Denn sie wissen nicht was sie tun 1

DENN SIE WISSEN NICHT

WAS SIE TUN

GENUSS ALS POLITISCHER FAKTOR

Slavoj Žižek

Mit Korrekturen und aktualisierten Fußnoten

2023

Für Kostja, meinen Sohn

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage: Genuss innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Der harte Weg zum dialektischen Materialismus – Von der Logik des Signifikanten… – …zur hegelschen Dialektik – Der Akt – Zen im Krieg – Religion – Der Akt, erneut – Ideologie – Gibt es eine Politik der Subtraktion? – Lacan und Badiou – Mehrgenuss

Einleitung: Schicksal eines Witzes

TEIL I E Pluribus Unum

1 On the One

I DIE GEBURT EINES MEISTER-SIGNIFIKANTEN:- Das nicht-analysierbare Slowenische – Der Kaiser soll seine Kleider haben! – Der ‘Stepppunkt’ – ‘Ein Signifikant repräsentiert das Subjekt für einen anderen Signifikanten’ – Warum ist Moralität die dunkelste aller Verschwörungen?

II WIE ZÄHLT MAN NULL FÜR EINS?:- Derrida ist ein Leser Hegels – Identität als ‘reflektierende Bestimmung’ – ‘Gott ist…’ – Ein ‘chiasmatischer Austausch von Eigenschaften’ – Die ‘Logik des Signifikanten’ – Die subjektivierte Struktur – Die ‘Metapher des Subjekts’ – Das hegelsche ‘eine Eins’

2 Die zügellose Identität

I UNMÖGLICHKEIT:- Hegels Monismus – Das ‘stille Weben des Geistes’ – ‘Aus dem Nichts durch das Nichts ins Nichts’ – Die Bedingung der (Un)Möglichkeit

II REFLEXION:- Die Logik der Markierung – Der erneut markierte Abgrund – Von misslungener Reflexion zu reflektiertem Misslingen – Die Rückseite des Spiegels

TEIL II Dialektik und ihre Unzufriedenheiten

3 Hegelsche Llanguage

I MIT BLICK AUF UNSEREN BLICK:- Wie man eine Totalität mit Fehlschlägen macht – Die spekulative (Nicht-)Identität – Llanguage und ihre Grenze – Der Streit um das All

II URTEILEN AUS ERMANGELUNG:- ‘Das Wort ist ein Elefant’ – Die Paradoxien der Sexuierung – Wie Notwendigkeit aus Kontingenz entsteht – ‘Im Vater mehr als der Vater selbst’

4 Über den Anderen

I HYSTERIE, GEWISSHEIT UND ZWEIFEL:- Wittgenstein als Hegelianer – Hegels hysterisches Theater – Cogito und die erzwungene Wahl – ‘Objektive Gewissheit’ – Von Ⱥ zu $

II DER ‘FORMALE ASPEKT’:- Geschichte einer Erscheinung – Sagen und das-zu-sagen-Meinen – Das hegelsche Performativ – Die ‘List der Vernunft’ erneut betrachtet

TEIL III Cum Grano Praxis

5 Ende gut, alles gut?

I WARUM SOLLTE EIN DIALEKTIKER LERNEN, BIS VIER ZU ZÄHLEN?:- Die Triade und ihr Exzess – Protestantismus, Jakobinismus… – … und andere ‘verschwindende Vermittler’ – ‘Ein Schlag deines Fingers…’ – Warum ist Wahrheit immer politisch?

