Die Plage der Fantasien 8

Anhang III

Das Unbewusste Gesetz:

Zu einer Ethik jenseits des Guten

1

Heute scheint der philosophische Zugang zur Ethik zwischen drei Optionen gespalten zu sein: Versuche, der Ethik über irgendeinen substantiellen (kommunitaristischen, zum Beispiel) Begriff des höchsten Guten eine direkte ontologische Grundlage zu geben; Versuche, den ethischen Universalismus zu retten, indem man seinen substantiellen Gehalt opfert und dem Universalismus eine prozeduralistische Wendung gibt (Habermas, Rawls); und die ‚postmoderne‘ Haltung, nach der die wesentliche und einzige allumfassende Regel darin besteht, sich dessen bewusst zu sein, dass das, was wir als ‚Wahrheit‘ wahrnehmen, unser eigenes symbolisches Universum, lediglich eine Fiktion unter einer Vielzahl von Fiktionen ist, und folglich die Regeln unseres Spiels den Spielen der anderen nicht aufzuzwingen – das heißt, die Pluralität der narrativen Spiele aufrechtzuerhalten.

Diese drei Optionen bilden eine Art hegelsche Triade: zuerst die Unmittelbarkeit substantieller Ethik, gegründet auf die Bezugnahme auf ein höchstes Gutes; dann ihre ‚Negation‘, die Begründung der Ethik in einem rein formalen Rahmen von Regeln (die Kritik, nach der diese formale prozeduralistische Universalität von Regeln niemals wirklich neutral ist, sondern faktisch immer irgendeinen positiven Inhalt bevorzugt, ist ziemlich zutreffend); schließlich die ‚Negation der Negation‘, die postmoderne Absage an die Universalität selbst, sodass die einzigen universalen ethischen Präzepten die negativen sind (die Pluralität der Spiele zulassen, die Andersheit des Anderen respektieren, das eigene Sprachspiel nicht als universales auferlegen …). Es sollte überflüssig sein zu betonen, wie sehr auch diese letzte Haltung ihre eigenen Paradoxien einschließt: erstens fungiert sie faktisch als eine Unterart der zweiten Position, indem sie ein Regelset zweiter Ordnung auferlegt (der Toleranz, des Akzeptierens des irreduziblen différend usw.); zweitens privilegiert sie aus eben diesem Grund auch de facto einen bestimmten positiven Inhalt. Es ist jedoch Lacans Position in Bezug auf diese Triade, die es uns ermöglicht, aus ihr auszubrechen, indem wir eine vierte Position artikulieren: eine Ethik, gegründet auf die Bezugnahme auf das traumatische Reale, das sich der Symbolisierung widersetzt, das Reale, das in der Begegnung mit dem Abgrund des Begehrens des Anderen erfahren wird (das berühmte ‚Che vuoi?‘, ‚What do you want [from me]?‘). Es gibt Ethik – das heißt, eine Anrufung, die nicht in der Ontologie gegründet werden kann – insofern es einen Riss im ontologischen Bau des Universums gibt: in seiner elementarsten Gestalt bezeichnet Ethik die Treue zu diesem Riss.

Der entscheidende Punkt, an dem die Konsistenz von Lacans Position hängt, ist somit der Unterschied zwischen Realität und dem Realen. Wenn das lacansche Reale einfach eine weitere Version von ‚Realität‘ als dem letzten und unüberwindlichen Bezugspunkt des symbolischen Prozesses ist, dann läuft Lacans Bemühen, eine neue ‚Ethik des Realen‘ zu formulieren, faktisch auf eine Rückkehr zu vormoderner substanzialistischer Ethik hinaus. Gehen wir daher diese Schlüsseldifferenz über einen Umweg durch Judith Butlers Begriff sexueller Differenz als performativ vollzogener an.¹ Sein Hintergrund ist foucaultianisch: mittels repetitiver interpellativer Prozeduren vollzieht der soziale Text, in den die Subjekte eingebettet sind, performativ eine Reihe standardisierter Merkmale (normativer Konstrukte) von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ als festen Subjektpositionen; was den Subjekten so auferlegt wird, ist der Begriff (und die materielle Praxis) ‚sexueller Differenz‘, die Opposition von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ als festen und ‚naturalisierten‘ Subjektpositionen. Für Lacan ist sexuelle Differenz jedoch etwas radikal anderes – paradoxerweise geht sie den beiden differenzierten Positionen, ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, voraus: sexuelle Differenz ist das Reale eines Antagonismus/einer Blockade, die die beiden Positionen, ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, zu symbolisieren versuchen, dies jedoch nur vermögen, indem sie in ihre eigenen Inkonsistenzen verstrickt werden.

Gegen die Kritik, das lacansche Reale fungiere weiterhin als letzter Referent, der das Spiel signifikanter Verschiebungen fixiert/begrenzt, sollte man daher auf der Unterscheidung zwischen dem Realen und der (objektiven) Realität bestehen – kurz gesagt: das Trauma qua real ist nicht der letzte äußere Referent des symbolischen Prozesses, sondern genau jenes X, das für immer jede neutrale Repräsentation äußerer referentieller Realität behindert. Noch paradoxer gesagt: das Reale qua traumatischer Antagonismus ist gleichsam der objektive Faktor der Subjektivierung selbst; es ist das Objekt, das das Scheitern jeder neutral-objektiven Repräsentation erklärt, das Objekt, das den Blick oder Zugang des Subjekts ‚pathologisiert‘, ihn parteiisch macht, ihn schief zieht. Auf der Ebene des Blicks ist das Reale nicht so sehr das unsichtbare Jenseits, das unseren Blicken entgeht, die nur trügerische Erscheinungen wahrnehmen können, sondern vielmehr der eigentliche Fleck oder Punkt, der unsere ‚direkte‘ Wahrnehmung der Realität stört und verwischt – der die direkte gerade Linie von unseren Augen zum wahrgenommenen Objekt ‚krümmt‘.

Darin liegt die unüberwindliche Kluft, die den dialektischen Materialismus für immer vom diskursiven Idealismus trennt, ebenso wie vom nichtdialektischen (‚vulgären‘) Materialismus: für Letzteren ist subjektive Wahrnehmung ein verzerrtes, ‚pathologisch‘ parteiisches ‚Abbild‘ ‚objektiver‘ Realität, die, ontologisch vollständig konstituiert, draußen, ‚unabhängig‘ vom Subjekt existiert; für den transzendentalen Idealismus wird ‚objektive‘ Realität selbst durch den subjektiven Akt transzendentaler Synthesis konstituiert. Der wahre Punkt des Idealismus ist nicht der solipsistische (‘es gibt keine objektive Realität, nur unsere subjektiven Repräsentationen von ihr’); Idealismus behauptet im Gegenteil, dass das An-sich der ‚objektiven Realität‘ deutlich von bloßen subjektiven Repräsentationen zu unterscheiden ist – sein Punkt ist nur, dass es der synthetische Akt des transzendentalen Subjekts selbst ist, der die Vielzahl von Repräsentationen in ‚objektive Realität‘ verwandelt. Kurz: Idealismus’ Punkt ist nicht, dass es kein An-sich gibt, sondern dass das ‚objektive‘ An-sich in seiner Opposition zu subjektiven Repräsentationen vom Subjekt gesetzt wird.

Lacan (dialektischer Materialismus) akzeptiert die grundlegende ontologische Prämisse des Idealismus (die transzendentale subjektive Konstitution ‚objektiver Realität‘) und ergänzt sie um die Prämisse, dass eben dieser Akt ontologischen Setzens ‚objektiver Realität‘ immer-schon ‚befleckt‘, ‚verunreinigt‘ ist durch ein bestimmtes Objekt, das dem ‚universalen‘ Blick des Subjekts auf die Realität eine besondere ‚pathologische‘ Verdrehung verleiht. Dieses besondere Objekt, objet petit a, ist somit das Paradox eines ‚pathologischen Apriori‘, eines besonderen Objekts, das gerade als radikal ‚subjektiv‘ (objet petit a ist gewissermaßen das Subjekt selbst in seiner ‚unmöglichen‘ Objektalität, das objektale Korrelat des Subjekts) die konstitutive transzendentale Universalität selbst trägt; anders gesagt: objet petit a ist nicht nur der ‚objektive Faktor der Subjektivierung‘, sondern auch das genaue Gegenteil, der ‚subjektive Faktor der Objektivierung‘.

Klären wir diesen Schlüsselpunkt am Beispiel des Traumas als des Realen. Claude Lanzmanns Film Shoah spielt auf das Trauma des Holocaust als etwas jenseits der Repräsentation an (es lässt sich nur über seine Spuren, überlebende Zeugen, verbleibende Monumente erkennen); der Grund für diese Unmöglichkeit, den Holocaust zu repräsentieren, ist jedoch nicht einfach, dass er ‚zu traumatisch‘ sei, sondern vielmehr, dass wir, die beobachtenden Subjekte, noch in ihn verwickelt sind, noch Teil des Prozesses sind, der ihn hervorgebracht hat (man muss nur an eine Szene aus Shoah erinnern, in der polnische Bauern aus einem Dorf nahe dem Konzentrationslager, heute, in unserer Gegenwart, interviewt, weiterhin Juden ‚seltsam‘ finden – das heißt, die Logik wiederholen, die den Holocaust herbeigeführt hat …).

Das traumatische Reale ist somit das, was uns gerade daran hindert, einen neutral-objektiven Blick auf die Realität einzunehmen, ein Fleck, der unsere klare Wahrnehmung von ihr verwischt. Und dieses Beispiel führt auch die ethische Dimension der Treue zum Realen qua Unmöglichem vor Augen: der Punkt ist nicht einfach, ‚die ganze Wahrheit darüber zu sagen‘, sondern vor allem, der Weise ins Auge zu sehen, in der wir selbst, mittels unserer subjektiven Position der Äußerung, immer-schon darin involviert, darin engagiert sind … Aus diesem Grund wird ein Trauma immer verdoppelt in das traumatische Ereignis ‚an sich‘ und in das Trauma seiner symbolischen Einschreibung.² Das heißt: wenn man in ein Trauma geraten ist (ein Konzentrationslager, eine Folterkammer …), ist es der Begriff des Zeugnisablegens, der einen am Leben hält – ‚Ich muss überleben, um den anderen (dem Anderen) zu erzählen, was hier wirklich vor sich ging …‘. Das zweite Trauma tritt ein, wenn diese Anerkennung des ersten Traumas durch seine symbolische Integration notwendig scheitert (mein Schmerz kann vom anderen niemals vollständig geteilt werden): dann erscheint es dem Opfer, dass er oder sie umsonst überlebt hat, dass ihr Überleben sinnlos war. Die Opfer von Vergewaltigungen im Bosnienkrieg zum Beispiel wurden erneut traumatisiert durch die Verweigerung symbolischer Anerkennung – das heißt, wenn die Erzählung ihres Martyriums entweder als Fantasieren abgetan oder als Zeichen ihrer Komplizenschaft wahrgenommen wurde (Huren verdienen es, sie sind stigmatisiert, schmutzig …); die meisten Suizide dieser Opfer ereigneten sich an diesem Punkt, nicht im direkten Nachhall der ursprünglichen traumatischen Erfahrung.

