Die Plage der Fantasien 7

Anhang II

Robert Schumann:

Der romantische Antihumanist

1

Was ist Musik in ihrem elementarsten Sinne? Ein Akt des Flehens: ein Ruf an eine Figur des großen Anderen (geliebte Dame, König, Gott …), zu antworten, nicht als der symbolische große Andere, sondern im Realen seines oder ihres Seins (seine eigenen Regeln brechend, indem er Barmherzigkeit zeigt; uns ihre kontingente Liebe zuteilwerden lassend …). Musik ist so der Versuch, die ‘Antwort des Realen’ hervorzurufen: im Anderen das ‘Wunder’ entstehen zu lassen, von dem Lacan apropos der Liebe spricht, das Wunder, dass der Andere seine oder ihre Hand nach mir ausstreckt.¹ Die geschichtlichen Veränderungen im Status des ‘großen Anderen’ (grosso modo: dessen, was Hegel ‘objektiven Geist’ nannte) betreffen daher die Musik unmittelbar – vielleicht bezeichnet musikalische Moderne den Moment, in dem die Musik das Bestreben aufgibt, die Antwort des Anderen zu provozieren.

Eine der einfachsten Weisen, diese immanente Geschichtlichkeit der Musik zu erkennen, ist, den Wechselfällen opernhafter Ensembles zu folgen. In Mozarts großen Opernensembles (paradigmatisch im langen Finale des II. Akts von Le nozze di Figaro) schimmert, zumindest für einen kurzen Moment, die utopische Möglichkeit einer ‘nicht-repressiven’ Intersubjektivität durch: Jede Stimme behält ihre volle Individualität und ist dennoch reibungslos in das Ensemble einbezogen; die Harmonie ist nicht die Harmonie einer aufgezwungenen einförmigen Ordnung, sondern die Harmonie des Konflikts selbst. Schon bei Beethoven wird eine solche harmonische Vielheit-im-Konflikt unmöglich – man erinnere sich gleich zu Beginn von Fidelio an das Quartett ‘Mir ist so wunderbar’, eine Art direkter Huldigung an Mozart: Trotz der ‘Schönheit’ der Musik ist die eigentlich mozartische Magie bereits verflogen, und das Quartett kann auf uns nur irgendwie gekünstelt wirken, als mechanische Anwendung der Formel. Am Ende dieses Weges liegt das Quintett ‘Morgenlich …’ aus dem III. Akt von Wagners Meistersinger: Hier geht Intersubjektivität im eigentlichen Sinn vollständig verloren, und was wir stattdessen erhalten, ist eine Art ekstatisches Eintauchen, in dem die Vielheit der Stimmen im selben Fluss ertrinkt.

Unser Punkt ist jedoch, dass dieser Übergang von Mozart zu Wagner nicht bloß einen Verlust bedeutet: Was darin deutlich gewonnen wird, ist die ‘Tiefe’ der Subjektivität. Es genügt, sich zu erinnern – wiederum in Fidelio – an Pizarros große Arie ‘Ha! Welch’ein Augenblick!’ aus dem I. Akt, die von einer gewaltsamen Leidenschaft und Subjektivitätswut zeugt, wie sie bei Mozart undenkbar ist. Das heißt: Bei Mozart, wie Ivan Nagel hervorgehoben hat,² bleiben Bühnenfiguren ‘flach’ und in einem Sinn gänzlich externalisiert, was bedeutet, dass das wahrhaft moderne ‘dämonische’ Böse (dessen erste Personifikation der byronische Held war) hier noch nicht präsent ist: Ein mozartischer Bösewicht (Osmin in Die Entführung aus dem Serail oder Bartolo in Le nozze) stellt sein Böses offen zur Schau, und zwar auf eine Weise, die nie weit vom Lächerlichen entfernt ist, da schon seine List und Täuschung durch und durch auffällig sind (selbst Mozarts Don Giovanni, der bereits das romantische Böse ankündigt, besitzt keine eigentliche ‘Tiefe’: Er bleibt ein maschinenhafter Parasit ohne jede Individualität). Obwohl Beethovens Pizarro eine intensive zerstörerische Wut offenbart, für die es in Mozarts Universum keinen Platz gibt, erklärt auch er sein Böses noch offen, auf eine Weise, die die postklassische ‘Charaktertiefe’ ausschließt. Darauf muss man bis zu Alberich in Wagners Rheingold warten: Alberichs großer Monolog ‘Bin ich frei? Wirklich frei?’ enthält die psychologische Komplexität eines Universums, in dem selbst ein böser Mensch nicht einfach böse ist, sondern zusammen mit seinem Opfer in einem Spinnennetz aus Leidenschaften und Schicksal gefangen ist, das sich seiner Kontrolle entzieht, und so selbst ein Opfer ist.³

Ferner ist Musik nicht nur historisch in dem abstrakten Sinn, demzufolge jeder bestimmte Typ von Musik ‘objektiv möglich’ nur innerhalb einer gegebenen Epoche ist, sondern auch in dem Sinn, dass jede Epoche in einer Art ‘Synthese der Einbildungskraft’ selbstreflexiv zu den vorausgehenden Epochen in Beziehung tritt. Diese Reflexivität wird als solche in der Romantik gesetzt – man denke an Liszts Réminiscences de don Juan: Was wir durch die Reihe der Fragment-Variationen über Mozarts Oper erhalten, ist das Erinnern einer Epoche an eine andere Epoche – das heißt: Liszts Blick auf Mozarts Don Giovanni, der bereits die Neuinterpretation einer früheren Konfiguration ist. Wir haben also drei Don Giovannis: (1) den vorromantischen burlador, die Kombination aus Libertin, Buffon und Trickster, der von einem Abenteuer zum nächsten stürzt, auf der Suche nach Lust; (2) Mozart gibt dieser Figur eine romantische Wendung, indem er ihn an seinem Ende in einen proto-byronischen ‘dämonischen’ Helden verwandelt, die Personifikation diabolischen Bösen, eine Art negativer ethischer Held (aus dieser Perspektive bahnen all seine abenteuerlichen Eroberungen den Weg zur Begegnung mit dem Steinernen Gast, wenn Don Giovanni die Prüfung tapfer erträgt und sich weigert, seinen Lebensstil aufzugeben); (3) dieser romantische ‘dämonische’ Held ist nicht zu verwechseln mit Liszts spätrromantischem Don Juan, der ein wenig wie Liszt selbst ist – eine dekadente und reaktionäre Mischung aus abstrakter Spiritualität und schlaffer perverser Sinnlichkeit.

Die einfachste Weise für den heutigen Hörer, den historischen Charakter unserer elementarsten musikalischen Erfahrung in vivo zu kosten, ist, aufmerksam auf ein populäres barockes Stück wie Pachelbels Kanon zu hören: Die ersten Töne werden heute automatisch als Begleitung wahrgenommen, so dass wir auf den Moment warten, in dem die Melodie hervortreten wird; da wir keine Melodie erhalten, sondern nur eine immer und immer kunstvollere polyphone Variation über die vormelodische Begleitung, fühlen wir uns irgendwie ‘betrogen’. Woher kommt dieser Erwartungshorizont, der unser Gefühl trägt, dass die eigentliche Melodie fehlt? Vielleicht entsteht die Melodie im heute akzeptierten Sinn, die die Differenz zwischen der Hauptmelodielinie und ihrem Hintergrund einschließt, erst mit der Wiener Klassik: nach dem Rückzug der barocken Polyphonie. Komplementär zu diesem Auftreten der Melodie ist ihr allmähliches Verschwinden, angezeigt durch die oft beobachtete Tatsache, dass ein Jahrzehnt nach Beethovens Tod eine lange, ‘schöne’, in sich geschlossene Melodie plötzlich ‘objektiv unmöglich’ wird; diese Beobachtung liefert den eigentlichen Hintergrund für den bekannten boshaften Kalauer, Mendelssohns Melodien begännen meist gut, endeten aber schlecht, verlören ihren Drive und mündeten in eine ‘mechanische’ Auflösung (seine Ouvertüre ‘Fingal’s Cave’, oder der Beginn des Violinkonzerts, der gegenüber Beethovens Violinkonzert eine klare melodische Regression markiert). Weit davon entfernt, ein bloßes Zeichen von Mendelssohns Schwäche als Komponist zu sein, zeugt dieses Scheitern der Melodielinie vielmehr von seiner Sensibilität gegenüber der historischen Verschiebung; diejenigen, die noch ‘schöne Melodien’ zu schreiben vermochten, waren Kitschkomponisten wie Tschaikowsky. Andererseits war Mendelssohn aus diesem Grund eben noch nicht voll romantisch: Die Romantik ‘kommt zu ihrem Begriff’ (um es hegelianisch zu sagen) erst dann, wenn dieses Scheitern in den gewünschten Effekt aufgenommen wird und zu einem positiven Faktor desselben wird. César Francks Prélude, Choral et Fugue, der höchste Fall religiösen Kitsches, liefert dennoch ein schönes Beispiel ‘unmöglicher Sehnsucht’ in der Gestalt der Melodie, die den Höhepunkt zu erreichen versucht, aber immer wieder gezwungen ist, ihren Versuch aufzugeben und gleichsam zurückzufallen.⁴

