Die Plage der Fantasien 5

4Cyberspace, oder, Das Unerträgliche

Verschluss Des Seins

Was ist ein Symptom?

Wenn man es mit einem universellen Strukturierungsprinzip zu tun hat, nimmt man immer automatisch an, dass – prinzipiell, genauer gesagt – es möglich ist, dieses Prinzip auf alle seine potenziellen Elemente anzuwenden, sodass die empirische Nicht-Verwirklichung des Prinzips lediglich eine Frage kontingenter Umstände ist. Ein Symptom jedoch ist ein Element, das – obwohl die Nicht-Verwirklichung des universellen Prinzips in ihm von kontingenten Umständen abzuhängen scheint – eine Ausnahme bleiben muss, das heißt der Punkt der Aussetzung des universellen Prinzips: Würde das universelle Prinzip auch auf diesen Punkt angewandt, so würde das universelle System selbst zerfallen.

In den Absätzen über die bürgerliche Gesellschaft in seiner Philosophie des Rechts zeigt Hegel, wie die wachsende Klasse des ‘Pöbels [Pöbel ]’ in der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht ein zufälliges Ergebnis sozialer Misswirtschaft, unzureichender Regierungsmaßnahmen oder schlichten ökonomischen Pechs ist: Die inhärente strukturelle Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft bringt notwendig eine Klasse hervor, die von ihren Vorteilen ausgeschlossen ist (Arbeit, persönliche Würde usw.) – eine Klasse, der elementare Menschenrechte entzogen sind und die deshalb auch von Pflichten gegenüber der Gesellschaft ausgenommen ist, ein Element innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, das ihr universelles Prinzip negiert, eine Art ‘Nicht-Vernunft, die der Vernunft selbst innewohnt ’ – kurz: ihr Symptom. Werden wir nicht Zeugen desselben Phänomens im heutigen Wachstum einer Unterschicht, die, mitunter sogar über Generationen hinweg, von den Vorteilen der liberal-demokratischen Wohlstandsgesellschaft ausgeschlossen ist? Die heutigen ‘Ausnahmen’ (die Obdachlosen, die Ghettoisierten, die dauerhaft Arbeitslosen) sind das Symptom des spätkapitalistischen universellen Systems, die permanente Erinnerung daran, wie die immanente Logik des Spätkapitalismus funktioniert: Die eigentliche kapitalistische Utopie ist, dass durch geeignete Maßnahmen (affirmative action und andere Formen staatlicher Inter-vention für progressive Liberale; die Rückkehr zu Selbstfürsorge und Familienwerten für Konservative) diese ‘Ausnahme’ – langfristig und zumindest prinzipiell – abgeschafft werden könnte. Und ist nicht ein analoger Utopismus am Werk in der Vorstellung einer ‘rainbow coalition’: in der Idee, dass in einem zukünftigen utopischen Moment alle progressiven Kämpfe (für Rechte von Schwulen und Lesben; für die Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten; der ökologische Kampf; der feministische Kampf; und so weiter) in einer gemeinsamen ‘Äquivalenzkette’ vereint werden?

Das notwendige Scheitern ist hier strukturell: Es ist nicht einfach so, dass aufgrund der empirischen Komplexität der Situation alle besonderen progressiven Kämpfe niemals vereint werden, dass stets ‘falsche’ Äquivalenzketten auftreten werden (etwa die Verkettung des Kampfes um afroamerikanische ethnische Identität mit patriarchalen und homophoben Einstellungen), sondern vielmehr, dass Vorkommnisse ‘falscher’ Verkettungen im Strukturierungsprinzip der heutigen progressiven Politik des Etablierens von ‘Äquivalenzketten’ selbst gründen: Das Feld der Vielzahl besonderer Kämpfe mit ihren fortwährend verschiebenden Verschiebungen und Verdichtungen wird durch die ‘Verdrängung’ der Schlüsselrolle des ökonomischen Kampfes aufrechterhalten. Die linke Politik der ‘Äquivalenzketten’ unter der Pluralität von Kämpfen korreliert strikt mit der Aufgabe der Analyse des Kapitalismus als globales ökonomisches System – das heißt: mit der stillschweigenden Akzeptanz kapitalistischer ökonomischer Verhältnisse und liberal-demokratischer Politik als unhinterfragtem Rahmen unseres sozialen Lebens.

In genau diesem Sinn macht das Symptom aus einer zerstreuten Sammlung ein System (im präzisen Sinn, den dieser Begriff im Deutschen Idealismus annahm): Wir befinden uns in einem System in dem Moment, in dem wir die Lücke durchbrechen, die die a priori-Form von ihrem kontingenten Inhalt trennt – in dem Moment, in dem wir die Notwendigkeit dessen ins Auge fassen, was als kontingente Einwirkung erscheint, die ‘das Spiel verdirbt’. Ein System zeigt die Tatsache an, dass ‘es Eines gibt’ (Lacans y a de l’un), ein inhärentes Element, das den universellen Rahmen von innen her untergräbt; um zu unserem Beispiel zurückzukehren: Die ‘systemische’ Natur des spätkapitalistischen politischen Kampfes bedeutet, dass die Äquivalenzkette der heutigen Identitätskämpfe notwendig niemals abgeschlossen wird, dass die ‘populistische Versuchung’ immer zur ‘falschen’ Äquivalenzkette führt.

In einem anderen Feld liegt ein ‘System’ auch der Reihe von Buñuel-Filmen zugrunde, die das Motiv variieren, das Buñuel selbst die ‘unergründliche Unmöglichkeit der Erfüllung eines einfachen Begehrens’ nennt. In The Criminal Life of Archibaldo de la Cruz will der Held einen einfachen Mord begehen, doch all seine Versuche scheitern; in The Exterminating Angel kann nach einem Dinner eine Gruppe reicher Leute die Schwelle nicht überschreiten und das Haus nicht verlassen; in The Discreet Charm of the Bourgeoisie haben wir den Gegenfall von drei bürgerlichen Ehepaaren, die gemeinsam zu Abend essen wollen, doch unerwartete Komplikationen verhindern stets die Erfüllung dieses einfachen Wunsches; in Navarin, wo die Erzählung einem Muster endloser Demütigungen und Verstrickungen unterwegs folgt, erlebt der idealistische Priester Navarin, für den das Leben eine Art Reise in den Fußspuren Christi ist, wie seine Hoffnungen auf Befreiung auf eben jener Straße zur Freiheit zerschlagen werden, die er gewählt hat. Seine endgültige Einsicht ist natürlich, dass das, was er bislang als bloße Ablenkungen auf seinem Weg zur Freiheit abgetan hatte – die kontingenten, unerwarteten Demütigungen und Verstrickungen – den eigentlichen Rahmen seiner tatsächlichen Erfahrung von Freiheit bildet. Mit anderen Worten: Die strukturelle Rolle dieser Demütigungen und Verstrickungen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen, ist dieselbe wie die der unerwarteten Komplikationen, die die Gruppe in The Discreet Charm immer wieder daran hindern, gemeinsam zu Abend zu essen … Das letzte Beispiel, das vielleicht den Schlüssel zu dieser ganzen Reihe liefert, ist natürlich That Obscure Object of Desire, in dem eine Frau durch eine Folge absur­der Tricks den letzten Moment der sexuellen Wiedervereinigung mit ihrem gealterten Liebhaber immer wieder hinausschiebt (wenn der Mann sie etwa endlich ins Bett bekommt, entdeckt er unter ihrem Nachthemd ein altmodisches Korsett mit zahlreichen Schnallen, die unmöglich zu öffnen sind …). Der Reiz des Films liegt genau in diesem unsinnigen Kurzschluss zwischen der fundamentalen, metaphysischen Schranke und irgendeinem trivialen empirischen Hindernis. Hier finden wir die Logik der höfischen Liebe und der Sublimierung in ihrer reinsten Form: Ein gewöhnlicher Alltagsgegenstand oder eine Handlung wird unzugänglich oder unmöglich auszuführen, sobald er oder sie sich in der Position des Dings wiederfindet – obwohl das Ding leicht in Reichweite sein müsste, ist irgendwie das gesamte Universum so angepasst worden, dass es immer wieder eine unergründliche Kontingenz hervorbringt, die den Zugang dazu blockiert.¹

Die Lösung dieser Spannung zwischen dem Ziel des Subjekts (mit der Geliebten zu schlafen; gemeinsam zu Abend zu essen; Freiheit zu erreichen …) und den idiotischen kontingenten Einbrüchen, die seine Verwirklichung immer wieder verhindern, liegt in der hegelschen Einsicht in ihre letztliche spekulative Identität: Es ist die Schranke dieser Einbrüche, die das Ziel in seiner erhobenen Erhabenheit erhält, sodass – um zu einer derridaschen Formulierung zurückzukehren – die Bedingung der Unmöglichkeit, das Ziel zu verwirklichen, zugleich seine Möglichkeitsbedingung ist – oder, hegelsch gesprochen: Im Kampf gegen die idiotische Kontingenz der Wege der Welt kämpft die Idee gegen sich selbst, gegen die eigentliche Ressource ihrer Stärke. Diese Notwendigkeit der völligen, idiotischen Kontingenz, dieser rätselhafte Begriff eines unerwarteten Einbruchs, der dennoch mit absoluter Unvermeidlichkeit auftaucht (und auftauchen muss, da sein Ausbleiben die Auflösung des gesamten Feldes der Suche nach dem Ziel nach sich zöge), ist das höchste spekulative Geheimnis, die wahre ‘dialektische Synthese von Kontingenz und Notwendigkeit’, die Plattheiten über die tiefere Notwendigkeit entgegenzustellen ist, die sich durch oberflächliche Kontingenzen verwirklicht. Man ist versucht zu behaupten, dass, wenn Hegel seine ‘panlogistische’ Behauptung aufstellt, der zufolge ‘die Vernunft die Welt regiert’ (oder ‘was wirklich ist, ist vernünftig’), ihr tatsächlicher Gehalt diese Art notwendiger Einbruch einer Kontingenz ist: Wenn man sicher ist, dass ‘die Vernunft die Welt regiert’, heißt das, dass man sicher sein kann, dass stets eine Kontingenz auftreten wird, die die direkte Verwirklichung unseres Ziels verhindert.²

Die andere Seite dieser Notwendigkeit, die sich in Gestalt einer Reihe kontingenter Einbrüche verwirklicht, die immer wieder verhindern, dass sich der universelle Begriff oder das Projekt verwirklicht (wie die Unfälle, die immer wieder verhindern, dass die drei Paare in The Discreet Charm … gemeinsam zu Abend essen, wie die unglücklichen Zufälle, die immer wieder die Abschaffung afroamerikanischer Ghettos im liberal-demokratischen Projekt verhindern), ist die Notwendigkeit, die absolute Gewissheit, dass innerhalb des Feldes einer universellen Lüge die ‘verdrängte’ Wahrheit in Gestalt eines besonderen kontingenten Ereignisses hervortreten wird. Das ist die Grundlektion der Psychoanalyse: In unserem Alltagsleben vegetieren wir, tief versunken in der universellen Lüge; dann bringt ganz plötzlich irgendeine kontingente Begegnung – eine beiläufige Bemerkung im Gespräch, ein Vorfall, dessen Zeugen wir werden – das verdrängte Trauma ans Licht, das unsere Selbsttäuschung zertrümmert. Korrelativ zur Illusion, die uns sagt, dass das Scheitern der Verwirklichung unseres Projekts bloß an einer unglücklichen Konstellation von Umständen liege, steht die Illusion, die uns sagt, dass, wenn wir diese dumme kontingente Geste nicht gemacht hätten (jene Bemerkung nicht aufgeschnappt, jene Straßenecke nicht genommen und jener Person nicht begegnet …), alles in Ordnung geblieben wäre; unser Universum wäre noch intakt, statt in Trümmern zu liegen.

Wir sehen, wie jede dieser beiden Formen einen der beiden Aspekte der ideologischen Raumkrümmung negiert: Die erste negiert ihre falsche Öffnung (indem sie zeigt, dass das Versprechen der Öffnung aus notwendigen Gründen unerfüllt bleiben wird); die zweite negiert ihren falschen Verschluss (indem sie zeigt, dass die ausgeschlossene Externalität notwendig ins Innere eindringen wird). Was wir hier natürlich haben, ist das logische Quadrat von Notwendigkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit und Kontingenz: Die wiederkehrende Unmöglichkeit (gemeinsam zu Abend zu essen) negiert die ideologische Form der Möglichkeit, die Kontingenz (das kontingente Hervortreten der Wahrheit) negiert die ideologische Form universeller Notwendigkeit. Und ist nicht der Begriff des Cyberspace ein Schlüsselsymptom unserer sozioideologischen Konstellation? Beinhaltet er nicht das Versprechen falscher Öffnung (die spiritualistische Aussicht, unsere ‘gewöhnlichen’ Körper abzuwerfen und zu einer virtuellen Entität zu werden, die von einem virtuellen Raum zum anderen reist) ebenso wie die Ausschließung der sozialen Machtverhältnisse, innerhalb derer virtuelle Gemeinschaften operieren?

Das Virtuelle als real

Man sollte gegenüber dem Cyberspace eine ‘konservative’ Haltung einnehmen, wie die von Chaplin gegenüber dem Ton im Kino: Chaplin war weit mehr als gewöhnlich der traumatischen Wirkung der Stimme als fremdem Eindringling auf unsere Wahrnehmung des Kinos bewusst. In gleicher Weise erlaubt uns der heutige Übergangsprozess wahrzunehmen, was wir verlieren und was wir gewinnen – diese Wahrnehmung wird in dem Moment unmöglich, in dem wir die neuen Technologien vollständig annehmen und uns in ihnen vollständig zu Hause fühlen. Kurz: Wir haben das Privileg, den Ort der ‘verschwindenden Vermittler’ einzunehmen. Eine solche chaplineske Haltung zwingt uns, dem verführerischen Charme der beiden zeitgenössischen Mythen über den Cyberspace zu widerstehen, die beide auf der Gemeinplatzannahme beruhen, wir befänden uns heute mitten im Übergang von der Epoche der Moderne (monologische Subjektivität, mechanistische Vernunft usw.) zur postmodernen Epoche der Zerstreuung (das Spiel der Erscheinungen, das nicht länger auf den Bezug zu irgendeiner letzten Wahrheit gegründet ist, die multiplen Formen konstruierter Selbste):

•Im Cyberspace erleben wir eine Rückkehr zur pensée sauvage , zum ‘konkreten’, ‘sinnlichen’ Denken: Ein ‘Essay’ im Cyberspace konfrontiert Fragmente von Musik und anderen Klängen, Text, Bilder, Videoclips und so weiter, und es ist diese Konfrontation ‘konkreter’ Elemente, die ‘abstrakte’ Bedeutung produziert … sind wir hier nicht wieder bei Eisensteins Traum von der ‘intellektuellen Montage’ – davon, Das Kapital zu filmen, die marxistische Theorie aus dem Zusammenprall konkreter Bilder zu erzeugen? Ist Hypertext nicht eine neue Praxis der Montage? ³

•Heute erleben wir den Übergang von der modernistischen Kultur des Kalküls zur postmodernistischen Kultur der Simulation . ⁴ Der deutlichste Hinweis auf diesen Übergang ist die Verschiebung im Gebrauch des Begriffs ‘Transparenz’: Modernistische Technologie ist ‘transparent’ im Sinn der Aufrechterhaltung der Illusion eines Einblicks darin, ‘wie die Maschine funktioniert’; das heißt: Der Bildschirm der Benutzeroberfläche sollte dem Benutzer direkten Zugang zur Maschine hinter dem Bildschirm erlauben; der Benutzer sollte ihre Funktionsweise ‘begreifen’ – unter Idealbedingungen sogar, sie rational rekonstruieren. Die postmodernistische ‘Transparenz’ bezeichnet nahezu das genaue Gegenteil dieser Haltung analytischer Gesamtplanung: Der Bildschirm der Benutzeroberfläche soll die Funktionsweise der Maschine verbergen und unsere Alltagserfahrung so getreu wie möglich simulieren (der Macintosh-Stil der Oberfläche, bei dem schriftliche Befehle durch schlichtes Anklicken ikonischer Zeichen mit der Maus ersetzt werden …); der Preis dieser Illusion einer Kontinuität mit unserer alltäglichen Umgebung ist jedoch, dass der Benutzer sich an ‘opake Technologie’ ‘gewöhnt’ – die digitale Maschinerie ‘hinter dem Bildschirm’ zieht sich in völlige Undurchdringlichkeit, ja Unsichtbarkeit zurück. Mit anderen Worten: Der Benutzer verzichtet auf das Unterfangen, die Funktionsweise des Computers zu begreifen, und findet sich damit ab, dass er in seiner Interaktion mit dem Cyberspace in eine nicht-transparente Situation geworfen ist, die der seiner alltäglichen Lebenswelt analog ist, eine Situation, in der er sich ‘orientieren’ muss, im Modus des Bastelns [bricolage] durch Versuch und Irrtum zu handeln hat, nicht einfach irgendeinen vorab etablierten allgemeinen Regeln zu folgen – oder, um Sherry Turkles Wortspiel zu wiederholen: In der postmodernistischen Haltung ‘nehmen wir die Dinge beim Interface-Wert’.