II DAS ‘FEHLENDE GLIED’ DER IDEOLOGIE:- Die selbstbezügliche Struktur und ihr Leerstelle – Die Ursprünge erzählen – Sogenannte ‘ursprüngliche Akkumulation’ – Das Paradox einer endlichen Totalität – Das kantische Ding

6 Viel Lärm um ein Ding

I DIE VARIANTEN DES FETISCHISMUS-TYPS:- Warum ist Sade die Wahrheit Kants? – Das ‘totalitäre Objekt’ – ‘Ich weiß, aber dennoch…’ – Traditionelle, manipulative, totalitäre Macht

II ‘DER KÖNIG IST EIN DING’:- Die zwei Körper des Königs – Die zwei Körper Lenins – Wie extrahiert man das Volk aus dem Volk? – Die ‘Hypothese des Meisters’ – Der König ist ein Platzhalter der Leere

Anmerkungen

Register

Vorwort zur zweiten Auflage:

Genuss innerhalb der Grenzen

der bloßen Vernunft

Es gibt philosophische Bücher, sogar kleinere Klassiker, die weithin bekannt sind und auf die man sich bezieht, obwohl praktisch niemand sie tatsächlich Seite für Seite gelesen hat (John Rawls’ Theory of Justice zum Beispiel oder Robert Brandoms Making It Explicit) – ein schönes Beispiel von Interpassivität, bei der irgendeine Figur des Anderen das Lesen für uns übernehmen soll. Ich hoffe, For they know not what they do ist diesem Schicksal entgangen, indem es zumindest wirklich gelesen wurde. Obwohl es vom populäreren Sublime Object of Ideology überschattet wurde, meinem ersten englischsprachigen Buch, das zwei Jahre zuvor erschien, hielt ich es immer für die substantiellere Leistung: Es ist ein Buch theoretischer Arbeit, im Unterschied zur Abfolge von Anekdoten und Kinoreferenzen in The Sublime Object. Für mich war die Reaktion einzelner Leser darauf eine Art Test: diejenigen, die sagten: ‘Ich war davon enttäuscht und fand es nach all den Knallfröschen von The Sublime Object letztlich ein bisschen langweilig’, haben offensichtlich das entscheidende Argument beider Bücher verfehlt. Noch heute ist meine Haltung: Wer nicht über For they know not what they do sprechen will, sollte über The Sublime Object schweigen.

Der harte Weg zum dialektischen Materialismus

Es gibt ein zusätzliches Merkmal, das For they know not what they do entscheidend macht: Es stellt eine kritische Distanz zu einigen der Schlüsselpositionen von The Sublime Object her. Obwohl ich weiterhin zu den grundlegenden Einsichten von The Sublime Object stehe, ist mir im Rückblick klar, dass es eine Reihe ineinander verschlungener Schwächen enthält. Erstens gibt es die philosophische Schwäche: Es befürwortet im Grunde eine quasi-transzendentale Lacan-Lektüre, die auf den Begriff des Realen als des unmöglichen Dings-an-sich fokussiert; dadurch öffnet es den Weg zur Feier des Scheiterns: zur Idee, dass jeder Akt letztlich danebengeht und dass die angemessene ethische Haltung darin besteht, dieses Scheitern heroisch zu akzeptieren. The Sublime Object verfehlt es, die komplexen Verflechtungen innerhalb der Triade Real-Imaginär-Symbolisch zu entfalten: Die gesamte Triade spiegelt sich in jedem ihrer drei Elemente.

Es gibt drei Modalitäten des Realen: das ‘reale Reale’ (das grauenhafte Ding, das ursprüngliche Objekt, von Irmas Kehle bis zum Alien); das ‘symbolische Reale’ (das Reale als Konsistenz: der Signifikant, reduziert auf eine sinnlose Formel, wie Formeln der Quantenphysik, die nicht mehr zurückübersetzt werden können in – oder bezogen werden können auf – die Alltagserfahrung unserer Lebenswelt); und das ‘imaginäre Reale’ (das geheimnisvolle je ne sais quoi, das unergründliche ‘Etwas’, um dessentwillen die sublime Dimension durch ein gewöhnliches Objekt hindurchscheint).1 Das Reale ist somit, in der Tat, alle drei Dimensionen zugleich: der abgründige Strudel, der jede konsistente Struktur ruiniert; die math-ematisierte konsistente Struktur der Wirklichkeit; die fragile reine Erscheinung. Und, in strikt homologer Weise, gibt es drei Modalitäten des Symbolischen (das Reale – der Signifikant, reduziert auf eine sinnlose Formel; das Imaginäre – die jungianischen ‘Symbole’; und das Symbolische – Rede, bedeutungsvolle Sprache); und drei Modalitäten des Imaginären (das Reale – Phantasie, die genau ein imaginäres Szenario ist, das den Platz des Realen besetzt; das Imaginäre – das Bild als solches in seiner grundlegenden Funktion als Köder; und das Symbolische – wiederum die jungianischen ‘Symbole’ oder New-Age-Archetypen).2

