, um ihn zu verprügeln, und verzweifelt schreit: ‘Warum zwingst du mich, es zu tun?’, sein Gesicht verzerrt in einem einzigartigen Ausdruck von Lust im Schmerz, während der arme Gauner ihm ins Gesicht zurücklacht und ihn auffordert: ‘Los! Schlag mich! Schlag mich!’, als wäre Ryan selbst ein Instrument des Genießens seines Opfers, verleiht diese radikale Ambiguität der Szene den Charakter perverser Sexualität.
Diese Verbindung zwischen Sexualisierung und Versagen ist von derselben Natur wie die Verbindung zwischen Materie und Raumkrümmung bei Einstein: Materie ist keine positive Substanz, deren Dichte den Raum krümmt, sie ist nichts als die Krümmung des Raums. Analog dazu sollte man auch Sexualität ‘desubstantialisieren’: Sexualität ist nicht eine Art traumatisches substantielles Ding, das das Subjekt nicht direkt erreichen kann; sie ist nichts als die formale Struktur des Versagens, die prinzipiell jede Tätigkeit ‘kontaminieren’ kann. Also wieder: Wenn wir in eine Tätigkeit involviert sind, die ihr Ziel nicht direkt erreicht und in einem repetitiven Teufelskreis stecken bleibt, wird diese Tätigkeit automatisch sexualisiert – ein eher vulgäres Alltagsbeispiel: Wenn ich, statt einfach die Hand meines Freundes zu schütteln, seine Handfläche ohne erkennbaren Grund wiederholt zusammendrücken würde, würde diese repetitive Geste von ihm oder ihr zweifellos als obszön sexualisiert erlebt werden.
Die Kehrseite dieser inhärenten Sexualisierung der Macht aufgrund der Ambiguität (Reversibilität) der Beziehung zwischen dem, der Macht ausübt, und dem, der ihr unterworfen ist – aufgrund des Scheiterns der direkten symbolischen Machtausübung – ist die Tatsache, dass Sexualität als solche (eine intersubjektive sexuelle Beziehung) immer eine Machtbeziehung involviert: Es gibt keine neutrale symmetrische sexuelle Beziehung/Beziehungsaustausch, unverzerrt durch Macht. Der ultimative Beweis ist das klägliche Scheitern des ‘politisch korrekten’ Bestrebens, Sexualität von Macht zu befreien: die Regeln eines ‘richtigen’ sexuellen Verhältnisses zu definieren, in dem Partner sich dem Sex nur aufgrund ihrer gegenseitigen, rein sexuellen, Anziehung hingeben sollen, unter Ausschluss jedes ‘pathologischen’ Faktors (Macht, finanzielle Nötigung usw.): Wenn wir vom sexuellen Verhältnis das Element ‘asexueller’ (physischer, finanzieller …) Nötigung abziehen, das die ‘reine’ sexuelle Anziehung verzerrt, können wir die sexuelle Anziehung selbst verlieren. Mit anderen Worten: Das Problem ist, dass eben das Element, das reine sexuelle Beziehung zu verzerren und zu korrumpieren scheint (ein Partner verhält sich gewaltsam gegenüber dem anderen; er zwingt seinen Partner, ihn zu akzeptieren und mit ihm Sex zu haben, weil der Partner ihm untergeordnet, finanziell von ihm abhängig ist usw.), als die phantasmatische Stütze sexueller Anziehung fungieren kann – in gewisser Weise ist Sex als solcher pathologisch …
Aber wieder: Trägt nicht die offene Zurschaustellung der repetitiven sexualisierten Macht-Rituale das Machtgebäude, sogar (und besonders) unter dem falschen Vorwand, es zu subvertieren? Unter welchen Bedingungen ist die Inszenierung des verborgenen obszönen Supplements eines Machtgebäudes effektiv ‘subversiv’? Im Prozess der Desintegration des Sozialismus in Slowenien inszenierte die Post-Punk-Gruppe Laibach eine aggressive inkonsistente Mischung aus Stalinismus, Nationalsozialismus und Blut-und-Boden-Ideologie; viele ‘progressive’ liberale Kritiker warfen ihnen vor, eine Neo-Nazi-Band zu sein – stützten sie nicht effektiv das, was sie vorzugeben unterminieren, durch spöttische Imitation, da sie offensichtlich von den Ritualen fasziniert waren, die sie inszenierten? Diese Wahrnehmung verfehlte den Punkt gründlich. Eine kaum wahrnehmbare, aber nichtsdestoweniger entscheidende Linie trennte Laibach vom ‘wahren’ Totalitarismus: Sie inszenierten (stellten öffentlich zur Schau) die phantasmatische Stütze der Macht in all ihrer Inkonsistenz. Dasselbe gilt für Dune : Dune ist nicht ‘totalitär’, insofern er die zugrunde liegende obszöne phantasmatische Stütze des ‘Totalitarismus’ in all ihrer Inkonsistenz öffentlich ausstellt.