Wenn das modernistische Universum das Universum ist, das sich hinter dem Bildschirm verbirgt – von Bytes, Drähten und Chips, von elektrischem Strom –, dann ist das postmodernistische Universum das Universum naiven Vertrauens in den Bildschirm, das die eigentliche Frage nach ‘dem, was dahinterliegt’, irrelevant macht. ‘Die Dinge beim Interface-Wert zu nehmen’ impliziert eine phänomenologische Haltung, eine Haltung des ‘Vertrauens in die Phänomene’: Der modernistische Programmierer flüchtet sich in den Cyberspace als transparentes, klar strukturiertes Universum, das es ihm erlaubt, (zumindest momentweise) der Opazität seiner alltäglichen Umgebung zu entkommen, in der er Teil eines a priori unergründlichen Hintergrunds ist, voller Institutionen, deren Funktionieren unbekannten Regeln folgt, die Herrschaft über sein Leben ausüben; für den postmodernistischen Programmierer hingegen fallen die Grundzüge des Cyberspace mit denen zusammen, die Heidegger als konstitutive Merkmale unserer alltäglichen Lebenswelt beschrieben hat (das endliche Individuum ist in eine Situation geworfen, deren Koordinaten nicht durch klare universelle Regeln geregelt sind, sodass das Individuum sich darin allmählich zurechtfinden muss).

In beiden Mythen ist der Fehler derselbe: Ja, wir haben es mit einer Rückkehr zu vormodernem ‘konkreten Denken’ oder zur nicht-transparenten Lebenswelt zu tun, aber diese neue Lebenswelt setzt bereits einen Hintergrund des wissenschaftlichen digitalen Universums voraus: Bytes – oder vielmehr die digitale Reihe – sind das Reale hinter dem Bildschirm; das heißt: Wir sind nie im Spiel der Erscheinungen versunken ohne einen ‘unteilbaren Rest’. Der Postmodernismus konzentriert sich auf das Geheimnis dessen, was Turkle ‘Emergenz’ nennt und Deleuze als ‘Sinn-Ereignis’ ausgearbeitet hat: die Emergenz der reinen Erscheinung, die nicht auf den bloßen Effekt ihrer körperlichen Ursachen reduziert werden kann;⁵ dennoch ist diese Emergenz der Effekt des digitalisierten Realen.⁶

Was den Begriff der Benutzeroberfläche betrifft, besteht die Versuchung hier natürlich darin, ihn bis zum Punkt seiner Selbstreferenz zu treiben: Was, wenn man ‘Bewusstsein’ selbst, den Rahmen, durch den wir das Universum wahrnehmen, als eine Art ‘Interface’ auffasst? In dem Moment jedoch, in dem wir dieser Versuchung nachgeben, vollziehen wir eine Art Ausschluss des Realen. Wenn der Benutzer, der mit der Vielheit der Internet Relay Chat (IRC)-Kanäle spielt, sich sagt: ‘Was, wenn das reale Leben (RL) selbst nur ein weiterer IRC-Kanal ist?’; oder, in Bezug auf mehrere Fenster in einem Hypertext: ‘Was, wenn RL nur ein weiteres Fenster ist?’, dann ist die Illusion, der er erliegt, strikt korrelativ zur entgegengesetzten – zur common-sense-Haltung, unseren Glauben an die volle Realität außerhalb des virtuellen Universums aufrechtzuerhalten. Das heißt: Man sollte beide Fallen vermeiden, den einfachen direkten Bezug auf die äußere Realität außerhalb des Cyberspace ebenso wie die entgegengesetzte Haltung ‘es gibt keine äußere Realität, RL ist nur ein weiteres Fenster’.⁷

Im Bereich der Sexualität erzeugt dieser Ausschluss des Realen die New-Age-Vision einer neuen computerisierten Sexualität, in der sich Körper in ätherischem virtuellem Raum mischen, befreit von ihrem materiellen Gewicht: eine Vision, die stricto sensu eine ideologische Fantasie ist, da sie das Unmögliche vereint – Sexualität (verbunden mit dem Realen des Körpers) mit dem vom Körper abgekoppelten ‘Geist’, als ob – im heutigen Universum, in dem unsere körperliche Existenz (wahrgenommen als) immer stärker von Umweltgefahren, AIDS und so weiter bedroht ist, bis hin zur extremen Verwundbarkeit des narzisstischen Subjekts gegenüber tatsächlichem psychischem Kontakt mit einer anderen Person – wir einen Raum neu erfinden könnten, in dem wir uns vollständig in körperlichen Genüssen ergehen, indem wir unsere tatsächlichen Körper loswerden. Kurz: Diese Vision ist die eines Zustands ohne Mangel und Hindernisse, eines Zustands freien Schwebens im virtuellen Raum, in dem das Begehren dennoch irgendwie überlebt …

Die bedrohte Grenze

Statt sich in diesen Ideologien zu ergehen, ist es weit produktiver, damit zu beginnen, wie die Computerisierung den hermeneutischen Horizont unserer Alltagserfahrung beeinflusst. Diese Erfahrung basiert auf den drei Trennungslinien: zwischen ‘wahrem Leben’ und seiner mechanischen Simulation; zwischen objektiver Realität und unserer falschen (illusorischen) Wahrnehmung davon; zwischen meinen flüchtigen Affekten, Gefühlen, Haltungen und so weiter und dem verbleibenden harten Kern meines Selbst. Alle diese drei Grenzen sind heute bedroht:

•Technobiologie unterminiert den Unterschied zwischen ‘natürlicher’ Lebensrealität und ‘künstlich’ erzeugter Realität: Bereits in der heutigen Gentechnologie (mit der Aussicht auf freie Wahl von Geschlecht, Haarfarbe, IQ …) wird die lebendige Natur als etwas technisch Manipulierbares gesetzt; das heißt: prinzipiell fällt die Natur als solche mit einem technischen Produkt zusammen. Der Kreis schließt sich somit, unsere alltägliche hermeneutische Erfahrung wird unterminiert: Technologie imitiert nicht mehr bloß die Natur, vielmehr legt sie den zugrunde liegenden Mechanismus frei, der sie erzeugt, sodass in gewissem Sinne die ‘natürliche Realität’ selbst zu etwas ‘Simuliertem’ wird und das einzige ‘Reale’ die zugrunde liegende Struktur der DNA ist.

•Insofern der VR-Apparat potenziell in der Lage ist, Erfahrung der ‘wahren’ Realität zu erzeugen, unterminiert VR den Unterschied zwischen ‘wahrer’ Realität und Schein. Dieser ‘Verlust der Realität’ tritt nicht nur in computererzeugter VR auf, sondern, auf einer elementareren Ebene, bereits mit dem wachsenden ‘Hyperrealismus’ der Bilder, mit denen die Medien uns bombardieren – immer mehr nehmen wir nur Farbe und Umriss wahr, nicht mehr Tiefe und Volumen: ‘Ohne visuelle Grenze kann es keine, oder fast keine, mentale Bildlichkeit geben; ohne eine gewisse Blindheit keine haltbare Erscheinung.’ ⁸ Oder – wie Lacan es ausdrückte – ohne einen blinden Fleck im Gesichtsfeld, ohne diesen schwer fassbaren Punkt, von dem aus das Objekt den Blick zurückgibt, ‘sehen wir nicht mehr etwas’; das Gesichtsfeld wird auf eine flache Oberfläche reduziert, und ‘Realität’ selbst wird als visuelle Halluzination wahrgenommen.

•Die MUD-Technologie (Multiple User Domains) im Cyberspace unterminiert den Begriff des Selbst oder die Selbstidentität des wahrnehmenden Subjekts: Das Standardmotiv ‘postmoderner’ Autoren über den Cyberspace, von Stone ⁹ bis Turkle, lautet, dass Cyberspace-Phänomene wie MUD das dekonstruktivistische ‘dezentrierte Subjekt’ in unserer Alltagserfahrung greifbar machen. Die Lehre ist, dass man diese ‘Dissemination’ des einzigartigen Selbst in eine Vielheit konkurrierender Agenten, in einen ‘kollektiven Geist’, eine Pluralität von Selbstbildern ohne ein global koordinierendes Zentrum, bejahen und sie von pathologischem Trauma abkoppeln sollte: Das Spielen in Virtuellen Räumen ermöglicht es mir, neue Aspekte von ‘mir’ zu entdecken, einen Reichtum wechselnder Identitäten, von Masken ohne eine ‘reale’ Person hinter ihnen, und so den ideologischen Mechanismus der Produktion des Selbst, die immanente Gewalt und Willkür dieser Produktion/Konstruktion zu erfahren.

Diese drei Ebenen folgen einander logisch: Zuerst wird innerhalb der ‘objektiven Realität’ selbst der Unterschied zwischen ‘lebenden’ und ‘künstlichen’ Entitäten unterminiert; dann verwischt die Unterscheidung zwischen ‘objektiver Realität’ und ihrem Erscheinungsbild; schließlich explodiert die Identität des Selbst, das etwas wahrnimmt (sei es Erscheinung oder ‘objektive Realität’). Diese progressive ‘Subjektivierung’ ist strikt korrelativ zu ihrem Gegenteil, zur progressiven ‘Externalisierung’ des harten Kerns der Subjektivität. Diese paradoxe Koinzidenz der beiden entgegengesetzten Prozesse hat ihre Wurzeln darin, dass wir heute mit VR und Technobiologie es mit dem Verlust der Oberfläche zu tun haben, die Innen von Außen trennt. Dieser Verlust gefährdet unsere elementarste Wahrnehmung ‘unseres eigenen Körpers’ in seiner Beziehung zu seiner Umgebung; er lähmt unsere Standardhaltung der Phänomenologie gegenüber dem Körper einer anderen Person, in der wir unser Wissen darüber aussetzen, was unter der Haut tatsächlich existiert (Drüsen, Fleisch …), und die Oberfläche (etwa eines Gesichts) als unmittelbaren Ausdruck der ‘Seele’ begreifen. Einerseits ist Innen immer Außen: Mit der fortschreitenden Implantation und dem Ersatz unserer inneren Organe funktionieren techno-computerisierte Prothesen (Bypässe, Herzschrittmacher …) als ein innerer Teil unseres ‘lebenden’ Organismus; die Kolonisierung des äußeren Raums kehrt so ins Innere zurück, zur ‘Endokolonisierung’,¹⁰ der technologischen Kolonisierung unseres Körpers selbst. Andererseits ist Außen immer Innen: Wenn wir direkt in VR eingetaucht sind, verlieren wir den Kontakt zur Realität – Elektrowellen umgehen die Interaktion äußerer Körper und greifen unsere Sinne direkt an: ‘Es ist der Augapfel, der nun den ganzen Körper des Menschen umschließt’.¹¹

Ein weiterer Aspekt dieses Paradoxons betrifft die Weise, wie die progressive Immobilisierung des Körpers mit körperlicher Hyperaktivität überlappt: Einerseits verlasse ich mich immer weniger auf meinen eigentlichen Körper; meine körperliche Tätigkeit wird immer mehr darauf reduziert, Maschinen Signale zu geben, die die Arbeit für mich erledigen (Klicken auf eine Computermaus usw.); andererseits wird mein Körper gestärkt, ‘hyperaktiviert’, durch Bodybuilding und Jogging, pharmakologische Mittel und direkte Implantate, sodass paradoxerweise der hyperaktive Übermensch mit dem Krüppel zusammenfällt, der sich nur mittels durch einen Computerchip geregelter Prothesen fortbewegen kann (wie der Robocop). Die Perspektive ist somit, dass der Mensch allmählich seine Verankerung in der konkreten Lebenswelt verliert – das heißt das grundlegende Koordinatenset, das seine (Selbst-)Erfahrung bestimmt (die Oberfläche, die Innen von Außen trennt, eine unmittelbare Beziehung zum eigenen Körper usw.). Potenziell fällt totale Subjektivierung (die Reduktion der Realität auf ein elektromechanisch erzeugtes Cyberspace-‘Fenster’) mit totaler Objektivierung zusammen (die Unterordnung unseres ‘inneren’ Körperrhythmus unter ein Set von durch äußere Apparate geregelten Stimulationen). Kein Wunder, dass Stephen Hawking als eine der Ikonen unserer Zeit hervortritt: der Geist eines Genies (so sagt man uns), aber in einem Körper, der nahezu vollständig ‘mediatisiert’ ist, durch Prothesen gestützt, sprechend mit einer künstlichen, computergenerierten Stimme. Hawkings aktiver Kontakt mit seiner Umgebung ist auf einen schwachen Druck beschränkt, den er noch mit den Fingern seiner rechten Hand auszuüben vermag. Kurz: Seine populäre Anziehungskraft ist nicht von seiner schwächenden Krankheit zu trennen – von der Tatsache, dass sein Körper, reduziert zu einer unbeweglichen Fleischmasse, durch mechanische Prothesen funktionsfähig gehalten und mit der Welt durch Klicken auf eine Computermaus in Kontakt gebracht, uns etwas über den allgemeinen Zustand der Subjektivität heute sagt.

Auf einer fundamentaleren Ebene jedoch kennzeichnet diese ‘Entgleisung’ – dieses Fehlen von Halt, eines festen instinktiven Standards, in der Koordination zwischen dem natürlichen Rhythmus unseres Körpers und seiner Umgebung – den Menschen als solchen: Der Mensch als solcher ist ‘entgleist’; er isst mehr, als ‘natürlich’ ist; er ist stärker von Sexualität besessen, als ‘natürlich’ ist: Er folgt seinen Trieben mit einem Überschuss weit jenseits ‘natürlicher’ (instinktiver) Befriedigung, und dieser Überschuss des Triebs muss durch ‘zweite Natur’ (menschengemachte Institutionen und Muster) ‘bürgerlich gemacht’ werden. Die alte marxistische Formel von der ‘zweiten Natur’ ist daher wörtlicher zu nehmen, als gewöhnlich: Es geht nicht nur darum, dass wir es nie mit reinen natürlichen Bedürfnissen zu tun haben, dass unsere Bedürfnisse immer-schon durch den kulturellen Prozess vermittelt sind; vielmehr muss die Arbeit der Kultur den verlorenen Halt in den natürlichen Bedürfnissen wiederherstellen, eine ‘zweite Natur’ als Entschädigung für den Verlust des Halts in der ‘ersten Natur’ neu erschaffen – das menschliche Tier muss sich wieder an den elementarsten Körperrhythmus von Schlaf, Nahrungsaufnahme, Bewegung gewöhnen.

Was wir hier antreffen, ist die Schleife der (symbolischen) Kastration, in der man bemüht ist, die verlorene ‘natürliche’ Koordination auf der Leiter des Begehrens wiederherzustellen: Einerseits reduziert man Körpergesten auf das notwendige Minimum (von Klicks auf der Computermaus …); andererseits versucht man, verlorene körperliche Fitness durch Jogging, Bodybuilding usw. zurückzugewinnen; einerseits reduziert man Körpergerüche auf ein Minimum (durch regelmäßiges Duschen usw.); andererseits versucht man, ebendiese Gerüche durch Eau de Toilette und Parfüms wiederzugewinnen; und so weiter. Dieses Paradox ist im Phallus als Signifikant des Begehrens verdichtet – als der Umkehrpunkt, an dem der eigentliche Moment ‘spontaner’ natürlicher Kraft in ein künstliches prothetisches Element umschlägt. Das heißt: Gegen die Standardvorstellung des Phallus als Inbegriff männlicher ‘natürlicher’ penetrativ-aggressiver Potenz-Macht (der man dann den ‘künstlichen’ spielerischen prothetischen Phallus entgegensetzt) besteht der Punkt von Lacans Begriff des Phallus als Signifikant darin, dass der Phallus ‘als solcher’ eine Art ‘prothetische’, ‘künstliche’ Ergänzung ist: Er bezeichnet den Punkt, an dem der große Andere, eine dezentrierte Instanz, das Scheitern des Subjekts ergänzt. Wenn Judith Butler in ihrer Kritik an Lacan die Parallele zwischen Spiegelbild (Ideal-Ich) und phallischem Signifikanten betont,¹² sollte man den Fokus auf das Merkmal verschieben, das sie tatsächlich teilen: Sowohl Spiegelbild als auch Phallus qua Signifikant sind ‘prothetische’ Ergänzungen für die vorhergehende Zerstreuung/das Scheitern des Subjekts, für den Mangel an Koordination und Einheit; in beiden Fällen ist der Status dieser Prothese ‘illusorisch’, mit dem Unterschied, dass wir es im ersten Fall mit imaginärer Illusion zu tun haben (Identifikation mit einem dezentrierten unbeweglichen Bild), während die Illusion im zweiten Fall symbolisch ist; sie steht für den Phallus als reinen Schein. Die Opposition zwischen dem ‘wahren’, ‘natürlichen’ Phallus und der ‘künstlichen’ pro-thetischen Ergänzung (‘Dildo’) ist somit falsch und irreführend: Phallus qua Signifikant ist bereits ‘an sich ’ eine prothetische Ergänzung. (Dieser Status des Phallus erklärt auch Lacans Identifizierung der Frau mit dem Phallus: Was Phallus und Frau teilen, ist die Tatsache, dass ihr Sein auf reinen Schein reduziert ist. Insofern Weiblichkeit eine Maskerade ist, steht sie für den Phallus als den letztgültigen Schein.)