2

Diese scheiternde Melodie verdichtet die innerste Logik der Romantik.⁵ Romantik in ihrer Opposition zum Klassizismus lässt sich am besten durch die unterschiedliche Logik des Gedächtnisses erfassen: Im Klassizismus ruft das Gedächtnis vergangenes Glück in Erinnerung (die Unschuld unserer Jugend usw.), während das romantische Gedächtnis nicht ein direktes vergangenes Glück erinnert, sondern eine vergangene Periode, in der zukünftiges Glück noch möglich schien, eine Zeit, in der Hoffnungen noch nicht frustriert waren – Erinnerungen sind hier ‘Erinnerungen an Abwesenheit, an das, was niemals war’.⁶ Der im Klassizismus beklagte Verlust ist der Verlust dessen, was das Subjekt einst hatte, während der romantische Verlust der Verlust dessen ist, was man nie hatte. Darin liegt der hegelianische ‘Verlust eines Verlusts’; anders gesagt lässt sich das Evangelium paraphrasieren – in der doppelten Entsagung verliert das Subjekt das, was es nicht besitzt. Das heißt: Was das Subjekt nicht hat, ist nicht einfach abwesend, sondern eine Abwesenheit, die sein Leben positiv bestimmt: Wenn ich zum Beispiel das begehrte Objekt nicht habe, strukturiert dieser Mangel mein ganzes Leben, und es ist dieser bestimmende und strukturierende Mangel, der im ‘Opfer des Opfers’ suspendiert wird. In einer von Roald Dahls Geschichten, für das Fernsehen von Hitchcock verfilmt, – die Heldin, deren Mann kurz nach der Heirat jung starb und in einer Lawine verschwand – heiratet nicht wieder, sondern widmet ihr ganzes Leben seinem Andenken und erhebt ihn zu einer idealisierten Figur; als jedoch zwanzig Jahre später der Schnee schmilzt und der gefrorene Körper des Ehemanns geborgen wird, findet man an seiner Brust ein kleines Foto einer anderen Frau, der wahren Liebe des toten Ehemanns. So war die lebenslange Trauer der Ehefrau vergebens – durch diese verspätete Entdeckung verlor sie, was sie nie hatte: Sie verlor den Verlust selbst, das Bild des verlorenen Ehemanns, das ihr Leben trug … Dieselbe Umkehrung findet man in La Princesse de Clèves, als enthüllt wird, dass Madame de Tournon, von Sancerre betrauert und idealisiert, ihm auf die brutal berechnendste Weise untreu war.⁷

Aus diesem Grund ist die Romantik eng mit dem Motiv der Melancholie verknüpft. Entscheidend für den Begriff der Melancholie ist die Unterscheidung zwischen Verlust [perte] und Mangel [manque]:⁸ Mangel ist dem Begehren wesensgleich, während Verlust den Moment bezeichnet, in dem das Begehren seine Dialektik (die berühmte ‘Dialektik des Begehrens’) verliert, indem es von einem positiven Objekt fixiert wird, das fehlt. Das verlorene Objekt ist somit gerade nicht mangelhaft: Es ist mit sich selbst identisch; das Subjekt besitzt es gerade im Modus des Verlusts; sein Begehren ist in/auf ihm fixiert. (Nebenbei: Die derridasche Kritik an Lacan, der zufolge bei Lacan ‘der Mangel seinen eigenen Ort hat [le manque a sa place]’, muss diese Unterscheidung verfehlen und Verlust – der tatsächlich seinen Ort hat – und Mangel miteinander verschmelzen.) Aus diesem Grund ist Melancholie tief mit dem Trieb verbunden: Sie ist in gewisser Weise das Begehren selbst, wahrgenommen im Horizont des (Todes-)Triebs. Als solche ist die Melancholie der Kontrapunkt zu dem, was Bernard Baas ‘reines Begehren [le désir pur]’ nennt, ein Begehren, das nicht Begehren nach etwas, einem bestimmten Objekt, ist, sondern ein direktes Begehren nach dem Mangel selbst (etwa: Wenn ich wirklich eine andere Person begehre, begehre ich das eigentliche Leere im Zentrum ihrer Subjektivität, so dass ich nicht bereit bin, irgendeine positive Gegenleistung zu akzeptieren).⁹ Das heißt: Es gibt eine Schnittstelle zwischen Trieb und Begehren, und diese Schnittstelle nimmt eine andere Gestalt an, je nachdem, ob man sie aus der Perspektive des Triebs oder aus der des Begehrens betrachtet: Wenn Melancholie Begehren ist, betrachtet aus der Perspektive (wahrgenommen im Horizont) des Triebs, ist ‘reines Begehren’ Trieb, betrachtet aus der Perspektive (wahrgenommen im Horizont) des Begehrens – das heißt: innerhalb der Logik des Mangels.¹⁰ Ist Hitchcocks Vertigo nicht die Studie eines melancholischen Verlusts, die zugleich zeigt, dass dieser Verlust nicht das Schlimmste ist, was dem Subjekt widerfahren kann? Das heißt: Die These des Films ist, dass in der Melancholie das Objekt dennoch in seinem Verlust ‘besessen’ wird, als verloren; während der wahre Horror, schlimmer als Melancholie, der des ‘Verlusts eines Verlusts’ ist: Dieser tritt ein, wenn der Held des Films (Scottie) gezwungen ist zu akzeptieren, dass das verlorene Objekt, das sein Begehren fixiert, von vornherein nie existierte (dass Madeleine selbst eine Fälschung war).

Die Struktur dieses doppelten Verlusts (‘symbolische Kastration’) wird dann dadurch verdeckt, dass man die Sehnsucht selbst fetischisiert: Die typische romantische Geste besteht darin, die Sehnsucht als solche zu erhöhen, auf Kosten des Objekts, nach dem man sich sehnt. Es ist leicht, die narzisstische Befriedigung zu erkennen, die aus einer solchen reflexiven Umkehrung gewonnen wird: Wir müssen uns nur an die romantische Schwärmerei für den Künstler erinnern, der einer ewigen Sehnsucht unterworfen ist, die niemals erfüllt werden wird … Auf einer fundamentaleren Ebene haben wir es hier mit der Positivierung einer Unmöglichkeit zu tun, die das Fetischobjekt hervorbringt. Wie wird zum Beispiel das Objekt-Blicken zum Fetisch? Durch die hegelianische Umkehrung von der Unmöglichkeit, das Objekt zu sehen, zu einem Objekt, das dieser Unmöglichkeit selbst Körper verleiht: Da das Subjekt das, den wahren Gegenstand der Faszination, nicht direkt sehen kann, vollzieht es eine Art Reflexion-in-sich, mittels derer das Objekt, das es fasziniert, zum Blick selbst wird. In diesem Sinn (wenn auch nicht in völlig symmetrischer Weise) sind Blick und Stimme ‘reflexive’ Objekte, Objekte, die einer Unmöglichkeit Körper geben (in lacanianischen ‘Mathemen’: a unter minus kleinem phi). In diesem Sinn ist auch hegelianisches ‘Selbstbewusstsein’ eine Reflexion, die sich vor dem Hintergrund einer bestimmten Unmöglichkeit, der Unzugänglichkeit des Dings, erhebt: Ich (bin gezwungen, mich) meiner selbst, meiner Tätigkeit bewusst zu werden, ich bin gezwungen, meinen Blick auf mich selbst zurückzuwenden, nur und genau dann, wenn diese Tätigkeit fehlschlägt, das heißt: ihr Ziel nicht erreicht.