Das ultimative Beispiel dieser seltsamen Logik der Subversion liefern die ‘Denkwürdigkeiten’ Daniel Paul Schrebers, eines deutschen Richters der Jahrhundertwende, der seine psychotischen Halluzinationen, von dem obszönen Gott sexuell verfolgt zu werden, im Detail beschrieb. Bei Schreber finden wir eine wahre Enzyklopädie paranoider Motive: Verfolgung, vom Arzt, der den Psychotiker behandelt, auf Gott selbst übertragen; das Thema des katastrophalen Endes der Welt und ihrer anschließenden Wiedergeburt; der privilegierte Kontakt des Subjekts mit Gott, der ihm Botschaften sendet, als Sonnenstrahlen kodiert … Die Vielzahl der Lektüren umfasst ein ganzes Spektrum, davon, in Schrebers ‘Denkwürdigkeiten’ einen protofaschistischen Text zu sehen (das hitlerische Motiv der universellen Katastrophe und der Wiedergeburt einer neuen, rassisch reinen Menschheit) bis hin dazu, sie als protofeministischen Text zu begreifen (die Zurückweisung phallischer Identifikation, der Wunsch des Mannes, im sexuellen Akt den weiblichen Platz einzunehmen) – diese Oszillation zwischen Extremen ist an sich schon ein Symptom, das der Interpretation würdig ist. In seiner brillanten Lektüre von Schrebers ‘Denkwürdigkeiten’ konzentriert sich Eric Santner auf die Tatsache, dass Schrebers paranoide Krisen in der Zeit auftraten, als er kurz davor war, eine Position richterlich-politischer Macht zu übernehmen.²³ Der Fall Schreber ist somit in dem zu verorten, was Santner die ‘Investiturkrise’ des späten neunzehnten Jahrhunderts nennt: das Scheitern, ein Mandat symbolischer Autorität anzunehmen und auszuüben. Warum also fiel Schreber genau in dem Moment, als er die Position eines Richters übernehmen sollte – das heißt, die Funktion öffentlicher symbolischer Autorität –, in psychotisches Delirium? Er war nicht in der Lage, sich mit dem Fleck der Obszönität zu arrangieren, der einen integralen Bestandteil des Funktionierens symbolischer Autorität bildet: Die ‘Investiturkrise’ bricht aus, wenn die genießende Unterseite väterlicher Autorität (in der Gestalt des Luder, des obszönen/lächerlichen väterlichen Doubles) das Subjekt traumatisch betrifft. Diese obszöne Dimension behindert nicht einfach das ‘normale’ Funktionieren der Macht; vielmehr fungiert sie als eine Art derridasches Supplement, als ein Hindernis, das zugleich die ‘Möglichkeitsbedingung’ der Machtausübung ist.
Macht stützt sich somit auf ein obszönes Supplement – das heißt, das obszöne ‘nächtliche’ Gesetz (Über-Ich) begleitet notwendig, als sein schattenhaftes Double, das ‘öffentliche’ Gesetz.²⁴ Was den Status dieses obszönen Supplements betrifft, sollte man beide Fallen vermeiden und es weder als subversiv verherrlichen noch als falsche Übertretung abtun, die das Machtgebäude stabilisiert (wie ritualisierte Karnevale, die Machtverhältnisse vorübergehend suspendieren), sondern auf seinem unentscheidbaren Charakter bestehen. Obszöne ungeschriebene Regeln stützen die Macht, solange sie im Schatten bleiben; in dem Moment, in dem sie öffentlich anerkannt werden, gerät das Gebäude der Macht in Unordnung. Aus diesem Grund ist Schreber nicht ‘totalitär’, obwohl seine paranoide Fantasie alle Elemente eines faschistischen Mythos enthält: Was ihn wirklich subversiv macht, ist die Art und Weise, wie er sich öffentlich mit der obszönen phantasmatischen Stütze des faschistischen Gebäudes identifiziert. Psychoanalytisch gesagt: Schreber identifiziert sich mit dem Symptom der Macht, er zeigt es, inszeniert es öffentlich, in all seiner Inkonsistenz (etwa indem er ihren sexuellen phantasmatischen Hintergrund zeigt, der das genaue Gegenteil reiner arischer Männlichkeit ist: ein feminisiertes Subjekt, von Gott gefickt …). Und gilt nicht dasselbe für die weiningerianische antifeministische Tradition, die die Figur der femme fatale im Film noir einschließt? Diese Figur stellt die zugrunde liegende obszöne phantasmatische Stütze ‘normaler’ bürgerlicher Weiblichkeit aus; es gibt daran nichts direkt ‘Feministisches’; all die verzweifelten Versuche derjenigen, die Noir offensichtlich mögen, in der Figur der femme fatale irgendwelche erlösenden Qualitäten zu entdecken (eine Weigerung, das passive Objekt männlicher Manipulation zu bleiben: die femme fatale will ihre Kontrolle über Männer behaupten usw.), scheinen irgendwie den Punkt zu verfehlen, nämlich dass Film noir das Patriarchat effektiv unterminiert, einfach indem er den zugrunde liegenden phantasmatischen Kram in all seiner Inkonsistenz ans Licht bringt.