Zurück zur bedrohten Grenze/Oberfläche, die Innen von Außen trennt: Die Bedrohung dieser Grenze bestimmt die heutige Form der hysterischen Frage – das heißt: Heute steht Hysterie vorwiegend unter dem Zeichen der Verletzbarkeit, einer Bedrohung unserer körperlichen und/oder psychischen Identität. Man muss sich nur an die Allgegenwart der Logik der Viktimisierung erinnern, von sexueller Belästigung bis zu den Gefahren von Nahrung und Tabak, sodass das Subjekt selbst zunehmend auf ‘das, was verletzt werden kann’, reduziert wird. Die heutige Form der zwanghaften Frage ‘Bin ich lebendig oder tot?’ ist ‘Bin ich eine Maschine (funktioniert mein Gehirn wirklich wie ein Computer) oder ein lebender Mensch (mit einem Funken Geist oder etwas anderem, das nicht auf den Computerschaltkreis reduzierbar ist)?’; in dieser Alternative ist die Spaltung zwischen A (Autre) und J (jouissance), zwischen dem ‘großen Anderen’, der toten symbolischen Ordnung, und dem Ding, der lebendigen Substanz des Genießens, leicht zu erkennen. Nach Sherry Turkle durchläuft unsere Reaktion auf diese Frage drei Phasen: (1) die emphatische Behauptung eines irreduziblen Unterschieds: Der Mensch ist keine Maschine, es gibt etwas Einzigartiges an ihm …; (2) Angst und Panik, wenn wir uns all des Potenzials einer Maschine bewusst werden: Sie kann denken, schlussfolgern, unsere Fragen beantworten …; (3) Verleugnung, das heißt Anerkennung durch Verneinung: Die Garantie, dass es irgendein Merkmal des Menschen gibt, das dem Computer unzugänglich ist (erhabener Enthusiasmus, Angst …), erlaubt es uns, den Computer als ‘lebenden und denkenden Partner’ zu behandeln, da ‘wir wissen, dies ist nur ein Spiel, der Computer ist nicht wirklich so’.

Man betrachte, wie John Searles Polemiken gegen KI (sein Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers) ‘bürgerlich gemacht’ und in die alltägliche Haltung des Benutzers integriert wurden: Searle hat bewiesen, dass ein Computer nicht wirklich denken und Sprache verstehen kann – also kann ich, da es die ontologisch-philosophische Garantie gibt, dass die Maschine keine Bedrohung für menschliche Einzigartigkeit darstellt, die Maschine ruhig akzeptieren und mit ihr spielen … Ist nicht diese gespaltene Haltung, in der ‘Verleugnung und Aneignung jeweils an die andere gebunden sind’, eine neue Variation des alten philosophischen Spiels der ‘transzendentalen Illusion’, das Kant bereits apropos des Begriffs der Teleologie praktizierte – da ich weiß, dass der Computer nicht denken kann, kann ich in meinem Alltag so handeln, als ob er es wirklich täte?¹³

Identifizierungen, imaginäre und symbolische

Dieselbe Ambiguität bestimmt die Weise, wie wir uns zu unseren Screen-Personae verhalten:

•Einerseits bewahren wir eine Haltung äußerer Distanz, des Spielens mit falschen Bildern: ‘Ich weiß, ich bin nicht so (mutig, verführerisch …), aber es ist angenehm, von Zeit zu Zeit sein wahres Selbst zu vergessen und eine befriedigendere Maske aufzusetzen – so kann man sich entspannen, man ist der Last enthoben, das zu sein, was man ist, mit sich selbst zu leben und dafür voll verantwortlich zu sein …’ ¹⁴

•Andererseits kann die Screen-Persona, die ich mir erschaffe, ‘mehr ich selbst’ sein als meine ‘Real-Life’-Persona (mein ‘offizielles’ Selbstbild), insofern sie Aspekte von mir offenbart, die ich in RL niemals zuzugeben wagte. Sagen wir: Wenn ich anonym in MUD spiele, kann ich mich als promiskuitive Frau darstellen und Aktivitäten nachgehen, die, wenn ich mich ihnen in RL hingäbe, die Auflösung meines Sinns persönlicher Identität herbeiführen würden …

Diese beiden Aspekte sind natürlich untrennbar ineinander verschlungen: Gerade die Tatsache, dass ich mein virtuelles Selbstbild als bloßes Spiel wahrnehme, erlaubt mir, die üblichen Hemmnisse zu suspendieren, die mich daran hindern, meine ‘dunkle Seite’ in RL zu realisieren, und all mein libidinöses Potenzial frei zu externalisieren. Wenn ein Mann, der in seinen RL-sozialen Kontakten ruhig und schüchtern ist, in VR eine wütende, aggressive Persona annimmt, kann man sagen, dass er damit die verdrängte Seite seiner selbst ausdrückt, einen öffentlich nicht anerkannten Aspekt seiner ‘wahren Persönlichkeit’ – dass sein ‘elektronisches Es hier Flügel erhält’;¹⁵ man kann jedoch auch behaupten, dass er ein schwaches Subjekt ist, das über aggressiveres Verhalten fantasiert, um der Konfrontation mit seiner RL-Schwäche und Feigheit auszuweichen. Das Ausagieren einer Fantasieszene in VR erlaubt es uns, den Deadlock der Dialektik des Begehrens und seiner inhärenten Zurückweisung zu umgehen: Wenn ein Mann eine Frau mit koketten Versprechungen bombardiert, welche sexuellen Gefälligkeiten er ihr gerne erweisen würde, ist ihre beste Antwort: ‘Halt die Klappe, sonst musst du es wirklich tun!’ In VR kann ich es tun, es ausagieren, ohne es wirklich zu tun, und so die mit der RL-Aktivität verbundene Angst vermeiden – ich kann es tun, und da ich weiß, dass ich es nicht wirklich tue, sind Hemmung oder Scham suspendiert.

So lässt sich Lacans Diktum ‘Die Wahrheit hat die Struktur einer Fiktion’ lesen: Ich kann die verborgene Wahrheit über meine Triebe gerade insofern artikulieren, als ich mir bewusst bin, dass ich auf dem Bildschirm nur ein Spiel spiele. Im Cyberspace-Sex gibt es kein ‘Face-to-Face’, nur den äußeren unpersönlichen Raum, in dem alles, einschließlich meiner intimsten inneren Fantasien, ohne Hemmungen artikuliert werden kann … Was man hier in diesem reinen ‘Fluss des Begehrens’ antrifft, ist natürlich die unangenehme Überraschung dessen, was die Frankfurter Schule ‘repressive Desublimierung’ nannte: Das Universum, befreit von alltäglichen Hemmungen, erweist sich als ein Universum ungezügelter sadomasochistischer Gewalt und Herrschaftswille …¹⁶ Die übliche Klage über Cybersex lautet, dass wir statt der wirklich erregenden und intensiven Begegnung mit einem anderen Körper ein distanziertes, technologisch vermitteltes Verfahren bekommen. Doch ist nicht gerade diese Lücke, diese Distanz gegenüber unmittelbarem Erlebnis, etwas, das einer sexuellen Begegnung ebenfalls sexuelle Erregung hinzufügen kann? Menschen benutzen Pornographie (oder andere technische Sexgeräte) nicht nur, wenn ihnen ‘Fleisch-und-Blut’-Partner fehlen, sondern auch, um ihr ‘reales’ Sexleben ‘aufzupeppen’. Der Status der sexuellen Ergänzung ist damit wiederum radikal ambig und ‘unentscheidbar’: Sie kann das Spiel verderben, doch sie kann auch das Genießen intensivieren.

Um die beiden Pole dieser Unentscheidbarkeit zu begrifflich zu fassen, greift Turkle auf die Opposition zwischen ‘acting out’ und dem ‘working through’ der Schwierigkeiten von RL zurück:¹⁷ Ich kann der eskapistischen Logik folgen und meine RL-Schwierigkeiten in VR einfach ausagieren, oder ich kann VR dazu nutzen, mir der Inkonsistenz und Vielheit der Komponenten meiner subjektiven Identifizierungen bewusst zu werden und sie durchzuarbeiten. Im zweiten Fall funktioniert der Schnittstellen-Bildschirm wie ein Psychoanalytiker: Die Suspension der symbolischen Regeln, die meine RL-Aktivität regulieren, ermöglicht es mir, meinen verdrängten Inhalt zu inszenieren-zu externalisieren, dem ich mich sonst nicht zu stellen vermag. (Treffen wir hier nicht wieder die Logik der Annahme durch Verleugnung: Ich akzeptiere meine Fantasien insofern, als ‘ich weiß, es ist nur ein VR-Spiel’?) Dieselbe Ambiguität reproduziert sich in der Wirkung des Cyberspace auf das Gemeinschaftsleben. Einerseits gibt es den Traum vom neuen Populismus, in dem dezentralisierte Netze Individuen erlauben werden, sich zusammenzuschließen und ein partizipatorisches politisches Basis-System aufzubauen, eine transparente Welt, in der das Geheimnis undurchdringlicher bürokratischer Staatsagenturen zerstreut wird. Andererseits führt der Einsatz von Computern und VR als Werkzeug zum Wiederaufbau von Gemeinschaft zum Aufbau einer Gemeinschaft innerhalb der Maschine, wodurch Individuen zu isolierten Monaden reduziert werden, jede:r von ihnen allein, einem Computer gegenüber, letztlich unsicher, ob die Person, mit der sie oder er auf dem Bildschirm kommuniziert, eine ‘reale’ Person, eine falsche Persona, ein Agent ist, der eine Reihe ‘realer’ Menschen kombiniert, oder ein Computerprogramm … Wiederum ist die Ambiguität irreduzibel.

Diese Ambiguität ist jedoch, obwohl irreduzibel, nicht symmetrisch. Was man hier einführen sollte, ist die elementare lacanische Unterscheidung zwischen imaginärer Projektion-Identifikation und symbolischer Identifikation. Die knappste Definition symbolischer Identifikation ist, dass sie darin besteht, eine Maske anzunehmen, die realer und bindender ist als das wahre Gesicht darunter (gemäß Lacans Begriff, dass menschliches Vortäuschen das Vortäuschen des Vortäuschens selbst ist: In imaginärer Täuschung präsentiere ich schlicht ein falsches Bild von mir, während ich in symbolischer Täuschung ein wahres Bild präsentiere und darauf setze, dass es für eine Lüge gehalten wird …¹⁸). Ein Ehemann kann zum Beispiel seine Ehe als bloße gesellschaftliche Rolle aufrechterhalten und Ehebruch als ‘das Eigentliche’ betreiben; in dem Moment jedoch, in dem er mit der Wahl konfrontiert wird, seine Frau tatsächlich zu verlassen oder nicht, entdeckt er plötzlich, dass ihm die soziale Maske der Ehe mehr bedeutet als intensive private Leidenschaft … Die VR-Persona bietet somit einen Fall imaginärer Täuschung, insofern sie ein falsches Bild von mir externalisiert-zur-Schau-stellt (ein schüchterner Mann, der in MUD einen Helden spielt …), und eine symbolische Täuschung, insofern sie die Wahrheit über mich in Gestalt eines Spiels ausdrückt (indem ich spielerisch eine aggressive Persona annehme, lege ich meine wahre Aggressivität offen).

Mit anderen Worten: VR konfrontiert uns auf die radikalste vorstellbare Weise mit dem alten Rätsel transponierter/verschobener Emotionen.¹⁹ Auf einer etwas anderen Ebene begegnen wir demselben Paradox apropos TinySex: Was TinySex uns zu akzeptieren zwingt, ist die verwischte Trennlinie zwischen ‘Dingen’ und ‘bloßen Worten’. Ihre Trennung ist nicht einfach aufgehoben, sie ist noch da, aber verschoben – ein drittes Reich entsteht, das weder ‘reale Dinge’ noch ‘bloß Worte’ ist, sondern seine eigenen spezifischen (ethischen) Verhaltensregeln verlangt. Betrachten wir virtuellen Sex: Wenn ich mit einem Partner auf dem Bildschirm Sexspiele spiele und ‘bloße’ schriftliche Nachrichten austausche, ist es nicht nur so, dass die Spiele mich oder meinen Partner wirklich erregen und uns eine ‘reale’ orgasmische Erfahrung verschaffen können (mit dem weiteren Paradox, dass ich, wenn – und falls – ich später meinem Partner in RL begegne, tief enttäuscht, abgeturnt sein kann: Meine On-Screen-Erfahrung kann in gewissem Sinn ‘realer’ sein als die Begegnung in der Realität); es ist nicht nur so, dass mein Partner und ich über bloße sexuelle Erregung hinaus ‘wirklich’ ineinander verlieben können, ohne uns in RL zu begegnen. Was, wenn ich meinen Partner im Netz vergewaltige? Einerseits gibt es eine Lücke, die es von RL trennt – was ich tat, bleibt in gewissem Sinn näher an Unhöflichkeit, an grober, beleidigender Rede. Andererseits kann es tiefe Kränkung, sogar emotionale Katastrophe verursachen, die nicht auf ‘bloße Worte’ reduzierbar ist … Und – zurück zu Lacan – was ist dieses mittlere vermittelnde Niveau, dieses dritte Feld, das sich zwischen ‘realem Leben’ und ‘bloßer Einbildung’ einschiebt, dieses Feld, in dem wir es nicht direkt mit Realität zu tun haben, aber auch nicht mit ‘bloßen Worten’ (da unsere Worte reale Wirkungen haben), wenn nicht die symbolische Ordnung selbst ?

Wo ist das ‘dezentrierte Subjekt’?

Wenn dekonstruktivistische Cyberspace-Ideologen (im Gegensatz zu den vorherrschenden New-Age-Cyberspace-Ideologen) versuchen, den Cyberspace als eine ‘Real-Life’, ‘empirische’ Realisierung oder Bestätigung dekonstruktivistischer Theorien zu präsentieren, konzentrieren sie sich gewöhnlich darauf, wie der Cyberspace das Subjekt ‘dezentriert’. Sowohl Stone als auch Turkle nähern sich dies über die Beziehung zwischen Multiple User Domains und der posttraumatischen Multiplen Persönlichkeitsstörung (MPD). Es gibt vier Variationen der Beziehung zwischen dem Selbst und ‘seinem’ Körper, die die standardmäßige moralisch-rechtliche Norm ‘eine Person in einem Körper’ verletzen:

•viele Personen in einem einzelnen Körper (die ‘Pathologie’ von MPD): Diese Version ist ‘pathologisch’, insofern es keine klare Hierarchie zwischen der Pluralität von Personen gibt – keine Eine Person, die die Einheit des Subjekts garantiert;

•viele Personen außerhalb eines einzelnen Körpers (MUD im Cyberspace): Diese Personen beziehen sich auf den Körper, der außerhalb des Cyberspace, in der ‘Realität’, existiert, mit der (ideologischen) Voraussetzung, dass dieser Körper eine ‘wahre Person’ hinter den multiplen Masken (Screen-Personae) in VR beherbergt;

•viele Körper in einer einzigen Person : Diese Version ist wiederum ‘pathologisch’, insofern viele Körper unmittelbar mit einer einzigen kollektiven Person verschmelzen und dadurch das Axiom ‘ein Körper – eine Person’ verletzen. Man nehme die Fantasie von Aliens, ‘multiple Körper, aber ein kollektiver Geist’; oder den Fall der Hypnose, in dem die Person eines Körpers einen anderen Körper besitzt – ganz zu schweigen vom populären Bild ‘totalitärer’ Gemeinschaften, die wie eine Ameisenkolonie funktionieren – das Zentrum (Partei) kontrolliert ihre individuellen Geister vollständig …

•viele Körper außerhalb einer einzigen Person (Institution, ‘rechtliche’ – oder, wie man in Frankreich sagt, ‘moralische’ – Person). So verhalten wir uns ‘normalerweise’ zu einer Institution: Wir sagen ‘der Staat, die Nation, die Firma, die Schule … will dies’, obwohl ‘wir sehr wohl wissen’, dass die Institution keine tatsächlich lebende Entität mit einem eigenen Willen ist, sondern eine symbolische Fiktion.

Die hier zu vermeidende Versuchung ist, die Grenze, die in beiden Fällen das ‘Normale’ vom ‘Pathologischen’ trennt, zu hastig zu ‘dekonstruieren’. Der Unterschied zwischen dem Subjekt, das an MPD leidet, und dem Subjekt, das in MUD spielt, liegt nicht darin, dass im zweiten Fall noch ein Kern des Selbst fortbesteht, fest verankert in der ‘wahren Realität’ außerhalb des virtuellen Spiels. Das Subjekt, das an MPD leidet, ist vielmehr zu fest in der ‘wahren Realität’ verankert: Was ihm fehlt, ist gewissermaßen der Mangel selbst: die Leere, die für die konstitutive Dimension der Subjektivität verantwortlich ist. Das heißt: Die ‘multiplen Selbste’, die auf dem Bildschirm externalisiert werden, sind ‘was ich sein möchte’, die Weise, wie ich mich gerne sehen würde, die Repräsentationen meines Ideal-Ichs; als solche sind sie wie die Schichten einer Zwiebel: In der Mitte ist nichts, und das Subjekt ist dieses ‘Nichts’ selbst. Daher ist es entscheidend, hier die Unterscheidung zwischen ‘Selbst’ (‘Person’) und Subjekt einzuführen: Das lacanische ‘dezentrierte Subjekt’ ist nicht einfach eine Vielheit guter alter ‘Selbste’, partielle Zentren; das ‘geteilte’ Subjekt bedeutet nicht, dass es einfach mehr Egos/Selbste im selben Individuum gibt, wie in MUD. Die ‘Dezentrierung’ ist die Dezentrierung des $ (der Leere des Subjekts) in Bezug auf seinen Inhalt (‘Selbst’, das Bündel imaginärer und/oder symbolischer Identifizierungen); die ‘Spaltung’ ist die Spaltung zwischen $ und der phantasmatischen ‘Persona’ als dem ‘Stoff des Ichs’. Das Subjekt ist gespalten, selbst wenn es nur ein ‘einheitliches’ Selbst besitzt, da diese Spaltung die Spaltung zwischen $ und Selbst selbst ist … In topologischeren Begriffen: Die Teilung des Subjekts ist nicht die Teilung zwischen einem Selbst und einem anderen, zwischen zwei Inhalten, sondern die Teilung zwischen etwas und nichts, zwischen dem Merkmal der Identifizierung und der Leere.