Oder – in Bezug auf Wahrheit: das Reale qua Trauma ist nicht die letzte ‚unsagbare‘ Wahrheit, der sich das Subjekt nur asymptotisch nähern kann, sondern das, was jede artikulierte symbolische Wahrheit für immer ‚nicht-alle‘, verfehlt, zu einem Knochen im Hals des sprechenden Wesens macht, der es unmöglich macht, ‚alles zu sagen‘. So funktioniert auch das Reale des Antagonismus (‚Klassenkampf‘) im sozialen Feld: Antagonismus ist wiederum nicht der letzte Referent, der das endlose Driften der Signifikanten verankert und begrenzt (‘die letzte Bedeutung aller sozialen Phänomene wird durch ihre Position im Klassenkampf bestimmt’), sondern die eigentliche Kraft ihrer ständigen Verschiebung – das, aufgrund dessen sozio-ideologische Phänomene niemals bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen/zu behaupten – zum Beispiel ist ‚Klassenkampf‘ das, aufgrund dessen jede direkte Bezugnahme auf Universalität (der ‚Menschheit‘, ‚unserer Nation‘ usw.) stets in spezifischer Weise ‚parteiisch‘ ist, gegenüber ihrer wörtlichen Bedeutung verschoben, disloziert. ‚Klassenkampf‘ ist der marxistische Name für diesen grundlegenden ‚Operator der Dislokation‘; als solcher bedeutet ‚Klassenkampf‘, dass es keine neutrale Metasprache gibt, die es uns erlaubte, die Gesellschaft als gegebene ‚objektive‘ Totalität zu erfassen, da wir immer-schon ‚Partei ergreifen‘. Die Tatsache, dass es keinen ‚neutralen‘, ‚objektiven‘ Begriff des Klassenkampfs gibt, ist somit der entscheidende konstitutive Bestandteil dieses Begriffs.³

Ganz dasselbe gilt für sexuelle Differenz qua real bei Lacan: sexuelle Differenz ist nicht der letzte Referent, der der unendlichen Drift der Symbolisierung eine Grenze setzt, insofern sie allen anderen Polaritäten zugrunde liegt und ihnen ihre ‚tiefe‘ Bedeutung liefert (wie in vormodernen sexuellen Kosmologien: Licht gegen Dunkelheit, Feuer gegen Wasser, Vernunft gegen Gefühl usw.; sie sind alle letztlich yin gegen yang, das männliche Prinzip gegen das weibliche …), sondern im Gegenteil das, was das diskursive Universum ‚schiefstellt‘, uns daran hindert, seine Formationen in ‚harter Realität‘ zu gründen – das, aufgrund dessen jede Symbolisierung sexueller Differenz für immer instabil und gegenüber sich selbst verschoben ist. Etwas spekulativ gesagt: sexuelle Differenz ist nicht irgendein geheimnisvolles unzugängliches X, das niemals symbolisiert werden kann, sondern vielmehr das eigentliche Hindernis dieser Symbolisierung, der Fleck, der das Reale für immer von den Modi seiner Symbolisierung getrennt hält. Entscheidend für den Begriff des Realen ist diese Koinzidenz des unzugänglichen X mit dem Hindernis, das es unzugänglich macht – wie bei Heidegger, der immer wieder betont, dass das Sein nicht einfach ‚entzogen‘ ist: Das Sein ‚ist‘ nichts als sein eigener Entzug …

In welchem präzisen Sinn ist das Reale dann nicht der letzte Rest eines fixen unhistorischen Referenten? Zitieren wir Ernesto Laclaus knappe Formulierung: ‚Die Grenzen der Signifikation können sich nur als die Unmöglichkeit ankündigen, das zu realisieren, was innerhalb dieser Grenzen liegt‘.⁴ In genau diesem Sinn ist das Reale (der Antagonismus) dem Symbolischen (dem System der Differenzen) inhärent, nicht das transzendente Jenseits, das der signifikante Prozess vergeblich zu erfassen versucht: im Fall realen Antagonismus ist äußere Opposition immer innere; die antagonistische Opposition von B zu A verhindert, dass A seine volle Selbstidentität realisiert, kürzt es von innen her (zum Beispiel ist sexuelle Differenz antagonistisch, insofern die Opposition zwischen Männern und Frauen, weit davon entfernt, komplementär zu sein, Frauen daran hindert, ihre Identität zu erreichen, ihre autonome Identität zu entwickeln). Dies erlaubt uns auch, die faschistische Strategie als einen verzweifelten Versuch zu begreifen, ein rein differentielles hierarchisches System der Gesellschaft zu konstruieren, indem alle Negativität, alle antagonistische Spannung, in der äußeren Figur des Juden verdichtet wird. Und das Reale kann nicht signifiziert werden, nicht weil es außerhalb, dem Symbolischen äußerlich wäre, sondern gerade weil es ihm inhärent ist, seine innere Grenze: das Reale ist der innere Stolperstein, aufgrund dessen das symbolische System niemals ‚es selbst werden‘, seine Selbstidentität erreichen kann. Aufgrund seiner absoluten Immanenz im Symbolischen kann das Reale nicht positiv signifiziert werden; es kann nur in einer negativen Geste gezeigt werden, als das inhärente Scheitern der Symbolisierung: ‚wenn das, worüber wir sprechen, die Grenzen eines signifikanten Systems sind, ist klar, dass diese Grenzen selbst nicht signifiziert werden können, sondern sich als Unterbrechung oder Zusammenbruch des Signifikationsprozesses zeigen müssen‘.⁵ Entscheidend ist hier Laclaus implizite Bezugnahme auf die wittgensteinische Opposition zwischen Signifizieren und Zeigen: das Reale als Unmögliches kann nur als das Scheitern des Prozesses gezeigt (dargestellt) werden, der gerade darauf zielt, es zu signifizieren …

Vielleicht eröffnet dies auch einen neuen Zugang zur Phänomenologie, neu definiert als Beschreibung der Weisen, in denen sich der Zusammenbruch (das Scheitern) der Symbolisierung, der nicht signifiziert werden kann, zeigt. Ferner, vielleicht, sollten wir so Hegels Bestimmung der Kunst als das (sinnliche) Erscheinen – das heißt Zeigen – der Idee lesen: was in der Kunst erscheint, was die Kunst demonstriert, ist das Scheitern der Idee, sich direkt zu signifizieren.

In seiner Bezugnahme auf die Phänomenologie durchläuft Lacan drei Stufen. Der frühe Lacan ist ein hermeneutischer Phänomenologe, insofern für ihn der Bereich der Psychoanalyse der Bereich des Sinns ist – das heißt, das Ziel psychoanalytischer Behandlung ist es, traumatische Symptome in den Bereich des Sinns zu integrieren. Der mittlere ‚strukturalistische‘ Lacan entwertet die Phänomenologie aggressiv: in Jacques-Alain Millers klassischer Formulierung⁶ wird die Phänomenologie als die imaginäre Wissenschaft des Imaginären bestimmt; als solche ist sie außerstande, sich dem sinnlosen strukturellen Mechanismus zu nähern, der den phänomenalen Effekt-von-Sinn erzeugt. Später, mit der Schwerpunktverlagerung auf das Reale, wird die Fantasie nicht länger auf eine imaginäre Formation reduziert, die vom abwesenden symbolischen Netzwerk (über)bestimmt ist, sondern als die Formation begriffen, die die Lücke des Realen ausfüllt – wie Lacan es ausdrückte: ‚one does not interpret fantasy [on n’interprète pas le fantasme]‘. Phänomenologie wird nun erneut behauptet als Beschreibung der Weisen, in denen sich das Reale in phantasmatischen Formationen zeigt, ohne in ihnen signifiziert zu werden: es ist die Beschreibung, nicht die Interpretation, des gespenstischen Bereichs von Trugbildern, von ‚negativen Größen‘, die den Mangel in der symbolischen Ordnung positivieren. Wir haben es hier also mit der paradoxen Disjunktion zwischen Phänomenologie und Hermeneutik zu tun: Lacan eröffnet die Möglichkeit einer radikal nicht-hermeneutischen Phänomenologie – einer phänomenologischen Beschreibung gespenstischer Erscheinungen, die anstelle konstitutiven Unsinns stehen. Insofern die jeweiligen Bereiche von Sinn (für die Hermeneutik zugänglich) und symbolischer Struktur (durch strukturelle Analyse zugänglich) zwei Kreise bilden, ist die phänomenologische Beschreibung der Fantasie am Schnittpunkt dieser beiden Kreise zu verorten.

2

Der Philosoph, der diese Problematik einer ‚Phänomenologie des Realen‘ eröffnete, ist kein anderer als Kant. In Kants Philosophie bilden das Schöne, das Erhabene und das Monströse [Ungeheure] eine Triade, die der lacanschen Triade von Imaginärem, Symbolischem und Realem entspricht: die Beziehung zwischen den drei Termen ist die eines borromäischen Knotens, in dem zwei Terme über den dritten verbunden sind (Schönheit macht die Sublimierung des Monströsen möglich; Sublimierung vermittelt zwischen Schönem und Monströsem; usw.). Wie in der hegelschen Dialektik schlägt jeder Term, bis zu seinem Extrem geführt – das heißt vollständig aktualisiert –, in den nächsten um: ein Objekt, das durch und durch schön ist, ist nicht länger bloß schön, es ist schon erhaben; auf dieselbe Weise wird ein Objekt, das durch und durch erhaben ist, zu etwas Monströsem. Oder, um es umgekehrt zu sagen: ein schönes Objekt ohne das Element des Erhabenen ist nicht wirklich schön; ein erhabenes Objekt, dem die embryonale Dimension des Monströsen fehlt, ist nicht wirklich erhaben, sondern bloß schön …⁷

Diese Verflechtung liefert den Schlüssel zur paradoxen Beziehung zwischen dem (erhabenen) Gesetz und dem Schrecken des Monströsen bei Kant: das übersinnliche Gesetz gehört ebenso wie das Monströse in den Bereich des Noumenalen, und was Kant nicht zu akzeptieren bereit ist, die Schlussfolgerung, die er um jeden Preis zu vermeiden sucht, ist die letzte Identität der beiden, die Tatsache, dass das erhabene Gesetz dasselbe ist wie das Monströse – alles, was sich ändert, ist die Perspektive des Subjekts darauf. Das heißt: man muss das An-sich als die Monstrosität des Realen vom An-sich des erhabenen Gesetzes unterscheiden, das bereits Für-uns ist (was das moralische Subjekt als das Reich universaler rationaler Ziele erfährt, das von seiner noumenalen Freiheit Zeugnis ablegt): dieses zweite An-sich entsteht erst, wenn das Subjekt das Reale gleichsam aus der richtigen phänomenalen Distanz betrachtet – in dem Moment, in dem wir dem Gesetz zu nahe kommen, schlägt seine erhabene Majestät in obszöne abscheuliche Monstrosität um. Diese implizite Umkehrung der traditionellen theologischen Rechtfertigung des Bösen und der Disharmonie (‘Was unser endlicher Geist als störende Flecken wahrnimmt, sind in den Augen des unendlichen Geistes Gottes Details, die zur globalen Harmonie beitragen’) verdichtet die gesamte kantische Revolution: was unser endlicher Geist als die erhabene Majestät des moralischen Gesetzes wahrnimmt, ist an sich die Monstrosität eines verrückten sadistischen Gottes.

Kants These, dass die Begrenzung menschlicher Erfahrung auf den phänomenalen Bereich eine notwendige Bedingung ethischer Tätigkeit ist (da eine direkte Einsicht in Noumena Ethik überflüssig machen würde), ist somit viel sonderbarer, als es scheinen mag: ihre zugrunde liegende Prämisse ist, dass der Status ethischer Ziele gewissermaßen anamorph ist – das heißt, die göttliche Monstrosität erscheint als Reich rationaler Ziele nur dann, wenn sie aus einem bestimmten (endlichen menschlichen) Winkel betrachtet wird.⁸ Oder – anders gesagt – es ist nicht nur die erfahrene materielle Realität, die aus der Kombination zweier heterogener Ebenen resultiert (dem transzendentalen Apriori der Kategorien der reinen Vernunft und der Weise, wie transzendente Dinge unseren Geist affizieren); das noumenale rationale Reich ethischer Ziele ist selbst das Produkt der Kombination des monströsen, unerträglichen ‚wahren An-sich‘ und seiner befriedenden Verzerrung durch den Wahrnehmungsrahmen unseres endlichen Geistes.