Ein jüngerer englischer Werbespot für ein Bier erlaubt es uns, diese entscheidende Unterscheidung zu klären. Der erste Teil inszeniert die bekannte Märchenanekdote: Ein Mädchen geht an einem Bach entlang, sieht einen Frosch, nimmt ihn sanft auf ihren Schoß, küsst ihn, und natürlich verwandelt sich der hässliche Frosch wundersam in einen schönen jungen Mann. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Der junge Mann wirft dem Mädchen einen begehrlichen Blick zu, zieht sie zu sich, küsst sie – und sie verwandelt sich in eine Flasche Bier, die der Mann triumphierend in der Hand hält … Für die Frau ist der Punkt, dass ihre Liebe und Zuneigung (symbolisiert durch den Kuss) einen Frosch in einen schönen Mann verwandeln, eine volle phallische Präsenz (in Lacans Mathemen: großes Phi); für den Mann ist es, die Frau auf ein Partialobjekt zu reduzieren, die Ursache seines Begehrens (in Lacans Mathemen: das objet petit a). Wegen dieser Asymmetrie ‘gibt es kein sexuelles Verhältnis’: Wir haben entweder ein Mädchen mit einem Frosch oder einen Mann mit einer Flasche Bier – was wir nie erhalten können, ist das ‘natürliche’ Paar der schönen Frau und des schönen Mannes … Warum nicht? Weil die phantasmatische Stütze dieses ‘idealen Paares’ die inkonsistente Figur eines Frosches gewesen wäre, der eine Flasche Bier umarmt.²⁵ Das eröffnet dann die Möglichkeit, den Griff zu unterminieren, den eine Fantasie über uns ausübt, durch unsere Überidentifikation mit ihr, indem wir gleichzeitig, im selben Raum, die Vielzahl inkonsistenter phantasmatischer Elemente umarmen. Das heißt: Jedes der beiden Subjekte ist in sein bzw. ihr eigenes subjektives Fantasieren involviert – das Mädchen fantasiert vom Frosch, der in Wahrheit ein junger Mann ist; der Mann vom Mädchen, das in Wahrheit eine Flasche Bier ist. Dem setzen Schreber (und Laibach und Lynchs Dune) nicht die objektive Realität entgegen, sondern die ‘objektiv subjektive’ zugrunde liegende Fantasie, die die beiden Subjekte niemals anzunehmen vermögen, etwas wie ein magritteskes Gemälde eines Frosches, der eine Flasche Bier umarmt, mit dem Titel ‘Ein Mann und eine Frau’ oder ‘Das ideale Paar’.²⁶ Und ist das nicht die ethische Pflicht des heutigen Künstlers: uns mit dem Frosch zu konfrontieren, der die Flasche Bier umarmt, wenn wir davon träumen, unseren Geliebten zu umarmen?²⁷
Diese Inkonsistenz erlaubt uns auch, eine allgemeine Schlussfolgerung über den Begriff der Ideologie zu ziehen. Ideologie ist nicht primär die imaginäre Lösung realer Antagonismen (‘Klassenkonflikt’); vielmehr besteht sie in deren symbolischer Lösung: Die elementare ideologische Geste ist die Setzung eines Signifikanten, der zu funktionieren beginnt als eine Art leerer Behälter für die Vielzahl wechselseitig ausschließender Bedeutungen – es gibt keine Ideologie ohne einen solchen ‘Rückzug’ vom signifizierten Gehalt in die leere symbolische Form. Erinnern wir uns an den Fall der aggressiven ‘hardwired’ Frauen im Cyberpunk, die sich an männlicher Gewalt rächen, der sie in ihrer vorcyber Existenz ausgesetzt waren: Es ist leicht zu behaupten, wie sie (mindestens) zwei widersprüchliche ideologische Positionen vereinen, die fetischisierte männliche Fantasie einer nicht kastrierten ‘phallischen’ Frau, deren entfesselte Aggressivität eine Bedrohung für die Welt darstellt, und eine feministische Rebellion gegen das brutale patriarchale System. Der nicht zu verfehlende Punkt ist jedoch, dass ihre ideologische Anziehungskraft genau in dieser ‘inkonsistenten’ Kombination liegt, sodass ein und dieselbe Figur für die multiple, inkonsistente ‘Inhalte’ steht: In der Ideologie kann man seinen Kuchen haben und ihn essen – das heißt, in diesem Fall kann man seine patriarchalen Ängste befriedigen und zugleich seine Schuldigkeit gegenüber seinem feministischen Bewusstsein tun. Die ‘reine’ patriarchale Ideologie hat nie existiert: Um als soziales Band ‘wirksam’ zu sein, muss sie immer eine Reihe ‘inkonsistenter’ Haltungen kombinieren. Die Figur der ‘hardwired woman’ ist nicht einfach ein inkonsistentes Bündel zweier gegensätzlicher ideologischer Haltungen: In diesem inkonsistenten Bündel besteht Ideologie selbst.