‘Dezentrierung’ bezeichnet somit zunächst die Ambiguität, das Oszillieren zwischen symbolischer und imaginärer Identifikation – die Unentscheidbarkeit darüber, wo mein wahrer Punkt ist, in meinem ‘realen’ Selbst oder in meiner äußeren Maske, mit der möglichen Implikation, dass meine symbolische Maske ‘wahrer’ sein kann als das, was sie verbirgt, das ‘wahre Gesicht’ hinter ihr. Auf einer radikaleren Ebene verweist sie auf die Tatsache, dass das eigentliche Gleiten von einer Identifikation zur anderen oder unter ‘multiplen Selbsten’ die Lücke zwischen Identifikation als solcher und der Leere des $ (des ‘gestrichenen Subjekts’) voraussetzt, das sich identifiziert – als das leere Medium der Identifikation dient. Mit anderen Worten: Der Prozess des Wechselns unter multiplen Identifizierungen setzt eine Art leeres Band voraus, das den Sprung von einer Identität zur anderen möglich macht, und dieses leere Band ist das Subjekt selbst.

Um die ‘Dezentrierung’ des Subjekts klarer zu machen, sollten wir uns an den ‘Agenten’ im Cyberspace erinnern: ein Programm, das als mein Stellvertreter handelt und eine Reihe spezifischer Funktionen ausführt. Ein ‘Agent’ arbeitet in beide Richtungen: Einerseits kann er als meine Erweiterung dienen und für mich handeln, das immense Konglomerat an Informationen scannen und herauspicken, was mich interessiert, einfache (oder nicht so einfache) Aufgaben für mich erledigen (Nachrichten senden usw.); andererseits kann er auf mich einwirken und mich kontrollieren (zum Beispiel kann er automatisch meinen Blutdruck überprüfen und mich warnen, wenn er zu stark ansteigt). Ein solches Programm, das als mein Stellvertreter innerhalb des Cyberspace handelt, liefert eine nahezu perfekte Illustration des lacanischen Begriffs des Ichs im Gegensatz zum Subjekt: Ein Cyberspace-Agent ist nicht ‘ein anderes Subjekt’, sondern einfach das Ich des Subjekts, das Ich als Ergänzung des Subjekts – es ist natürlich eine Art ‘alter ego’, aber Lacans Punkt ist, dass das Ich selbst immer-schon ‘alter’ ist im Verhältnis zu dem Subjekt, dessen Ich es ist. Aus diesem Grund unterhält das Subjekt zu ihm die von Turkle beschriebene Beziehung der Annahme-durch-Verleugnung: ‘Man weiß sehr wohl, dass es bloß ein Programm ist, keine reale lebende Person’, aber gerade aus diesem Grund (d.h. weil man weiß, dass ‘es nur ein Spiel’ ist) kann man es sich erlauben, es wie einen fürsorglichen Partner zu behandeln … Hier begegnen wir erneut der radikalen Ambiguität der Cyberspace-Ergänzungen: Sie können unser Leben verbessern, uns von unnötigen Lasten befreien, aber der Preis, den wir zahlen, ist unsere radikale ‘Dezentrierung’ – das heißt, Agenten ‘mediatisieren’ uns auch. Da mein Cyberspace-Agent ein externes Programm ist, das in meinem Namen handelt, entscheidet, welche Informationen ich sehen und lesen werde, und so weiter, ist es leicht, sich die paranoide Möglichkeit vorzustellen, dass ein anderes Computerprogramm meinen Agenten, ohne dass ich es weiß, kontrolliert und dirigiert – wenn dies geschieht, werde ich sozusagen von innen her beherrscht; mein eigenes Ich ist nicht mehr meines.

Einer der Gemeinplätze über die Romantik ist, dass sie den Wahnsinn als positives Fundament der ‘Normalität’ behauptet: Nicht der Wahnsinn ist eine sekundäre und zufällige Verzerrung der Normalität; vielmehr ist die Normalität selbst nichts als verbürgerlichter/regulierter Wahnsinn (um Schelling zu zitieren) – auf diese Weise kündigt die Romantik klar die freudsche These an, dass das ‘Pathologische’ den Schlüssel zum ‘Normalen’ liefert. Lange vor der Romantik jedoch vertrat Malebranche denselben Ansatz. Im aufklärerischen Denken des achtzehnten Jahrhunderts fungierte der Blinde als Modell, das uns erlaubt, die Logik des Sehens zu begreifen: Wir können behaupten, das Sehen zu verstehen, erst wenn wir den Akt des Sehens in ein Verfahren übersetzen können, das auch einer Person zugänglich ist, die, gerade, nicht sieht.²⁰

In derselben Linie behauptet Malebranche, dass der ‘pathologische’ Fall, eine Hand zu fühlen, die man nicht hat, den Schlüssel liefert, um zu erklären, wie ein ‘normaler’ Mensch die Hand fühlt, die er tatsächlich besitzt – wie in der Psychoanalyse, wo das ‘Pathologische’ den Schlüssel zum ‘Normalen’ liefert. Kein Wunder also, dass Malebranche Lacans berühmte Pointe über den Wahnsinn faktisch vorweggenommen hat (‘Ein Verrückter ist nicht nur ein Bettler, der glaubt, er sei ein König, sondern auch ein König, der glaubt, er sei ein König’ – das heißt, der sein symbolisches Mandat direkt in seinen unmittelbaren natürlichen Eigenschaften gründet): In strikter Analogie behauptet Malebranche, dass ein Verrückter nicht nur eine Person ist, die ihre rechte Hand fühlt, ohne tatsächlich eine zu haben – das heißt eine Person, die Schmerz in ihren fehlenden Gliedmaßen fühlen kann – sondern auch eine Person, die eine Hand fühlt, die sie wirklich hat, da ich, wenn ich behaupte, meine Hand direkt zu fühlen, zwei ontologisch verschiedene Hände verwechsle: die materielle, körperliche Hand und die Repräsentation einer Hand in meinem Geist, die das Einzige ist, dessen ich mir tatsächlich bewusst bin. Ein Verrückter ist nicht nur ein Mann, der glaubt, er sei ein Hahn, sondern auch ein Mann, der glaubt, er sei direkt ein Mensch – das heißt: dieser materielle Körper, den er direkt als den seinen fühlt. Hier evoziert Malebranche die Problematik der zwei Körper, des gewöhnlichen materiellen und des erhabenen: Die Tatsache, dass ich das Gliedmaß, das ich nicht habe, vollständig fühlen kann, zeigt, dass die Hand, die ich fühle, nicht die körperliche Hand ist, sondern die Idee dieser Hand, die Gott in meinen Geist gepflanzt hat. (In seiner Klaviermusik nutzt Robert Schumann dieselbe Lücke mit einer Melodie aus, deren Auftreten erwartet wird – deren struktureller Platz konstruiert ist –, die dann aber nicht tatsächlich gespielt wird: Aus diesem Grund wird ihre Präsenz noch stärker gefühlt – siehe Anhang II unten.) Und ist nicht der Phallus jenes seltsame körperliche Organ, in dem körperliche und mentale Kausalität auseinandergehen und sich zugleich auf seltsame Weise überlagern (seine Erektion gehorcht nicht meinem bewussten Willen, dennoch kann ich eine unwillkürliche Erektion durch bloße Gedanken erlangen)? Vielleicht definiert diese gleichzeitige Trennung/Überlagerung die ‘symbolische Kastration’. Man kann daher sagen, dass der Phallus das ultimative okkasiona-listische Objekt ist: der Punkt, an dem die Lücke selbst, die die Reihe mentaler Ursachen von der Reihe körperlicher Ursachen trennt, in unseren Körper eingeschrieben wird …

Der phantasmatische Hypertext

Unser erstes Ergebnis ist somit, dass der Cyberspace die dem symbolischen Ordnungssystem konstitutive Lücke lediglich radikalisiert: (symbolische) Realität war immer-schon ‘virtuell’; das heißt: Jeder Zugang zur (sozialen) Realität muss durch einen impliziten phantasmatischen Hypertext gestützt werden. Wie funktioniert dieser Hypertext?

Ulu Grosbards Falling in Love wird gewöhnlich als misslungenes Remake von David Leans Brief Encounter abgetan: Was den Film jedoch vielleicht rettet, ist seine offene selbstreflexive Haltung: Bevor wir zum endgültigen Happy End gelangen (das Paar wird endgültig wiedervereint), werden alle anderen bekannten und möglichen Enden durchgespielt. Für einen kurzen Moment scheint es, als werde die verzweifelte Heldin Selbstmord versuchen; für einen weiteren kurzen Moment scheint es, als würden sich die beiden Liebenden ein Jahr nach der Trennung zufällig wieder begegnen, sich nur traurig Hallo sagen und dann auseinandergehen; und so weiter. Aufgrund all dessen wird dem Zuschauer mindestens zweimal versichert, dass das, was er sieht, bereits die letzte Szene des Films ist – unerwartet jedoch geht der Film weiter … Dieser implizite Verweis auf (mindestens) zwei andere mögliche Ausgänge ist kein bloßes intertextuelles Spiel, sondern beruht auf einer tieferen libidinösen Notwendigkeit: Nur vor dem Hinter-grund der zwei phantasmatischen Szenarien (Selbstmord; die melancholische Begegnung nach der Trennung) kann das Paar schließlich im ‘realen Leben’ wiedervereint werden. Auf der Ebene der Fantasie müssen diese beiden Szenarien eintreten, wenn die endgültige Wiedervereinigung im ‘realen Leben’ akzeptabel gemacht werden soll. Um es in etwas pathetischen Begriffen zu sagen: Das Paar kann im ‘realen Leben’ nur wiedervereint werden, wenn es auf der phantasmatischen Ebene eine doppelte suizidale Geste durchlaufen und den Verlust akzeptiert hat. Dies erlaubt es uns, die Standardvorstellung zu ergänzen, der zufolge es keine Realität ohne ihre phantasmatische Stütze gibt: Soziale Realität (in diesem Fall: die Realität der Wiedervereinigung des Paares) kann nur eintreten, wenn sie von (mindestens) zwei Fantasien, zwei phantasmatischen Szenarien, gestützt wird.

Testen wir diese Hypothese mit einigen anderen Beispielen. Le Père humilié, der letzte Teil von Paul Claudels Coufontaine-Trilogie, von Lacan als exemplarischer Fall der modernen Tragödie analysiert,²¹ konzentriert sich auf die Beziehung zwischen der schönen blinden Pensée und den beiden Brüdern, die sie lieben, Orion und Orso. Orions Liebe zu Pensée ist absolut, wahre Leidenschaft, aber gerade aus diesem Grund verlässt er sie nach einer Liebesnacht für das Schlachtfeld, wo er seinen gewaltsamen Tod findet (was wir hier natürlich antreffen, ist das Standardmotiv I-Can’t-Love-You-Unless-I-Give-You-Up). Andererseits ist Orsos Liebe zu Pensée der Standardrahmen liebevoller Gesinnung, dem diese bedingungslose Dimension fehlt: Mehr als alles andere möchte er mit ihr leben – das heißt, er zieht sie tatsächlich jedem und allem anderen vor, weshalb er sie bekommt (sie heiratet und Orions Sohn als seinen eigenen adoptiert), aber auf Sex mit ihr verzichten muss … eine nette Version von ‘es gibt kein sexuelles Verhältnis’: entweder eine dauerhafte mariage blanc oder die vollzogene Leidenschaft, die in der Tragödie enden muss. Man ist daher versucht zu behaupten, dass Orion und Orso zwei Aspekte ein und derselben Person sind, wie die Geliebte des alten Herrn in Buñuels Obscure Object of Desire, die von zwei verschiedenen Schauspielerinnen gespielt wird. Mit anderen Worten: Verkörpern diese beiden Versionen nicht die zwei Szenarien, die auf der phantasmatischen Ebene eintreten müssen, wenn eine ‘normale’ Ehe, die scheinbar beide Aspekte vereinigt (ich lebe mit einer Frau, die ich liebe, und habe mit ihr ein Kind), stattfinden soll? Ist nicht eine solche doppelte Entsagung die Bedingung dessen, was wir ‘Glück’ nennen?

Auf einer anderen Ebene des politischen Prozesses ist dieselbe Logik eines doppelten phantasmatischen Hintergrunds in Meet John Doe erkennbar, Frank Capras Schlüssel-Film und der Wendepunkt in seiner Karriere: Er markiert den Übergang vom sozialen Populismus von Mr Deeds und Mr Smith zur christlichen Haltung von It’s a Wonderful Life. Meet John Doe ist die Geschichte eines arbeitslosen Mannes (Gary Cooper), der angeheuert wird, eine nicht existierende fiktive Figur zu verkörpern, die von einer manipulativen Journalistin (Barbara Stanwyck) erfunden wurde, um öffentliches Mitgefühl zu erregen; der ganze Schwindel wird von Norton, dem Zeitungsbesitzer und einem großen Mogul, orchestriert, um seine protofaschistischen diktatorischen Ziele voranzutreiben. Das erste unheimliche Merkmal des Films ist, dass er die Menge nicht als idealisierte Gemeinschaft mitleidsvoller einfacher Leute darstellt, sondern als instabile, unzuverlässige Meute, die zwischen den beiden Exzessen sentimentaler Solidarität und Gewalt oszilliert (lange vor Freud war ein solcher Begriff der Menge bereits von Spinoza theorisiert worden). Der weitere Punkt ist, dass Gary Coopers Figur nicht als ursprünglich guter und unschuldiger Mann dargestellt wird, der durch dunkle manipulative Kräfte oder das Schicksal selbst in einen gewaltsamen Konflikt geworfen wird (wie in den beiden Mr-Filmen), sondern als opportunistischer Verlierer, der zunächst zustimmt, an einem Schwindel teilzunehmen, und erst allmählich dadurch erlöst wird, dass er die Sache, die er zu personifizieren gezwungen ist, ernst nimmt, sodass er schließlich bereit ist, sein Leben zu opfern, um die Ernsthaftigkeit seines Engagements zu beweisen. Das Selbstmordmotiv bei Capra ist häufiger präsent, als es erscheinen mag (es ist auch zentral für It’s a Wonderful Life); doch nur in Meet John Doe nimmt es die Schlüsselrolle als das einzige Mittel an, das Doe bleibt, um zu beweisen, dass seine Sache kein Fake ist.

Dieser Deadlock manifestiert sich klar im offensichtlichen Scheitern des Filmendes (das misslungene Ende ist der übliche Ort, an dem die Inkonsistenz des ideologischen Projekts eines Werks sichtbar wird – was Così fan tutte zentral für Mozarts Opernprojekt macht, ist gerade das Scheitern seines Finales). Das Ende des Films wurde nach einer langen Phase des Zögerns festgelegt, in der eine ganze Reihe verschiedener Enden erwogen wurden; das bestehende pseudochristologische Ende beinhaltet die ideologische Geste, den Deadlock der anderen in Erwägung gezogenen Enden aufzulösen.

In der ersten Version endete der Film mit der Kongressszene, in der John Doe versucht, den Schwindel anzuprangern, und mit Nortons vollständigem Sieg über John Doe: Als Doe versucht, der Menge zu erklären, was tatsächlich geschehen ist, wird der Strom abgeschaltet und seine Stimme wird nicht gehört … In der zweiten Version, der wahrhaft christologischen, hält Doe sein Versprechen ein und tötet sich tatsächlich – er springt vom Wolkenkratzer, während Norton und andere zusehen; der Colonel, Does Freund, nimmt seinen Körper in die Arme. (Bezeichnenderweise invertiert diese Pietà-Komposition diejenige, die wir in der Endversion sehen, wo es Doe selbst ist, der Annas Körper in die Arme nimmt.) In der dritten wird Norton gebrochen und verspricht, dass die wahre John-Doe-Geschichte in seinen Blättern gedruckt werden wird …²² Die Version, die wir tatsächlich haben – wenn Doe tatsächlich Selbstmord begehen will, redet ihn die Menge seiner Anhänger, die zuschaut, davon ab, und gemeinsam schwören sie, eine neue, authentische John-Doe-Bewegung zu bilden, außerhalb der Reichweite von Nortons Manipulationen – ist somit als Auflösung des Deadlocks zu lesen, von dem die zuvor erwogenen Versionen Zeugnis ablegen.

Jedes Ende ist auf seine Weise unbefriedigend: Die ersten beiden (die Niederlage von Does Sache; Does Tod) sind zu düster; das dritte ist zu lächerlich in der Einfachheit von Nortons Bekehrung zum Guten. Die ersten beiden Versionen sind die einzigen konsistenten, da sie die Spannung zwischen der Authentizität von Does Sache und der Falschheit seiner Geschichte (der Tatsache, dass er ein Fake ist) auf die einzigen zwei möglichen Arten lösen: Entweder überlebt Doe, und die Sache ist verloren und diskreditiert; oder die Sache ist gerettet, aber Doe muss dafür mit seinem Leben bezahlen. Beide Lösungen waren jedoch für den Hollywood-ideologischen Rahmen unakzeptabel. Capra wollte beides (Doe lebendig, ebenso wie seine Sache gerettet), also bestand sein Problem darin, Does Leben zu verschonen, ohne sein Gelübde, sich zu töten, zu einer leeren Geste zu machen, die nicht ernst genommen werden sollte. Die Lösung war, dass die einfachen Leute, die Mitglieder seiner Bewegung, die einzigen waren, die ihn effektiv davon überzeugen konnten, sich nicht das Leben zu nehmen.