Diese Spannung zwischen den beiden Aspekten des Noumenalen, dem (moralischen) Gesetz und dem Monströsen (mit dem Über-Ich als ihrem Schnittpunkt, d. h. als der verstörenden Erscheinung eines monströsen Gesetzes), ist bereits in der reinen Vernunft wirksam, in der elementarsten Synthesis der Einbildungskraft (Gedächtnis, Retention, Temporalität). Das heißt: was Kant nicht zu würdigen vermag, ist das Ausmaß, in dem diese Synthesis, die ‚normale‘ Realität konstituiert, in einem unerhörten und zugleich fundamentalsten Sinn bereits ‚gewaltsam‘ ist, insofern sie in einer Ordnung besteht, die der synthetischen Aktivität des Subjekts dem heterogenen Durcheinander der Eindrücke auferlegt.⁹ Würde die Synthesis der Einbildungskraft ohne eine Lücke gelingen, erhielten wir die perfekte selbstgenügsame und in sich geschlossene Auto-Affektion. Die Synthesis der Einbildungskraft scheitert jedoch notwendig; sie gerät auf zwei unterschiedliche Weisen in eine Inkonsistenz:

•erstens, auf inhärente Weise, durch das Ungleichgewicht zwischen Auffassung und Begreifen, das das mathematisch Erhabene hervorbringt: das synthetische Begreifen ist nicht in der Lage, mit der Größe der aufgefassten Wahrnehmungen, mit denen das Subjekt bombardiert wird, ‚Schritt zu halten‘, und gerade dieses Scheitern der Synthesis enthüllt ihren gewaltsamen Charakter;

•dann, auf äußere Weise, durch das Eingreifen des (moralischen) Gesetzes, das eine andere Dimension ankündigt, die des Noumenalen: das (moralische) Gesetz wird vom Subjekt notwendigerweise als gewaltsames Eindringen erfahren, das den reibungslosen, selbstgenügsamen Ablauf der Auto-Affektion seiner Einbildungskraft stört.

In diesen beiden Fällen der Gewalt, die als eine Art Antwort auf die vorausgehende Gewalt der transzendentalen Einbildungskraft selbst hervortritt, begegnen wir somit der Matrix mathematischer und dynamischer Antinomien. Dies ist der genaue Ort, an dem der Antagonismus zwischen (philosophischem) Materialismus und Idealismus in Kants Philosophie erkennbar ist; er betrifft die Frage der Primatsetzung im Verhältnis zwischen den beiden Antinomien. Der Idealismus gibt der dynamischen Antinomie den Vorrang, der Weise, in der das übersinnliche Gesetz die phänomenale Kausalkette von außen her transzendiert und/oder suspendiert: aus dieser Perspektive ist phänomenale Inkonsistenz lediglich die Weise, in der sich das noumenale Jenseits in den phänomenalen Bereich einschreibt. Der Materialismus hingegen gibt der mathematischen Antinomie den Vorrang, der inhärenten Inkonsistenz des phänomenalen Bereichs: das letzte Resultat der mathematischen Antinomie ist der Bereich eines ‚inkonsistenten Alls‘, einer Vielheit, der die ontologische Konsistenz von ‚Realität‘ fehlt. Aus dieser Perspektive erscheint die dynamische Antinomie selbst wie ein Versuch, die inhärente Blockade der mathematischen Antinomie zu lösen, indem man sie in das Nebeneinander zweier unterschiedlicher Ordnungen, der phänomenalen und der noumenalen, transponiert. Anders gesagt: die mathematische Antinomie (d. h. das inhärente Versagen, der Zusammenbruch, der Einbildungskraft) ‚löst‘ die phänomenale Realität in Richtung des monströsen Realen auf, während die dynamische Antinomie die phänomenale Realität in Richtung des symbolischen Gesetzes transzendiert – das heißt, sie ‚rettet die Phänomene‘, indem sie eine Art äußerer Garantie des phänomenalen Bereichs bereitstellt.¹⁰

Wie Lenin betonte, besteht die Geschichte der Philosophie in einem unablässigen, repetitiven Nachzeichnen des Unterschieds zwischen Materialismus und Idealismus; hinzuzufügen ist, dass diese Demarkationslinie in der Regel nicht dort verläuft, wo man offensichtlich erwarten würde, dass sie verläuft – oft hängt die materialistische Entscheidung davon ab, wie wir über eine scheinbar sekundäre Alternative entscheiden. Im Horizont von Kants Philosophie besteht ‚Materialismus‘ nicht darin, am Ding-an-sich festzuhalten (angeblich dem letzten Rest des Materialismus, der der idealistischen These von der subjektiven Setzung der Realität eine Grenze setzt), wie Lenin selbst fälschlich behauptete, sondern vielmehr darin, den Primat der mathematischen Antinomie zu behaupten und die dynamische Antinomie als sekundär zu begreifen, als einen Versuch, die ‚Phänomene zu retten‘ durch das noumenale Gesetz als ihre konstitutive Ausnahme.¹¹

3

Also – zurück zu unserem Ausgangspunkt: wie beeinflusst diese dialektisch-materialistische Bezugnahme auf das Reale unsere Lektüre der kantischen Ethik? Der standardmäßigen pseudo-hegelschen Kritik zufolge verfehlt es die kantische Ethik, die konkrete historische Situation zu berücksichtigen, in die das ethische Subjekt eingebettet ist und die den bestimmten Inhalt des Guten bereitstellt: was dem kantischen Formalismus entgeht, ist die historisch spezifizierte besondere Substanz des sittlichen Lebens. Man sollte dieser Kritik jedoch entgegnen, dass die einzigartige Stärke der kantischen Ethik gerade in dieser formalen Unbestimmtheit liegt: das moralische Gesetz sagt mir nicht, was meine Pflicht ist, es sagt mir lediglich, dass ich meine Pflicht erfüllen soll. Das heißt: es ist nicht möglich, die konkreten Normen, denen ich in meiner spezifischen Situation zu folgen habe, aus dem moralischen Gesetz selbst abzuleiten – was bedeutet, dass das Subjekt selbst die Verantwortung dafür übernehmen muss, die abstrakte Anrufung des moralischen Gesetzes in eine Reihe konkreter Verpflichtungen zu ‚übersetzen‘. In genau diesem Sinn besteht der Punkt der kantischen Ethik darin (um Hegel zu paraphrasieren), ‚das moralische Absolute nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt zu begreifen‘: das ethische Subjekt trägt die volle Verantwortung für die konkreten universalen Normen, denen es folgt – das heißt, der einzige Garant der Universalität positiver moralischer Normen ist der eigene kontingente Akt des Subjekts, diese Normen performativ zu übernehmen.

Es ist daher gerade Kants ‚Formalismus‘, der die entscheidende Lücke in der in sich geschlossenen ethischen und/oder religiösen Substanz einer bestimmten Lebenswelt eröffnet: ich kann mich nicht länger einfach auf den bestimmten Inhalt verlassen, den die ethische Tradition bereitstellt, in die ich eingebettet bin; diese Tradition ist immer-schon durch das Subjekt ‚vermittelt‘; sie ‚bleibt lebendig‘ nur insofern, als ich sie tatsächlich übernehme. Der Weg, ethischen Partikularismus zu unterminieren (die Vorstellung, dass ein Subjekt seine ethische Substanz nur in der besonderen Tradition finden kann, aus der es hervorgegangen ist), führt somit nicht über die Bezugnahme auf irgendeinen universelleren positiven Inhalt (wie die unglücklichen ‚universalen Werte, die die ganze Menschheit teilt‘), sondern nur über die Annahme, dass das ethisch Universale an sich unbestimmt, leer ist, und dass es in ein Set positiver expliziter Normen nur durch mein aktives Engagement übersetzt werden kann, für das ich die volle Verantwortung übernehme … somit gibt es keine bestimmte ethische Universalität ohne die Kontingenz des Akts des Subjekts, sie als solche zu setzen.

Das ist auch der eigentliche Stoß von Hegels Kant-Kritik: Hegel ist kein kontextueller Traditionalist, der behauptet, ich müsse den besonderen Inhalt meiner ethischen Gemeinschaft ‚irrational‘ akzeptieren; er bejaht definitiv die Notwendigkeit, aus den Zwängen partikularer Identität auszubrechen. Was Hegel faktisch nur zurückweist, ist die Vorstellung des kategorischen Imperativs als abstraktes Testinstrument, das es mir ermöglicht, in Bezug auf jede bestimmte Norm festzustellen, ob es meine Pflicht ist, ihr zu folgen oder nicht: Hegels impliziter Punkt ist gerade, dass es kein universales moralisches Gesetz gibt, das mich von der Verantwortung für seinen bestimmten Inhalt entbinden würde. Oder – genauer gesagt – Hegel lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass tatsächliche Universalität nicht nur der abstrakte Inhalt ist, der allen besonderen Fällen gemeinsam ist, sondern auch die ‚negative‘ Kraft, die jeden besonderen Inhalt disruptiv stört. Dass das Subjekt ein universales Wesen ist, bedeutet, dass es sich gerade nicht einfach auf irgendeinen bestimmten substantiellen Inhalt (so ‚universal‘ er auch sein mag) verlassen kann, der die Koordinaten seiner ethischen Tätigkeit im Voraus festlegen würde, sondern dass der einzige Weg für es, zur Universalität zu gelangen, darin besteht, die objektive Unbestimmtheit seiner Situation anzunehmen – ich werde ‚universal‘ nur durch die gewaltsame Anstrengung, mich aus der Besonderheit meiner Situation zu lösen: indem ich diese Situation als kontingent und begrenzend begreife, indem ich in ihr die Lücke der Unbestimmtheit öffne, die durch meinen Akt ausgefüllt wird. Subjektivität und Universalität sind somit strikt korrelativ: die Dimension der Universalität wird ‚für sich‘ erst durch die ‚individualistische‘ Negation des besonderen Kontexts, der den spezifischen Hintergrund des Subjekts bildet.¹²

Die volle Annahme dieses Paradoxons zwingt uns auch, jede Bezugnahme auf ‚Pflicht‘ als Entschuldigung zurückzuweisen: ‚Ich weiß, das ist schwierig und könnte schmerzhaft sein, aber was kann ich tun? Es ist meine Pflicht …‘. Das Standardmotto ethischer Strenge lautet: ‚Es gibt keine Entschuldigung dafür, seine Pflicht nicht zu erfüllen!‘; obwohl Kants ‚Du kannst, denn du sollst! [You can, because you must!]‘ eine neue Version dieses Mottos zu bieten scheint, ergänzt er es implizit durch seine weit unheimlichere Umkehrung: ‚Es gibt keine Entschuldigung dafür, seine Pflicht zu erfüllen!‘¹³ Die Bezugnahme auf Pflicht als Entschuldigung dafür, unsere Pflicht zu tun, sollte als heuchlerisch zurückgewiesen werden; man muss nur an das sprichwörtliche Beispiel eines strengen sadistischen Lehrers erinnern, der seine Schüler einer erbarmungslosen Disziplin und Folter unterwirft – natürlich ist seine Entschuldigung vor sich selbst (und vor anderen): ‚Mir selbst fällt es schwer, einen solchen Druck auf die armen Kinder auszuüben, aber was kann ich tun? Es ist meine Pflicht!‘. Das treffendere Beispiel ist das eines stalinistischen Politikers, der die Menschheit liebt, aber dennoch schreckliche Säuberungen und Hinrichtungen durchführt; sein Herz bricht, während er es tut, aber er kann nicht anders, es ist seine Pflicht gegenüber dem Fortschritt der Menschheit … Was wir hier antreffen, ist die eigentlich perverse Haltung, die Position des reinen Instruments des Willens des großen Anderen einzunehmen: es ist nicht meine Verantwortung, ich bin es nicht, der es tatsächlich tut, ich bin lediglich ein Instrument der höheren historischen Notwendigkeit … Die obszöne jouissance dieser Situation wird dadurch erzeugt, dass ich mich als entlastet von dem begreife, was ich tue: ist es nicht schön, anderen Schmerz zufügen zu können in vollem Bewusstsein, dass ich nicht dafür verantwortlich bin, dass ich lediglich den Willen des Anderen erfülle … das ist es, was die kantische Ethik verbietet. Diese Position des sadistischen Perversen liefert die Antwort auf die Frage: Wie kann das Subjekt schuldig sein, wenn es bloß eine ‚objektive‘, äußerlich auferlegte Notwendigkeit realisiert? Indem es diese ‚objektive Notwendigkeit‘ subjektiv übernimmt – indem es Genuss an dem findet, was ihm auferlegt wird.¹⁴

4

Vielleicht ist eine Bezugnahme auf Pascal hier von einiger Hilfe. Für Pascal ist, wie wir bereits gesehen haben,¹⁵ Ideologie nicht nur ‚irrationaler Gehorsam‘, unter dem die kritische Analyse ihre wahren Gründe und Ursachen zu erkennen hat; sie ist auch die ‚Rationalisierung‘, die Aufzählung eines Netzes von Gründen, das die unerträgliche Tatsache maskiert, dass das Gesetz nur in seinem eigenen Akt der Äußerung gründet: Argumentation ist für die Menge der ‚gewöhnlichen Leute‘, die die Illusion brauchen, es gebe gute und angemessene Gründe für die Befehle, denen sie gehorchen müssen, während das wahre Geheimnis, nur der Elite bekannt, darin besteht, dass das Dogma der Macht nur in sich selbst gründet. Und Kants Begriff der Pflicht hat eine analoge Struktur. Das heißt: man sollte den standardmäßigen pseudo-freudianischen Zugang zu Kant invertieren, der bemüht ist, geheime ‚pathologische‘ Motivationen unter dem zu erkennen, was als ein ethischer Akt erscheint, der rein aus Pflicht getan wurde (‘Du denkst, du hast es aus Pflicht getan, aber du hast es in Wirklichkeit getan, um deine Eitelkeit zu befriedigen, deine Peers zu beeindrucken, die Liebe deiner zukünftigen Geliebten zu gewinnen …’): Kant selbst wäre bereit, diesen Punkt zu akzeptieren, da er betont, wie wir niemals sicher sein können, ob wir allein um der Pflicht willen gehandelt haben. Was jedoch, wenn wir der Illusion folgen, wir hätten aus irgendeinem ‚pathologischen‘ Grund gehandelt (um unsere Eitelkeit zu befriedigen, unsere Peers zu beeindrucken …), um die traumatische Tatsache zu vermeiden, dass wir es ‚für nichts‘ getan haben – das heißt, allein um der Pflicht willen?