Exemplarisch ist hier Spielbergs Star Wars-Trilogie, die (mindestens) drei Ebenen verdichtet:²⁸ das linke Motiv einer Vietnam-ähnlichen Guerilla gegen das US-Imperium (der Sieg der Ewoks im letzten Teil); die Hippie-New-Age-Mythologie (Yodas Weisheit: ‘The force be with you!’…); den Moralismus der New Right (die Rückkehr zu einfachen Grundtugenden; in diesem Aspekt ist das ‘Evil Empire’ eine Metapher für die Sowjetunion). Um den ideologischen Hintergrund von Star Wars zu erklären, muss man alle drei Ebenen unter der Dominante der dritten Ebene kombinieren – warum? Diese dritte Ebene enthält einen selbstreflexiven Moment: die Infantilisierung des Zuschauers, das heißt die Rückkehr zum ‘naiven’ Zuschauer gegen den Zynismus, die Reflexivität usw. der 1960er und frühen 1970er Jahre – Spielberg selbst behauptet oft, seine Filme seien für ‘das Kind in uns allen’ gemacht. Das ideologische Thema der Erlösung der Erwachsenen durch ihre Infantilisierung (das explizite Thema seines Peter Pan) produziert somit zugleich eine neue Subjektposition für den Zuschauer.²⁹
Ideologische Anamorphose
Das Verfahren, das uns erlaubt, die strukturelle Inkonsistenz eines ideologischen Gebäudes zu erkennen, ist das der anamorphotischen Lektüre. Ist zum Beispiel die Beziehung zwischen le Nom-du-Père und le Non-du-Père bei Lacan nicht eine Art theoretische Anamorphose?³⁰ Der Wechsel von Nom zu Non – das heißt die Einsicht, die uns in der positiven Figur des Vaters als Träger symbolischer Autorität lediglich die materialisierte/verkörperte Negation erkennen lässt – beinhaltet effektiv eine Veränderung der Perspektive des Subjekts: Aus der richtigen Perspektive betrachtet wird die majestätische Präsenz des Vaters sichtbar als bloße Positivierung einer negativen Geste. Man kann es auch in kantischen Begriffen sagen: Der anamorphotische Wechsel ermöglicht es uns, einen scheinbar positiven Gegenstand als ‘negative Größe’ zu erkennen, als bloße ‘Positivierung einer Leere’. Das ist das elementare Verfahren der Ideologiekritik: Das ‘erhabene Objekt der Ideologie’ ist das spektrale Objekt, das keine positive ontologische Konsistenz besitzt, sondern lediglich die Lücke einer bestimmten konstitutiven Unmöglichkeit ausfüllt.
Die antisemitische Figur des Juden (nehmen wir dieses erhabene Objekt als Beispiel) legt Zeugnis ab von der Tatsache, dass das ideologische Begehren, das den Antisemitismus trägt, inkonsistent, ‘selbstwidersprüchlich’ ist (kapitalistische Konkurrenz und vormoderne organische Solidarität usw.). Um dieses Begehren aufrechtzuerhalten, muss ein spezifisches Objekt erfunden werden, das der Ursache der Nichtbefriedigung dieses Begehrens Körper gibt, sie externalisiert (der Jude, der für die soziale Desintegration verantwortlich ist). Der Mangel an positiver ontologischer Konsistenz in dieser Figur des Juden wird dadurch bewiesen, dass die wahre Kausalitätsbeziehung gegenüber der Weise, wie die Dinge im antisemitischen ideologischen Raum erscheinen, invertiert ist: Nicht der Jude ist es, der die Gesellschaft daran hindert, zu existieren (sich als volle organische Solidarität zu verwirklichen usw.); vielmehr ist der soziale Antagonismus primordial, und die Figur des Juden kommt als Fetisch an zweiter Stelle, der diese Behinderung materialisiert. In diesem Sinn kann man auch sagen, dass der Jude (nicht tatsächliche Juden, sondern der ‘begriffliche Jude’ im Antisemitismus) eine kantische ‘negative Größe’ ist: die Positivierung der Gegenkraft des ‘Bösen’, deren Wirksamkeit erklärt, warum die Ordnung des Guten niemals vollständig siegen kann. Eine der elementarsten Definitionen von Ideologie lautet daher: ein symbolisches Feld, das einen solchen Lückenfüller enthält, der den Platz einer strukturellen Unmöglichkeit hält und diese Unmöglichkeit zugleich verleugnet. In den Naturwissenschaften ist ein Beispiel einer solchen ‘negativen Größe’ das berüchtigte Phlogiston (der ätherische Stoff, der angeblich als Medium für die Übertragung des Lichts dient): Dieses Objekt positiviert lediglich den Mangel und die Inkonsistenz unserer wissenschaftlichen Erklärung der wahren Natur des Lichts. In all diesen Fällen besteht die grundlegende Operation darin, der Negativität Vorrang vor der Positivität zu geben: Das Verbot ist nicht ein sekundäres Hindernis, das mein Begehren behindert; Begehren selbst ist ein Versuch, die durch das Verbot getragene Lücke zu füllen. Der (antisemitische Figur des) ‘Jude’ ist nicht die positive Ursache sozialen Ungleichgewichts und sozialer Antagonismen: Der soziale Antagonismus kommt zuerst, und der ‘Jude’ gibt diesem Hindernis lediglich Körper.
Kant wird gewöhnlich für seinen Formalismus kritisiert: dafür, die rigide Unterscheidung zwischen dem Netzwerk formaler Bedingungen und dem kontingenten positiven Inhalt aufrechtzuerhalten, der diesem formalen Netzwerk den Gehalt liefert. Es gibt jedoch eine kritisch-ideologische Verwendung dieser Unterscheidung: Im Fall des Antisemitismus ist der Hauptpunkt, dass die historische Realität der Juden ausgenutzt wird, um einen vor-konstruierten ideologischen Raum auszufüllen, der in keiner Weise inhärent mit der historischen Realität der Juden verbunden ist. Man fällt genau dann in die ideologische Falle, wenn man der Illusion erliegt, Antisemitismus gehe wirklich um Juden.