Das Ende, das wir tatsächlich sehen, ist somit vor dem Hintergrund der anderen erwogenen Enden zu lesen, wie in Hitchcocks Notorious, einem Film, der vielleicht einen Teil seiner starken Wirkung der Tatsache verdankt, dass sein dénouement vor dem Hintergrund von mindestens zwei anderen möglichen Ausgängen wahrgenommen werden sollte, die in ihm wie eine Art alternative Geschichte nachklingen.²³ Das heißt: In der ersten Story-Outline gewinnt Alicia am Ende Erlösung, verliert aber Devlin, der getötet wird, als er sie von den Nazis rettet. In der letzten Szene, zurück in den USA, besucht sie Devlins Eltern und zeigt ihnen eine Auszeichnung des Präsidenten, die sowohl sie als auch Devlin für ihre heroischen Taten würdigt. In einer weiteren Ausarbeitung dieser ersten Version wurde die klimaktische Party-Szene hinzugefügt, und der Film sollte mit ihr schließen: Devlin hält die Nazis lange genug hin, damit Alicia entkommen kann, aber er wird überfallen und getötet, während sie draußen wartet. Die Idee war, dass dieser Akt die Spannung zwischen Devlin, der außerstande ist, Alicia seine Liebe zu ihr einzugestehen, und Alicia, die außerstande ist, sich als liebenswert wahrzunehmen, lösen sollte: Devlin gesteht ihr seine Liebe ohne Worte, indem er stirbt, um ihr Leben zu retten. In der finalen Szene finden wir Alicia zurück in Miami bei ihrer Gruppe trinkender Freunde: Obwohl sie ‘notorious’ ist wie nie zuvor, hat sie im Herzen die Erinnerung an einen Mann, der sie liebte und für sie starb, und – wie Hitchcock es in einem Memo an Selznick formulierte – ‘für sie ist dies dasselbe, als hätte sie ein Leben der Ehe und des Glücks erreicht’.

In der zweiten Hauptversion ist der Ausgang der entgegengesetzte: Wir haben bereits die Idee einer langsamen Vergiftung Alicias durch Sebastian und seine Mutter. Devlin stellt die Nazis zur Rede und flieht mit Alicia, aber Alicia stirbt dabei. Im Epilog sitzt Devlin allein in einem Café in Rio, wo er Alicia früher getroffen hat, und hört Menschen darüber sprechen, dass Sebastians lüsterne und verräterische Frau gestorben sei. Der Brief in seiner Hand ist jedoch eine Auszeichnung von Präsident Truman, die Alicias Tapferkeit würdigt. Devlin steckt den Brief ein und trinkt aus … In einer weiteren (wohl der schlechtesten) Version, erdacht von keinem Geringeren als Clifford Odets, entkommen Alicia und Devlin Sebastians Haus zusammen mit Sebastian und seiner Mutter, die die beiden Liebenden mit vorgehaltener Waffe festhält; jedoch gerät die Mutter in Rage und erschießt ihren Sohn, und beim folgenden Zusammenstoß stirbt sie selbst, sodass alles gut endet … Schließlich wurde die Version, die wir kennen, erreicht, mit einem Finale, das nahelegt, dass Devlin und Alicia nun verheiratet sind. Hitchcock ließ dieses Finale dann weg, um auf einer tragischeren Note zu enden, mit Sebastian, der Alicia wirklich liebte, zurückgelassen, um dem tödlichen Zorn der Nazis entgegenzutreten. (Schon im Blickdreieck der berühmten Party-Szene ist Sebastians Blick der des impotenten Beobachters.)

Der Punkt ist, dass wir, wenn wir die explizite Geschichte richtig erfassen wollen, sie auf die lévi-strauss’sche Weise lesen sollten, vor dem Hintergrund von (und im Kontrast zu) den zwei alternativen Geschichten. Das heißt: Es gibt definitiv ein hitchcockianisches Schibboleth; unter der Standardvorstellung von Hitchcock – dem großen kommerziellen Unterhalter, dem ‘Master of Suspense’ – gibt es einen anderen Hitchcock, der auf unerhörte Weise die Ideologiekritik praktizierte. Der Zuschauer, der nicht geübt darin ist, dieses hitchcockianische Schibboleth zu erkennen, wird die Weise verfeckt, in der beide alternativen Enden (Devlins und Alicias Tod) in den Film aufgenommen sind, als eine Art phantasmatischer Hintergrund der Handlung, die wir auf der Leinwand sehen: Wenn sie ein Paar konstituieren sollen, müssen sowohl Devlin als auch Alicia den ‘symbolischen Tod’ durchlaufen, sodass das Happy End aus der Kombination zweier unglücklicher Enden hervorgeht – das heißt: Diese zwei alternativen phantasmatischen Szenarien stützen das dénouement, das wir tatsächlich sehen.

Gegen Ende des Films durchläuft Alicia einen ‘symbolischen Tod’ in Gestalt des langen und schmerzhaften Prozesses langsamer Vergiftung, der sie beinahe tötet. (Devlins ‘symbolischer Tod’ hat eine andere Form, die des offenen Eingeständnisses seiner Liebe zu Alicia, ein Akt, der die radikale Neuformulierung seiner subjektiven Identität einschließt: Nachdem er es getan hat, ist er nicht mehr ‘derselbe Devlin’ – um es in etwas pathetischen Begriffen zu sagen: In dem Moment, in dem er ihr seine Liebe eingesteht, stirbt sein altes Ich.) Aus dieser kurzen Beschreibung sollte bereits klar sein, wie stark der ideologiekritische Stoß dieses hitchcockianischen Schibboleths ist: Es legt die gesamte Problematik des Sexismus offen – die Weise, wie männliche Identität durch durchsetzungsfähige Weiblichkeit bedroht ist, ebenso wie den traumatischen Preis, den eine Frau zahlen muss, um eine ‘normale Ehefrau’ zu werden (Alicias Tortur durch Vergiftung – wie Melanies Beinahe-Tod gegen Ende von The Birds – zeigt, wie nur eine gedämpfte, immobilisierte Frau, der die Autonomie des Handelns entzogen ist, in die eheliche Bindung mit dem Helden eintreten kann).²⁴

Zurück zu Meet John Doe : Worin besteht also die Auflösung des Films? Viel ist über den christologische Bezug des Films geschrieben worden (der Held erträgt am Ende seinen Kreuzweg, der offensichtliche Bezug auf die Pietà, wenn er seine geliebte Anna [Barbara Stanwyck], die Maria Magdalena des Films, trägt). Was tatsächlich geschieht, ist jedoch nicht die christologische Geste der Erlösung des Kollektivs durch das Opfer des Führers: Die Lösung, die der Film vorschlägt, ist keine religiöse Flucht. Was wir am Ende in Wirklichkeit antreffen, ist eine andere Opfergeste, die offenkundig in der Oper am Werk ist, besonders bei Mozart. Mit dem letzten Deadlock konfrontiert, bekräftigt der Held heroisch seine Bereitschaft zu sterben, alles zu verlieren, alles aufs Spiel zu setzen, und genau in diesem Moment heroischer suizidaler Selbstpreisgabe greift die Höhere Macht (der König, die Göttlichkeit) ein und verschont sein Leben. (In Glucks Orfeo greift die Göttlichkeit in genau dem Moment ein und gibt Orpheus seine Eurydike zurück, in dem er das Messer hebt, um sich zu töten; in Mozarts Die Zauberflöte greifen die Drei Knaben in genau dem Moment ein, in dem Pamina bereit ist, sich zu erstechen, und später, wenn der verzweifelte Papageno im Begriff ist, sich zu erhängen; in Idomeneo greift Neptun in genau dem Moment ein, in dem König Idomeneo sein Schwert hebt, um die traurige Pflicht zu erfüllen, seinen geliebten Sohn zu opfern; bis hin zu Wagners Parsifal, in dem Parsifal selbst in genau dem Punkt eingreift, an dem König Amfortas seine Ritter auffordert, ihn zu erstechen und so seine Qual zu beenden.²⁵)

Capras Lösung, den Helden in genau dem Moment zu retten, in dem er die Ernsthaftigkeit seiner suizidalen Absicht zeigt (man kann alles haben nur, wenn man den ‘Nullpunkt’ durchläuft und bereit ist, alles zu verlieren), folgt somit einer alten Tradition. Diese Geste als solche ist nicht notwendig mystifizierend, sodass das Problem des Films nicht darin liegt, dass er sich für diese Lösung entscheidet. Das heißt: Diese Geste passt vollkommen zu der Tatsache, dass im Unterschied zu den beiden populistischen Mr-Filmen der Held von Doe nicht von vornherein ein unschuldiger netter Kerl ist, sondern ein verwirrter Opportunist, ein Opfer, das erst allmählich, durch einen schmerzhaften Bildungsprozess, in seine Rolle als Doe hineinwächst: In diesem Sinn muss ein suizidaler Moment eintreten, in dem der Held die falsche Position abwirft und eine authentische Position annimmt. Die Position von Gary Cooper in Meet John Doe ist daher in gewisser Weise analog zu der von Cary Grant in Hitchcocks North by Northwest: In beiden Filmen besetzt, füllt, das Subjekt den leeren Platz in einem bereits existierenden symbolischen Netzwerk: Zuerst gibt es den Signifikanten ‘George Kaplan’ oder ‘John Doe’, dann findet sich die Person (Roger O. Thornhill, der anonyme arbeitslose Mann) in der Lage, diesen Platz einzunehmen. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen ist, dass Gary Cooper (wie de Sica in Rossellinis General della Rovere) sich allmählich mit diesem symbolischen Platz identifiziert und ihn vollständig übernimmt, bis zu dem Punkt, an dem er bereit ist, sein Leben darauf zu setzen.

Diese Entwicklungslinie ist im eigentlichen Sinn materialistisch: Sie erklärt den Prozess, im Verlauf dessen eine Bewegung, die zu Beginn eine manipulierte Bewegung mit einem gefälschten Führer war, über ihre anfänglichen Bedingungen hinauswachsen und sich in eine authentische Bewegung verwandeln kann. Das heißt: weit interessanter als die idealistische Erzählung von allmählich korrumpierter Unschuld ist die gegenteilige Geschichte: da wir alle innerhalb der Ideologie leben, ist das wahre Rätsel, wie wir über unsere ‘korrumpierte’ Ausgangsbedingung hinauswachsen können – wie etwas, das als ideologische Manipulation geplant war, plötzlich auf wundersame Weise anfangen kann, ein authentisches Eigenleben zu führen. (Im Fall der Religion etwa sind die interessantesten Fälle jene – wie die Jungfrau von Guadalupe in Mexiko –, in denen das von den Kolonisatoren zunächst aufgezwungene ideologische Gebäude von den Unterdrückten als Mittel der Artikulation ihrer Beschwerden angeeignet und gegen die Unterdrücker selbst gewendet wurde.)

Es ist also an der Idee, dass der Held durch seine suizidale Geste keine Marionettenfigur mehr ist, die vom protofaschistischen Norton manipuliert wird – dass er sich selbst erlöst und frei ist, seine Bewegung neu zu beginnen –, nichts inhärent Falsches. Das Problem liegt anderswo. Der Film schließt mit dem Versprechen, dass es nun, nach Does Erlösung, möglich sein werde, die Doe-Bewegung wieder zusammenzusetzen, diesmal jedoch in reiner Form, befreit von Nortons (d.h. protofaschistischer) Manipulation, als authentische Bewegung des Volkes selbst; der einzige Inhalt dieser Bewegung ist jedoch leere populistische sentimentale Solidarität und Nächstenliebe – kurz: Was wir erhalten, ist genau dieselbe Ideologie wie die, die zuvor von Norton propagiert wurde. Um Marx’ bekannte Anklage gegen Proudhon aus Das Elend der Philosophie zu paraphrasieren: Statt der Darstellung wirklicher Menschen, die in einer ideologischen Illusion gefangen und in sie hineinmanipuliert sind, bekommen wir diese Illusion selbst, ohne die wirklichen Menschen und Bedingungen, in denen sie gedeiht …

Man sollte sich die rein formale Natur einer solchen Geste ‘authentischen Kontakts’ vor Augen halten: Es ist durchaus möglich, ein Gefühl wahrhaftigen Dazugehörens zu einer Sache hervorzurufen, indem man einfach darauf besteht, dass die Dinge nun wirklich echt seien, dass wir es wirklich ernst meinten, ohne den Inhalt der Sache zu spezifizieren (siehe die parodistische Rede, die Adorno in seinem Jargon der Eigentlichkeit zitiert). Der Faschismus bezieht sich direkt auf diese formale Leere der Zugehörigkeitsgeste, auf die Befriedigung, die durch die Bindung an die Form als solche bereitgestellt wird: Die Botschaft lautet zu gehorchen, sich für die Sache zu opfern, ohne zu fragen warum – der Inhalt der Sache ist sekundär und letztlich irrelevant. In Kiss of the Spider Woman handelt eine der Geschichten, die William Hurt Raul Julia erzählt, von einer Frau in Frankreich während der deutschen Besatzung, die in einen hochrangigen Nazi-Offizier verliebt ist, aber von den Handlungen der Nazis entsetzt ist; um ihre Ängste zu beschwichtigen, nimmt der Nazi sie in sein Büro und erklärt ihr die tiefsten Geheimnisse der Nazi-Anstrengung (wie sie die Dinge in Wahrheit tun, um dem Volk zu helfen, die tiefe Liebe, die sie bewegt …), und sie versteht und akzeptiert seine Erklärung. Natürlich erfahren wir nie, was diese tiefen Motivationen sind, aber diese Geste, in ihrer eigenen Leere, in der Primatstellung der Form über den Inhalt, ist Ideologie in ihrer reinsten Form.

Auf dieselbe Weise ist die Lösung von Doe scheinbar ‘radikal’ (eine ‘wahre’ populistische Bewegung, nicht länger manipuliert von – und das Spiel spielend für – dem großen Kapital), doch gerade als solche ist sie stricto sensu leer, eine selbstreferentielle Behauptung von Authentizität, eine Art hohler Behälter, offen für eine Vielzahl inkompatibler Lesarten, vom Faschismus bis zum Kommunismus: Wir erfahren nie, worin, präzise, dieser neue Populismus bestehen wird, und eben diese Leere ist Ideologie. Mit anderen Worten: Was fehlt, ist schlicht die Wendung zur Organisierung einer Arbeiterbewegung und zur Veränderung der sehr materiellen Bedingungen, in denen Leute wie Norton gedeihen können. Die Lösung wäre authentisch, wenn wir die Geburt einer wirklich radikalen (kommunistischen) politischen Bewegung erleben würden, die darauf zielt, die politische und ökonomische Macht von Leuten wie Norton zu zerstören, die die Bewegung überhaupt erst effektiv korrumpierten. Die Leere der bestehenden Lösung wird evident, wenn man versucht, sich eine mögliche Fortsetzung des Films vorzustellen: Was wird folgen? Wird es möglich sein, dass der neue authentische Doe-Populismus in derselben Gesellschaft gedeiht, die ihn als Mittel der Manipulation zusammengebraut hat? Oder, wenn wir die bekannte allegorische Dimension des Films ernst nehmen, ist Doe eine Art Capra-Selbstporträt (Capra war durch seinen eigenen Erfolg traumatisiert; er durchlief eine Art ‘Investiturkrise’ und hielt sich für einen Fake, unfähig, wie er war, die Tatsache zu akzeptieren, dass er der Autor war, der eine solche Begeisterung im Publikum hervorrufen konnte; andererseits hielt er sich für manipuliert von den Studiobossen, den realen Nortons)? Die vom Film vorgeschlagene Auflösung ist genau korrelativ zu der Tatsache, dass Capra selbst mit seiner populistischen Narrheit fortfahren durfte, insofern er die Macht des Studiosystems nicht effektiv in Frage stellte.

Die Suspendierung des Herrn

Das höchste Beispiel symbolischer Virtualität ist natürlich das der (psychoanalytischen Vorstellung der) Kastration: Das Merkmal, das die symbolische Kastration von der ‘realen’ Art unterscheidet, ist gerade ihr virtueller Charakter. Das heißt: Freuds Begriff der Kastrationsangst hat überhaupt nur dann irgendeinen Sinn, wenn wir annehmen, dass die Drohung der Kastration (die Aussicht auf Kastration, die ‘virtuelle’ Kastration) bereits reale ‘kastrierende’ Effekte hervorbringt. Diese Wirklichkeit des Virtuellen, die die symbolische Kastration im Gegensatz zur ‘realen’ Art definiert, muss mit dem Grundparadox der Macht verbunden werden, dass symbolische Macht per Definition virtuell ist, Macht-in-Reserve, die Drohung ihres vollen Einsatzes, die tatsächlich nie eintritt (wenn ein Vater die Beherrschung verliert und explodiert, ist dies per Definition ein Zeichen seiner Ohnmacht, so schmerzhaft es auch sein mag). Die Konsequenz dieser Verschmelzung von Aktuellem mit Virtuellem ist eine Art Transsubstantiation: Jede tatsächliche Aktivität erscheint als ‘Erscheinungsform’ einer anderen ‘unsichtbaren’ Macht, deren Status rein virtuell ist – der ‘reale’ Penis wird zur Erscheinungsform des (virtuellen) Phallus, und so weiter. Das ist das Paradox der Kastration: Was immer ich in der Realität mit meinem ‘realen’ Penis tue, ist nur Verdopplung, als Schatten folgend, eines anderen virtuellen Penis, dessen Existenz rein symbolisch ist – das heißt: Phallus als Signifikant. Man erinnere sich an das Beispiel eines Richters, der im ‘realen Leben’ eine schwache und korrupte Person ist, aber in dem Moment, in dem er die Insignien seines symbolischen Mandats anlegt, ist es der große Andere der symbolischen Institution, der durch ihn spricht: Ohne die Prothese seines symbolischen Titels würde seine ‘reale Macht’ augenblicklich zerfallen. Und Lacans Punkt apropos des Phallus als Signifikant ist, dass dieselbe ‘institutionelle’ Logik bereits im intimsten Bereich männlicher Sexualität am Werk ist: So wie ein Richter seine symbolischen Krücken, seine Insignien, braucht, um seine Autorität auszuüben, braucht ein Mann den Bezug auf den abwesend-virtuellen Phallus, damit sein Penis seine Potenz ausüben kann.