Der wahre Horror des Akts liegt in diesem selbstreferentiellen Abgrund – oder, anders gesagt, es ist entscheidend, die Lücke zwischen Akt und Willen im Auge zu behalten: der Akt ereignet sich als ein ‚verrücktes‘, nicht zurechenbares Ereignis, das gerade nicht ‚gewollt‘ ist. Der Wille des Subjekts ist definitionsgemäß in Bezug auf einen Akt gespalten: da Anziehung zum und Abstoßung gegen den Akt untrennbar in ihm vermischt sind, kann das Subjekt den Akt niemals vollständig ‚übernehmen‘. Kurz, was Lacan ‚Akt‘ nennt, hat den präzisen Status eines Objekts, das das Subjekt niemals ‚schlucken‘, subjektivieren kann – das für immer ein Fremdkörper bleibt, ein Knochen, der ihm im Hals steckt. Die Standardreaktion des Subjekts auf den Akt ist die der Aphanisis, der Selbst-Auslöschung, nicht die, ihn heroisch zu übernehmen: wenn mich das Bewusstsein der vollen Konsequenzen dessen trifft, ‚was ich gerade getan habe‘, will ich verschwinden. An genau diesem Punkt trennt sich Lacan (und schon Freuds Begriff des Todestriebs) von der romantischen Ideologie eines ‚dämonischen‘ selbstzerstörerischen Willens: der Todestrieb ist nicht ein ‚Wille zu sterben‘, radikales Böses ist nicht eine ‚diabolische‘ Intention, die Lust darin sucht, dem Nächsten Schmerz zuzufügen …

In Max Opuls’ zu Unrecht vernachlässigtem Melodram Caught gibt es einen einzigartigen Moment ethischer Entscheidung, in dem der Akt mit dem Nicht-Tun zusammenfällt: Leonora, die Heldin, beobachtet schweigend Smith, ihren Ehemann, wie er in Krämpfen (von einem vorgetäuschten hysterischen Herzinfarkt) auf dem Boden liegt, und ignoriert seine verzweifelten Bitten um Wasser und Pillen – sie zieht sich einfach schweigend zurück, aktiv wünschend, dass er stirbt (wie sie später eingesteht). (Die Szene verwendet eine Tiefenschärfe-Einstellung, mit dem Ehemann im Vordergrund und ihr im Hintergrund.) Sie wird dann auch das Kind los (das letzte Vermächtnis des Ehemanns) und ist am allerletzten Ende faktisch wiedergeboren, bereit, ein neues Leben mit ihrer wahren Liebe, Doktor Quinada, zu beginnen. Diese Szene ist einer jener Momente, in denen Hollywood die Schwelle des ideologisch Erlaubten überschreitet – man fragt sich, wie sie den Hayes Code passieren konnte.¹⁶ In lacanesischem Vokabular inszeniert Leonoras Wahl die Disjunktion zwischen dem Guten und der richtigen ethischen Haltung, da es die Wahl zwischen dem Guten (menschlichem Mitgefühl und ehelicher Ideologie, die beide sie dazu anhalten, ihrem leidenden Ehemann in Not zu helfen) einerseits und der ethischen Haltung des Todestriebs andererseits ist, und sie wählt den Todestrieb. Nachdem sie diese Wahl getroffen hat, durchläuft Leonora buchstäblich Aphanisis – sie bricht zusammen, ist völlig immobilisiert, überwältigt von Schuldgefühlen (d. h. außerstande, ihre volle Behauptung des Todestriebs zu akzeptieren); schließlich wird sie wiedergeboren, vom Druck der Schuld befreit und bereit für einen neuen Anfang. In genau diesem Sinn hat der Akt für Lacan den Status eines unerträglichen Objekts, das das Subjekt nicht zu übernehmen und zu subjektivieren vermag.

Natürlich führt, wie Mary Ann Doane in ihrer durchdringenden Analyse gezeigt hat,¹⁷ das Ende des Films eine offen unterdrückerische patriarchale Schließung herbei. Paradigmatisch ist hier die Szene in einem Krankenwagen gegen Ende, in der Sirenen heulen, während Quinada Leonora sagt, wie frei sie sein könne, wenn das Kind stirbt. Die intrusive Nähe Quinadas zu Leonora, die immobilisiert auf der Trage des Krankenwagens liegt, wird durch die nicht weniger intrusive Nähe der Kamera zu ihr gespiegelt – ihre Befreiung wird somit buchstäblich als ihr Eintritt in die neue (medizinische) Ordnung der Unterordnung inszeniert. Anders gesagt, ihre ‚Befreiung‘ besteht darin, von einem Mann an einen anderen weitergereicht zu werden. Es ist auch ein Mann (Quinadas älterer Kollege), der für sie, an ihrer Stelle, ihre Befreiung vom Symbol ihrer Versklavung an Smith sowie generell von der Idee des Reichtums und der Bildkultur (einem Nerzmantel) vollzieht, indem er eine Krankenschwester anweist, Leonoras Nerz loszuwerden. Leonora wird somit nicht nur zu einem Austauschobjekt zwischen den beiden männlichen Protagonisten reduziert; ihre Befreiung vom Reiz des Reichtums ist auch falsch, weil sie die Vorstellung stützt, dass man in der Ehe keine Klassengrenzen überschreiten sollte (im Gegensatz zum reichen Smith gehört Quinada ihrer eigenen Klasse an). Aber der Akt, sich zu weigern, dem Mitgefühl nachzugeben, dieser Moment der offenen Behauptung des Todestriebs, bleibt dennoch ihr eigener und wird erst nach dem Akt vom ‚neuen Mann in ihrem Leben‘ übernommen. Die Lähmung der Frau ist somit nicht einfach der Indikator ihrer Unterordnung; vielmehr bezeugt sie die Aphanisis, die Selbst-Auslöschung des Subjekts, die den Akt aufgrund seiner suizidalen Dimension immer begleitet. Also – zurück zur Krankenwagenszene: es ist entscheidend, ihren klaustrophobischen Charakter mit einem Sinn für (medizinische) Dringlichkeit zu lesen, verstärkt durch den Klang der Sirenen, die einen seltsamen Hintergrund für die Intimität der Szene liefern – vielleicht wird Quinada hier auf seine Rolle als Geburtshelfer reduziert, und diese Intimität signalisiert vielmehr den Durchgang durch den (symbolischen) Tod und die darauffolgende Wiedergeburt.

Die unterdrückerische Intimität der Szene im Krankenwagen erinnert unmittelbar an dieselbe Art von Intimität am Ende von Hitchcocks Notorious, wenn Cary Grant die betäubte und halbparalysierte Ingrid Bergman die Treppe hinunter in die Freiheit trägt (d. h. in ihre glückliche eheliche Zukunft): auch hier ist die Frau letztlich das Austauschobjekt zwischen zwei Männern. Ist nicht die ultimative hitchcocksche Version davon im Höhepunkt seiner beiden Tippi-Hedren-Filme, Birds und Marnie? In beiden Filmen wird die Heldin – die am Anfang eine aktive, selbstbehauptende junge Frau ist, die ihr Leben im Griff hat (wenn auch auf ‚oberflächliche‘ oder ‚pathologische‘ Weise: die manipulative Society-Dame in Birds, die Kleptomanin in Marnie) – am Ende zu einer paralysierten, betäubten Mumie reduziert: nun, nachdem ihr ‚unauthentischer‘ Griff auf ihr eigenes Leben gewaltsam zerbrochen wurde, ist sie bereit, in die eheliche Bindung einzutreten …¹⁸ Wiederum ist die Selbstverständlichkeit einer solchen feministischen Lektüre in Frage zu stellen: wahr, was wir hier erleben, ist der symbolische Tod der Heldin; die Frage bleibt jedoch offen, was das finale Ergebnis ihrer Konfrontation mit dem traumatischen Ding sein wird – das heißt, in welcher Gestalt sie ‚wiedergeboren‘ werden wird.

5

Wie zwingt uns dann Kants Begriff des moralischen Gesetzes, die Opposition zwischen Gut und Böse neu zu denken? In Coldness and Cruelty liefert Deleuze eine unübertreffliche Formulierung von Kants radikal neuer Auffassung des Gesetzes:

das Gesetz wird nicht mehr als vom Guten abhängig betrachtet, sondern im Gegenteil wird das Gute selbst vom Gesetz abhängig gemacht. Das bedeutet, dass das Gesetz seine Grundlage nicht mehr in irgendeinem höheren Prinzip hat, aus dem es seine Autorität ableiten würde, sondern dass es in sich selbst gegründet ist und allein kraft seiner eigenen Form gültig ist … Kant hat, indem er DAS GESETZ als letzten Grund oder Prinzip etablierte, dem modernen Denken eine wesentliche Dimension hinzugefügt: das Objekt des Gesetzes ist per definitionem unerkennbar und schwer zu fassen … Offenkundig ist DAS GESETZ, wie es durch seine reine Form definiert ist, ohne Substanz oder Objekt irgendeiner Bestimmung überhaupt, so beschaffen, dass niemand weiß noch wissen kann, was es ist. Es operiert, ohne sich bekannt zu machen. Es definiert einen Bereich der Übertretung, in dem man bereits schuldig ist, und in dem man die Grenzen überschreitet, ohne zu wissen, was sie sind, wie im Fall des Ödipus. Selbst Schuld und Strafe sagen uns nicht, was das Gesetz ist, sondern lassen es in einem Zustand der Unbestimmtheit, der nur von der extremen Spezifität der Strafe erreicht wird.¹⁹

Das kantische Gesetz ist somit nicht bloß eine leere Form, die auf einen beliebigen empirischen Inhalt angewandt wird, um festzustellen, ob dieser Inhalt die Kriterien ethischer Angemessenheit erfüllt – vielmehr fungiert die leere Form des Gesetzes als das Versprechen eines abwesenden Inhalts, der (nie) kommen wird. Oder – etwas anders gesagt – die Form ist nicht nur eine Art neutral-universale Formschablone der Pluralität unterschiedlicher empirischer Inhalte; die Autonomie der Form bezeugt vielmehr die Ungewissheit, die hinsichtlich des Inhalts unserer Akte fortbesteht – wir wissen nie, ob der bestimmte Inhalt, der für die Spezifität unserer Akte verantwortlich ist, der richtige ist: das heißt, ob wir wirklich gemäß dem Gesetz gehandelt haben und nicht von irgendeinem verborgenen pathologischen Motiv geleitet wurden. Kant kündigt damit den Begriff des Gesetzes an, der bei Kafka und in der Erfahrung des modernen politischen ‚Totalitarismus‘ kulminiert: da im Fall des Gesetzes sein Dass-Sein (die Tatsache des Gesetzes) seinem Was-Sein (was dieses Gesetz ist) vorausgeht, befindet sich das Subjekt in einer Situation, in der es zwar weiß, dass es ein Gesetz gibt, aber niemals weiß (und a priori nicht wissen kann), was dieses Gesetz ist – eine Lücke trennt das Gesetz für immer von seinen positiven Inkarnationen. Das Subjekt ist somit a priori, kraft seiner bloßen Existenz, schuldig: schuldig, ohne zu wissen, dessen es schuldig ist (und gerade deshalb schuldig), das Gesetz verletzend, ohne seine genauen Bestimmungen zu kennen.