Vollzieht Lacan nicht denselben anamorphotischen Perspektivwechsel in seiner berühmten Umkehrung Dostojewskis (‘Wenn es keinen Gott gibt, ist überhaupt nichts erlaubt’) – das heißt, in seiner Umkehrung von (der gängigen Wahrnehmung des) Gesetzes als der Instanz, die das Begehren repressiert, in (den Begriff des) Gesetzes als dessen, was das Begehren effektiv trägt? In genau diesem Sinn beinhaltet die hegelianische dialektische Umkehrung auch immer eine Art anamorphotischen Perspektivwechsel: Was wir als Hindernis (das Verbot), als Bedingung der Unmöglichkeit, (miss)wahrgenommen haben, ist in Wahrheit eine positive Möglichkeitsbedingung (unseres Begehrens) – die schlechte Welt, über die die schöne Seele klagt, ist die inhärente Bedingung ihrer eigenen subjektiven Position. (Dasselbe gilt auch für die Beziehung zwischen Gesetz und seiner Übertretung: Weit davon entfernt, die Herrschaft des Gesetzes zu unterminieren, dient seine ‘Übertretung’ in der Tat als seine ultimative Stütze. Es ist also nicht nur so, dass Übertretung auf das Gesetz angewiesen ist, das sie übertritt, es voraussetzt; vielmehr ist der umgekehrte Fall viel einschlägiger: Das Gesetz selbst stützt sich auf seine inhärente Übertretung, sodass, wenn wir diese Übertretung suspendieren, das Gesetz selbst zerfällt.)
In der Geschichte der modernen Philosophie verdichtet ein solcher anamorphotischer Wechsel die Operation der Linie ‘über-orthodoxer’ Autoren (von Pascal über Kleist und Kierkegaard bis zu Brechts Lehrstücken), die die herrschende Ideologie subvertieren, indem sie sie wörtlicher nehmen, als sie bereit ist, sich selbst zu nehmen – der unbehagliche, verstörende Effekt auf den Leser der Pensées, des Prinzen von Homburg oder der Maßnahme liegt darin, dass sie gleichsam die verdeckten Karten der Ideologie offenlegen, mit der sie sich identifizieren (französischer Katholizismus, deutscher militärischer Patriotismus, revolutionärer Kommunismus), und sie dadurch unwirksam machen – das heißt: für die bestehende Ordnung unakzeptabel. Diese Werke konfrontieren uns gewaltsam mit der Tatsache, dass Ideologie eine Distanz zu sich selbst braucht, um ungehindert zu herrschen: Soll Ideologie ihren Griff über uns behalten, müssen wir uns selbst als nicht vollständig in ihrem Griff erfahren: ‘Ich bin nicht bloß eine direkte Verkörperung von … [Jansenismus, preußischer Patriotismus, Kommunismus]; unter dieser ideologischen Maske verbirgt sich eine warmherzige menschliche Person mit ihren kleinen Sorgen und Freuden, die nichts mit großen ideologischen Fragen zu tun haben …’
Was Pascal, Kleist und Brecht tun, ist, diese (Miss-)Wahrnehmung zu invertieren: Die scheinbar nicht-ideologische Erfahrung der ‘warmherzigen menschlichen Person’ unter der ideologischen Maske ist an sich falsch; sie ist dazu da, die Tatsache zu verschleiern, dass die ideologische Maske effektiv die Show betreibt. In Brechts Die Maßnahme etwa werden Individuen gewaltsam auf ihre ‘ideologische Maske’ reduziert, sodass genau der Moment, in dem der verzweifelte Held, nicht länger imstande, den Anblick des Leidens der armen Bauern zu ertragen, seine Maske abwerfen und sein wahres Gesicht zeigen will, um ihnen zu helfen, als falsch denunziert wird, als Moment des Verrats an der revolutionären Sache … Einen weiteren Aspekt dieser Subversion hat bereits Pascal betont: Man sollte die aufklärerische Vorstellung umkehren, wonach gewöhnlichen Menschen, die die Notwendigkeit ihres religiösen Glaubens nicht begreifen können, die Wahrheit ihrer Religion autoritär zu versichern sei, als Dogma, das keinen Widerspruch duldet; während die aufgeklärte Elite in der Lage ist, zu gehorchen, sobald sie durch gute Gründe überzeugt ist (analog zu Kindern, die ohne jede Erklärung gehorchen lernen müssen, im Unterschied zu Erwachsenen, die wissen, warum man sozialen Verpflichtungen folgen sollte). Die unheimliche Wahrheit ist vielmehr, dass Argumentation für die Menge ‘gewöhnlicher Menschen’ ist, die die Illusion brauchen, es gebe gute und richtige Gründe für die Ordnung, der sie gehorchen müssen, während das wahre Geheimnis, das nur die Elite kennt, darin besteht, dass das Dogma der Macht nur in sich selbst gegründet ist: ‘Die Gewohnheit ist die ganze Billigkeit aus dem einzigen Grund, weil sie angenommen ist. Das ist die mystische Grundlage ihrer Autorität.’ ‘Es wäre also gut für uns, Gesetzen und Gewohnheiten zu gehorchen, weil sie Gesetze sind.’³¹ Ideologie ist somit nicht nur ‘irrationaler Gehorsam’, unter dem die kritische Analyse seine wahren Gründe und Ursachen zu erkennen hat; sie ist auch die ‘Rationalisierung’, die Aufzählung eines Netzes von Gründen, das die unerträgliche Tatsache maskiert, dass das Gesetz nur in seinem eigenen Akt der Äußerung gegründet ist.