Wie also ist das Reale in die Sprache eingeschrieben? Robert Brandom3 hat die Konsequenzen aus der Tatsache ausgearbeitet, dass Menschen normative Wesen sind: Sprache ist in ihrem elementarsten Sinn das Medium der Verpflichtung – jede Aussage, nicht nur explizite Performativa, verpflichtet mich, Gründe für mein Handeln und meine Aussagen zu geben. Menschen handeln nicht einfach auf eine bestimmte Weise; sie müssen ihre Handlungen rechtfertigen. Der lacanianische Punkt, der hier zu machen ist, lautet, dass es etwas zwischen der rohen natürlichen Realität und dem eigentlich menschlichen symbolischen Universum normativer Verpflichtungen gibt: den Abgrund der Freiheit. Wie Lacan Anfang der 1950er Jahre, apropos performativer Aussagen wie ‘Du bist mein Lehrer’, hervorhob, sind wir verpflichtet, uns zu verpflichten, weil die direkte Kausalität aufgehoben ist – man weiß nie wirklich, man sieht nie direkt in den Geist des anderen hinein.4 Kein Wunder, dass Menschen, wenn sie im Begriff sind, ihr Ehegelübde abzulegen, die Verpflichtung par excellence, oft von Angst ergriffen werden: Bin ich wirklich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen? Der Standardausweg besteht schlicht darin, die Verpflichtung nicht ernst zu nehmen (oder so zu tun): Ich heirate zwar, aber ich phantasiere weiter darüber, ein ‘Junggeselle’ zu sein, und ich täusche auch meinen Ehepartner.

Das Rätsel ist, dass das Ehegelübde dennoch irgendwie Verpflichtungen auferlegt: selbst wenn ich mich Übertretungen hingebe, tue ich es im Geheimen, fern vom öffentlichen Blick des großen Anderen – selbst wenn ich insgeheim meine Ehe auf die leichte Schulter nehme, kann mein ganzes Leben zusammenbrechen, sobald ich gezwungen bin, ihrer Krise öffentlich zu begegnen (der sprichwörtliche Ehemann, der seiner Geliebten verspricht, seiner Frau zu sagen, dass er sich scheiden lassen werde, diesen Akt jedoch endlos aufschiebt, ist nicht einfach ein Heuchler, sondern ein lebendes Monument für die Kraft einer symbolischen Verpflichtung). Gerade diejenigen, die das Ehegelübde ernst nehmen, als volle Verpflichtung, sind am meisten ängstlich und zögern am stärksten, sich zu verpflichten. Diese Dimension fehlt in Brandoms Arbeit: dieser Widerstand gegen volle Verpflichtung, diese Unfähigkeit, sie vollständig zu übernehmen, die nicht bloß ein empirisches psychologisches Faktum ist, sondern ein Widerstand, der in die elementarste Beziehung zwischen dem Subjekt und seiner symbolischen Repräsentation/Identifikation eingeschrieben ist.