Was wir hier haben, ist zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie die Behauptung des Gesetzes als unbewusst: die Erfahrung von Form ohne Inhalt ist stets der Index eines verdrängten Inhalts – je intensiver das Subjekt an der leeren Form festhält, desto traumatischer wird der verdrängte Inhalt. Das gilt auch für die Kunstgeschichte: seit den allerersten Anfängen bürgerlicher Kunst ist der künstlerische Formalismus nichts anderes gewesen als ein stigmatisiert-geronnener Austrag irgendeines verdrängten antagonistischen Inhalts, zu traumatisch, um direkt übernommen zu werden – das heißt, das Beharren auf einer reinen Form und der paranoide Widerstand gegen konkreten sozialen Inhalt (seit Gautier) dient als untrügliches Signal für die Präsenz eines traumatischen verdrängten Inhalts. In genau diesem Sinn ist Formalismus eine Art elementare Konversionshysterie – das, was auf der Ebene des Inhalts verdrängt wurde, kehrt in der Gestalt ‚autonomer‘ Form zurück. Dasselbe gilt für die symbolische Ordnung selbst als universale Form: als ersten Schritt sollte man natürlich jeder schnellen Reduktion der symbolischen Form auf ihren Inhalt entgegentreten (die grundlegende Lehre des sogenannten ‚Strukturalismus‘ war, dass die symbolische Form niemals einfach ein Ausdruck ihres Inhalts ist). Die symbolische Form auf diese Weise direkt ihrem Inhalt unterzuordnen heißt, in die Falle der ‚Verdinglichung‘ zu geraten und die strukturierende Rolle dieser Form selbst in Bezug auf ihren Inhalt zu verkennen: wofür der Begriff ‚Form‘ steht, ist der signifikante Prozess, der den signifizierten ‚Inhalt‘ erzeugt … Der nächste Schritt ist jedoch, darauf zu fokussieren, wie die symbolische Form, die dem Inhalt vorauszugehen scheint, mittels einer primordialen Verdrängung eines traumatischen Kerns von ‚Inhalt‘ hervorgeht, der gerade niemals zum expliziten Inhalt dieser Form werden kann.

Und gilt nicht dasselbe auch für das kantische moralische Gesetz als reine universale Form? Was ist dann in diesem Fall das verdrängte ‚Geheimnis‘ des kantischen ethischen Formalismus? Die Antwort liefert Kant selbst. Jacob Rogozinski²⁰ beschreibt detailliert, wie Kant in jeder seiner drei Kritiken wiederholt einen Begriff hervorbringt, den er dann fast unmittelbar darauf als unmöglich und/oder selbstwidersprüchlich zurückzuweisen genötigt ist: das Monströse [das Ungeheure] in der Kritik der Urteilskraft; das ‚diabolische Böse‘ (das Böse zum ethischen Prinzip erhoben) in der praktischen Vernunft (Kants Lieblingsbeispiel dieses ‚diabolischen Bösen‘ ist das crimen inexpiabile, den Träger der Rechtsordnung selbst – den König – im politischen Bereich vor Gericht zu stellen und ein rechtsförmiges Urteil über ihn zu fällen).²¹ Nachdem Kant die Konturen dieses Begriffs angedeutet hat, zieht er sich rasch zurück und bietet im Tausch einen anderen, ergänzenden Begriff an, einen Begriff, der die unerträgliche Dimension des ersten bereits ‚befriedet‘: das Erhabene (anstelle des Monströsen); das radikale Böse (anstelle des diabolischen Bösen) … Dieser exzessive/unmögliche Begriff, in all seinen verschiedenen Versionen, weist auf den ‚verdrängten‘ Kern des Realen, dem die Philosophie niemals zu begegnen vermag – seine Begegnung ist definitionsgemäß eine misslungene.

Dort, in den verschiedenen Modalitäten der Vermeidung dieser Begegnung, liegt der Unterschied zwischen Kant und Hegel: Kant ist ‚noch-nicht‘ dort; er bleibt vor dem letzten Horror des monströsen Dings stehen und weicht ihm aus; während Hegel ‚nicht-mehr‘ dort ist – er tut nur so, als ob er die radikale Negativität vollständig umarmte, als ob er ‚bei dem Negativen verweilte‘, da die dialektische Maschinerie den glücklichen Ausgang, die ‚magische‘ (Hegels eigener Ausdruck) Umkehrung des Negativen ins Positive (der radikalen Negativität des politischen Terrors in den inneren Ruf des Gewissens usw.) im Voraus garantiert … Kurz, der unmögliche Inhalt des moralischen Gesetzes als reiner Form ist das ‚diabolische Böse‘. Das leere moralische Gesetz ist somit das oberste Beispiel dessen, was Lacan als Kern des freudschen Begriffs der Vorstellungs-Repräsentanz zu isolieren versucht: der (symbolische) Repräsentant von (oder vielmehr: Stellvertreter für) die unmögliche, verworfene Repräsentation – das heißt, von (für) den Inhalt des Gesetzes, der verworfen werden muss, wenn das Gesetz normal (in nicht-psychotischer Weise) funktionieren soll. Man kann auch sehen, wie der Begriff der Vorstellungs-Repräsentanz es uns erlaubt, den lacanschen Begriff der Aphanisis des Subjekts, der Selbst-Auslöschung, zu erklären: das Subjekt zerfällt, löscht sich aus, in dem Moment, in dem es dem unmöglichen Ding zu nahe kommt, dessen symbolischer Stellvertreter im leeren Gesetz steht: das heißt, in dem Moment, in dem das Subjekt, statt der Anrufung des moralischen Gesetzes, dem obszönen Ding selbst unmittelbar begegnet, dem verworfenen Inhalt des Gesetzes.

Als guter Kantianer begreift Rogozinski natürlich Kants Weigerung, bis ganz ans Ende zu gehen, sein Stehenbleiben vor dem Abgrund des Monströsen, als positive Bedingung des Ethischen – in dem Moment, in dem man sich entscheidet, diese Schwelle zu überschreiten, fällt man in den Nihilismus und begeht eine Art ethischen Selbstmord, da damit die Grenze, die Gut von Böse trennt, suspendiert wird. Nach Rogozinski liefert gerade Hegel den Beweis a contrario dieser Suspendierung, indem er in seiner Dialektik der ‚List der Vernunft‘ das Böse (egoistische Interessen usw.) als Mittel der Realisierung des Guten unterordnet. Hegel unterminiert so faktisch die Grundlagen der Moral und öffnet den Weg zu den Katastrophen der letzten zwei Jahrhunderte, in denen die schlimmsten Gräueltaten mittels eines Verweises auf historische Notwendigkeit oder Fortschritt legitimiert wurden – auf diese Weise fällt die hegelianische Dialektik unter das Niveau der Moderne zurück in die heidnische Faszination für einen dunklen Gott, der Opfer verlangt.

Joan Copjec geht in ihrem heroischen Versuch noch weiter, zu beweisen, dass das radikale Böse (die unausrottbare Neigung des Menschen zum Bösen) tatsächlich radikaler ist als das diabolische Böse: Letzteres phänomenalisiert/positiviert das Gesetz bereits.²² Das heißt: das noumenale Gesetz ist uns, endlichen Menschen, phänomenal nur auf negative Weise zugänglich, in der Gestalt des Schuldgefühls, in unserem Bewusstsein, dass wir seinen Ruf verraten haben, dass wir unserer ethischen Pflicht nicht entsprochen haben – niemals auf positive Weise, ‚als solche‘; und diese Notwendigkeit, die uns ‚a priori und für immer schuldig‘ macht, ist der einzige Inhalt des ‚radikalen Bösen‘. Anders gesagt: ohne das radikale Böse würde das moralische Gesetz seinen formalen Charakter verlieren und sich in einem Set positiver Regelungen phänomenalisieren, die uns jederzeit sagen würden, wo wir stehen – das heißt, ob wir schuldig sind oder nicht. Das diabolische Böse ist somit aus demselben Grund unmöglich wie die Position eines Heiligen unhaltbar ist: das ‚diabolisch böse Subjekt‘ ist das romantische phantasmatische Bild eines negativen Helden, eine Art invertierter Heiliger, der sich vollständig darüber im Klaren ist, dass das, was er tut, böse ist, und das Böse bewusst zu seinem ethischen Prinzip erhebt.

Es scheint jedoch, dass eine solche Hegel-Lektüre ihr Ziel verfehlt. Hegels (und nebenbei Lacans) Punkt ist, dass es möglich ist, ‚jenseits von Gut und Böse‘ zu gehen, jenseits des Horizonts von Gesetz und konstitutiver Schuld, in den Trieb (was der freudsche Ausdruck für das hegelianische ‚unendliche Spiel der Idee mit sich selbst‘ ist). Hegels implizite These lautet, dass das diabolische Böse ein anderer Name für das Gute selbst ist; für den Begriff ‚an sich‘ sind die beiden ununterscheidbar; der Unterschied ist rein formal und betrifft nur den Standpunkt des wahrnehmenden Subjekts. Kant selbst war dieser unheimlichen Identität bereits auf der Spur – man nehme den rätselhaften Schluss von Teil I der Kritik der praktischen Vernunft, in dem er den (epistemologisch) unzugänglichen Charakter des moralischen Gesetzes – das heißt, die epistemologische Begrenzung und/oder Endlichkeit des Menschen – als positive Bedingung unserer ethischen Tätigkeit behauptet: erhielten wir direkten Zugang zur noumenalen Sphäre, würden wir mit der ‚schrecklichen Majestät‘ Gottes in seinem Ungeheure, seinem entsetzlichen Realen, konfrontiert. Die Wirkung dieses Blicks wäre nicht weniger verstein-ernd als die des Medusenblicks: hinsichtlich des Inhalts seiner Handlungen würde das Subjekt moralisch handeln, aber als leblose Marionette, nicht als freies lebendiges Wesen … In diesem Sinn ist Sade die Wahrheit Kants: hier ist Kant gezwungen, die Hypothese eines perversen, diabolischen Gottes zu formulieren.

Die hegelianische Antwort lautet somit, dass es gerade die Opposition zwischen radikalem Böse und dem Ruf des moralischen Gesetzes ist, die allzu ‚phänomenal‘ ist, insofern sie als ‚reale Opposition‘ begriffen wird – das heißt, strukturiert nach dem Merkmal, das nach Kant das fundamentalste Merkmal dessen ist, was wir als (phänomenale) Realität erfahren. Was an der Vorstellung des diabolischen Bösen so unerträglich ist, ist, dass sie, weit davon entfernt, das Böse zu phänomenalisieren, Gut und Böse ethisch ununterscheidbar macht – das Problem des diabolischen Bösen ist, dass es alle Kriterien der transzendentalen Definition einer moralisch guten Handlung erfüllt … Weit davon entfernt, die unzulässige Phänomenalisierung des Gesetzes zu sein, ist das diabolische Böse das nicht-phänomenalisierbare Reale, der unmögliche Schnittpunkt zwischen Gut und Böse, der ‚verschwindende Vermittler‘ zwischen beiden, der vorausgesetzt werden muss, wenn wir die Spannung zwischen Gut und Böse erklären wollen, die Teil unseres phänomenalen Lebens ist. Anders gesagt: die einzige wahre Phänomenalisierung des diabolischen Bösen (d. h. die Weise, in der das diabolische Böse dem endlichen Subjekt erscheint, von ihm erfahren wird) ist das Gute selbst, der Ruf des moralischen Gesetzes. Das diabolische Böse ist daher nicht mit seiner falschen Phänomenalisierung zu verwechseln, mit der narzisstischen Figur des byronischen Helden, der auf melancholisch-heroische Weise das Böse zu einer erhabenen metaphysischen Entität erhebt und es als sein An-sich-Ende übernimmt (siehe Miltons ‚Evil, be Thou my Good‘): diese Figur suspendiert bereits die unmöglich-reale Dimension des diabolischen Bösen, indem sie es auf die narzisstische Ökonomie eines Helden reduziert, der sich gern als böse sieht. Kurz: ‚diabolisches Böse‘ ist einfach Kants Name für das, was Freud später in der Gestalt des Todestriebs anzunähern versuchte, der die Dualität des egoistischen Strebens nach Lust und der ethischen Pflicht untergräbt: das ‚diabolische Böse‘ zu leugnen ist, im psychoanalytischen Rahmen, strikt gleichbedeutend damit, den Todestrieb zu leugnen.