Die Schweizer Bürokratie liefert einen anschaulichen Fall dieser Wirksamkeit der Virtualität. Ein Ausländer, der in der Schweiz unterrichten will, muss vor einer staatlichen Behörde namens Comité de l’habitant erscheinen und ein Certificat de bonne vie et mœurs beantragen; das Paradox ist natürlich, dass niemand dieses Zertifikat bekommen kann – das Meiste, was ein Ausländer im Fall einer positiven Entscheidung bekommen kann, ist ein Papier, das feststellt, dass es ihm nicht verweigert werden soll – eine doppelte Negation, die jedoch noch keine positive Entscheidung ist.²⁶ So behandelt die Schweiz gerne einen unglücklichen ausländischen Arbeiter: Dein Aufenthalt dort kann niemals vollständig legitimiert werden; das Meiste, was du bekommen kannst, ist die Zulassung, die es dir erlaubt, in einer Art Zwischenzustand zu wohnen – du wirst niemals positiv akzeptiert, du wirst nur noch nicht abgelehnt und so mit einem vagen Versprechen zurückbehalten, dass du in irgendeiner unbestimmten Zukunft eine Chance hast …

Ferner hat der Begriff der ‘Schnittstelle’ seine vordigitalen Vorläufer: Ist nicht die berüchtigte quadratische Öffnung in der Seitenwand der Toilette, in der ein Schwuler einem anonymen Partner auf der anderen Seite einen Teil seines Körpers (Penis, Anus) anbietet, eine weitere Version der Schnittstellenfunktion? Wird das Subjekt dadurch nicht auf das Partialobjekt als das ursprüngliche phan-tasmatische Objekt reduziert? Und ist nicht diese Reduktion des Subjekts auf ein Partialobjekt, das im Zwischenraum-Öffnung angeboten wird, zugleich die elementare sadistische Szene? Wenn jedoch die Dimension der Virtualität und die Funktion der ‘Schnittstelle’ der symbolischen Ordnung wesensgleich sind, worin besteht dann der ‘digitale Bruch’? Beginnen wir mit einer anekdotischen Beobachtung. Wie jede:r Akademiker:in weiß, besteht das Problem des Schreibens am Computer darin, dass es potenziell den Unterschied zwischen ‘bloßen Entwürfen’ und der ‘Endfassung’ suspendiert: Es gibt keine ‘Endfassung’ oder keinen ‘definitiven Text’ mehr, da der Text in jedem Stadium ad infinitum weiter bearbeitet werden kann – jede Version hat den Status von etwas ‘Virtuellem’ (Bedingtem, Provisorischem) … Diese Unsicherheit eröffnet natürlich den Raum der Forderung nach einem neuen Herrn, dessen willkürliche Geste irgendeine Version zur ‘Endgültigen’ erklärt und dadurch den ‘Zusammenbruch’ der virtuellen Unendlichkeit in definitive Realität herbeiführt.

Hacker in Kalifornien praktizieren eine Computer-Manipulation der Star-Trek-Serie, sodass sie der ‘offiziellen’ TV-Handlung Szenen expliziter sexueller Begegnungen hinzufügen, ohne irgendeinen ‘offiziellen’ Inhalt zu verändern (zum Beispiel: nachdem die zwei männlichen Helden einen Raum betreten und die Tür schließen, sehen wir ein homosexuelles Spiel zwischen ihnen …). Die Idee ist natürlich nicht einfach, die TV-Serie zu ironisieren oder zu verfälschen, sondern ihre unausgesprochenen Implikationen ans Licht zu bringen (die homoerotische Spannung zwischen den beiden Helden ist für jede:n Zuschauer:in klar erkennbar …).²⁷ Solche Veränderungen hängen nicht direkt von technischen Bedingungen ab (der Fähigkeit des Computers, lebensechte Bilder zu erzeugen); sie setzen auch die Suspendierung der Funktion des Herrn voraus, kraft derer – potenziell zumindest – es keine ‘definitive Version’ mehr gibt. In dem Moment, in dem wir diesen Bruch im Funktionieren der symbolischen Ordnung akzeptieren, eröffnet sich auch eine völlig neue Perspektive auf die traditionelle ‘geschriebene’ Literatur: Warum sollten wir nicht beginnen, Umschreibungen kanonischer Meisterwerke zu produzieren, zu denen man, ohne den ‘expliziten’ Inhalt zu verändern, detaillierte Beschreibungen sexueller Aktivität, zugrunde liegender Machtverhältnisse und so weiter hinzufügen würde, oder die Geschichte einfach aus einer anderen Perspektive nacherzählen, wie Tom Stoppard es in seiner Nacherzählung von Hamlet aus dem Standpunkt zweier marginaler Figuren tat (Rosencrantz and Guildenstern Are Dead)? Hamlet selbst erzeugt sofort eine ganze Reihe von Ideen: Hamlet wird von seiner Mutter zur Inzestbeziehung verführt (oder vergewaltigt er sie selbst)? Ophelia tötet sich durch Ertrinken, weil sie von Hamlet schwanger ist? Wäre es nicht auch erhellend, kanonische Liebestexte aus dem feministischen Standpunkt umzuschreiben (etwa die Tagebücher der Frau zu produzieren, die Objekt männlicher Avancen in ‘The Diary of a Seducer’ aus Kierkegaards Entweder/Oder ist)?²⁸

In Deutschland wurde kürzlich eine ganze Sammlung von Kurzgeschichten geschrieben, die große westliche Erzählungen von Ödipus bis Faust aus dem Standpunkt der beteiligten Frau neu erzählen (Jokaste, Margaretha); noch interessanter ist der Fall der neuen Version eines von einer Frau geschriebenen Romans aus der romantischen Frauenperspektive, die den Fokus auf eine andere Frau verschiebt – wie Jean Rhys’ Wide Sargasso Sea, das Charlotte Brontës Jane Eyre aus dem Standpunkt der ‘verrückten Frau auf dem Dachboden’ nacherzählt, der wahnsinnigen Bertha, Rochesters erster Frau, eingesperrt im dritten Stock des Herrenhauses von Rochester – was wir natürlich lernen, ist, dass sie, weit davon entfernt, einfach in die Kategorie der bösen Zerstörerin zu passen, selbst Opfer brutaler Umstände war …

Da der Schriftsteller, der Zurückhaltung und Vertrauen auf das Ungesagte exemplifiziert, definitiv Henry James ist, in dessen Werk Tragödien geschehen und ganze Leben während dessen ruiniert werden, was wie ein höfliches Tischgespräch erscheint, wäre es dann nicht auch erhellend, seine Meisterwerke umzuschreiben, um ihre latenten sexuellen Spannungen und politischen Inhalte zu explizieren (Strether aus The Ambassadors, der spätabends in seinem Hotelzimmer masturbiert – oder, besser noch, in homosexuelles Spiel mit einem jungen Stricher verwickelt, um sich nach seinem geschäftigen täglichen gesellschaftlichen Rundgang zu entspannen; Maisie aus What Maisie Knew, die die Liebeshandlungen ihrer Mutter mit ihrem Liebhaber beobachtet)? Sobald der Damm des Herrensignifikanten bricht, öffnet es den Weg für die Flut der Ideen, von denen einige nicht nur amüsant, sondern auch aufschlussreich sein können, indem sie den zugrunde liegenden ‘verdrängten’ Inhalt ans Licht bringen. Das Problem ist jedoch, dass man auch nicht aus dem Blick verlieren sollte, was bei einem solchen Verfahren verloren geht: Es beruht auf dem transgressiven Schritt, die Grenzen eines kanonischen Werks zu verletzen – sobald der kanonische Bezugspunkt seine Stärke verliert, ändert sich der Effekt vollständig. Oder – anders gesagt – der Effekt eines Inhalts ist völlig anders, wenn er nur als das ‘verdrängte’ Geheimnis der ‘öffentlichen’ Handlung angedeutet wird, im Unterschied dazu, dass er offen beschrieben wird.

Franz Kafkas Das Schloss beschreibt die verzweifelten Versuche des Helden (K.), in das Schloss zu gelangen, den mysteriösen Sitz der Macht. Eine neue CD-ROM, Das Schloss, verwandelt Kafkas Roman in ein interaktives Spiel: Der Spieler wird eingeladen, den unglücklichen K. an Klamm, dem mysteriösen Torwächter, vorbei und in die dunklen und feuchten Korridore des Schlosses zu führen … Der Punkt ist hier nicht, die Vulgarität dieser Idee zu beklagen, sondern im Gegenteil: die strukturelle Analogie zwischen K.s endlosen Versuchen, in Kontakt mit dem Schloss zu treten, und dem nie endenden Charakter des interaktiven Computerspiels zu betonen, als ob das, was im Fall Kafkas eine alptraumhafte Erfahrung war, plötzlich zu einem lustvollen Spiel wird: Niemand will wirklich vollständig in das Schloss eintreten; das Vergnügen wird durch das endlose Spiel gradueller und partieller Penetrationen bereitgestellt. Mit anderen Worten: Der Albtraum wird in dem Moment zum lustvollen Spiel, in dem die Funktion des Herrn suspendiert wird.

Der Niedergang dieser Funktion des Herrn in den zeitgenössischen westlichen Gesellschaften setzt das Subjekt einer radikalen Ambiguität gegenüber seinem Begehren aus. Die Medien bombardieren es ständig mit Aufforderungen zu wählen, sprechen es als das Subjekt an, dem unterstellt wird zu wissen, was es wirklich will (welches Buch, welche Kleidung, welches Fernsehprogramm, welches Urlaubsziel …): ‘Drücken Sie A, wenn Sie dies wollen; drücken Sie B, wenn Sie das wollen’; oder – um den Slogan der jüngsten ‘reflektiven’ TV-Werbekampagne für Werbung selbst zu zitieren – ‘Werbung – das Recht zu wählen’. Auf einer fundamentaleren Ebene jedoch entziehen die neuen Medien dem Subjekt radikal das Wissen darüber, was es will: Sie sprechen ein durch und durch formbares Subjekt an, dem ständig gesagt werden muss, was es will – das heißt, die bloße Evokation einer zu treffenden Wahl erzeugt performativ das Bedürfnis nach dem Objekt der Wahl. Man sollte hier im Auge behalten, dass die Hauptfunktion des Herrn darin besteht, dem Subjekt zu sagen, was es will – das Bedürfnis nach dem Herrn entsteht als Antwort auf die Verwirrung des Subjekts, insofern es nicht weiß, was es will. Was geschieht dann in der Situation des Niedergangs des Herrn, wenn das Subjekt selbst ständig mit der Aufforderung bombardiert wird, ein Zeichen dessen zu geben, was es will? Genau das Gegenteil dessen, was man erwarten würde: Es ist dann, wenn niemand da ist, der dir sagt, was du wirklich willst, wenn die ganze Last der Wahl bei dir liegt, dass der große Andere dich vollständig beherrscht und die Wahl effektiv verschwindet – ersetzt durch ihren bloßen Schein. Man ist wieder versucht, hier Lacans bekannte Umkehrung Dostojewskis zu paraphrasieren (‘Wenn es keinen Gott gibt, ist überhaupt nichts erlaubt’): Wenn keine erzwungene Wahl das Feld freier Wahl begrenzt, verschwindet die Freiheit der Wahl selbst.²⁹

Informational anorexia

Die Suspendierung der Funktion des (symbolischen) Herrn ist das entscheidende Merkmal des Realen, dessen Konturen am Horizont des Cyberspace-Universums aufragen: der Moment der Implosion, wenn die Menschheit die Grenze erreichen wird, die unmöglich zu überschreiten ist; der Moment, in dem die Koordinaten unserer gesellschaftlichen Lebenswelt aufgelöst sein werden.³⁰ In diesem Moment werden Distanzen suspendiert sein (ich werde in der Lage sein, durch Telekonferenzen mit jedem Ort auf dem Globus augenblicklich zu kommunizieren); alle Information, von Texten über Musik bis zu Video, wird auf meiner Schnittstelle augenblicklich verfügbar sein. Die Kehrseite dieser Suspendierung der Distanz, die mich von einem weit entfernten Fremden trennt, ist jedoch, dass aufgrund des allmählichen Verschwindens des Kontakts mit ‘realen’ körperlichen Anderen ein Nachbar kein Nachbar mehr sein wird, da er oder sie progressiv durch ein Bildschirmgespenst ersetzt werden wird; allgemeine Verfügbarkeit wird unerträgliche Klaustrophobie hervorrufen; Überschuss an Wahl wird als Unmöglichkeit zu wählen erfahren werden; universelle direkte partizipative Gemeinschaft wird umso gewaltsamer jene ausschließen, denen die Teilnahme an ihr verwehrt ist. Die Vision, der Cyberspace eröffne eine Zukunft unendlicher Möglichkeiten grenzenloser Veränderung, neuer multipler Geschlechtsorgane und so weiter, verbirgt ihr genaues Gegenteil: eine unerhörte Durchsetzung radikalen Verschlusses. Dies also ist das Reale, das uns erwartet, und alle Versuche, dieses Reale zu symbolisieren, von utopischen (den New-Age- oder ‘dekonstruktivistischen’ Feiern der befreienden Potenziale des Cyberspace) bis zu den schwärzesten dystopischen (der Aussicht auf totale Kontrolle durch ein gottgleiches computerisiertes Netzwerk …), sind nur das: so viele Versuche, das wahre ‘Ende der Geschichte’ zu vermeiden, das Paradox einer Unendlichkeit, die weit erstickender ist als jede tatsächliche Einschließung.

Oder – anders gesagt – die Virtualisierung hebt die Distanz zwischen einem Nachbarn und einem fernen Fremden auf, insofern sie die Präsenz des Anderen im massiven Gewicht des Realen suspendiert: Nachbarn und Fremde sind alle gleich in ihrer gespenstischen Bildschirmpräsenz. Das heißt: warum war das christliche Gebot ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ für Freud so problematisch? Die Nähe des Anderen, die einen Nachbarn zu einem Nachbarn macht, ist die der jouissance: wenn die Präsenz des Anderen unerträglich, erstickend wird, bedeutet dies, dass wir seinen oder ihren Modus der jouissance als zu intrusiv erfahren.³¹ Und was ist der zeitgenössische ‘postmoderne’ Rassismus, wenn nicht eine gewaltsame Reaktion auf diese Virtualisierung des Anderen, eine Rückkehr der Erfahrung des Nachbarn in seiner oder ihrer (oder ihrer) intolerablen, traumatischen Präsenz? Das Merkmal, das den Rassisten an seinem Anderen stört (die Art, wie sie lachen, der Geruch ihres Essens …), ist somit genau das kleine Stück des Realen, das Zeugnis ablegt von ihrer Präsenz jenseits der symbolischen Ordnung.

Also – zurück zum Deadlock, der im Akt besteht, die Lücken in einer kanonischen Erzählung auszufüllen (Star Trek, Hamlet, The Ambassadors …): wie oft gesagt worden ist, ist Virtual Reality eine Art orwellscher Missname. Was in ihrem Aufstieg bedroht ist, ist die Dimension der Virtualität selbst, die der symbolischen Ordnung wesensgleich ist: Das VR-Universum tendiert dazu, die zugrunde liegende Fantasie ans Licht zu bringen, auf der Textoberfläche zu realisieren – das heißt, die Lücke zu füllen, die die symbolische Oberflächenstruktur von ihrer zugrunde liegenden Fantasie trennt, die in einem kanonischen Text nur vermutet oder angezeigt wird (was geschieht, wenn die Tür hinter den beiden Haupthelden von Star Trek ins Schloss fällt? Was macht Strether in The Ambassadors allein in seinem Hotelzimmer?). Die Konsistenz des kanonischen Textes beruht auf dem delikaten Gleichgewicht dessen, was gesagt wird, und dessen, was nur impliziert ist – wenn wir ‘alles sagen’, ist der Effekt nicht einfach der der Wahrheit. Warum? Wir müssen uns darauf konzentrieren, was verloren geht, wenn diese Leerstellen im Text ausgefüllt werden – verloren geht die reale Präsenz des Anderen. Darin liegt das Paradox: die unterdrückende und zugleich schwer fassbare Präsenz des Anderen besteht in den Abwesenheiten (Löchern) der symbolischen Textur selbst fort. In genau diesem Sinn verfehlt der Gemeinplatz, das Problem des Cyberspace bestehe darin, dass die Realität virtualisiert werde, sodass wir statt der Fleisch-und-Blut-Präsenz des Anderen eine digitalisierte gespenstische Erscheinung erhalten, den Punkt: was den ‘Verlust der Realität’ im Cyberspace herbeiführt, ist nicht seine Leere (die Tatsache, dass es ihm gegenüber der Fülle realer Präsenz fehlt), sondern im Gegenteil seine übermäßige Fülle (die potenzielle Abschaffung der Dimension symbolischer Virtualität). Ist nicht daher eine der möglichen Reaktionen auf das übermäßige Ausfüllen der Leerstellen im Cyberspace Informationsanorexie, die verzweifelte Weigerung, Information zu akzeptieren, insofern sie die Präsenz des Realen verdeckt?