In Bezug auf das Paar von Nacht und Tag steht diese unendliche Sehnsucht natürlich für die Nacht der Seele im Gegensatz zur Klarheit des Tages. In der Philosophie der deutschen Romantik bestand Schellings grundlegende Einsicht darin, dass das Subjekt, bevor es sich als Medium des rationalen Wortes behauptet, die reine ‘Nacht des Selbst’ ist, der ‘unendliche Mangel an Sein’, die gewaltsame Geste der Kontraktion, die jedes Sein außerhalb seiner selbst negiert. War nicht diese Zurücknahme in sich selbst bereits von Descartes vollzogen worden, in seinem universalen Zweifel und seiner Reduktion auf das cogito, die auch einen Durchgang durch den Moment radikalen Wahnsinns einschließt? Sind wir damit nicht zurück bei der bekannten Passage aus der Jenaer Realphilosophie, in der Hegel die Erfahrung des reinen Selbst qua ‘abstrakte Negativität’, die ‘Verfinsterung der (konstituierten) Realität’, die Kontraktion-in-sich des Subjekts, als die ‘Nacht der Welt’ charakterisiert? Dieser Begriff der ‘Nacht der Welt’ als Kern der Subjektivität ist zutiefst ‘schellingianisch’, insofern er die einfache Opposition zwischen dem Licht der Vernunft und der undurchdringlichen Dunkelheit der Materie unterläuft: Das Dazwischen, nicht mehr vorsubjektive tierische Instinktualität und noch nicht das Licht der Vernunft, ist der Moment von ‘cogito und Wahnsinn’, diese radikale Dimension der Subjektivität, das Subjekt als Nacht – nicht der Tag, dem der Abgrund einer subjektlosen Nacht entgegengesetzt ist, sondern der Moment der absoluten Kontraktion in das reine Selbst. Und die Ironie ist, dass das Subjekt zur Nacht wird, zum dämonischen Dazwischen, genau in dem Moment, in dem in der sozialen Realität die Nacht in ihrer massiven Präsenz mit dem Aufkommen der Elektrizität verschwindet.¹¹

3

Auf der höchsten künstlerischen Ebene findet das strukturelle Scheitern der vollen Melodie seinen letzten Ausdruck in Schumanns Liedern. Schumann und der ‘religiöse Kitsch’ von Berlioz, Mendelssohn, Franck, Wagner und so weiter sind die beiden entgegengesetzten Versionen der Auflösung der Wiener Klassik, der klassischen Sonatenform, die, wie Adorno immer wieder betonte, für den utopischen Moment der Versöhnung zwischen Individuum und Gesellschaft, Liebe und Gesetz steht. Religiöser Kitsch versucht, authentische kollektive Erfahrung in der Gestalt massiver Werke sakraler Musik zu bewahren; der Preis seiner Anmaßung, dieses unmögliche Unterfangen zu verwirklichen, ist jedoch die kitschige Ästhetisierung der religiösen Erfahrung: Religion wird auf eine erregende Empfindung reduziert, ihr Wahrheitsanspruch wird suspendiert, alles, was zählt, ist das ästhetisch ‘befriedigende’ Bewusstsein, dass wir an einem heiligen Ereignis teilnehmen. (Diese Ästhetisierung kulminiert natürlich in Wagners Parsifal, der direkt darauf zielt, die Gemeinschaft der Zuschauer als pseudo-religiöse Gemeinschaft zu konstituieren, die an einem heiligen Ritus teilnimmt.)

Schumann hingegen steht für die verzweifelte individuelle Erfahrung, der die Stütze in der Gemeinschaft entzogen ist und die als solche zur endgültigen Verrücktheit verurteilt ist. (Diese Wendung wird bereits durch die einfache Tatsache bestätigt, dass Schumanns eigentliche Meisterwerke seine Lieder und seine Stücke für Soloklavier sind: Seine Versuche, Respekt zu gewinnen, indem er Symphonien und Konzerte komponierte, reichen nicht weit über eine eher akademische Respektabilität hinaus.) Im Gegensatz zu Berlioz, der, wie Mendelssohn es ausdrückte, ‘bei all seinem Bemühen, stockwahnsinnig zu werden, es nicht ein einziges Mal geschafft hat’, versuchte Schumann verzweifelt, bei Verstand zu bleiben, wurde aber gewaltsam in den Wahnsinn hineingezogen. Das Paradox besteht natürlich darin, dass der Versuch des religiösen Kitsches, kollektive Erfahrung darzustellen, im radikalen Subjektivismus endet (in der Reduktion authentischen Gemeinschaftslebens auf das erregende subjektive ‘Erlebnis’ des religiösen Rituals), während Schumanns radikale Reduktion auf Subjektivität viel näher daran ist, die Blockade der objektiven sozialen Position des Individuums auszudrücken.

Schumanns entscheidender Beitrag liegt in der Weise, wie er das Verhältnis zwischen der gesungenen Melodie und ihrer Klavierbegleitung ‘dialektisiert’: Es ist nicht mehr die Stimme, die die Melodie trägt, mit dem Klavier auf Begleitung reduziert oder, bestenfalls, auf sekundäre Variationen über die Hauptmelodielinie (wie es noch bei Schubert der Fall ist). Bei Schumann ist die privilegierte Verbindung zwischen Melodie und Stimme gebrochen: Es ist nicht mehr möglich, die volle Melodie aus der solistischen Vokallinie zu rekonstruieren, da die Melodie gleichsam zwischen Vokal- und Klavierlinien umherspaziert – es gibt keine einzelne Linie, weder vokal noch klavieristisch, in der die Melodie ‘voll ausgespielt’ wäre. Es ist, als läge der eigentliche Ort der Melodie auf einer schwer fassbaren, ungreifbaren dritten Ebene, die nur in beiden Ebenen widerhallt, die der Hörer tatsächlich hört, in Stimme und Klavier.

Es ist entscheidend, diese abwesende oder unterdrückte Melodie vom vorklassischen Status der ‘ungehörten Melodie’ zu unterscheiden. Bei Bach zum Beispiel haben wir es mit der Kluft zwischen der musikalischen Struktur und ihrer materiellen Aktualisierung zu tun; diese Kluft tritt in zwei entgegengesetzten Formen auf: (1) Eine Komposition ist als formale Struktur geschrieben, die gegenüber dem Medium ihrer tatsächlichen Aufführung relativ neutral ist, als eine Art formale Matrix, die nicht alle Details ihrer Aufführung vorschreibt (etwa die Goldberg-Variationen, die auf dem Klavier, dem Cembalo, der Orgel … aufgeführt werden können); (2) zweitens, und interessanter, ist die polyphone Struktur so komplex, dass es schlicht unmöglich ist, ihr direkt mit dem Ohr zu folgen; der ideale Hörer muss zumindest minimal mit der Komplexität der Komposition vertraut sein – das Erkennen dieser Komplexität in ihrer notwendigerweise unvollkommenen materiellen Realisierung ist die Hauptquelle der Befriedigung des Hörers. Das höchste Beispiel ist vielleicht der zweite Satz (Fuge) von Bachs drei Sonaten für Solovioline, in dem die gesamte polyphone Struktur in einer instrumentalen Linie verdichtet ist, so dass wir, obwohl wir ‘tatsächlich’ nur eine Violinstimme hören, in unserer Einbildungskraft sie automatisch um andere ungehörte implizite Melodielinien ergänzen und die Vielheit der Melodielinien in ihrer Interaktion zu hören scheinen. Die tatsächliche Verdichtung auf eine einzige Linie wird dadurch jedoch keineswegs einfach aufgehoben: Das Schlüsselelement des künstlerischen Effekts ist, dass wir die ganze Zeit über wissen, dass wir tatsächlich nur eine Linie hören. (Nebenbei: Darum bewahren die Transkriptionen von Bachs Solosonaten für Orgel oder für Streichtrio oder -quartett, selbst wenn sie von höchster Qualität sind, ein Element der ‘Vulgärität’, ja der Obszönität, als ob, wenn wir ‘alles hören’, eine konstitutive Leere ausgefüllt wird – die elementare Definition von Kitsch.)

Die romantische Rückkehr zur ‘ungehörten Melodie’, die auf den klassizistischen Versuch folgt, die vollkommene Transparenz der Struktur zu etablieren, in der jede musikalische Linie potentiell hörbar ist, ist das genaue Gegenteil dieser vorklassischen Polyphonie: Was hier ungehört bleiben muss, ‘ist nicht die abstrakte Form, sondern die sinnliche Konzeption’.¹² ein unmöglicher Klang. Darin liegt das zentrale Paradox, das Rosen betont: Gerade die Tatsache, dass die Romantik die Kluft zwischen der formalen Struktur und ihrer Realisierung aufhebt, dass sie den autonomen Status der formalen Struktur suspendiert und die material-vokale Aktualisierung der Komposition, bis in die Details der Aufführung, zu einem Teil ihrer Konzeption selbst macht, erzeugt einen unheimlichen Überschuss auf der Ebene des Klangs selbst – ‘der Vorrang des Klangs in der romantischen Musik sollte von einer Sonorität begleitet und sogar angekündigt werden, die nicht nur unrealisierbar, sondern auch unvorstellbar ist’.¹³ Rosen zitiert eine Passage aus den ‘Abegg’-Variationen, Schumanns Opus I, in der diese Unmöglichkeit entsteht:

weil Schumann das Motto in Begriffen von nahezu reinem Klang denkt, in Begriffen von Loslassen und Anschlag ebenso wie von Tonhöhe und Rhythmus … : ein Ton kann zweimal angeschlagen werden, aber ein doppeltes Loslassen ohne zweiten Anschlag ist auf dem Klavier Unsinn.¹⁴