Ein weiterer Schlüsselphilosoph und Theologe, der in diese Reihe einzufügen ist, ist Nicolas Malebranche, der große kartesianische Katholik, der nach seinem Tod exkommuniziert wurde und dessen Bücher zerstört wurden, wegen seiner allzu exzessiven Orthodoxie – Lacan hatte vermutlich Figuren wie Malebranche im Sinn, als er behauptete, Theologen seien die einzigen wahren Atheisten. In bester pascalianischer Tradition legte Malebranche seine Karten auf den Tisch und ‘enthüllte das Geheimnis’ (die perverse Wahrheit) des Christentums: Es war nicht so, dass Christus auf die Erde herabkam, um die Menschen von der Sünde zu erlösen, vom Erbe von Adams Fall; im Gegenteil, Adam musste fallen, um Christus zu ermöglichen, auf die Erde herabzukommen und Erlösung zu spenden. Hier wendet Malebranche auf Gott selbst die ‘psychologische’ Einsicht an, die uns sagt, dass die heilige Figur, die sich zum Wohl anderer opfert, um sie aus ihrem Elend zu erlösen, insgeheim will, dass die anderen Elend leiden, damit sie ihnen helfen kann – wie der sprichwörtliche Ehemann, der den ganzen Tag für seine arme verkrüppelte Frau arbeitet, sie aber wahrscheinlich verlassen würde, wenn sie ihre Gesundheit wiedererlangte und zu einer erfolgreichen Karrierefrau würde. Es ist viel befriedigender, sich für das arme Opfer zu opfern, als dem Anderen zu ermöglichen, den Opferstatus zu verlieren und vielleicht sogar noch erfolgreicher zu werden als wir selbst …
Malebranche führt diese Parallele bis zu ihrem äußersten Schluss, zum Entsetzen der Jesuiten, die seine Exkommunikation organisierten: So wie die heilige Person das Leiden der anderen nutzt, um ihre eigene narzisstische Befriedigung darin zu finden, den in Not Geratenen zu helfen, so liebt auch Gott letztlich nur sich selbst und benutzt den Menschen lediglich dazu, seine eigene Herrlichkeit zu verkünden … Aus dieser Umkehrung zieht Malebranche eine Konsequenz, die Lacans oben erwähnter Umkehrung Dostojewskis würdig ist (‘Wenn Gott nicht existiert, sagt der Vater, dann ist alles erlaubt. Offenkundig eine naive Vorstellung, denn wir Analytiker wissen sehr genau, dass, wenn Gott nicht existiert, dann überhaupt nichts mehr erlaubt ist.’³²): Es ist nicht wahr, dass, wenn Christus nicht auf die Erde gekommen wäre, um die Menschheit zu erlösen, alle verloren gewesen wären – ganz im Gegenteil, niemand wäre verloren; das heißt, jeder Mensch musste fallen, damit Christus kommen und einige von ihnen erlösen konnte … Was daraus weiter folgt, ist die paradoxe Natur von Prädestination und Gnade: Die göttliche Gnade wird kontingent verstreut, sie hat absolut keine Korrelation mit unseren guten Taten. In dem Moment, in dem die Verbindung zwischen Gnade und unseren Taten direkt wahrnehmbar würde, ginge menschliche Freiheit verloren: Gott darf nicht direkt in das Universum intervenieren; das heißt: Gnade muss verhüllt bleiben, als solche nicht wahrnehmbar, als direkte göttliche Intervention, da ihre direkte Transparenz den Menschen in ein knechtisches Wesen, Gott untergeordnet wie ein Tier, verwandeln und ihn des auf freier Wahl beruhenden Glaubens berauben würde.³³
Doch obwohl die Zuteilung der Gnade nicht in unseren guten Taten gründet, sondern auf völlig kontingente Weise verstreut ist, sollte man dennoch danach streben, so viele gute Taten wie möglich zu vollbringen – wenn und sobald die göttliche Gnade uns berührt, machen unsere guten Taten uns für sie empfänglich, sie ermöglichen uns, sie zu erkennen und so von ihr zu profitieren … Malebranche’ Leistung besteht somit darin, eine materialistische Theorie der Gnade vorzuschlagen: Gnade wird auf vollständig kontingente Weise verteilt, nicht gemäß menschlichen Verdiensten, sondern ihren eigenen inhärenten proto-natürlichen Gesetzen folgend, wie (um Malebranche’ eigene Metapher zu verwenden) der Regen, der über eine Landschaft fällt, der ein Feld bewässern kann und so in produktiver Weise für menschliche Zwecke eingesetzt wird, oder auf einen kahlen Hang in der Nähe fällt und so vergeblich vergeudet wird – man weiß es nie, er ist blind, wie das Schicksal. Diese Metapher macht auch klar, warum man dennoch gute Taten vollbringen sollte – wie der Bauer, der sein Feld bestellen soll, damit, wenn (und falls) Regen fällt, er Frucht trägt … In genau diesem Sinn ist Gott der lacansche große Andere: eine Maschine, die ihren inhärenten ‘natürlichen’ Gesetzen folgt und (wie Schrebers Gott) von menschlichen Angelegenheiten völlig unwissend ist. Malebranche ist somit das theologische Gegenstück zur zugrunde liegenden Ideologie von J. Redfields The Celestine Prophecy, der Bibel der populären New-Age-Mythologie: Nicht nur folgen Ereignisse in der Welt einer natürlichen kausalen Logik und drücken keinen inhärenten Sinn aus, auch die Zuteilung göttlicher Gnade selbst ist ein blinder natürlicher Prozess ohne inhärenten Sinn …³⁴