Diese Kluft ist nicht einfach äußerlich zur Sprache, sie ist nicht eine Beziehung zwischen Sprache und einem ihr äußeren Subjekt; vielmehr ist sie in das Herz der Sprache selbst eingeschrieben, in der Gestalt ihrer irreduziblen (Selbst-)Reflexivität. Wenn Lacan wiederholt, dass ‘es keine Metasprache gibt’, impliziert diese Behauptung nicht die Unmöglichkeit einer reflexiven Distanz zu einer Sprache erster Stufe; im Gegenteil: ‘Es gibt keine Metasprache’ bedeutet in der Tat, dass es keine Sprache gibt — keine nahtlose Sprache, deren Gesagtes nicht durch die reflexive Einschreibung der Position des Sagens gebrochen wäre. Hier begegnen wir erneut dem Paradox des Nicht-Alles: Es gibt keine (Metasprache-)Ausnahme von der Sprache, es ist nicht möglich, über sie von einer äußeren Position aus zu sprechen, gerade weil Sprache ‘nicht alles’ ist, weil ihre Grenze in sie eingeschrieben ist in der Gestalt von Brüchen, in denen der Prozess des Sagens in das Gesagte eingreift. Sprache beinhaltet in ihrem Begriff selbst eine minimale Distanz zu ihrer wörtlichen Bedeutung – nicht im Sinn irgendeiner irreduziblen Mehrdeutigkeit oder einer multiplen Streuung von Bedeutungen, sondern in dem präziseren Sinn von ‘er sagte X, aber was, wenn er wirklich das Gegenteil meinte’ – wie die sprichwörtliche männlich-chauvinistische Vorstellung einer Frau, die, wenn sie sexuellen Annäherungen ausgesetzt ist, ‘Nein’ sagt, während ihre eigentliche Botschaft ‘Ja’ lautet.

Der entscheidende Punkt ist hier, dass Freuds berühmte Ambivalenz libidinöser Haltungen überhaupt nichts mit irgendeiner biologischen oder psychologisch-affektiven Oszillation zu tun hat, sondern strikt auf die radikale Kluft zwischen wörtlicher Bedeutung und zugrunde liegender Absicht verweist. Die Minimalstruktur dieser Reflexivität ist natürlich die der poetischen Wiederholung: Wenn ich ‘Fenster’ sage, ist es nur eine einfache Bezeichnung; in dem Moment jedoch, in dem ich ‘Fenster … Fenster’ sage, trennt eine Kluft das Wort von sich selbst, und in dieser Kluft hallt die poetische ‘Tiefe’ nach. Und die Wahrheit des alten Klischees von den ‘poetischen Ursprüngen der Rede’ ist, dass es kein einziges Vorkommnis eines Wortes gibt: Wiederholung hallt immer-schon in ihm nach. Es ist entscheidend, den Zusammenhang zwischen dieser Selbstreflexivität und dem Scheitern wahrzunehmen: die reflexive Wendung zur Selbstbewusstheit tritt ein, wenn es eine ‘Fehlfunktion’ gibt, wenn Dinge nicht länger glatt laufen. Die Selbstreflexivität der Sprache, die Tatsache, dass ein Sprechakt immer ein reflexiver Kommentar zu sich selbst ist, seine eigene Qualifikation (in beiden Hauptbedeutungen des Begriffs), bezeugt die Unmöglichkeit, die in das Herz der Sprache selbst eingeschrieben ist: ihr Scheitern, das Reale zu erfassen.

Apropos eines intensiven religiösen Rituals ist es ein Gemeinplatz zu behaupten, dass wir, als Außenbeobachter, es niemals richtig interpretieren können, da nur diejenigen, die direkt in die Lebenswelt eingetaucht sind, deren Teil dieses Ritual ist, seinen Sinn erfassen können (oder, genauer, sie ‘verstehen’ ihn nicht reflexiv, sie ‘leben’ seinen Sinn unmittelbar). Von einem lacanianischen Standpunkt aus sollte man hier einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass sogar der religiöse Glaube derjenigen, die an einem solchen Ritual teilnehmen, letztlich eine ‘Rationalisierung’ der unheimlichen libidinösen Wirkung des Rituals selbst ist. Die Kluft ist nicht die Kluft zwischen den unmittelbar Beteiligten, die direkt mit der Sache zu tun haben, und unserer äußeren Interpretationsposition – sie ist in der Sache selbst zu lokalisieren, das heißt, sie spaltet sich von innen her aus den Teilnehmern selbst heraus, die eine ‘Rationalisierung’ des Sinns benötigen, um das Reale des Rituals selbst ertragen zu können. Dasselbe gilt für die Anschläge auf das World Trade Centre am II. September 2001: Ihre Schlüsselbotschaft ist nicht irgendein tieferer ideologischer Punkt, sie liegt in ihrer allerersten traumatischen Wirkung: Terrorismus funktioniert; wir können es tun.