Dieser ‘absolut unhörbare’ Klang liefert einen exemplarischen Fall des lacanianischen objet petit a, insofern er irréel ist, im präzisen Sinn, in dem Lacan diesen Ausdruck apropos seines Lamellen-Mythos verwendet: ‘Dieses Organ muss “unwirklich” genannt werden, in dem Sinn, dass das Unwirkliche nicht das Imaginäre ist und dem Subjektiven, das es bedingt, vorausgeht, indem es in direktem Kontakt mit dem Realen steht.’¹⁵ Als solches fällt irréel natürlich mit seinem Gegenteil zusammen, mit dem Realen. Das heißt: Das lacanianische Reale ist nicht einfach die vorsymbolische natürliche Substanz, sondern vielmehr das mythische Teil-Organ, das für das steht, was verloren geht, wenn die vorsymbolische Substanz symbolisiert wird. ‘Irréel’ ist das Reale selbst, insofern es den Status eines reinen Scheins hat und niemals Teil der Realität werden kann: Aus diesem Grund bestimmt Lacan die irréel Lamelle als ‘unkörperlich’ (hier sollte man das Echo des unkörperlichen Status des Ereignisses in der stoischen Logik erkennen können). Der Alien aus Ridley Scotts gleichnamigem Film ist zum Beispiel ‘real’ gerade als der reine schwer fassbare Schein, dessen Gestalt sich immer wieder verändert; dasselbe gilt für das Trauma, das traumatische Ereignis, in der Psychoanalyse, das ebenfalls irréel ist im Sinne einer phantasmatischen Formation – für Lacan ist das Reale nicht primär die schreckliche formlose mütterliche Substanz unterhalb symbolischer Scheine, sondern ist vielmehr selbst ein reiner Schein.

4

Man kann nun sehen, worin das ‘Ereignis Schumann’ (um Alain Badious Begriff zu verwenden¹⁶) besteht: Die ‘unwirkliche’ Dimension der Musik (die unrealisierbare Sonorität usw.), die vor ihm zur ‘empirischen’ Grauzone einer liminalen Verwirrung und Begrenzung unserer Wahrnehmung gehörte, wird nun zum Strukturprinzip der ‘ungehörten Stimme’ erhoben; die ‘wahre Stimme’ wird nun ausdrücklich als das Schweigen selbst gesetzt, als ein ‘unmögliches’ Objekt, das aus apriorischen Gründen nicht gehört werden kann und um das herum, wie um einen traumatischen Kern, die tatsächlich produzierten musikalischen Klänge kreisen. Das empirische Scheitern wird so in eine ‘transzendentale’ Grenze verwandelt; der philosophische Punkt ist hier, dass diese Objekt-Stimme, die mit dem Schweigen selbst zusammenfällt, strikt korrelativ ist zum ‘gestrichenen’ Subjekt (dem lacanianischen $ als dem Leeren der sich auf sich selbst beziehenden Negativität). Schumanns gesamte musikalische Strategie lässt sich als ein Bemühen begreifen, alle denkbaren Versionen dieser Unterminierung des Privilegs der melodischen Linie zu realisieren, dieser Dialektisierung der Beziehung zwischen vokaler Melodie und ihrem Klavierhintergrund, bis hin zur radikalsten Variation, in der die Stimme schlicht abwesend ist oder nicht erscheint.¹⁷ Hier sind die Hauptversionen dieser Dialektisierung bei Schumann:

•In ‘Im wunderschönen Monat Mai’, dem allerersten Lied von Dichterliebe, ist die eigentliche, ordentliche Abfolge irgendwie durcheinandergeraten, so dass wir zwar einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, aber nicht in dieser Reihenfolge (um Godard zu zitieren): Das Lied beginnt und endet mit dem, was nach den Standardregeln und -erwartungen der Mittelteil ist, so dass seine Struktur selbst eine unendliche, unbefriedigte Sehnsucht zur Schau stellt. Ferner verleiht in diesem Lied, und noch deutlicher in ‘Zwielicht’ (aus Liederkreis Opus 39), die Nicht-Synchronisierung zwischen Stimme und Klavierbegleitung (die Verzögerungen, Überholungen und andere kaum wahrnehmbare Formen rhythmischer Nichtkoordination zwischen Vokallinie und Klavierlinie sowie zwischen den beiden Händen der Klavierstimme selbst) dem Lied eine unheimliche, traumähnliche Atmosphäre. Was wir hier haben, ist eine Art musikalisches Äquivalent zu Orson Welles’ Weitwinkel-Fokusaufnahme, die das Gesicht in der Nahaufnahme verzerrt und gleichzeitig den Hintergrund in eine derealisierte, traumähnliche Landschaft verwandelt. Anstatt die Realität (sowie die psychologische ‘Normalität’) des Set-ups zu garantieren, derealisiert die Klavierbegleitung so die Situation und färbt sie mit einem Hauch von Pathologie … kein Wunder, dass ‘Zwielicht’ mit einer rezitativischen Panik-Warnung endet: ‘Hüte dich, sei wach und munter!’, als ob das singende Subjekt in seinem Schlussmoment plötzlich aus seinem Eintauchen in den verführerischen Sog des Liedes zurückweicht und uns davor warnt, uns dem Wahnsinn des Realitätsverlusts hinzugeben (der in ‘Zwielicht’ durch den unheimlich hypnotischen, kreisenden, kindlichen Charakter der melodischen Linie angezeigt wird).

•Lied 8 von Dichterliebe (‘Und wüßten’s die Blumen, die kleinen …’) ist in diesem Sinn eine Art Umkehrung von ‘Zwielicht’: Die Warnung versagt in ihrer Schutzfunktion, so dass, wenn die Worte zu Ende sind, der Klavierschluss in einem exzessiven Wutausbruch explodiert. Wir haben es hier nicht mit der Standard-Coda zu tun, die sich an den ‘offiziellen’ Schluss der melodischen Linie anfügt (zwei herausragende Beispiele: Beethovens Fidelio-Ouvertüre und, in Mozarts Die Zauberflöte, der Schluss von Taminos und Paminas Duett nach der Prüfung von Wasser und Feuer); bei Schumann beinhaltet dieser Ausbruch eine präzise bestimmte Umkehrung. Die ersten drei Strophen des Liedes drücken den Standardkontrast der Poesie zwischen der unschuldigen Schönheit der äußeren Natur und dem verzweifelten Zustand der Seele des Dichters aufgrund seines gebrochenen Herzens aus (wenn nur Blumen [Nachtigallen, Sterne …] seinen Kummer wüssten, würden sie auch mit ihm weinen und ihm Trost spenden). Die letzte Strophe jedoch führt einen scharfen Kontrast ein: Obwohl keine von ihnen es wissen kann, gibt es eine, die es weiß, und sie wird keine Tränen vergießen, weil diejenige, die es weiß, ihm selbst das Herz entzweigerissen hat und so die eigentliche Ursache seines Kummers ist – an diesem Punkt bricht die Wut in der exzessiven Coda aus. Schumann demonstriert seine Meisterschaft darin, wie der sanft melancholische, fast pastorale Modus der ersten drei Strophen in die Wut der letzten Strophe umschlägt, die den Rahmen des Liedes selbst sprengt; worum es in dieser Wut geht, ist Wissen: Sie weiß es und es kümmert sie nicht … Im Hintergrund dieser Umkehrung steht natürlich der verletzte Narzissmus des Dichters: Er sucht Mitgefühl und Trost – das heißt, er sucht einen Anderen, von dessen Standpunkt aus er richtig bemitleidet würde. Leider ist gerade diejenige, die ihn bemitleiden könnte, die Ursache seines Unglücks; aus diesem Grund verwandelt sich die vorgetäuschte passive und fügsame Traurigkeit des Dichters in die aggressive Wut, die, nachdem sie lange unter der Oberfläche geglüht hat, plötzlich aufflammt. Was wir hier haben, ist die grundlegende Schumannsche Erfindung ‘einer absoluten Koinzidenz von Worten und Musik, aber einer Koinzidenz, die durch ein Paradox erreicht wird’:¹⁸ Die Explosion der Klavierwut steht für die Wut des Dichters (des Subjekts), die so stark wird, dass sie nicht mehr verbalisiert, nicht mehr von der Stimme gesungen werden kann – das heißt: Das Klavier gibt der Stille des vom Zorn erstickten Subjekts Form …