Mit anderen Worten: Was Malebranche hier tut, ist etwas Ähnliches wie Monty Python, die ständig eine solche Umkehrung praktizieren, um die zugrunde liegende libidinöse Ökonomie offenzulegen: Sie behandeln Sex als eine langweilige bürokratische Pflicht, und so weiter. Gleich zu Beginn der Sexualaufklärungsszene aus The Meaning of Life gähnen die gelangweilten Schüler, die auf die Ankunft ihres Lehrers warten, und starren ins Leere; als einer von ihnen nahe der Tür ‘Lehrer kommt!’ ruft, beginnen sie plötzlich zu schreien, mit ihren Stühlen und Tischen Lärm zu machen, Papiere aufeinander zu werfen … das ganze übliche Getöse, über das der Lehrer erwartungsgemäß wütend sein und das er unterdrücken soll. Diese Umkehrung enthüllt die wahre Ökonomie der Situation: Weit davon entfernt, ein spontaner Energieausbruch zu sein, der durch Schuldisziplin eingeschränkt wird, ist das ganze Getöse der Schüler an den Lehrer adressiert … Wie bei Malebranche, wo Adam nicht aufgrund seiner autonomen Hybris fallen muss, sondern um Christi Ankunft zu ermöglichen, machen auch hier die Schüler Lärm und Getöse nicht aufgrund ihrer autonomen Spontaneität, sondern um die disziplinierende Zurechtweisung des Lehrers in Gang zu setzen. (Hier haben wir die foucaultsche Verflechtung von ‘unterdrückender’ Macht und Widerstand, von Widerstand im Dienst der Macht.)
Man kann nun sehen, in welchem Sinn all diese ‘über-orthodoxen’ Autoren Anamorphose praktizieren: Wenn Pascal behauptet, Gründe (zu glauben und zu gehorchen) seien für die Menge, während die Elite wisse, dass das Gesetz nur im Akt seiner eigenen Äußerung begründet ist – dass wir ihm gehorchen müssen, einfach weil ‘Gesetz Gesetz ist’; wenn Malebranche behauptet, Adam habe fallen müssen, um Christi Ankunft möglich zu machen (nicht umgekehrt); beruht die Wirkung dieser Aussagen nicht auf einer anamorphotischen Verschiebung der Akzentuierung?
Was im Hintergrund lauert, ist natürlich die Tatsache, dass der Gott Malebranche’ Lacans großer Anderer in seiner reinsten Form ist: die Ordnung, die unser Universum reguliert, aber rein virtuell bleibt – nirgends direkt wahrnehmbar. Die Standardkritik am Okkasionalismus (wonach es nicht nur keinen Beweis für den Okkasionalismus gibt, sondern der Okkasionalismus sogar unserer sinnlichen Erfahrung direkt widerspricht, die uns sagt, dass physische Körper direkt auf unsere Sinne einwirken) stellt für Malebranche daher kein Problem dar, da sie die Schlüsselkomponente seines Arguments für den Okkasionalismus ist – sein Punkt ist, dass die Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge (der göttlichen Kausalität) unserer sinnlichen Erfahrung widerspricht: Würde göttliche Kausalität direkt beobachtbar, machte uns dies zu Sklaven Gottes und verwandelte Gott in einen schrecklichen Tyrannen (diese Idee wurde später von Kant aufgenommen, in seiner Vorstellung, dass es nur unsere epistemische Begrenzung – unsere Unwissenheit über noumenale Kausalität – ist, die uns zu freien moralischen Wesen macht). Man kann den symbolischen ‘großen Anderen’ als solchen nie erfahren: Entweder – in unserem ‘normalen’ Alltagsleben – sind wir blind dafür, wie er unsere Akte überdeterminiert; oder – in der psychotischen Erfahrung – werden wir uns der massiven Präsenz des großen Anderen bewusst, jedoch in einer ‘verdinglichten’ Weise – nicht als virtueller Anderer, sondern als materialisierter, obszöner, Über-Ich-Anderer (der Gott, der uns mit exzessiver Jouissance bombardiert, uns im Realen kontrolliert). Der einzige Weg, den großen Anderen im Realen zu erfahren, ist somit, ihn als Über-Ich-Instanz zu erfahren, als das schreckliche obszöne Ding.