In derselben Linie besteht die grundlegende interpretative Operation der Psychoanalyse nicht darin, ‘tiefer’ zu gehen als die oberflächliche Interpretation, sondern im Gegenteil darin, auf verwirrende erste Eindrücke zu achten. Üblicherweise heißt es, die erste Lektüre sei immer trügerisch, und der Sinn enthülle sich erst in einer zweiten Lektüre — was aber, wenn der Sinn, der in der zweiten Lektüre entsteht, letztlich eine Abwehrformation gegen den Schock der ersten ist? Der erste Eindruck von T.S. Eliots The Waste Land – die Fragmente aus gewöhnlichen täglichen Vorkommnissen, vermischt mit dem undurchdringlichen Gewebe von Verweisen auf eine inkonsistente Vielzahl künstlerischer und religiöser Phänomene – ist die ‘Botschaft’ des Gedichts.5 Diese direkte Kurzschließung zwischen den Fragmenten ‘entfremdeten’ zeitgenössischen Alltagslebens und der verwirrenden Vielzahl metaphysischer Bezüge ist für Eliot an sich die beste Diagnose dessen, wo wir heute stehen: Ohne ein festes religiös-metaphysisches Fundament sind unsere Alltage auf Fragmente leerer und vulgärer sozialer Rituale reduziert; wenn wir über diese Schwelle hinausgehen und uns bemühen, unter der verwirrenden Vielzahl der Verweise ein konsistentes geistiges Gebäude zu erkennen (ist Eliot ein Buddhist? propagiert er einen heidnischen Mythos der Auferstehung?), verfehlen wir bereits den entscheidenden Punkt.

Das bedeutet, dass das Reale nicht der harte Kern der Wirklichkeit ist, der sich der Virtualisierung widersetzt. Hubert Dreyfus hat recht, wenn er das grundlegende Merkmal der heutigen Virtualisierung unserer Lebenserfahrung als eine reflexive Distanz identifiziert, die jedes volle Engagement verhindert: wie bei sexuellen Spielen im Internet ist man nie vollständig verpflichtet, da man, wie wir gewöhnlich sagen, ‘wenn die Sache nicht klappt, kann ich immer gehen!’ Wenn man in eine Sackgasse gerät, kann man sagen: ‘OK, ich gehe aus dem Spiel, ich steige aus! Fangen wir wieder an mit einem anderen Spiel!’ – aber schon die Tatsache dieses Rückzugs impliziert, dass man sich von Anfang an irgendwie bewusst war, dass man das Spiel verlassen könnte, was bedeutet, dass man nicht vollständig verpflichtet war.6 Auf diese Weise können wir nie wirklich verbrennen, tödlich verletzt werden, da eine Verpflichtung stets widerrufen werden kann; während wir in einer existenziellen Verpflichtung ohne Vorbehalte, wenn wir einen Fehler machen, alles verlieren, es gibt keinen Ausweg, kein ‘OK, lass uns das Spiel neu beginnen!’ Wir verfehlen das, was Kierkegaard und andere ein volles existenzielles Engagement nennen, wenn wir es als einen riskanten voluntaristischen Sprung in eine dogmatische Haltung auffassen – als ob wir, statt in vollständig begründetem Skeptizismus zu verharren, sozusagen die Nerven verlieren und uns vollständig verpflichten; was Kierkegaard im Sinn hat, sind gerade jene Situationen, in denen wir absolut in die Enge getrieben sind und nicht zurücktreten können, um die Situation aus Distanz zu beurteilen – wir haben nicht die Chance, zu wählen oder nicht zu wählen, da der Rückzug aus der Wahl bereits eine (schlechte) Wahl ist.