•Ein noch verfeinerteres Beispiel dieser ‘Koinzidenz von Worten und Musik, die durch ein Paradox erreicht wird’, begegnet uns in ‘Ich kann’s nicht fassen’ (aus Frauenliebe und Leben), wo die Melodie ihre vokale Autonomie verliert: Am Höhepunkt verschwindet die Stimme der Sängerin, die Linie geht nur noch im Klavier weiter, so dass die Unmöglichkeit für das Subjekt, zu begreifen, was vorgeht, ‘in Musik übersetzt wird durch die Unmöglichkeit, die Konzeption vokal zu realisieren’.¹⁹ Hier entsteht auf strikt strukturelle Weise ‘die Bedeutung aus der Unmöglichkeit musikalischer Realisierung’ – gerade das Scheitern, die eigentliche Botschaft zu übermitteln, übermittelt die Botschaft von Schock und Unbegreiflichkeit. Hier begegnen wir wieder dem ‘gestrichenen’ Subjekt, das durch das Scheitern entsteht, einen adäquaten Ausdruck zu finden, durch die Unmöglichkeit einer adäquaten signifikanten Repräsentation; einem Subjekt, das nicht das symbolische Subjekt ist (der ‘Inhalt’, der in der symbolischen Kette ausgedrückt wird, die es repräsentiert), sondern vielmehr eine ‘Antwort des Realen’ auf das Scheitern der symbolischen Repräsentation selbst.

•Im letzten Gedicht von Frauenliebe (‘Du hast mich betrogen’), wo die Frau den Tod ihres Geliebten beklagt, haben wir einen Fall unterdrückter Melodie. Im Moment des größten Pathos, nach den Worten ‘Ich zieh’ mich in mein Innres still zurück, / Der Vorhang fällt / Dort hab’ ich dich und mein verlor’nes Glück / Du [bist] meine Welt’, bleibt die Sängerin stumm, und das Klavier allein spielt das erste Lied des Zyklus noch einmal, die Erinnerung an den ersten Anblick des Geliebten durch die Frau – nicht das Lied selbst, sondern seine Begleitung. Der entscheidende Punkt, der nicht zu verfehlen ist, besteht darin, dass im ersten Lied am klimaktischen Punkt seiner Melodie (‘Tauchst aus tiefstem Dunkel’ – ‘steigst aus tiefster Dunkelheit’) die Stimme allein zu hören ist, während die Begleitung für einige Takte zurücktritt. In der Wiederholung, wenn wir nur die Begleitung hören, fehlt der klimaktische Moment; da wir ihn jedoch erinnern, macht ihn seine Abwesenheit noch greifbarer: ‘das Motiv entsteht im Kopf des Hörers tatsächlich aus der Leere, die das Klavier hinterlässt’.²⁰ Wiederum macht die Abwesenheit der vollen Melodie, ihres Höhepunkts, sie präsenter als ihre bloße Anwesenheit …

•In einem ähnlichen Lied aus dem männlichen Zyklus Dichterliebe (‘Ich hab’ im Traum geweinet’) wird dieselbe Struktur der Abwesenheit ins Extrem geführt. Dreimal berichtet der Dichter den Inhalt seines Traums, der ihn zu Tränen gerührt und sein heftiges Erwachen verursacht hat: In der invertierten zeitlichen Ordnung beklagt er zuerst den Tod des geliebten Mädchens, dann die Tatsache, dass sie ihn unerwartet verlassen hat; schließlich träumt er, dass sie ihn noch liebt. Wir weichen also von der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit zurück (die Gegenwart, in der die Erzählung des Liedes stattfindet, ist natürlich die Notlage des verlassenen Liebenden: Der Traum vom Tod der Geliebten ist offensichtlich die Realisierung des Todeswunsches des Dichters). Wieder ist die Begleitung hier entscheidend: In den ersten beiden Strophen ist sie äußerst spärlich, nur ein paar Töne, die die vokale Melodielinie punktieren, ohne der Stimme tatsächlich zu folgen und sie zu verdoppeln; in der dritten Strophe, wenn die Einbildungskraft des Dichters durch die Erinnerung an die glückliche Vergangenheit belebt wird, ist er schließlich ‘in seinem Element’, er wird wirklich lebendig. Der Wechsel wird angezeigt durch die plötzliche Belebung der Klavierbegleitung, die sich in eine kontinuierliche, immer lautere, immer energischere eigene melodische Linie verwandelt – hier ist es ernst, wir haben offenkundig das Zentrum der emotionalen Schwerkraft berührt. Wenn sich jedoch das Bewusstsein wieder aufdrängt, dass in der Gegenwart all dies verloren ist, bricht die Vokallinie an ihrem eigenen Höhepunkt zusammen, und was folgt, ist lediglich die Klavierbegleitung zu den ersten beiden Strophen: Eine lange Stille wird durch ein paar kurze Töne unterbrochen, gefolgt wiederum von einer übermäßig langen Stille, die ihrerseits durch zwei kurze Klaviertöne unterbrochen wird, die das Lied beschließen. Der Status dieser spärlichen Töne, die die Stille unterbrechen, ist radikal ambivalent: Man kann sie als ein da capo senza fine lesen, als einen seltsam gedehnten Schluss, der dennoch einen ‘Schlusseffekt’ hervorbringt, und zugleich als ein fragmentarisches Erinnern der abwesenden melodischen Linie – das heißt: als eine Geste, die den endgültigen Zusammenbruch der vokalen Melodielinie greifbar macht, die umso mächtiger im Kopf des Hörers nachhallt, weil sie nicht gehört wird …²¹

5

Humoreske, Schumanns Klaviermeisterwerk par excellence, ist vor dem Hintergrund dieses graduellen Verschwindens der Stimme zu lesen (obwohl die meisten seiner Liedzyklen nach seinen großen Klavierstücken komponiert wurden): Es ist kein einfaches Klavierstück, sondern ein Lied ohne Vokallinie, mit der Vokallinie auf Schweigen reduziert, so dass wir tatsächlich nur die Klavierbegleitung hören. (Dieses Verschwinden der Stimme ist strikt äquivalent zum ‘Tod des Menschen’, und entscheidend ist hier, Mensch [‘Person’] nicht mit dem Subjekt zu verwechseln: Das lacanianische Subjekt qua $ ist gerade das Ergebnis des ‘Tods des Menschen’. Für Lacan, im klaren Gegensatz zu Foucault, ist Humanismus etwas, das in der Renaissance entstand und mit dem kantischen Bruch in der Philosophie entsorgt wurde – und, so könnten wir hinzufügen, mit Schumann in der Musik.) So sollte man die berühmte ‘innere Stimme [innere Stimme]’, die Schumann (in der Partitur) als dritte Linie zwischen den beiden Klavierlinien, oben und unten, hinzufügt, lesen: als die vokale Melodielinie, die eine nicht-vokalisierte ‘innere Stimme’ bleibt, eine Art musikalisches Äquivalent zum heidegger-derridaschen ‘durchgestrichenen’ Sein. Was wir tatsächlich hören, ist somit eine ‘Variation, aber nicht über ein Thema’, eine Reihe von Variationen ohne Thema, Begleitung ohne die Hauptmelodielinie (die nur als Augenmusik, Musik nur für die Augen, in der Gestalt geschriebener Noten existiert). (Kein Wunder, dass Schumann ein ‘Konzert ohne Orchester’ komponierte, eine Art Gegenstück zu Bartóks ‘Konzert für Orchester’.) Diese abwesende Melodie ist auf der Grundlage der Tatsache zu rekonstruieren, dass die erste und die dritte Ebene (die Klavierlinien der rechten und der linken Hand) sich nicht direkt aufeinander beziehen – ihre Beziehung ist nicht die eines unmittelbaren Spiegelns: Um ihre Verbindung zu erklären, ist man daher gezwungen, eine dritte, ‘virtuelle’ Zwischenebene (Melodielinie) zu (re)konstruieren, die aus strukturellen Gründen nicht gespielt werden kann. Ihr Status ist der eines unmöglich-Realem, das nur in der Gestalt einer Schrift existieren kann; das heißt: physische Präsenz würde die beiden Melodielinien, die wir in der Realität hören, annihilieren (wie in Freuds ‘Ein Kind wird geschlagen’, in dem die mittlere Phantasieszene niemals bewusst war und als das fehlende Bindeglied zwischen der ersten und der letzten Szene rekonstruiert werden muss).