Wir sind also weit davon entfernt, den Verlust des Kontakts mit einem ‘realen’, Fleisch-und-Blut-Anderen im Cyberspace zu beklagen, in dem wir nur digitalen Phantomen begegnen: unser Punkt ist vielmehr, dass der Cyberspace nicht gespenstisch genug ist. Das heißt: der Status dessen, was wir ‘reale Präsenz des Anderen’ genannt haben, ist von sich aus gespenstisch: das kleine Stück des Realen, mittels dessen der Rassist die Andere-jouissance identifiziert, ist eine Art minimale Garantie des Gespensts des Anderen, der uns zu verschlingen oder unsere ‘Lebensweise’ zu zerstören droht. Ein weiteres Beispiel: im ‘Telefonsex’ erhebt die sehr schmale Kommunikationsbandbreite (unser Partner ist uns nur zugänglich in der Gestalt einer körperlosen und als solcher allgegenwärtigen Stimme) den Anderen, unseren Partner, zu einer gespenstischen Entität, deren Stimme direkt in unser Inneres eindringt. Wenn (und falls) wir unserem Telefonsex-Partner schließlich im realen Leben begegnen, ist der Effekt oft genau das, was Michel Chion désacousmatisation nannte:³² der Andere verliert seine gespenstische Qualität, er wird zu einem gewöhnlichen weltlichen Wesen, zu dem wir eine normale Distanz wahren können. Kurz: wir gehen vom gespenstischen Realen zur Realität über, von der obszönen ätherischen Präsenz des Anderen zu dem Anderen, der einfach ein Objekt der Repräsentation ist.

Eine der Tendenzen in der Theoretisierung des Cyberspace ist, Cybersex als das ultimative Phänomen in einer Kette aufzufassen, deren Schlüsselglied Kierkegaard ist, seine Beziehung zu Regina: so wie Kierkegaard die tatsächliche Nähe des Anderen (der geliebten Frau) zurückwies und Einsamkeit als den einzigen authentischen Modus der Beziehung zu einem Liebesobjekt propagierte, beinhaltet Cybersex ebenfalls die Nichtigkeitsetzung des ‘Real-Life’-Objekts und zieht erotische Energie aus eben dieser Nichtigkeitsetzung – der Moment, in dem ich meinem Cybersex-Partner (oder meinen Partnern) im realen Leben begegne, ist der Moment der Desublimierung, der Moment der Rückkehr zur vulgären ‘Realität’. So überzeugend es klingen mag, ist diese Parallele zutiefst irreführend: der Status meines Cyberspace-Sexualpartners ist nicht der von Kierkegaards Regina. Regina war die Leerstelle, an die Kierkegaard seine Worte richtete, eine Art ‘Vakuole’, gewoben von der Textur seiner Rede, während mein Cyberspace-Sexualpartner im Gegenteil über-präsent ist, mich mit dem reißenden Strom von Bildern und expliziten Aussagen ihrer (oder seiner) geheimsten Fantasien bombardiert. Oder anders gesagt: Kierkegaards Regina ist der Schnitt des Realen, das traumatische Hindernis, das den glatten Lauf meiner selbstbefriedigenden erotischen Einbildung immer wieder stört, während der Cyberspace sein genaues Gegenteil präsentiert, einen reibungslosen Fluss von Bildern und Botschaften – wenn ich in ihn eingetaucht bin, kehre ich sozusagen zu einer symbiotischen Beziehung mit einem Anderen zurück, in der die Sintflut der Scheine die Dimension des Realen abzuschaffen scheint.

In einem jüngsten Interview feierte Bill Gates den Cyberspace als die Eröffnung der Aussicht auf das, was er ‘friction-free capitalism’ nannte – dieser Ausdruck fasst perfekt die soziale Fantasie zusammen, die der Ideologie des Cyberspace-Kapitalismus zugrunde liegt: die Fantasie eines vollständig transparenten, ätherischen Austauschmediums, in dem die letzte Spur materieller Trägheit verschwindet. Der entscheidende Punkt, der hier nicht zu verfehlen ist, ist, dass die ‘Reibung’, deren wir uns in der Fantasie des ‘friction-free capitalism’ entledigen, nicht nur auf die Realität materieller Hindernisse verweist, die jeden Austauschprozess tragen, sondern vor allem auf das Reale der traumatischen sozialen Antagonismen, Machtverhältnisse und so weiter, die den Raum des sozialen Austauschs mit einer pathologischen Verdrehung zeichnen. In seinem Grundrisse-Manuskript wies Marx darauf hin, wie der sehr materielle Mechanismus einer industriellen Produktionsstätte des neunzehnten Jahrhunderts die kapitalistische Dominanzbeziehung direkt materialisiert (der Arbeiter als bloßer Appendix, der der Maschinerie untergeordnet ist, die dem Kapitalisten gehört); mutatis mutandis gilt dasselbe für den Cyberspace: unter den sozialen Bedingungen des Spätkapitalismus erzeugt die Materialität des Cyberspace selbst automatisch den illusorischen abstrakten Raum ‘friction-free’ Austauschs, in dem die Besonderheit der sozialen Position der Teilnehmenden ausgelöscht wird.

Der einfachste Weg, das Set sozialer Beziehungen zu erkennen, das die Funktionsweise des Cyberspace überdeterminiert, ist, sich auf die vorherrschende ‘spontane Ideologie des Cyberspace’ zu konzentrieren, den sogenannten Cyberevolutionismus, der auf dem Begriff des Cyberspace (oder World Wide Web) als eines sich selbst entwickelnden ‘natürlichen’ Organismus beruht.³³ Entscheidend ist hier die Verwischung der Unterscheidung zwischen ‘Kultur’ und ‘Natur’: die Kehrseite der ‘Naturalisierung der Kultur’ (Markt, Gesellschaft usw. als lebende Organismen) ist die ‘Kulturalisierung der Natur’ (das Leben selbst wird als ein Set sich selbst reproduzierender Elemente als Information begriffen – ‘Gene sind Meme’). Dieser neue Begriff von Leben ist somit neutral gegenüber der Unterscheidung zwischen natürlichen und kulturellen oder ‘künstlichen’ Prozessen – sowohl die Erde (als Gaia) als auch der globale Markt erscheinen als gigantische selbstregulierte lebende Systeme, deren Grundstruktur in Begriffen des Prozesses von Kodierung und Dekodierung, der Weitergabe von Information und so weiter bestimmt ist. Der Bezug auf das World Wide Web als lebenden Organismus wird oft in Kontexten evoziert, die befreiend wirken mögen: etwa gegen die staatliche Zensur des Internet. Diese Dämonisierung des Staates ist jedoch durch und durch ambivalent, da sie vorwiegend vom rechts-populistischen Diskurs und/oder Marktliberalismus angeeignet wird: ihre Hauptziele sind die staatlichen Interventionen, die eine Art minimalen sozialen Ausgleich und Sicherheit aufrechterhalten wollen – der Titel von Michael Rothschilds Buch (Bioeconomics : The Inevitability of Capitalism) ist hier bezeichnend. Also – während Cyberspace-Ideologen vom nächsten Evolutionsschritt träumen können, in dem wir nicht länger mechanisch interagierende ‘kartesische’ Individuen sein werden, in dem jede ‘Person’ ihre substanzielle Bindung an ihren individuellen Körper kappen und sich als Teil des neuen holistischen Geistes begreifen wird, der durch ihn oder sie lebt und handelt, werden in einer solchen direkten ‘Naturalisierung’ des World Wide Web oder des Marktes die Machtverhältnisse obskuriert – politische Entscheidungen, institutionelle Bedingungen –, innerhalb derer ‘Organismen’ wie das Internet (oder der Markt oder der Kapitalismus …) überhaupt nur gedeihen können.³⁴

Saving the appearance

Dies führt uns zurück zum Problem des Herrensignifikanten: ein Herrensignifikant ist immer virtuell in dem Sinn, dass er eine strukturelle Ambiguität einschließt. In The X Files ist die Beziehung zwischen den Außerirdischen, die in unser Leben eingreifen, und der geheimnisvollen Regierungsagentur, die davon weiß, völlig ambivalent: wer zieht tatsächlich die Fäden, Regierung oder Außerirdische? Nutzt die Regierung die Außerirdischen, um ihren Griff über die Bevölkerung zu verstärken, oder kollaboriert sie passiv, um Panik zu verhindern, da sie hilflos ist und von ihnen in Schach gehalten wird? Der Punkt ist, dass die Situation offen, unentscheidbar bleiben muss: würden die Lücken hier ausgefüllt, würden wir den wahren Stand der Dinge erfahren, würde das gesamte symbolische Universum von The X Files zerfallen. Und es ist entscheidend, dass diese Ambiguität um das Problem von Macht und Ohnmacht kreist: symbolische Autorität ist virtuell, was bedeutet, dass sie als Drohung funktioniert, die niemals auf die Probe gestellt werden darf – man kann nie sicher sein, ob der Vater (auf dessen symbolische Autorität man sich stützt) wirklich so mächtig ist oder nur ein Hochstapler. Symbolische Macht ist somit nur als virtuelle wirksam, als Versprechen oder Drohung ihrer vollen Entfaltung. Dies liefert vielleicht auch den letzten Rückhalt der Figur ‘des Mannes, der zu viel weiß’: er weiß zu viel über Autorität – das heißt, das Geheimnis, das er kennt, ist, dass Autorität ein Betrug ist, dass Macht in Wahrheit ohnmächtig, hilflos ist. Was die Leere des Herrensignifikanten verbirgt, ist somit die Inkonsistenz seines Inhalts (seines Signifikats): der Hai in Spielbergs Jaws funktioniert nur insofern als Symbol, als seine faszinierende Präsenz die inkonsistente Vielzahl seiner möglichen Bedeutungen obskuriert (ist er ein Symbol der Dritte-Welt-Bedrohung für Amerika? ein Symbol ungezügelter kapitalistischer Ausbeutung? und so weiter) – würden wir eine klare Antwort erhalten, wäre der Effekt verloren. Und wiederum ist es dieser virtuelle Status des Herrensignifikanten, der im Cyberspace verloren geht, mit seiner Tendenz, ‘die Lücken zu füllen’.

Die Suspendierung des Herrn, die Ohnmacht enthüllt, führt keineswegs zu befreienden Effekten: das Wissen, dass ‘der Andere nicht existiert’ (dass der Herr ohnmächtig ist, dass Macht ein Betrug ist), legt dem Subjekt eine noch radikalere Knechtschaft auf als die traditionelle Unterordnung unter die volle Autorität des Herrn. In seiner Analyse von Paul Claudels Coufontaine-Trilogie arbeitet Lacan die Unterscheidung zwischen klassischer und moderner Tragödie aus: klassische Tragödie ist die Tragödie des Schicksals, des Subjekts, das schuldig ist ohne seine aktive Teilnahme; Schuld ist in seine Position im symbolischen Netzwerk des Schicksals selbst eingeschrieben. Die moderne, nachchristliche Tragödie hingegen spielt in einem Universum, in dem ‘Gott tot ist’ – das heißt, unser Leben ist nicht länger durch den kosmischen Rahmen des Schicksals vorgeordnet. Lacans Punkt hier ist, dass diese Abwesenheit des Schicksals, des symbolischen Rahmens, der unsere Schuld im Voraus bestimmt, uns nicht nur nicht frei macht, sondern uns eine noch radikalere tragische Schuld auferlegt – wie er es formuliert, hängt das tragische Geschick des Subjekts daran, dass es zum Geisel des Wortes wird.³⁵

Das höchste Beispiel dieser neuen tragischen Lage ist das Schicksal des geopferten stalinistischen Kommunisten: dieses Beispiel macht klar, wie – um es knapp zu sagen – das Subjekt dazu aufgerufen wird, sich zu opfern, um den Schein zu retten (der Allmacht und des Wissens des Herrn oder Führers) – um zu verhindern, dass die Ohnmacht des Herrn für die ganze Welt sichtbar wird. Wenn im nachklassischen Universum niemand ‘wirklich glaubt’ an das universelle Schicksal, das der kosmischen Ordnung innewohnt (sei es christlicher Glaube oder Kommunismus) – wenn, hegelsch gesprochen, der Glaube sein substantielles Gewicht verliert –, wird es entscheidend, den Schein des Glaubens aufrechtzuerhalten. Wenn ein wahrer Gläubiger des stalinistischen Kommunismus aufgefordert wird, seine Abweichung oder gar seinen Verrat zu gestehen, lautet die zugrunde liegende Argumentationslinie: ‘Wir alle wissen, dass der große Andere nicht existiert (dass unser Führer nicht perfekt ist, dass wir viele Fehler gemacht haben, dass es keine ehernen Gesetze der Geschichte gibt, dass die Notwendigkeit des Fortschritts zum Kommunismus nicht so unerbittlich ist, wie wir vorgeben), aber dies anzuerkennen, käme einer totalen Katastrophe gleich. Der einzige Weg, den Schein zu retten – die Partei und ihren Führer als inkarnierte geschichtliche Vernunft zu schützen, zu vermeiden, dem Führer und der Partei die Verantwortung für unsere offensichtlichen Fehlschläge zuzuschreiben –, ist, dass du die Verantwortung für unsere Fehlschläge übernimmst – das heißt, deine Schuld gestehst.’ Diese zugrunde liegende Logik der stalinistischen Schauprozesse legt somit direkt Zeugnis davon ab, dass der Kommunismus kein substantieller Glaube mehr ist, sondern ein moderner Glaube, der auf der Bereitschaft des Subjekts beruht, sich zu opfern und Schuld zu übernehmen, um die Tatsache verborgen zu halten, dass ‘der Vater gedemütigt ist’, dass der Führer ohnmächtig ist. Das Subjekt wird nicht dazu aufgerufen, sich für die Wahrheit des Glaubens zu opfern: es wird dazu aufgerufen, sich gerade so zu opfern, dass die Tatsache, dass ‘der große Andere nicht existiert’, weiterhin unsichtbar bleibt, dass die idealisierte Figur des Führers, die den großen Anderen verkörpert, intakt und unbefleckt bleibt.

In diesem Sinn ist das Subjekt ‘die Geisel des Wortes’: ‘Wort’ steht hier für die ideologische Doktrin, die ihre substantiellen Anker verloren hat, den Status eines reinen Scheins hat, aber die – gerade als solche, als reiner Schein – wesentlich ist. Das Subjekt wird erpresst und sozusagen in die Ecke gedrängt, indem man ihm sagt, wenn es nicht seine individuellen Rechte, seine Unschuld oder sogar seine Ehre und Würde vergesse und gestehe, werde das Wort, das den Schein von Sinn garantiert, zerfallen. Mit anderen Worten: es wird aufgefordert, sich zu opfern, den innersten Kern seines Seins – nicht für die wahre Sache, sondern für einen reinen Schein. Ferner fällt dieser Rückzug substantiellen Schicksals, des symbolischen Gesetzes, das unsere Existenz reguliert, auch mit der Verschiebung vom symbolischen Gesetz zum Über-Ich zusammen: die Instanz, die dem Subjekt das Opfer auferlegt, das ‘den Schein retten’ soll (etwa das Geständnis im Schauprozess, das ‘von der Partei benötigt wird, um ihre Einheit zu schmieden und ihre Mitglieder zu mobilisieren’), ist klar eine Über-Ich-Figur, die die jouissance anhäuft, deren das Subjekt beraubt ist: der Schein des Schicksals, auf den sich dieses Subjekt bezieht (im Fall des Stalinismus als ‘unerbittlicher Fortschritt zum Kommunismus’), ist eine Maske, die die jouissance des Subjekts verbirgt, das sich die Position des Objekt-Instruments des großen Anderen vorbehält.³⁶

What can meteorology teach us about racism?

Worin besteht also die Natur des Unterschieds zwischen dem narrativistischen Postmodernismus und Lacan? Vielleicht ist der beste Zugang über die Lücke, die das moderne Universum der Wissenschaft vom traditionellen Wissen trennt: für Lacan ist die moderne Wissenschaft nicht einfach eine weitere lokale Erzählung, gegründet in ihren spezifischen pragmatischen Bedingungen, da sie sich sehr wohl auf das (mathematische) Reale unterhalb des symbolischen Universums bezieht.

Erinnern wir uns an den Unterschied zwischen moderner Satellitenmeteorologie und der traditionellen Wetterweisheit, die ‘lokal denkt’. Moderne Meteorologie nimmt eine Art metalanguageartigen Blick auf die gesamte Atmosphäre der Erde als globalen und in sich geschlossenen Mechanismus an, während traditionelle Meteorologie einen besonderen Standpunkt innerhalb eines endlichen Horizonts einnimmt: aus einem Jenseits, das per Definition jenseits unseres Zugriffs bleibt, kommen Wolken und Winde, und alles, was man tun kann, ist, die Regeln ihres Auftauchens und Verschwindens in einer Reihe von ‘Weisheiten’ zu formulieren (‘Wenn es am ersten Mai regnet, hüte dich vor Dürre im August’, usw.). Der entscheidende Punkt ist, dass ‘Sinn’ nur innerhalb eines solchen endlichen Horizonts entstehen kann: Wetterphänomene können nur insofern als ‘sinnvoll’ erfahren und begriffen werden, als es ein Jenseits gibt, aus dem diese Phänomene hervortreten, nach Gesetzen, die nicht direkt Naturgesetze sind – gerade der Mangel an Naturgesetzen, die das tatsächliche Wetter hier mit dem geheimnisvollen Jenseits direkt verbinden, setzt die Suche nach ‘sinnvollen’ Koinzidenzen und Korrelationen in Bewegung. Das Paradox ist, dass dieses traditionelle ‘geschlossene’ Universum uns zwar mit unvorhersehbaren Katastrophen konfrontiert, die ‘aus dem Nichts’ zu kommen scheinen, es aber dennoch ein Gefühl ontologischer ‘Sicherheit’ bietet, des Wohnens in einem in sich geschlossenen endlichen Sinnkreis, in dem Dinge (Naturphänomene) in gewisser Weise ‘zu uns sprechen’, uns ansprechen.