Vom freudschen Standpunkt aus ist jedoch das Erste, was zu tun ist, die Opposition radikal in Frage zu stellen – auf die Dreyfus sich hier stützt – zwischen dem Menschen als einem voll verkörperten Agenten, der in seine Lebenswelt geworfen ist, vor dem undurchdringlichen Hintergrund eines Vorverständnisses handelt, das niemals objektiviert/expliziert werden kann zu einem Regelset, und dem Menschen, der in einem künstlichen digitalen Universum operiert, das durch und durch regelreguliert ist und daher die Hintergrunddichte der Lebenswelt entbehrt. Was, wenn unser Ort in einer Lebenswelt nicht die letzte Tatsache ist? Der freudsche Begriff des ‘Todestriebs’ weist genau auf eine Dimension menschlicher Subjektivität, die ihrer vollen Immersion in ihre Lebenswelt widersteht: Er bezeichnet ein blindes Beharren, das seinen Weg geht in völliger Missachtung der Anforderungen unserer konkreten Lebenswelt.

In Tarkowskijs Mirror rezitiert sein Vater Arseny Tarkovsky seine eigenen Zeilen: ‘Eine Seele ist sündig ohne einen Körper, / wie ein Körper ohne Kleider’ – ohne Projekt, ohne Ziel; ein Rätsel ohne Antwort. ‘Todestrieb’ ist diese verrückte Seele ohne Körper, ein reines Insistieren, das die Zwänge der Realität ignoriert. Der Gnostizismus ist daher zugleich sowohl richtig als auch falsch: richtig, insofern er behauptet, dass das menschliche Subjekt nicht wirklich ‘zu Hause’ ist in unserer Realität; falsch, insofern er daraus den Schluss zieht, es müsse daher ein anderes (astrales, ätherisches …) Universum geben, das unser wahres Zuhause sei, aus dem wir in diese träge materielle Realität ‘gefallen’ seien. Hier verfehlen auch all die postmodern-dekonstruktionistischen-poststrukturalistischen Variationen darüber, wie das Subjekt immer-schon verschoben, dezentriert, pluralisiert … ist, irgendwie den zentralen Punkt: dass das Subjekt ‘als solches’ der Name für eine bestimmte radikale Verschiebung ist, eine bestimmte Wunde, ein Schnitt, im Gewebe des Universums, und dass alle seine Identifikationen letztlich nur so viele misslungene Versuche sind, diese Wunde zu heilen. Diese Verschiebung, die in sich ganze Universen verheißt, wird am besten ausgedrückt durch die ersten Zeilen von Fernando Pessoas ‘Tobacco Shop’: ‘Ich bin nichts. / Ich werde niemals etwas sein. / Ich kann nicht begehren, nichts zu sein. / Zudem trage ich in mir alle Träume der Welt.’

Innerhalb des Raums der Opposition, auf die Dreyfus sich stützt, ist das Reale gleich der Trägheit materieller körperlicher Realität, die nicht reduziert werden kann auf bloß ein weiteres digitales Konstrukt. Hier sollten wir jedoch die gute alte lacanianische Unterscheidung zwischen Realität und dem Realen einführen: In der Opposition zwischen Realität und gespenstischer Illusion erscheint das Reale gerade als ‘irreal’, als eine gespenstische Illusion, für die es in unserer (symbolisch konstruierten) Realität keinen Platz gibt. Darin, in dieser symbolischen Konstruktion dessen, was wir als unsere (soziale) Realität wahrnehmen, liegt der Haken: Der träge Rest, der aus (dem, was wir als) Realität (er)leben ausgeschlossen ist, kehrt gerade im Realen gespenstischer Erscheinungen wieder.7