Schumann treibt dieses Verfahren der abwesenden Melodie zu einer scheinbar absurden Selbstreferenz, wenn er später im selben Fragment der Humoreske dieselben zwei tatsächlich gespielten Melodielinien wiederholt, doch diesmal enthält die Partitur keine dritte abwesende Melodielinie, keine innere Stimme – was hier abwesend ist, ist die abwesende Melodie, das heißt: die Abwesenheit selbst. Wie sollen wir diese Noten spielen, wenn sie auf der Ebene dessen, was tatsächlich zu spielen ist, die vorherigen Noten exakt wiederholen? Den tatsächlich gespielten Noten ist nur das entzogen, was nicht da ist, ihr konstitutiver Mangel – oder, um die Bibel zu paraphrasieren, sie verlieren sogar das, was sie nie hatten. Wiederum ist es dieser Unterschied zwischen ‘strukturierender Abwesenheit’ (der ‘inneren Stimme’) und reiner Abwesenheit, der die Koordinaten moderner Subjektivität liefert: Diese Subjektivität hängt an der abwesenden Melodie – das heißt: Das moderne Subjekt entsteht, wenn sein objektales Gegenstück (in diesem Fall eine Melodie) verschwindet, aber in seiner Abwesenheit selbst präsent (wirksam) bleibt: kurz, das Subjekt ist korrelativ zu einem ‘unmöglichen’ Objekt, dessen Existenz rein ‘virtuell’ ist.

Wenn die vokale Melodie, die unmittelbar das Innere des Subjekts ‘ausdrücken’ soll, verschwindet – das heißt, wenn alles, was bleibt, die der Vokallinie beraubte Klavierbegleitung ist –, dann signalisiert dieses Verschwinden, weit davon entfernt, den ‘Tod des Subjekts’ zu markieren, sein genaues Gegenteil, das Auftauchen des ‘gestrichenen’ Subjekts. Wenn jedoch diese Abwesenheit selbst fehlt, betreten wir den Bereich des Triebs: Im Trieb ist der Verlust selbst verloren, so dass wir nicht mehr die unendliche Sehnsucht nach dem verlorenen Objekt haben, die für das Begehren konstitutiv ist (aus diesem Grund ist die Humoreske ein seltsam heiteres und überschwängliches Stück, frei von jedem Rest schlaffer romantischer Sehnsucht). Und insofern das Sein des Subjekts selbst an der wirksamen Abwesenheit eines unmöglichen ‘verlorenen Objekts’ hängt, entspricht der ‘Verlust eines Verlusts’ im Trieb dem, was Lacan ‘subjektive Entäußerung’ nennt.

Ist nicht die ‘innere Stimme’ als das Paradox einer Stimme, die nicht materialisiert werden kann, so ein exemplarischer Fall des lacanianischen objet petit a? Wie wir gerade gesehen haben, haben wir in der Humoreske zwei Notenserien, die auf der Ebene ihrer positiven Merkmale (dessen, was tatsächlich gespielt wird) exakt gleich sind; der Unterschied liegt nur in einer anderen Beziehung zu ihrer konstitutiven Abwesenheit, zur fehlenden ‘inneren Stimme’. In einer guten Aufführung der Humoreske ‘klingen’ diese beiden Notenserien irgendwie unterschiedlich, obwohl sie genau gleich sind – ist das nicht die eigentliche Definition des objet petit a, insofern objet petit a das unergründliche X ist, das geheimnisvolle je ne sais quoi, das in der positiven Realität nirgends zu finden ist, dessen Anwesenheit oder Abwesenheit jedoch diese positive Realität ‘gänzlich anders’ erscheinen lässt?

Man ist auch versucht zu sagen, dass Schumann in seinen ‘Variationen ohne Thema’ den deleuzianischen Begriff der Subjektivität als le pli, als Falte des substantiellen Inhalts, exemplifiziert: Erst wenn wir Variationen ohne Melodie haben, eine Reihe von Falten ohne festen substantiellen Inhalt, ist das Subjekt nicht länger eine (andere) Substanz. Im traditionellen romantischen Lied ist das Subjekt noch durch den substantiellen Inhalt des inneren Reichtums definiert, der durch seine Stimme ausgedrückt wird, wozu das Klavier den Hintergrund-Faltenwurf liefert; bei Schumann bleibt nur noch die Falte selbst, der Melodie beraubt, die als zu ‘substanziell’ verworfen wird, um das Leere der Subjektivität angemessen ausdrücken zu können. Der einzige Weg, das Subjekt richtig zu evozieren, besteht darin, es als ein Leeres auszudrücken, um das herum die Falte der ‘Variationen ohne Thema’ kreist.

Anders gesagt: Schumann war der erste ‘Antihumanist’ in der Musik: Was seine musikalische Praxis vollzieht, ist der Übergang von der ‘menschlichen Person’ (die den Reichtum ihrer substantiellen Emotionen in der Melodie ausdrückt) zum Subjekt qua $, ein Übergang streng analog zu Kant, der als Erster die Spaltung zwischen Subjekt (dem Leeren reiner Negativität) und Person (dem besonderen Reichtum emotionalen usw. ‘pathologischen’ Inhalts) eingeführt hat und daher der erste philosophische Antihumanist war. Humanismus ist vormodern, vorkartesianisch, indem er den Menschen auf den Höhepunkt der Schöpfung reduziert, statt ihn als ein Subjekt zu denken, das außerhalb der Schöpfung steht. Unser Argument ist somit, dass die formale Struktur von Schumanns Musik selbst das Paradox moderner Subjektivität ausdrückt: die Barre – die Unmöglichkeit, ‘man selbst zu werden’, die eigene Identität zu aktualisieren – aufgrund deren ‘unendliche Sehnsucht’ für Subjektivität konstitutiv ist. Kein Wunder also, dass man bei Schumann das musikalische Gegenstück zum hegelianischen Prozess der ‘Subjektivierung der Substanz’ findet, zur Integration des unmittelbaren substantiellen Inhalts in die Subjektivität.

Um ein Minimum an Konsistenz aufrechtzuerhalten, muss das Subjekt sein Sein an ein ‘kleines Stück des Realen’ anheften, das im lacanianischen Sinn des Begriffs ‘extim’ ist: ein äußeres, kontingentes, vorgefundenes Element, das zugleich für das innerste Sein des Subjekts steht. Dieses Paradox der Extimität ist klar erkennbar in der Art und Weise, wie Schumann Fragmente von Melodien manipuliert, die er von anderen Komponisten (oder aus seinem eigenen früheren Werk, wie beim ‘Papillon’-Motiv in ‘Florestan’ aus Carnaval) entlehnt: Ein Fremdkörper dringt zunächst als sinnlose Spur ein, als Trauma, das den Fluss der ‘eigenen’ melodischen Linie unterbricht; allmählich jedoch wird dieser Eindringling ‘durchgearbeitet’, vollständig in das Hauptgewebe der Komposition integriert, so dass er am Ende seinen äußeren Charakter verliert und als etwas reproduziert wird, das von der inneren Logik der Komposition selbst erzeugt ist. Man nehme den ersten Satz der Phantasie in C-Dur, in dem die entlehnte Melodie (eine Anspielung auf Beethovens An die ferne Geliebte), deren verborgene Echos im ganzen Stück erkennbar sind, erst ganz am Ende ‘wiederholt’ (voll ausgeführt) wird und so den befriedenden Effekt der Auflösung erst im allerletzten Moment hervorbringt: Was zunächst als Fremdkörper erschien, der die eigentliche melodische Linie stört, erweist sich als der innerste Kern des Stücks, die (äußere) Referenz wird zur Selbstreferenz; was entlehnt ist (von einem anderen Komponisten), wird allmählich von innen heraus erzeugt, die Voraussetzung (der Inhalt, der ‘vorausgesetzt’ ist, von einem anderen Komponisten entlehnt) wird gesetzt – ist das nicht ‘Hegel in der Musik’? Ferner: Liefert dieses einzigartige Verfahren nicht eine Art musikalisches Gegenstück zur freudschen allmählichen Integration eines traumatischen Einbruchs (einer sinnlosen Erinnerungsspur) in das symbolische Lebensgewebe des Subjekts im Verlauf psychoanalytischer Interpretation? Entscheidend ist, den radikal ambivalenten Status des Fragments (des fremden Eindringlings) aufrechtzuerhalten, seine Unentscheidbarkeit zwischen Voraussetzung und etwas Gesetztem: Wie wir von Freud gelernt haben, ist ein Trauma als Kern des unmöglich-Realem, der hervorsteht und der Symbolisierung widersteht, nichtsdestoweniger ein nachträgliches Produkt eben dieses Symbolisierungsprozesses.