Oder – noch anders gesagt – wie Hegel hervorhob, ist die kantische moralische Handlung letztlich unmöglich auszuführen; man kann niemals sicher sein, alle pathologischen Motivationen auszuschließen – das heißt, man wird sich seiner Pflicht faktisch nur durch sein Bewusstsein seines Versagens bewusst, sie vollständig auszuführen. So wie Kant feststellt, dass das moralische Gesetz die ratio cognoscendi meiner noumenalen Freiheit ist (ich werde mir meiner Freiheit nur durch die Erfahrung bewusst, dass ich im Namen des moralischen Gesetzes dem Druck pathologischer Motivationen zu widerstehen vermag, die mich an innerweltliche phänomenale Kausalität binden), kann man sagen, dass das Versagen, seine Pflicht zu tun, die Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit, in voller Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz zu handeln, die ratio cognoscendi des moralischen Gesetzes selbst ist. Folglich verfehlt das Argument, wonach der Begriff des ‚diabolischen Bösen‘ zurückzuweisen sei, weil er eine Geste unmöglicher Phänomenalisierung involviere, sein Ziel: es ist bereits die moralische Handlung als solche (insofern sie nicht bloß die innere Absicht zu handeln ist, sondern eine faktisch vollzogene Handlung), die böse ist, weil in ihr die Lücke, die Noumenales vom Phänomenalen trennt, die reine noumenale ethische Anrufung von einer positiven weltlichen Handlung, die sie verfehlt zu realisieren, definitionsgemäß unterdrückt wird. Dies ist die unvermeidliche Schlussfolgerung, die Kant nicht zu akzeptieren bereit ist: die formale Struktur einer Handlung ist ‚diabolisch‘ böse. Oder – noch anders gesagt – die Kehrseite von Kants Beharren darauf, wie die reine moralische Handlung unmöglich ist, wie man niemals sicher sein kann, allein aus Rücksicht auf die Pflicht zu handeln, ist die weit unheimlichere Tatsache, dass die moralische Handlung, gerade als unmögliche, zugleich unvermeidlich ist, etwas, das in gewisser Weise unmöglich zu übertreten ist. Übertreten kann man nur positive moralische Vorschriften und Normen, während, wie wir bereits gesehen haben, im Hinblick auf eine reine moralische Handlung der Verdacht, ich habe pathologischen Motivationen nachgegeben, nur die Kehrseite eines radikaleren Verdachts ist, dass das, was mir als bloß pathologische Handlung erschien, tatsächlich eine Handlung der reinen Vernunft war, vollzogen ‚ohne jeden guten (pathologischen) Grund überhaupt‘.

Hier begegnen wir erneut der für die zwanghafte Ökonomie typischen Umkehrung: das kantische moralische Subjekt scheint nach den pathologischen Motivationen seiner Handlungen zu suchen in der Hoffnung, keine zu finden und so endlich eine wahrhaft ethische Handlung zu vollbringen. Was aber, wenn es verzweifelt nach pathologischen Motivationen sucht und erleichtert ist, wenn es endlich eine findet, zufrieden damit, dass ‚das noch nicht es war‘, dass die schreckliche Begegnung mit der Handlung erfolgreich erneut aufgeschoben wurde? Die These, dass die Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit, in voller Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz zu handeln, die ratio cognoscendi des moralischen Gesetzes selbst ist, erscheint so in einem neuen, weit verstörenderen Licht: nur mein Versagen, ethisch zu handeln, garantiert, dass ich ein ethisches Subjekt bleibe, denn würde ich eine reine ethische Handlung vollbringen, würde ich mich in ein Wesen des diabolischen Bösen verwandeln (in ein sadeianisches Supreme-Being-of-Evilness [Être-suprême-en-Méchanceté]). Auch hier gilt die oben beschriebene Logik der richtigen Distanz: wenn ich der ethischen Handlung zu nahe komme, schlägt sie in ihr Gegenteil um, in diabolisches Böse.

Dies ermöglicht es uns auch, die Standardvariante Hannah Arendts zum Thema ‚Kant und Nazismus‘ zurückzuweisen, die auf die angeblich totalitären Potenziale der kantischen Ethikkritik fokussiert: wurde nicht eine unbedingte formalistische Haltung des ‚tu deine Pflicht um der Pflicht willen, denke nicht über ihren Inhalt und mögliche Konsequenzen für das Gute der Betroffenen nach‘ von den Vollstreckern des Holocaust praktiziert – das heißt, in der historischen Form von Gewalt, die Kants Begriff des ‚diabolischen Bösen‘ am nächsten kommt? Im Gegensatz zu dieser Argumentationslinie sollte man betonen, dass die nationalsozialistische Praxis keineswegs ‚formalistisch‘ war: sie verletzte das grundlegende kantische Gebot des Primats der Pflicht vor jeder Vorstellung vom Guten, da sie sich auf einen präzisen Begriff des Guten stützte (die Errichtung einer wahren Gemeinschaft des deutschen Volkes), in Bezug auf den alle ‚formalen‘ ethischen Anrufungen instrumentalisiert und relativiert wurden (es ist richtig zu töten, zu foltern … wenn es dem höheren Ziel der deutschen Gemeinschaft dient). Das Element, das den ‚formalistischen‘ Charakter des nationalsozialistischen Normativismus suspendierte, war gerade die Bezugnahme auf den Führer: wie der stalinistische Führer ist der Führer derjenige, der weiß, was zum Guten des Volkes ist, und dessen Wort folglich alle ‚formalistischen‘ ethischen Erwägungen überstimmt. So entsetzlich es war (und gerade weil es so entsetzlich war), ist der nationalsozialistische Holocaust (oder, innerhalb einer anderen sozio-symbolischen Ökonomie und Praxis, die stalinistischen Gulags) kein Beispiel für ‚diabolisches‘ oder ‚radikales‘ Böses – wenn wir ihn so bezeichnen, verwenden wir ‚diabolisches Böses‘ im allgemeinen Sinn, als Ausdruck für ‚Böses, das jenseits jedes Maßes schrecklich ist‘, nicht im strengen kantischen Sinn.

Trotz Arendts Zurückweisung jeder tiefen Affinität zwischen ihrem Begriff des ‚radikalen Bösen‘ der nationalsozialistischen Verbrechen an Juden und Kants Begriff des radikalen Bösen (im Unterschied zum bloß egoistischen Bösen, in dem wir unsere Pflicht um irgendeines selbstsüchtigen Motivs, eines Vergnügens oder persönlichen Gewinns willen vernachlässigen), mag es scheinen, dass sie doch ein entscheidendes gemeinsames Merkmal teilen: das Fehlen dessen, was Kant eine klare ‚pathologische‘ Motivation nannte (Gier, Machtgier, sogar sadistisches Vergnügen am Zufügen von Schmerz an andere Menschen). Das heißt: das Merkmal, das Arendt an den nationalsozialistischen Verbrechen beunruhigte, war die Diskrepanz zwischen der Monstrosität der Taten und dem Fehlen böser Absicht bei den Subjekten, die diese Taten begingen, als wären diese Subjekte völlig blind für die menschliche Dimension dessen, was sie taten – das heißt, vollständig außerstande, einen Moment innezuhalten und einfach über die menschliche Dimension dessen zu reflektieren, was sie taten. Zitieren wir Arendts Beschreibung des Funktionswandels der Konzentrationslager, der eintrat, als SS-Einheiten ihre Verwaltung von populistisch-lumpenproletarischen SA-Einheiten übernahmen:

Hinter der blinden Bestialität der SA lag oft ein tiefer Hass und Ressentiment gegen all jene, die sozial, intellektuell oder physisch besser gestellt waren als sie selbst und die nun, gleichsam in Erfüllung ihrer wildesten Träume, in ihrer Macht waren. Dieses Ressentiment, das in den Lagern niemals vollständig ausstirbt, erscheint uns als letzter Rest menschlich verständlichen Gefühls … Der wirkliche Horror begann jedoch, als die SS die Verwaltung der Lager übernahm. Die alte spontane Bestialität wich einer absolut kalten und systematischen Zerstörung menschlicher Körper, berechnet darauf, die menschliche Würde zu zerstören; der Tod wurde vermieden oder auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben.²³

Richard Bernstein ist daher völlig berechtigt zu betonen, wie Arendts Begriffe des ‚radikalen Bösen‘ und der ‚Banalität des Bösen‘ nicht widersprüchlich, sondern vollständig kompatibel sind:²⁴ was die nationalsozialistischen Verbrechen an Juden ‚radikal‘ macht, ist gerade die Tatsache, dass sie nicht von ‚größer-als-das-Leben‘-Monstern begangen wurden, von proto-romantischen ‚Genies des Bösen‘, die, getragen von übermenschlicher Hybris, in einer Art dämonischer Perversion des ‚normalen‘ menschlichen Willens ihre Verbrechen vollständig wollten und ihr monströses Böses heroisch übernahmen – es waren gewöhnliche, ‚anständige‘ Leute, die monströse Handlungen ausführten, als wären sie bloß eine weitere technisch-administrative Maßnahme, die umzusetzen ist. Arendts Beharren darauf, dass Figuren wie Eichmann keine ‚pervertierten Sadisten‘ gewesen seien, verfehlt den Punkt, insofern es auf den vortheoretischen, common-sense-Begriff eines ‚Sadisten‘ Bezug nimmt als einer Person, die das Leiden, das sie anderen zufügt, vollständig will und genießt. In klarem Gegensatz zu dieser common-sense-Vorstellung insistiert Lacan darauf, dass das fundamentale Merkmal der subjektiven Position des Perversen die Haltung radikaler Selbst-Instrumentalisierung ist, des Sich-Verwandelns in das reine Instrument-Objekt der jouissance des Anderen: für Lacan ist der sadistische Perverse keine leidenschaftliche Figur dämonischen Bösen, sondern ein durch und durch depersonalisierter ‚Bürokrat des Bösen‘, ein reiner Vollstrecker – es gibt keine psychologische Tiefe in seiner Persönlichkeit, kein komplexes Spinnennetz traumatischer Motivationen.

Der erste Gedanke, der sich hier aufdrängt, ist die Affinität zwischen der Haltung des perversen Sadisten und der grundlegenden kantischen ethischen Haltung selbst – das heißt, der Haltung, seine Pflicht um der Pflicht willen allein zu erfüllen und nicht um irgendeiner ‚pathologischen‘ Motivationen willen, selbst wenn sie edler Natur sind (Mitgefühl, Liebe zum Nächsten). Sind wir also nicht zurück beim Thema ‚Kant avec Sade‘, das aus verschiedenen Perspektiven von Adorno und Horkheimer sowie von Lacan ausgearbeitet wurde: sadistische Perversion als verborgene Wahrheit der kantischen Ethik? Enthält nicht das Gemeinplatz, wonach die nationalsozialistische ‚Banalität des Bösen‘ in kantischen Termini legitimiert werden könne (das Gemeinplatz, das Eichmann selbst während seines Prozesses in Jerusalem aufrief) als leidenschaftslose Erfüllung seiner Pflicht um der Pflicht willen allein, ohne Rücksicht auf irgendwelche ‚pathologischen‘ Erwägungen, somit ein Körnchen Wahrheit? Anders gesagt: öffnet Kant nicht, wenn er bemüht ist, aus dem Begriff der moralischen Pflicht alle Spuren ‚pathologischer‘ Affekte (Mitgefühl, Sorge um das Wohlergehen unseres Nächsten …) auszulöschen, unbeabsichtigt die Türen zu einem Bösen, das weit radikaler ist als das gewöhnliche selbstsüchtige Böse – einem Bösen, das zudem vom Guten, von der ethischen Tätigkeit, wie Kant sie selbst definiert, ununterscheidbar wird?