Dieses traditionelle geschlossene Universum ist somit in gewissem Sinn ‘offener’ als das Universum der Wissenschaft: es impliziert das Tor in das unbestimmte Jenseits, während das direkte globale Modell der modernen Wissenschaft effektiv ‘geschlossen’ ist – das heißt, es lässt kein Jenseits zu. Das Universum der modernen Wissenschaft beinhaltet in seiner ‘Sinnlosigkeit’ die Geste des ‘Durchquerens der Fantasie’, der Abschaffung des dunklen Flecks, des Feldes des Unerklärten, das Fantasien beherbergt und so Sinn garantiert: stattdessen erhalten wir den sinnlosen Mechanismus. Deshalb steht für Heidegger die moderne Wissenschaft für metaphysische ‘Gefahr’: sie bedroht das Sinnuniversum. Es gibt keinen Sinn ohne irgendeinen dunklen Fleck, ohne irgendein verbotenes/undurchdringliches Feld, in das wir Fantasien projizieren, die unseren Sinnhorizont garantieren. Vielleicht erklärt gerade diese wachsende Entzauberung unserer tatsächlichen sozialen Welt die Faszination, die der Cyberspace ausübt: es ist, als begegneten wir in ihm wieder einer Grenze, jenseits derer sich das geheimnisvolle Feld phantasmatischer Andersheit öffnet, als wäre der Bildschirm der Schnittstelle heute die Version der Leerstelle, der unbekannten Region, in der wir unsere eigenen Shangri-las oder die Königreiche von She verorten können.

Paradigmatisch sind hier die letzten Kapitel von Edgar Allan Poes Gordon Pym, die das phantasmatische Szenario des Überschreitens der Schwelle in die reine Andersheit der Antarktis inszenieren. Die letzte menschliche Siedlung vor dieser Schwelle ist ein Eingeborenendorf auf einer Insel mit Wilden, so schwarz, dass sogar ihre Zähne schwarz sind; bezeichnenderweise begegnet man auf dieser Insel auch dem ultimativen Signifikanten (einem gigantischen Hieroglyph, das in die Gestalt der Bergkette selbst eingeschrieben ist). So wild und verdorben sie auch sind, die schwarzen Männer lassen sich nicht bestechen, die weißen Entdecker weiter nach Süden zu begleiten: schon der bloße Gedanke, dieses verbotene Gebiet zu betreten, jagt ihnen Todesangst ein. Wenn die Entdecker schließlich dieses Gebiet betreten, verwandelt sich die eiskalte polare Schneelandschaft allmählich und auf geheimnisvolle Weise in ihr Gegenteil, in ein Gebiet dicker, warmer und opaker Weiße … kurz, in das inzestuöse Gebiet der ursprünglichen Milch. Was wir hier bekommen, ist eine weitere Version des Königreichs von Tarzan oder She : In Rider Haggards She wird Freuds berüchtigte Behauptung, weibliche Sexualität sei ein ‘dunkler Kontinent’, auf wörtliche Weise realisiert: She-who-must-be-obeyed, dieser Herr jenseits des Gesetzes, die Besitzerin des Geheimnisses des Lebens selbst, ist eine weiße Frau, die inmitten Afrikas, des dunklen Kontinents, herrscht. Diese Figur von She, einer Frau, die existiert (im unerforschten Jenseits), ist die notwendige phantasmatische Stütze des patriarchalen Universums. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft wird dieses Jenseits abgeschafft, es gibt keinen ‘dunklen Kontinent’ mehr, der ein Geheimnis erzeugt – folglich geht auch Sinn verloren, da das Feld des Sinns per Definition durch einen undurchdringlichen dunklen Fleck in seinem eigenen Kern getragen wird.

Der Kolonisationsprozess selbst produziert also den Überschuss, der ihm widersteht: liegt das Geheimnis von Shangri-la (oder von Tarzans Königreich oder vom Königreich von She oder …) nicht genau darin, dass wir es mit dem Gebiet zu tun haben, das noch nicht kolonisiert worden ist, mit der vorgestellten radikalen Andersheit, die dem Zugriff des Kolonisators für immer entgleitet? Hier stoßen wir jedoch auf ein weiteres Schlüsselparadox. Dieses Motiv von She beruht auf einer der zentralen mythischen Erzählungen des Kolonialismus: nachdem weiße Entdecker eine bestimmte Grenze überschreiten, die selbst für die primitivsten und grausamsten Eingeborenen tabu ist, und in das eigentliche ‘Herz der Finsternis’ eintreten, begegnen sie dort, in diesem rein phantasmatischen Jenseits, erneut der Herrschaft eines geheimnisvollen Weißen Mannes, des präödipalen Vaters, des absoluten Herrn. Die Struktur ist hier die eines Möbiusbandes – im eigentlichen Herzen der Andersheit begegnen wir der anderen Seite des Selben, unserer eigenen Struktur der Herrschaft.

In seinem gewaltigen Fear in the Occident lenkt Jean Delumeau die Aufmerksamkeit auf die unfehlbare Abfolge von Haltungen in einer mittelalterlichen Stadt, die von der Pest befallen ist: zuerst ignorieren die Menschen sie und verhalten sich, als ginge wirklich nichts Schreckliches vor sich; dann ziehen sie sich ins Private zurück und vermeiden Kontakt miteinander; dann greifen sie zu religiöser Inbrunst, veranstalten Prozessionen, bekennen ihre Sünden und so weiter; dann sagen sie sich: ‘Zum Teufel, genießen wir es, solange es dauert!’, und geben sich leidenschaftlich Orgien von Sex, Essen, Trinken und Tanzen hin; schließlich kehren sie zum normalen Leben zurück und verhalten sich wieder, als ginge wirklich nichts Schreckliches vor sich.³⁷ Dieses zweite ‘normale Leben’ nimmt jedoch nicht dieselbe strukturelle Rolle ein wie das erste: es ist sozusagen auf der anderen Seite des Möbiusbandes lokalisiert, da es nicht mehr den verzweifelten Versuch signalisiert, die Realität der Pest zu ignorieren, sondern vielmehr ihr genaues Gegenteil: die resignierte Akzeptanz derselben … Gilt nicht dasselbe für die schrittweise Ersetzung (sexuell, rassisch …) aggressiver Ausdrücke durch ‘korrektere’, wie die Ketten nigger – Negro – black – African-American oder crippled – disabled – bodily challenged? Diese Ersetzung fungiert als metaphorische Substitution, die potenziell gerade den (rassistischen usw.) Effekt, den sie bannen will, proliferiert und verstärkt, indem sie zur Verletzung noch die Beleidigung hinzufügt. In Analogie zu Delumeau sollte man daher behaupten, dass der einzige Weg, den Hass-Effekt tatsächlich abzuschaffen, paradoxerweise darin besteht, die Umstände zu schaffen, unter denen man zum ersten Glied der Kette zurückkehren und es auf nicht-aggressive Weise verwenden kann – wie dem zweiten Mal dem Muster des ‘normalen Lebens’ im Fall der Pest zu folgen. Das heißt: Solange der Ausdruck ‘crippled’ einen Überschuss, eine unauslöschliche Spur von Aggressivität, enthält, wird dieser Überschuss nicht nur mehr oder weniger automatisch auf jeden seiner ‘korrekten’ metaphorischen Ersatzbegriffe übertragen, er wird durch eben diese Substitution sogar noch verstärkt. Die Strategie der Rückkehr zum ersten Glied ist natürlich riskant; sobald sie jedoch von der Gruppe, auf die sie zielt, vollständig akzeptiert wird, kann sie definitiv funktionieren. Wenn radikale African-Americans einander ‘niggers’ nennen, ist es falsch, diese Strategie als bloße ironische Identifikation mit dem Aggressor abzutun; vielmehr liegt der Punkt darin, dass sie als ein autonomer Akt des Abstreifens des aggressiven Stachels fungiert.³⁸

Ein weiterer Punkt, den man bezüglich des weißen Herrn, der in diesem phantasmatischen Gebiet radikaler Andersheit herrscht, beachten sollte, ist, dass diese Figur in zwei Gegensätze gespalten ist: entweder die entsetzliche Verkörperung ‘diabolischen Bösen’, die das Geheimnis der jouissance kennt und folglich ihre Untertanen terrorisiert und foltert (von Conrads Heart of Darkness und Lord Jim bis zur weiblichen Version, Rider Haggards She) oder der Heilige, der sein Königreich als wohlwollender theokratischer Despot regiert (Shangri-la in Lost Horizon). Der Punkt liegt natürlich in der ‘spekulativen Identität’ dieser beiden Figuren: der diabolisch böse Herr ist ‘an sich oder für uns’ dasselbe wie der heilige weise Herrscher; ihr Unterschied ist rein formal, er betrifft nur die Verschiebung der Perspektive des Beobachters. (Oder, um es in Schellings Begriffen zu sagen, der heilige weise Herrscher ist im Modus der Potenzialität das, was der böse Herr im Modus der Aktualität ist, da ‘dasselbe Prinzip uns in seiner Unwirksamkeit trägt und hält, das uns in seiner Wirksamkeit verzehren und zerstören würde’.) ³⁹ Was der hunderte Jahre alte Mönch, der Shangrila leitet, und Kurtz aus Heart of Darkness teilen, ist, dass beide ihre Verbindungen zu gewöhnlichen menschlichen Erwägungen gekappt haben und in das Gebiet ‘zwischen den zwei Toden’ eingetreten sind. Als solcher ist Kurtz die Institution in all ihrer phantasmatischen Reinheit: sein Überschuss realisiert, bringt zu Ende, lediglich die inhärente Logik der Institution (der Kompanie und ihrer Kolonisierung der Wildnis des Kongo).⁴⁰ Diese inhärente Logik ist im ‘normalen’ Funktionieren der Institution verborgen: gerade die Figur, die die Logik der Institution wörtlich realisiert, wird auf eine eigentlich hegelsche Weise als unerträglicher Überschuss wahrgenommen, der beseitigt werden muss.

Dies impliziert jedoch keineswegs, dass der heutige Rassismus eine Art Rest des traditionellen offenen/geschlossenen Universums ist, mit seiner Struktur der Grenze und seines phantasmatischen Jenseits (des Orts dessen, was man gewöhnlich als ‘Verzauberung’ bezeichnet), das im modernen ‘entzauberten’ Universum verloren geht. Der heutige Rassismus ist strikt (post)modern; er ist eine Reaktion auf die ‘Entzauberung’, die durch die neue Phase des globalen Kapitalismus zugefügt wird. Einer der Gemeinplätze der zeitgenössischen ‘post-ideologischen’ Haltung ist, dass wir heute mehr oder weniger die spaltenden politischen Fiktionen (des Klassenkampfs usw.) hinter uns gelassen und politische Reife erreicht hätten, die uns erlaubt, uns auf reale Probleme (Ökologie, Wirtschaftswachstum …) zu konzentrieren, entlastet von ihrem ideologischen Ballast – es ist jedoch, als kehre heute, wenn die dominante Haltung das Terrain des Kampfes als das des Realen definiert (‘reale Probleme’ versus ‘ideologische Chimären’), das eigentliche ausgeschlossene Politische sozusagen im Realen wieder – in Gestalt des Rassismus, der politische Unterschiede im (biologischen oder sozialen) Realen der Rasse gründet.⁴¹ Man könnte daher behaupten, dass das, was die ‘post-ideologische’ Haltung des nüchtern pragmatischen Zugangs zur Realität als ‘alte ideologische Fiktionen’ des Klassenantagonismus, als das Feld ‘politischer Leidenschaften’, die in der heutigen rationalen Sozialverwaltung keinen Platz mehr hätten, ausschließt, das historische Reale selbst ist.

Was sagt uns das alles also über den Cyberspace? Der Cyberspace ist natürlich ein durch und durch technologisch-wissenschaftliches Phänomen; er treibt die Logik der modernen Meteorologie bis ins Extrem: nicht nur gibt es in ihm keinen Platz für den phantasmatischen Bildschirm, er erzeugt den Bildschirm selbst durch Manipulation des Realen der Bytes. Es ist jedoch keineswegs zufällig, dass die moderne Wissenschaft, einschließlich der Meteorologie, inhärent auf den Schnittstellenbildschirm angewiesen ist: im modernen wissenschaftlichen Zugang werden Prozesse auf dem Bildschirm simuliert, von den Modellen atomarer Subteilchen über die Radar-Bilder von Wolken in Wetterberichten bis hin zu den faszinierenden Bildern der Oberfläche des Mars und anderer Planeten (die allesamt durch Computerprozeduren manipuliert werden – hinzugefügte Färbung usw. –, um ihre Wirkung zu verstärken). Das Ergebnis der Suspendierung des dunklen Flecks des Jenseits im Universum der modernen Wissenschaft ist somit, dass ‘globale Realität’ ohne undurchdringlichen dunklen Fleck nur auf dem Bildschirm zugänglich ist: die Abschaffung des phantasmatischen Bildschirms, der als Tor ins Jenseits diente, macht die gesamte Realität zu etwas, das ‘nur auf dem Bildschirm existiert’, als eine tiefenlose Oberfläche. Oder, ontologisch gesprochen: in dem Moment, in dem die Funktion des dunklen Flecks, der den Raum offen hält für etwas, für das es in unserer Realität keinen Platz gibt, suspendiert wird, verlieren wir unseren eigenen ‘Realitätssinn’.

Das Problem der heutigen sozialen Funktionsweise des Cyberspace ist daher, dass er potenziell die Lücke, die Distanz zwischen der öffentlichen symbolischen Identität des Subjekts und ihrem phantasmatischen Hintergrund füllt: Fantasien werden zunehmend unmittelbar im öffentlichen symbolischen Raum externalisiert; die Sphäre der Intimität wird immer direkter sozialisiert. Die inhärente Gewalt des Cybersex liegt nicht im potenziell gewaltsamen Inhalt sexueller Fantasien, die auf dem Bildschirm ausgespielt werden, sondern in der rein formalen Tatsache, meine innersten Fantasien direkt von außen her auf mich aufgezwungen zu sehen. Eine schmerzhafte und verstörende Szene aus David Lynchs Wild at Heart (Willem Dafoe dringt in den privaten Raum von Laura Dern ein, berührt ihre intimen Teile, zwingt sie, ‘Fuck me!’ zu sagen, und nachdem sie es schließlich sagt, antwortet er ‘No, thanks, I don’t have time today, but on another occasion I would do it gladly’)⁴² illustriert perfekt die obszöne Gewalt des Cybersex, in dem, obwohl (oder vielmehr gerade weil) ‘in unserer körperlichen Realität wirklich nichts geschieht’, der phantasmatische intime Kern unseres Seins in weit direkterer Weise bloßgelegt wird, wodurch wir völlig verletzlich und hilflos werden.

Die Aussicht auf die vollendete Digitalisierung aller Information (alle Bücher, Filme, Daten … computerisiert und augenblicklich verfügbar) verspricht die nahezu perfekte Materialisierung des großen Anderen: dort draußen in der Maschine wird ‘alles geschrieben sein’, eine vollständige symbolische Verdopplung der Realität wird stattfinden. Diese Aussicht auf perfekte symbolische Buchführung verheißt auch eine neue Art von Katastrophe, in der eine plötzliche Störung im digitalen Netzwerk (ein besonders wirksamer Virus etwa) den computerisierten ‘großen Anderen’ auslöscht, während die äußere ‘reale Realität’ intakt bleibt. So gelangen wir zum Begriff einer rein virtuellen Katastrophe: obwohl im ‘realen Leben’ überhaupt nichts geschieht und die Dinge scheinbar ihren Gang gehen, ist die Katastrophe total und vollständig, da die ‘Realität’ plötzlich ihres symbolischen Halts beraubt ist … Wie bekannt ist, spielen alle großen Armeen heute immer mehr virtuelle Kriegsspiele, gewinnen oder verlieren Schlachten auf Computerbildschirmen, Schlachten, die jede denkbare Bedingung ‘realen’ Krieges simulieren. So drängt sich die Frage natürlich auf: wenn wir virtuellen Sex haben und so weiter, warum nicht virtuelle Kriegsführung? Warum sollte ‘reale’ Kriegsführung nicht durch einen gigantischen virtuellen Krieg ersetzt werden, der vorbei sein wird, ohne dass die Mehrheit gewöhnlicher Menschen überhaupt merkt, dass es irgendeinen Krieg gab, wie die virtuelle Katastrophe, die ohne irgendeine wahrnehmbare Veränderung im ‘realen’ Universum eintreten wird? Vielleicht wird die radikale Virtualisierung – die Tatsache, dass die ganze Realität bald ‘digitalisiert’, transkribiert, verdoppelt im ‘großen Anderen’ des Cyberspace sein wird – irgendwie das ‘reale Leben’ erlösen und es für eine neue Wahrnehmung öffnen, so wie Hegel bereits eine Ahnung davon hatte, dass das Ende der Kunst (als des ‘sinnlichen Erscheinens der Idee’), das eintritt, wenn die Idee sich aus dem sinnlichen Medium in ihren direkteren begrifflichen Ausdruck zurückzieht, zugleich die Sinnlichkeit von den Zwängen der Idee befreit?

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