6

Carnaval, ein weiteres von Schumanns Klaviermeisterwerken, ist ein ausgezeichnetes Beispiel der deleuzianischen rhizomatischen Struktur: Seine einundzwanzig Abschnitte verschlingen sich auf vielfältige Weise, jeder von ihnen eine Art ‘Variation’ auf andere, mit anderen verbunden durch melodische oder rhythmische Echos, Wiederholungen und Kontraste, deren Logik sich nicht in einer einzigen universalen Regel begründen lässt. In klassischen Variationen (etwa in Beethovens Diabelli-Variationen) erhalten wir zunächst das Thema ‘als solches’, gefolgt von der Vielzahl seiner Variationen: Wie man es bei Schumann erwarten würde, fehlt das ‘Thema’ schlicht. Doch – und hier unterscheidet sich Schumanns Praxis von der ‘dekonstruktivistischen’ Vorstellung eines Spiels von Variationen ohne Original – besitzen diese ‘Variationen’ nicht alle dasselbe Gewicht: Es gibt einen Abschnitt, der klar ‘hervorsticht’, aufgrund seines elementaren Charakters einer musikalischen Übung eher als einer voll ausgearbeiteten Komposition, ‘The Dancing Letters [Lettres dansantes]’. Ferner liefert der Vergleich des tatsächlich aufgeführten Stücks mit der geschriebenen Liste der Abschnitte ein weiteres enigmatisches überschüssiges Element: Auf den achten Abschnitt (‘Réplique’) folgt ‘Sphinxes’, ein Abschnitt, der lediglich geschrieben ist und nicht aufgeführt werden kann. Was sind diese geheimnisvollen ‘Sphinxes’?

Der Untertitel von Carnaval lautet ‘Miniaturszenen auf vier Noten [Scènes mignonnes sur quatre notes]’, und ‘Sphinxes’ liefert diese vier Noten, die musikalische Chiffre der jouissance, die eine Reihe mnemonischer Assoziationen verdichtet: Die junge Pianistin Ernestine von Fricken, Schumanns damalige Freundin zur Zeit der Komposition von Carnaval, stammte aus der böhmischen Stadt Asch, ein Name, dessen vier Buchstaben identisch sind mit den einzigen Buchstaben des Wortes ‘Schumann’, die in der deutschen Musikterminologie Notenäquivalente haben (wobei ‘H’ für B und ‘B’ für B flat steht). Außerdem erhalten wir, wenn wir ‘As’ als As-Dur? als As? als A flat lesen, eine weitere Variante der musikalischen Chiffre, so dass wir drei kurze Reihen gewinnen: SCHumAnn (Es – C – H – A); ASCH (gelesen als: As – C – H); ASCH (gelesen als: A – Es – C – H). In seinem Psychanalyser berichtet Serge Leclaire²² von einer psychoanalytischen Behandlung, die bei seinem Patienten die Chiffre des Genießens hervorbrachte: den rätselhaften Ausdruck poord’jeli, eine Verdichtung einer Vielzahl mnemonischer Spuren (die Liebe des Patienten zu einem Mädchen namens Lili, ein Bezug auf licorne usw., usw.). Begegnen wir nicht etwas von derselben Ordnung in Schumanns ‘Sphinxes’?

Die Vielfalt von Carnaval ist somit um zwei Knotenpunkte herum angeordnet: ‘Sphinxes’ – das gleichsam die unmöglich-reale ‘Chiffre des Genießens’ liefert, die nur im Modus stummer Schrift präsent ist – und ‘Lettres dansantes’, die genau das sind, was der Titel sagt, die Darstellung dieser Chiffre in der Gestalt einer ‘vorbereitenden’ spielerischen Miniatur. Das ganze Stück dreht sich so um ‘Sphinxes’ als seinen abwesenden, unmöglich-realen Referenzpunkt: eine Reihe bloßer Noten ohne Takt oder Harmonie – kantisch gesprochen sind sie musikalisch nicht ‘schematisiert’ und können daher tatsächlich nicht aufgeführt werden. ‘Sphinxes’ ist ein präphantasmatisches Synthom, eine Formel des Genießens – nicht unähnlich Freuds Formel des Trimethylamin, die am Ende des Traums von Irmas Injektion erscheint. Als solche ist die Abwesenheit von ‘Sphinxes’ strukturell: Würde ‘Sphinxes’ tatsächlich aufgeführt, würde die fragile Konsistenz des gesamten Stücks auseinanderfallen. Kurz: ‘Sphinxes’ ist das objet petit a von Carnaval, der Abschnitt, dessen Ausschluss die Realität der verbleibenden Elemente garantiert. In manchen Aufnahmen wird ‘Sphinxes’ tatsächlich aufgeführt: weniger als eine halbe Minute aus einem Dutzend gedehnter Töne. Der Effekt ist angemessen unheimlich, als wären wir ‘durch den Spiegel’ getreten und in ein verbotenes Gebiet eingedrungen, jenseits (oder vielmehr unterhalb) des phantasmatischen Rahmens – oder, genauer, als hätten wir einen Blick auf ein Wesen außerhalb seines eigentlichen Elements erhascht (wie wenn man einen toten Tintenfisch auf einem Tisch sieht, nicht mehr lebendig und anmutig im Wasser beweglich). Aus diesem Grund kann das unheimliche Geheimnis dieser Noten plötzlich in Vulgarität, ja in Obszönität umschlagen – kein Wunder, dass der herausragendste Verfechter der Aufführung von ‘Sphinxes’ niemand anderes als Rachmaninow war, einer der exemplarischen Kitschkomponisten ernster Musik.

Unter Berücksichtigung der zentralen Rolle des Begriffs ‘Schmetterling’ in Schumanns Universum (nicht nur heißt eines der Carnaval-Stücke ‘Papillons’, sondern Papillons ist auch der Titel eines weiteren seiner großen Klaviermeisterwerke, und, wie wir bereits gesehen haben, integriert ‘Florestan’ aus Carnaval allmählich ein Fragment aus Papillons in sein Gewebe), sollte man betonen, wie dieser Begriff Schumanns Aufmerksamkeit nicht nur als Metapher für einen fragilen und vorübergehenden Funken von Schönheit anzog, sondern auch als ein Begriff, der die Opposition zur Larve als ihrer noch nicht voll entwickelten Form einschließt, ebenso wie zur Motte als ‘Schmetterling der Nacht [papillon de nuit]’ (was nebenbei die biologische Bedeutung von ‘sphinx’ ist – für Schumann verweist ‘sphinx’ also nicht nur auf das rätselhafte Statuenrätsel!). ‘Sphinxes’ enthält gleichsam den Kern des ganzen Carnaval in seinem larvalen, präontologischen Zustand, und in ‘Papillons’, einem dynamischen Stück, das unmittelbar auf ‘Sphinxes’ folgt, scheint es tatsächlich, als hätte ein Schmetterling die Trägheit einer Larve abgestreift und begonnen, wild zu fliegen.

Man sollte hier die durchaus respektable philosophisch-ideologische Genealogie von Larve und Schmetterling heraufbeschwören: Aristoteles’ biologische Schriften zeugen von einer Faszination für die Larve, die als ein lebendiger Toter bezeichnet wird, ein Körper ohne Seele [psyche], und die Verwandlung der Larve in den Schmetterling steht für die Seele, die die körperliche Trägheit abstreift und abhebt (im Griechischen bedeutet psyche auch ‘Schmetterling’!). Wofür die Larve (oder, auf einer anderen Ebene, die Motte) steht, ist das unheimliche präontologische, noch nicht symbolisierte Relationsgewebe, das zuerst von Platon berührt wurde, der in seinem späten Dialog Timaios über chora spekulierte, eine Art Matrix-Recep-tacle aller bestimmten Formen, regiert von ihren eigenen kontingenten Regeln – entscheidend ist, diese chora nicht allzu hastig mit der aristotelischen Materie [hyle] zu identifizieren.