Warum ist an Tieren wie Schalentieren, Schnecken und Schildkröten etwas so Unheimliches? Das wahre Objekt des Horrors ist nicht die Schale ohne den schleimigen Körper darin, sondern der ‘nackte’ Körper ohne die Schale. Das heißt: Neigen wir nicht immer dazu, die Schale als zu groß, zu schwer, zu dick wahrzunehmen im Verhältnis zu dem lebenden Körper, den sie beherbergt? Es gibt niemals einen Körper, der vollständig in seine Schale passt; zudem ist es, als fehlte diesem Körper auch jedes innere Skelett, das ihm eine minimale Stabilität und Festigkeit verleihen würde: seiner Schale beraubt, ist der Körper eine nahezu formlose schwammige Entität. Es ist, als würde in diesen Fällen die fundamentale Verwundbarkeit, das Bedürfnis nach einem sicheren Hafen eines Zuhauses, das dem Menschen spezifisch ist, zurück in die Natur projiziert, in das Tierreich – mit anderen Worten, es ist, als wären diese Tiere in Wahrheit Menschen, die ihre Häuser mit sich herumtragen. … Ist nicht dieser matschige Körper die perfekte Figur des Realen? Die Schale ohne den lebenden Körper darin wäre wie die berühmte Vase, die Heidegger heraufbeschwört: der symbolische Rahmen, der die Konturen des realen Dings, der Leere in seinem Kern, umreißt – das Unheimliche ist, dass es dennoch ‘etwas statt nichts’ innerhalb der Schale gibt – obwohl dies kein angemessenes Etwas ist, sondern immer ein defekter, verwundbarer, lächerlich unzureichender Körper, der Rest des verlorenen Dings. Das Reale ist also nicht die vorreflexive Realität unseres unmittelbaren Eintauchens in unsere Lebenswelt, sondern gerade das, was verloren geht, das, worauf das Subjekt verzichten muss, um in seine Lebenswelt eingetaucht zu werden – und folglich das, was dann in der Gestalt gespenstischer Erscheinungen zurückkehrt.

Und weil The Sublime Object diese lächerliche Unzulänglichkeit des Objekts verfehlt, bleibt es gefangen in der Ethik des reinen Begehrens, personifiziert in der Figur der Antigone, die freiwillig ihren Tod akzeptiert: In diesem Moment, in dem sie sich auf das Ding zubewegt und von seinen Strahlen verbrannt wird, erleben wir den suizidalen éclat ihrer erhabenen Schönheit in der Nähe des tödlichen Dings. Das ist die letztlich faszinierende Geste der Weiblichkeit, die auch in Sylvia Plaths letzten Gedichten klar zu erkennen ist – die Geste des Abhebens wie ein wiedergeborener Phoenix, der alle träge Last der sozialen Substanz hinter sich lässt. Jacqueline Rose war völlig berechtigt, darauf hinzuweisen, wie sowohl Ted Hughes als auch seine feministischen Gegner, die ihn als Sylvia’s Mörder verurteilen, dieselbe Vision von Plaths letzten Gedichten teilen:

Was die beiden gemeinsam haben, ist ein Bild der Transzendenz – poetisch, psychologisch, politisch – in dem Plath schließlich abhebt von, sich ausbrennt aus, was immer es war (falsches Selbst für Hughes, Hughes selbst für den Feminismus), das sie in seinem Bann hielt. Dieses Selbst tritt in keinen Dialog (mit anderen, mit anderen Gedichten) – es wirft zugleich alle anderen ab, ebenso wie jedes Anderssein in seinen Beziehungen zu sich selbst; es wirft die Verkleidungen der Sprache und der Welt ab.8