Die Standardweise, diesem Verdacht entgegenzutreten, ist zu betonen, wie Kant zwischen radikalem und diabolischem Böse unterscheidet: während er den Begriff des ‚radikalen Bösen‘ (d. h. der angeborenen, ewigen Neigung zum Bösen als einer Art anthropologischer Konstante, die der menschlichen Bedingung selbst wesenseigen ist) vollständig bejaht, verwirft er als unmöglich den Begriff des ‚diabolischen Bösen‘, des zum ethischen Prinzip erhobenen Bösen – das heißt, des Bösen, das ohne ‚pathologische‘ Prinzipien vollbracht wird, sondern nur ‚um der Pflicht willen‘: für Kant ist eine solche Pervertierung des menschlichen Willens undenkbar. Die offensichtliche Versuchung besteht hier darin zu behaupten, der nationalsozialistische Holocaust präsentiere eine historische Aktualisierung genau dieses von Kant als undenkbar zurückgewiesenen Begriffs des ‚diabolischen Bösen‘ – die Position, die John Silber in seinem anregenden Essay über ‚Kant in Auschwitz‘ im Detail ausarbeitet:

Kants Ethik ist für das Verständnis von Auschwitz unzureichend, weil Kant die Möglichkeit einer absichtlichen Zurückweisung des moralischen Gesetzes leugnet. Nicht einmal ein böser Mensch, so Kant, kann das Böse um des Bösen willen wollen.²⁵

Milton liefert, indem er Satan in seinem einsamen trotzigen Zorn darstellt, verzehrt von Hass auf alles Gottgleiche außer gottgleicher Macht, ein zwingendes Beispiel des wahrhaft Dämonischen. Dieses Böse begegnet uns in Auschwitz – ein Böses, das die begrifflichen Grenzen von Kants Theorie weit überschreitet.²⁶

Diese beiden entgegengesetzten Kant-Lektüren in Bezug auf den Holocaust epitomisieren die zwei entgegengesetzten Weisen, in denen die post-hegelianische Kritik des deutschen Idealismus das Thema ‚deutscher Idealismus und Böses‘ angeht. Das heißt, diese Kritik (bemerkenswerterweise schon beim späten Schelling) oszilliert zwischen zwei Thesen. Erstens wird (radikales oder diabolisches) Böses als radikaler Außenstehender gesetzt, als Ausbruch wilder Negativität, den die idealistische Maschinerie subjektiver Vermittlung-Internalisierung nicht ‚schlucken‘, nicht aufheben, nicht enthalten, nicht als inhärenten Moment in der Theodizee des absoluten Geistes setzen kann: im radikalen Bösen trifft die Philosophie absoluter Subjektivität, der begrifflichen Vermittlung-Aufhebung allen positiven Inhalts, auf ihre letzte Grenze, auf etwas, das für immer unbegreiflich bleibt, die absolute Andersheit zum Begriff. Der Idealismus absoluter begrifflicher Vermittlung/Reflexion ist somit außerstande, der positiven sinnlosen Realität des Bösen zu begegnen, sie vollständig anzuerkennen, deren plötzliches Auftreten das Gebäude der Vernunft jederzeit unterminieren kann. Andererseits jedoch ist es die absolute Subjektivität selbst, mit ihrem Anspruch, sich als Macht absoluter Vermittlung zu behaupten, allen unabhängigen positiven Inhalt zu verschlingen/zu internalisieren, diesen Inhalt in ihren eigenen untergeordneten Moment zu verwandeln, die der höchste Ausdruck des Bösen ist – das heißt, der Behauptung bedingungslosen Egoismus.

Die hegelianische Lösung dieser Aporie besteht natürlich darin, die letztliche (spekulative) Identität der beiden Ansätze zu behaupten: die Andersheit des Bösen, die sich dem Zugriff des Subjekts entzieht, ist kein An-sich, sondern der eigentliche Kern der absoluten Negativität des Subjekts selbst, seine eigene exzessive gründende Geste. Absolute Subjektivität ist somit zugleich das, was das radikale Böse ignoriert, und das, was selbst das höchste Böse ist – das heißt, die höchste egoistische Verleugnung der Abhängigkeit des Subjekts von einer irreduziblen Andersheit. Und ist nicht das letzte Beispiel dieser Gleichzeitigkeit das Schicksal politischer Subjektivität, wie konservative Kritik an revolutionären Versuchen uns zu überzeugen sucht? Die revolutionären Versuche, die bemüht sind, der Welt ihre Vision aufzuzwingen, gegründet auf ihrem Glauben an die grundlegende Güte und Rationalität der Menschheit, versäumen nicht nur, die wesentliche Hinfälligkeit und Niedertracht der menschlichen Natur zu berücksichtigen, sie entfesseln selbst die mächtige Kraft einer unerhörten Zerstörerischkeit (wie den Terror der Französischen Revolution). Hegel selbst scheint in diese Richtung zu tendieren – nicht so sehr in seinen berühmten Bemerkungen über den revolutionären Terror in der Phänomenologie, sondern eher in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, wo er die Tatsache kommentiert, dass ‚das Böse im Abstrakten keine Wahrheit in sich hat und ohne Interesse ist‘:

Denn das rein Negative ist an sich unerquicklich und flach und lässt uns daher entweder leer oder stößt uns ab, sei es, dass es als Motiv einer Handlung gebraucht wird oder bloß als Mittel, die Reaktion eines anderen Motivs hervorzubringen. Das Grauenhafte und Unglückliche, die Härte der Macht, die Erbarmungslosigkeit der Übermacht, kann von der Einbildungskraft zusammengehalten und ertragen werden, wenn es erhoben und getragen wird von einer an sich würdigen Größe des Charakters und des Ziels; aber das Böse als solches, Neid, Feigheit und Niedertracht sind und bleiben rein widerwärtig.²⁷

Hegel bezieht sich hier auf Satan in Miltons Paradise Lost, das gerade deshalb von so großem Interesse ist, weil es das Böse (die Rebellion gegen Gott) zu einer konsistenten ethischen Haltung eines starken Charakters erhebt. Hinzuzufügen ist nur, dass rein eindimensionales Böses (eine einfach egoistische niederträchtige Person) überhaupt nicht das wahre Böse ist: wahres Böses involviert gerade die Verwischung der Unterscheidungen zwischen Gut und Böse – das heißt, die Erhebung des Bösen zu einem konsistenten ethischen Prinzip. Ein revolutionärer Terrorist ist zum Beispiel ästhetisch interessant, wenn er nicht bloß ein blutdürstiger Vollstrecker ist, der aus reiner egoistischer Niedertracht tötet und foltert, sondern ein aufrichtiger Idealist, bereit, alles für seine Sache zu opfern, überzeugt, dass er der Menschheit einen Dienst erweist, und so in der tragischen Blockade seiner Lage gefangen. Eine schellingsche Erinnerung an Hegel wäre also, dass ein solches ‚ethisches Böses‘ das wahre diabolische Böse ist, weit schlimmer als das Böse bloßer egoistischer Niedertracht: je ‚reiner‘ du bist (je selbstlos-humanitärer deine Motive sind), desto größer dein Böses. Ferner wäre die arendtsche Erinnerung an beide, dass die nationalsozialistischen Vollstrecker weder Kreaturen selbstsüchtiger Niedertracht noch verzerrte heroische Idealisten waren.

Also – zurück zu Kant: unsere Lösung dieser Alternative (der formalistische Rigorismus der kantischen Ethik als mögliche Legitimierung der nationalsozialistischen Vollstrecker; das nationalsozialistische Böse als ein Phänomen, das den Horizont der kantischen Ethiktheorie transzendiert) besteht darin, beide ihrer Terme zurückzuweisen. Einerseits sollte man den Begriff, wonach Kants Zurückweisung des ‚diabolischen Bösen‘ eine theoretisch inkohärente Verleugnung der notwendigen Konsequenz seines eigenen Denkens ist, vollständig bejahen: die inhärente Logik seines Denkens zwang ihn faktisch, das ‚diabolische Böse‘ als Paradox eines Bösen zu setzen, das durch keine pathologischen Motivationen angetrieben ist, sondern bloß ‚um seiner selbst willen‘, was – zumindest auf einer gewissen Ebene – es vom ethischen Akt ununterscheidbar macht. Andererseits sollte man, gegen Silbers Position, jede Verbindung zwischen dem kantischen ‚diabolischen Bösen‘ und der schrecklichen Realität des nationalsozialistischen Holocaust kategorisch verneinen: die Verbrechen des nationalsozialistischen Holocaust haben nichts mit dem kantischen ‚diabolischen Bösen‘ zu tun (mit dem ‚dämonischen‘ expliziten Wollen monströser Taten um ihrer selbst willen, weil sie böse sind).

Obwohl die Verbrechen des nationalsozialistischen Holocaust in genau der von Arendt beschriebenen Weise ‚banal‘ waren, sind sie dennoch nicht aller pathologischen Motivationen beraubt. Soweit man ‚pathologisch‘ jeden positiven, letztlich kontingenten Inhalt nennt, der den ethischen Formalismus ergänzt und es uns erlaubt, die universalen ethischen Gebote momentweise zu suspendieren, sollte man behaupten, dass das nationalsozialistische ideologische Universum definitiv die Bezugnahme auf einen solchen positiven Inhalt einschließt: Eichmann handelte nicht ‚um der Pflicht willen‘, sondern um des deutschen Vaterlandes willen, klar gesetzt als das höchste Gute des nationalsozialistischen ideologischen Universums. Ohne diese massive, alles durchdringende Bezugnahme auf das deutsche Vaterland (das gegen die jüdische Bedrohung zu verteidigen sei), ohne diese Logik von ‚My country, right or wrong!‘ bis zum Äußersten gesteigert, ist es nicht möglich, die völlige Gedankenlosigkeit der nationalsozialistischen Vollstrecker zu erklären, ihre Unfähigkeit, über die menschliche Dimension ihrer Taten zu reflektieren: es war die Bezugnahme auf die höchsten Interessen des Vaterlandes, nicht auf irgendeinen abstrakten kantischen Sinn von ‚Pflicht um der Pflicht willen‘, die es dem ‚gewöhnlichen, anständigen Deutschen‘ ermöglichte, elementares ethisches Urteil zu suspendieren.

Mit anderen Worten: obwohl es wahr ist, dass der Platz für den nationalsozialistischen Holocaust durch die Lücke zwischen formaler Pflicht und der positiven Vorstellung vom Guten eröffnet wird, bedeutet dies nicht, dass die Haltung der nationalsozialistischen Vollstrecker im Prinzip ‚Tu deine Pflicht, ungeachtet aller Erwägungen zum Guten der Menschen!‘ gründete – ganz im Gegenteil, sie gründete im Prinzip ‚Tu alles für das Gute deines Vaterlandes, selbst wenn du gezwungen bist, das zu begehen, was in den Termini des abstrakten Begriffs ethischer Pflicht wie schreckliche Verbrechen aussieht – die Tatsache, dass du solche Verbrechen begehen kannst, ist der letzte Beweis deiner Hingabe an das Gute des Vaterlandes!‘ Die nationalsozialistischen Verbrechen waren nicht die letzte Konsequenz der modernen formalistischen Ethik des ‚seine Pflicht um der Pflicht willen tun‘, die jede Bezugnahme auf einen positiven, substantiellen Begriff des Guten auslöscht; sondern im Gegenteil das radikalste Beispiel ethischen Anti-Formalismus, der Ethik des höchsten Guten, dessen Bezugnahme die Auslöschung jeder Bezugnahme auf den formalen Begriff ethischer Pflicht rechtfertigt. Die nationalsozialistische Bezugnahme auf das Gute des Vaterlandes war natürlich in einem Sinn bloß eine Maske; dennoch, fiele diese Maske, würde das gesamte Gebäude der nationalsozialistischen Maschine zerfallen sein – die nationalsozialistische Maschinerie hätte in ihrem ‚nackten Zustand‘, als reiner Tötungsapparat, nicht weiter funktionieren können.