Viel später hat der deutsche Idealismus die genauen Konturen dieser präontologischen Dimension umrissen, die der ontologischen Konstitution der Realität vorausgeht und ihr entgleitet (im Gegensatz zur Standardbanalität, der zufolge deutsche Idealisten die ‘panlogizistische’ Reduktion aller Realität auf das Produkt der Selbstvermittlung des Begriffs betrieben). Kant war der Erste, der diesen Riss im ontologischen Gebäude der Realität entdeckte: Wenn (das, was wir als) ‘objektive Realität’ erfahren, nicht einfach ‘da draußen’ gegeben ist, darauf wartend, vom Subjekt wahrgenommen zu werden, sondern ein künstliches Komposit ist, konstituiert durch die aktive Beteiligung des Subjekts – das heißt, durch den Akt der transzendentalen Synthesis –, dann drängt sich früher oder später die Frage auf: Welchen Status hat das unheimliche X, das der transzendental konstituierten Realität vorausgeht? Es war natürlich Schelling, der die detaillierteste Darstellung dieses X in seinem Begriff des Grundes der Existenz gab – dessen, was ‘in Gott selbst noch nicht Gott ist’: der ‘göttliche Wahnsinn’, der dunkle präontologische Bereich der ‘Triebe’, das prälogische Reale, das für immer der schwer fassbare Grund der Vernunft bleibt, der niemals ‘als solcher’ erfasst, sondern nur in der Geste seines Rückzugs erblickt werden kann …

Um eine Vorstellung dieser präontologischen Dimension zu gewinnen, können wir uns erneut an die Szene aus Brazil erinnern, in der in einem noblen Restaurant der Kellner seinen Kunden die besten Posten des Tagesmenüs empfiehlt (‘Heute ist unser Tournedos wirklich besonders!’, usw.), und die Kunden bei ihrer Wahl doch nur ein blendendes Farbfoto des Gerichts auf einem Ständer über dem Teller erhalten, während auf dem Teller selbst ein widerlicher exkrementaler pastenartiger Klumpen liegt: Ist nicht diese Spaltung zwischen dem Bild des Essens und dem Realen seines formlosen exkrementalen Restes – zwischen der geisterhaften substanzlosen Erscheinung und dem rohen Stoff des Realen – strikt analog zu der Kluft, die den Rohstoff der ‘Sphinxes’ von der Vielzahl der ‘Schmetterlinge’ trennt, diesen kurzen Funken spektraler Erscheinungen? Diese Kluft ‘derealisiert’ so die solide, feste Realität, verwandelt sie in eine fragile Maske, unter der eine grauenhafte Lebenssubstanz pocht; auf der intersubjektiven Ebene löst sich auch die psychologische Realität einer ‘anderen Person’ in eine Vielzahl von Masken auf.

Es ist oft bemerkt worden, dass das Universum von Carnaval nicht das Universum ‘realer Menschen’ ist, sondern das Universum nahe bei den Erzählungen E.T.A. Hoffmanns oder den expressionistischen Gemälden Edvard Munchs: ein Karneval, in dem wir einer Vielzahl von Masken begegnen, deren Darunter ungewiss ist und zwischen mechanischen Puppen und der grauenhaften Substanz untoten Lebens (Gespenstern) oszilliert. Es gibt nur ein Stück in Carnaval, in dem sich diese ‘derealiserende’ Qualität auflöst, so dass wir es scheinbar mit dem Universum ‘realer Menschen’ zu tun haben, nicht mit unheimlichen Masken von Gespenstern und lebenden Puppen: ‘Reconnaissance’, ein weiteres Stück, das gleichsam aus der Totalität von Carnaval hervorsticht, insofern es wohl das ‘schönste’ aller Stücke ist; das heißt: dasjenige, das einer leicht erinnerbaren und wiedererkennbaren populären Melodie am nächsten kommt. Schumann selbst beschrieb dieses Stück als ein ‘Treffen von Liebenden’: ein Traum von einer endlich erfüllten sexuellen Wiedervereinigung. Als wolle er die phantasmatische Qualität einer solchen Wiedervereinigung anzeigen, verwendet Schumann hier einen genialen akustischen Trick: Die gesamte Melodie wird in schnellen Noten eine Oktave tiefer gedoppelt, wodurch eine Art Schimmer-Effekt entsteht; zweifellos eine Art musikalisches Äquivalent zu den standardmäßigen Hollywood-Kitschverfahren, eine Liebesszene mit unscharfen Linsen zu verwischen, süße ‘romantische’ Musik und so weiter. Das Paradox besteht also darin, dass das einzige Stück in Carnaval, das uns zur alltäglichen ‘festen Realität’ zurückbringt, eben das Stück ist, dessen ‘Schönheit’ gefährlich nahe an musikalischen Kitsch heranreicht.

7

Was sagen uns dann all diese Paradoxien über schumannsche Subjektivität? Eine unfehlbare Regel bei Schumann lautet, dass man über seine Lieder überhaupt nichts verstehen kann, ohne ihre Coda zu berücksichtigen. In seiner Dichterliebe zum Beispiel wird der Schlüssel zum gesamten Zyklus durch die lange Coda geliefert, die ‘Im Rhein, im heiligen Strome’ beschließt, das Lied in der Mitte des Zyklus, das seine Geliebte mit dem geheimnisvollen Madonnenbild im Kölner Dom am Rheinufer vergleicht.²³ Der vage, aber dennoch tief verstörende Effekt dieser Coda hängt daran, dass sie den allmählichen Zusammenbruch der Sublimierung in Musik setzt – das heißt, die Bewegung von der erhabenen Madonna (in den Worten des Liedes evoziert) zur verräterischen und abstoßenden Frau, dem Objekt des nächsten Liedes, ‘Ich grolle nicht’, in dem der zerbrochene Dichterheld heroisch ablehnt, ihren Verlust zu beweinen. Also zurück zu unserem Ausgangspunkt über Musik als Flehen, das den Anderen anruft, seine oder ihre Hand nach uns auszustrecken: Was bei Schumann offenkundig wird, ist die völlige Ambiguität dieses Flehens, die Art, wie es auch sein Gegenteil einschließt: ja, antworte meinem Ruf, strecke deine Hand aus, aber nicht zu weit – halte Abstand!

Zum Schluss springen wir an das andere Ende, zur Auflösung des romantischen Subjekts – es gibt ein einzigartiges Musikstück, das das Verschwinden des romantischen Subjekts inszeniert: Schönbergs Gurrelieder, die nicht nur ‘Wagner noch wagnerischer als Wagner selbst’ machen, sondern auch den Übergang von der Spätromantik zur eigentlich modernen Musik markieren. Gurrelieder ist ein merkwürdiges Stück, ausgezeichnet durch eine doppelte Spaltung: Seine melodische Linie wurde 1901–02 komponiert, als Schönberg noch ein Spätromantiker war, und 1910 instrumentiert, nach Schönbergs atonalem Bruch; diese Dissonanz zwischen der spätromantischen melodischen Linie und der atonalen Orchestrierung erklärt die unheimliche Wirkung des Stücks auf den Hörer. Gurrelieder ist außerdem in seiner Erzähl-Linie selbst gespalten: Der Hauptteil erzählt die archetypische spätromantische Geschichte der tödlichen Leidenschaft, die über das Grab hinaus fortdauert (nachdem seine Geliebte Tove getötet wird, erhebt sich König Waldemar gegen Gott selbst und wird für diese Blasphemie dadurch bestraft, dass er mit seiner Schar von Soldaten ruhelos als untote Gespenster wiederkehrt); gegen Ende jedoch wird der schwer pathetische spätromantische Gesang durch das Melodram (gesprochener Gesang, Sprechgesang) ersetzt, das die Regeneration des Lebens ankündigt, die Verwandlung des nächtlichen gespenstischen Umherstreifens der ‘Untoten’ in die Feier des neuen Tageslichts, der wiedererwachten ‘gesunden’ Natur. Genau an diesem Punkt zieht sich das romantische Subjekt, das für die ‘Nacht der Welt’ steht, dessen innerstes Sein aus phantasmatischer Gespenstigkeit besteht, zurück und wird durch das neue Tageslicht ersetzt – aber, was für ein Tageslicht? Ganz gewiss nicht das alte, vorromantische Tageslicht der heiteren klassizistischen Vernunft. Gewiss wird die romantische Leidenschaft, Melancholie und das Aufbegehren gegen Gott durch eine erneuerte optimistische Seligkeit ersetzt – doch wiederum: was für eine Seligkeit? Ist diese Seligkeit nicht unheimlich nahe an derjenigen, die in der archetypischen Zeichentrickszene karikiert wird, in der, nachdem eine Katze oder ein Hund mit einem schweren Hammer auf den Kopf geschlagen wurde, sie selig zu lachen beginnt und Vögel um ihren Kopf zwitschern und tanzen sieht?

Das Morgengrauen, mit dem Gurrelieder endet, bezeichnet somit den Moment, in dem romantische unendliche Sehnsucht und Schmerz in völlige Unempfindlichkeit zusammenbrechen, so dass das Subjekt gewissermaßen desubjektiviert und zu einem seligen Idioten reduziert wird, der nur noch bedeutungsloses Gebrabbel hervorbringen kann. Aus diesem Grund hat die übermäßig pathetische Deklamation des Sprecher-Sprechgesangs, der Gurrelieder beschließt, definitiv etwas erschreckend-Obszönes: eine völlig denaturierte Natur, eine Art pervertierte, verspottete Unschuld, nicht unähnlich dem verdorbenen Ausschweifenden, der, um seinen Spielen Würze zu geben, ein junges unschuldiges Mädchen nachäfft … Die einzigartige Leistung der Gurrelieder besteht darin, dass sie den Übergang vom spätromantischen exzessiven expressionistischen Pathos zur desubjektivierten idiotischen Betäubung des Sprechgesangs selbst hörbar macht.

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