Das Objekt als negative Größe
Das Verfahren der anamorphotischen Lektüre enthüllt somit die Rolle ‘negativer Größen’ in ideologischen Formationen. Wie das Sprichwort sagt, ist Begehren eine unendliche Metonymie, es gleitet von einem Objekt zum anderen. Insofern der ‘natürliche’ Zustand des Begehrens somit der der Melancholie ist – das Bewusstsein, dass kein positives Objekt ‘es’ ist, sein eigentliches Objekt, dass kein positives Objekt jemals seinen konstitutiven Mangel ausfüllen kann –, lautet das ultimative Rätsel des Begehrens: Wie kann es dennoch überhaupt ‘in Gang gesetzt’ werden? Wie kann das Subjekt – dessen ontologischer Status der eines Nichts ist, einer reinen Lücke, getragen vom endlosen Gleiten von einem Signifikanten zum anderen – sich dennoch an ein bestimmtes Objekt haken, das dadurch zu funktionieren beginnt als Objekt-Ursache seines Begehrens? Wie kann unendliches Begehren sich auf ein endliches Objekt fokussieren? Der Bezug auf Kant ist hier entscheidend:
die Vermittlung dieser Unendlichkeit des Subjekts mit der Endlichkeit des Begehrens kann nur durch die Intervention dessen erfolgen, was Kant … mit so viel Frische im Begriff negative Größen eingeführt hat … Negative Größe ist dann der Begriff, den wir finden werden, um eine der Stützen dessen zu bezeichnen, was man den Kastrationskomplex nennt, nämlich den negativen Effekt, in den das Phallus-Objekt in ihn eintritt.³⁵
Die Antwort lautet somit, dass das Objekt, das als ‘Ursache des Begehrens’ fungiert, selbst eine Metonymie des Mangels sein muss – das heißt, ein Objekt, das nicht einfach fehlt, sondern in seiner Positivität einem Mangel Körper gibt. Das lacansche objet petit a ist eine solche ‘negative Größe’, ein ‘Etwas, das für nichts steht’, a über dem ‘minus phi’ der Kastration. Die kantische Opposition zwischen nihil privativum und nihil negativum kann somit in die Opposition zwischen objet petit a und dem Ding übersetzt werden: das Ding ist die absolute Leere, der tödliche Abgrund, der das Subjekt verschlingt; während objet petit a das bezeichnet, was vom Ding übrig bleibt, nachdem es den Prozess der Symbolisierung durchlaufen hat. Die Grundprämisse der lacanschen Ontologie ist, dass, wenn unsere Erfahrung der Realität ihre Konsistenz bewahren soll, das positive Feld der Realität mit einem Supplement ‘vernäht’ werden muss, das das Subjekt als positive Entität (miss)wahrnimmt, das aber effektiv eine ‘negative Größe’ ist. Wenn in der psychotischen Erfahrung objet petit a tatsächlich in die Realität eingeschlossen ist, bedeutet dies, dass es nicht mehr als ‘negative Größe’ fungiert, sondern einfach als ein weiteres positives Objekt: Was positive Tatsachen (Gegenstände der Erfahrung) betrifft, gibt es nichts, was eine psychotische Position von der Position eines ‘normalen’ Subjekts unterscheidet; was einem Psychotiker lediglich fehlt, ist die Dimension der ‘negativen’ Größe, die die Präsenz ‘gewöhnlicher’ Objekte unterfüttert.
Der Raum für die ideologische negative Größe wird durch die Lücke zwischen Sammlung und Menge eröffnet. Das heißt: Auf seiner elementarsten Ebene nutzt Ideologie die minimale Distanz zwischen einer einfachen Sammlung von Elementen und den unterschiedlichen Mengen, die man aus dieser Sammlung bilden kann. In dem Moment, in dem wir von einer einfachen Sammlung zu einer logisch gebildeten Menge übergehen, treten Paradoxien und Inkonsistenzen auf: Wir können aus einer begrenzten Anzahl von Elementen zwei oder mehr Mengen bilden, die einige der Elemente teilen (logische Schnittmenge), oder wir können eine Menge ohne Elemente konstruieren (und nach Lacan ist das Subjekt genau eine solche ‘leere Menge’ in Bezug auf die Menge der Signifikanten, die es repräsentieren); ferner können wir dann ein Element einführen, das in seiner Positivität als Stellvertreter dieser leeren Menge fungiert. Das ist das Geheimnis von Poes ‘Der entwendete Brief’: Der Brief ist unsichtbar schlicht deshalb, weil wir vergeblich auf der Ebene der Elemente nach ihm suchen – der Brief ist eine Konfiguration (Menge) der Elemente, die wir die ganze Zeit sehen, nur als Teile einer anderen Menge …³⁶
Wir haben es mit einer Struktur im strengen Sinn des Wortes zu tun, wenn ein und dieselbe Sammlung in zwei Mengen angeordnet wird: Die ‘strukturalistische’ Struktur besteht immer aus zwei Strukturen; das heißt, sie involviert die Differenz zwischen der ‘offensichtlichen’ Oberflächenstruktur und der ‘wahren’ verborgenen Struktur. Émile Benveniste³⁷ hat gezeigt, wie die irreführend ‘offensichtliche’ Opposition zwischen den aktiven und passiven Formen des Verbs, mit der neutralen Form als Zwischenstufe, die wahre Opposition zwischen den aktiven und neutralen Formen verschleiert, in Bezug auf die die passive Form der dritte, vermittelnde, supplementäre Term ist. Und nach Lacan ist es dasselbe mit sexuellen Orientierungen: Die ‘offensichtliche’ Einteilung in Hetero- und Homosexualität (die weiter in schwule und lesbische Sexualität unterteilt wird) verschleiert die wahre Opposition zwischen Hetero-(lesbischer) und Homosexualität, die weiter in schwule und ‘heterosexuelle’ Sexualität unterteilt wird. Man kann auch sagen, dass diese Lücke konstitutiv für Ideologie ist: ‘Ideologie’ ist die ‘selbstverständliche’ Oberflächenstruktur, deren Funktion darin besteht, die zugrunde liegende ‘unausbalancierte’, ‘unheimliche’ Struktur zu verbergen.
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