6

Rogozinski ist vollkommen berechtigt, die erste Version des kantischen Exzesses bereits in der Kritik der reinen Vernunft zu erkennen, rund um den Schlüsselbegriff der ‚transzendentalen Einbildungskraft‘; er scheint jedoch ihren wahren Brennpunkt zu verfehlen, wenn er diesen Exzess mit der Gewalt identifiziert, die im Akt der transzendentalen Synthesis liegt, welche die zerstreuten sinnlichen Daten zu Realität vereinheitlicht. Im Gegensatz zu Rogozinski ist man versucht, diese ursprüngliche exzessive Gewalt im Herzen der transzendentalen Freiheit selbst zu verorten, die dem (moralischen) Gesetz vorausgeht – in der ‚Widerspenstigkeit‘ des menschlichen Subjekts, die Kant in seiner Anthropologie erwähnt. Ist nicht diese ‚Widerspenstigkeit‘ die ursprüngliche Manifestation des ‚diabolischen Bösen‘, des unbedingten Triebs, der das Subjekt zwingt, ‚bis ans Ende zu gehen‘, jenseits jedes (menschlichen) Maßes? Und ist nicht Ethik, in ihrer radikalsten Dimension, das Bemühen, diesen Trieb einzudämmen? Kants Beharren auf der epistemologischen Unzugänglichkeit des noumenalen Bereichs für uns, endliche Menschen, ist daher als ‚Du kannst nicht, weil du nicht sollst!‘ zu lesen, als ethisches Verbot, als fundamentales ‚no trespassing‘, als Warnung davor, in den selbstzerstörerischen Strudel der ‚Widerspenstigkeit‘ verstrickt zu werden, der den selbstgenügsamen Reproduktionszyklus des tierischen Lebens stört. Es gibt etwas, einen unheimlichen Bereich, zwischen dem tierischen Leben, reguliert durch die Suche nach Lust, und der Herrschaft des moralischen Gesetzes – dieses Etwas ist ‚transzendentale Freiheit‘, das undenkbare direkte Eingreifen des Noumenalen ins Phänomenale in der Gestalt eines gewaltsamen Aufreißens der Ketten natürlicher Kausalität, das noch nicht durch das moralische Gesetz in Schach gehalten wird.

Diese kantische Blockade findet ihren klarsten Ausdruck in der (bereits erwähnten) Passage gegen Ende der Kritik der praktischen Vernunft, wo Kant behauptet, Gott selbst habe unsere kognitiven Fähigkeiten weise begrenzt (d. h. den noumenalen Bereich uns unzugänglich gemacht), um uns zu ermöglichen, moralisch zu handeln – nicht nur Kant, sondern Gott selbst muss ‚den Umfang unseres Wissens begrenzen, um Platz für die Moral zu schaffen‘. Weist nicht Kants eigene Beschreibung der katastrophalen ethischen Konsequenzen, die einträte, wenn der Mensch Zugang zum noumenalen Bereich erhielte, jedoch auf die einzige konsistente Antwort auf das Rätsel des diabolischen Bösen hin, nämlich dass dieses diabolische Böse kein anderes ist als ‚Gott-an-sich‘, d. h. Gott selbst in seiner noumenalen Dimension, der Gott eines obszönen Über-Ich-Gesetzes, das mit perverser jouissance zusammenfällt? Hinter der Opposition von Gesetz und dem tödlichen Ding, hinter dem Begriff des Gesetzes als des Verbots, das uns ermöglicht, eine richtige Distanz zum Ding zu wahren, steht somit die monströse Dimension (nicht des Dings-an-sich jenseits des Geltungsbereichs des Gesetzes, sondern) des Gesetzes selbst als Ding, eines schrecklichen Gesetzes, das selbst in die Dimension eingeschrieben ist, die es aus unserer Reichweite herauszuhalten versucht.²⁸

Oder – anders gesagt – Rogozinski zeigt überzeugend, wie man unter dem offiziellen akademischen Bild Kants als des Philosophen, der die ethische Autonomie des Subjekts behauptet, einen anderen Kant erkennen sollte, einen Kant, der sich auf die rätselhafte Gabe des Gesetzes konzentriert, die es dem Subjekt ermöglicht, eine richtige Distanz zum monströsen Ding zu wahren und so zu vermeiden, von seinem Abgrund verschlungen zu werden. Wir erhalten so einen Kant, für den das Hauptproblem nicht darin besteht, wie man das Eintauchen in pathologische empirische Interessen vermeidet und dem Ruf des noumenalen Gesetzes folgt, sondern (man ist fast versucht zu sagen: im Gegenteil) wie man eine minimale Distanz zum monströsen noumenalen Ding aufrechterhält. Was das moralische Gesetz zu zügeln hat, ist somit nicht primär unsere Fixierung auf pathologische Motivationen, die sich auf kontingente phänomenale Objekte beziehen, sondern vielmehr die ‚Widerspenstigkeit‘, die Kant in seiner Anthropologie als das spezifisch menschliche störrische Beharren definiert, das Festhalten an wilder egoistischer Freiheit, ungebunden durch irgendwelche Schranken (erkennbar bei kleinen Kindern), diesen unmöglichen Punkt direkter phänomenaler Erscheinung noumenaler Freiheit, der im Tierreich kein Pendant hat und durch den Druck der Erziehung gebrochen und ‚gezähmt‘ werden muss.

Es gibt also definitiv einen ‚anderen Kant‘ unter dem offiziellen akademischen Kant – gilt jedoch nicht dasselbe auch für Hegel? Und begeht Rogozinski nicht denselben Fehler in Bezug auf Hegel; akzeptiert er nicht zu hastig das offizielle akademische Bild Hegels als des Philosophen dialektischer Zauberei, die es ihm ermöglicht, die Erfahrung radikaler Negativität magisch in die Positivität der Theodizee der absoluten Idee zu invertieren? Gibt es nicht auch einen anderen Hegel?²⁹ Und ist es nicht so, dass in beiden Fällen diese andere Dimension, die sich dem standardmäßigen akademischen Bild des Philosophen entzieht, auf das Rätsel des ‚diabolischen Bösen‘ fokussiert ist, auf das unmögliche Reale eines undenkbaren Akts des Bösen, der die Form seines Gegenteils annimmt, des Guten? Gerade als undenkbar/unmöglich muss dieser Akt vorausgesetzt werden, wenn man die Tatsache des ethischen Subjekts erklären will: ‚diabolisches Böse‘ ist nicht das unerreichbare Telos des Bösen, sein Extrempunkt, der niemals erreicht werden kann, sondern vielmehr etwas, das immer-schon geschehen ist in dem Moment, in dem wir uns im ethischen Bereich befinden, seine ‚ursprünglich verdrängte‘ gründende Geste, eine Art ‚verschwindender Vermittler‘ zwischen natürlicher/instinktualer Unschuld und dem Bereich moralischen Gesetzes und der Schuld.

Man könnte es auch so ausdrücken: warum führt Kant den Begriff des ‚diabolischen Bösen‘ überhaupt ein, bevor er ihn verwirft? Weil die Bezugnahme auf das ‚diabolische Böse‘ notwendig ist, wenn man das ‚radikale Böse‘ selbst vom traditionellen Begriff des Bösen als bloßer Willensschwäche unterscheiden will, als Unfähigkeit des Willens, der Versuchung zu widerstehen. Das heißt: Kants entscheidender Punkt ist, dass das Böse nicht bloß ein Mangel an Gutem ist, bloß eine Schwäche des Willens, sondern eine aktive, positive Kraft, die dem Guten widersteht, eine Haltung, die das Subjekt mittels seines/ihres ewigen noumenalen Akts der Wahl seines/ihres ewigen Charakters annimmt – und ist nicht ein solcher Akt notwendigerweise, per definitionem, ‚diabolisch‘?

Man sollte hier vorsichtig sein, die Komplexität der kantischen Operation, wie Rogozinski sie rekonstruiert, nicht zu verfehlen: diese Operation kehrt die standardmäßige hegelianische Kritik um, wonach Kant ‚nicht bis ans Ende geht‘ und daher auf halbem Wege stecken bleibt – kurz vor dem Abgrund radikaler Negativität stehen bleibt. Nach Rogozinski liegt die grundlegende Geste des ‚wahren Kant‘ unter dem akademischen Schein der ‚kantischen Philosophie‘ gerade in einer Weigerung, bis ans Ende zu gehen: wenn er ‚bis ans Ende geht‘, wird das Subjekt vom Abgrund totaler Selbst-Desintegration verschlungen, es vollzieht den unmöglichen Schritt ins diabolische Böse, die Moral bricht zusammen, die Realität selbst löst sich ins Monströse auf. In klarem Gegensatz zum irreführenden Bild von Kants ‚ethischem Rigorismus‘ kann man sehen, wie für diesen Kant die letzte Stütze der Ethik nicht in der Haltung unbedingten Beharrens besteht (‚weiche nicht zurück‘, gehe bis ans Ende, fiat iustitia pereat mundus), sondern in der Fähigkeit des Subjekts, sich zu zügeln, vor dem Abgrund stehen zu bleiben. ‚Gesetz‘ ist der Name für die Begrenzung, die das Subjekt sich selbst auferlegt – etwa im Verhältnis zu einem anderen Menschen der Name für den ‚Respekt‘, der mich anweist, eine Distanz zu ihm oder ihr zu wahren, davon abzusehen, zu versuchen, in all seine oder ihre Geheimnisse einzudringen …³⁰

Obwohl die kantische radikale Ethik unbedingter Anrufung gewöhnlich der aristotelischen Ethik des richtigen Maßes und des Meidens der beiden Extreme entgegengesetzt wird, begegnen wir hier, in diesem Begriff der eigentlich ethischen Haltung (als involvierend sowohl das Meiden des Extrems bloßer Immersion in das pathologische Universum empirischer Objekte als auch das Meiden direkt tödlicher Immersion in das unmögliche noumenale Ding), der unerwarteten aristotelischen Seite Kants. Auf einer fundamentaleren Ebene als seinem notorischen moralischen Rigorismus bekräftigt Kant somit die Ethik der richtigen Distanz, der Rücksicht und Selbstbegrenzung, des Meidens der Versuchung, ‚bis ans Ende zu gehen‘. Von diesem kantischen Standpunkt aus billigt Lacans ne pas céder sur son désir (die ethische Anrufung, bei seinem Begehren nicht nachzugeben) keineswegs das suizidale Beharren darauf, seinem Ding zu folgen; im Gegenteil weist sie uns an, unserem Begehren treu zu bleiben, insofern es durch das Gesetz getragen wird, eine minimale Distanz zum Ding zu wahren – man ist seinem Begehren treu, indem man die Lücke aufrechterhält, die das Begehren trägt, die Lücke, aufgrund deren das inzestuöse Ding dem Zugriff des Subjekts für immer entgeht.

In ethische Termini übersetzt ist die Opposition zwischen Begehren und Trieb somit die Opposition zwischen der Haltung des ‚No trespassing‘, dem Respektieren des Geheimnisses des Anderen, dem Stehenbleiben vor dem tödlichen Bereich der jouissance, und der umgekehrten Haltung des ‚bis ans Ende gehens‘, unbedingten Beharrens, das seinen Lauf nimmt ungeachtet aller ‚pathologischen‘ Erwägungen. Und ist das nicht auch die Opposition zwischen Moderne und Postmoderne? Ist nicht die kompromisslose Haltung des ‚bis ans Ende gehens‘ das Grundmerkmal modernistischen Rigorismus, während die postmodernistische Haltung durch die radikale Ambiguität der ‚unmöglichen‘ Beziehung des Subjekts zum Ding gekennzeichnet ist – wir schöpfen Energie daraus, aber wenn wir ihm zu nahe kommen, wird seine tödliche Anziehung uns verschlingen? Wie der unglückliche Erzähler von Poes ‚A Descent into the Maelstrom‘, der den Schiffbruch überlebt und, indem er das Wrack, auf dem er feststeckt, geschickt steuert, das um den Mahlstrom zirkuliert, auf wundersame Weise vermeidet, vom Auge des gigantischen Mahlstroms verschlungen zu werden, muss das postmodernistische Subjekt das Kunststück lernen, die Erfahrung einer radikalen Grenze zu überleben, um den tödlichen Abgrund zu zirkulieren, ohne von ihm verschlungen zu werden … Ist nicht Lacans gesamtes theoretisches Gebäude zwischen diesen beiden Optionen zerrissen: zwischen der Ethik des Begehrens/Gesetzes, dem Aufrechterhalten der Lücke, und der tödlichen/suizidalen Immersion in das Ding?

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