Diese wilde Jungfrau, wundersam erlöst von der Trägheit eingesperrter Existenz, die ihre letzte Erfüllung im Tod findet – das ist der Phallus als Signifikant des Begehrens; das ist, was Lacan meint, wenn er behauptet, dass Frauen im Unterschied zu Männern, die den Phallus haben, der Phallus sind.9 Kein Wunder, dass Ted Hughes – ein ‘phallogozentrist’ wenn je einer existierte – Plaths suizidalen Durchbruch pries: In dieser Geste des Ausbruchs (aus der patriarchalen symbolischen Ordnung) erscheint der Phallus in der Gestalt seines Gegenteils: der Frau, deren phantasmatische Figur drei unvereinbare Merkmale kombiniert – eine reine Jungfrau, eine Mutter und eine wilde, männerfressende Mörderin. In diesem präzisen Sinn bleibt die zugrunde liegende ethische Position von The Sublime Object, in ihrem Fokus auf die Figur der Antigone, ‘phallogozentrisch’.

Diese philosophische Schwäche ist eng verknüpft mit den Überresten der liberal-demokratischen politischen Haltung: The Sublime Object oszilliert zwischen dem eigentlichen Marxismus und dem Lob der ‘reinen’ Demokratie, einschließlich einer Kritik des ‘Totalitarismus’ in der Linie von Claude Lefort. Es kostete mich Jahre harter Arbeit, diese gefährlichen Rückstände bürgerlicher Ideologie klar auf drei miteinander verknüpften Ebenen zu identifizieren und zu liquidieren: die Klärung meiner lacanianischen Hegel-Lektüre; die Ausarbeitung des Begriffs des Akts; und eine spürbare kritische Distanz gegenüber dem Begriff der Demokratie selbst.

Von der Logik des Signifikanten…

Die grundlegende Einsicht, die in der ersten Hälfte von For they know not what they do ausgearbeitet wird, lautet, dass die hegelsche Dialektik und die lacanianische ‘Logik des Signifikanten’ zwei Versionen derselben Matrix sind. Ist diese Einsicht heute, im digitalen Zeitalter, noch relevant?

In How We Became Posthuman,10 bemüht sich N. Katherine Hayles zu zeigen, wie der saussureanisch-lacanianische Begriff des Signifikanten, der auf der Opposition Anwesenheit/Abwesenheit beruht, im digitalen Universum nicht mehr vollständig gilt, wo wir es mit ‘flackernden Signifikanten’ zu tun haben – Signifikanten, denen die substanzielle Anwesenheit eines geschriebenen Zeichens fehlt, da sie nur im Zustand ständigen Aufblitzens auf dem Bildschirm existieren und in jedem Moment buchstäblich neu erzeugt werden: ‘ein ständig aufgefrischtes Bild statt einer dauerhaften Inschrift’.11 Solche Signifikanten funktionieren auf eine Weise, die sich der saussureanischen Logik entzieht: Sie sind weder anwesend noch abwesend, sondern flackern in einem virtuellen Zustand auf dem Bildschirm und sind Operationen ausgesetzt, die ihren Status sofort verändern können (ein einfacher Mausklick kann sie löschen, ihre Reihenfolge neu anordnen …). Das Ordnungsprinzip ist hier nicht länger Anwesenheit/Abwesenheit, sondern Muster/Zufälligkeit – das heißt, die Wiedererkennung eines dauerhaften Musters in der Kontinuität zufälliger Veränderung. Folglich verändert sich auch die ‘negative’ Erfahrung, die die symbolische Ordnung begründet: nicht länger ‘symbolische Kastration’, die Einführung der Abwesenheit, die den Raum für das Zusammenspiel von Anwesenheiten und Abwesenheiten öffnet, sondern Mutation: ‘ein Musterbruch so extrem, dass die Erwartung kontinuierlicher Replikation nicht länger aufrechterhalten werden kann’.12

Diese Version des ‘semiotischen Quadrats’ (Anwesenheit — Abwesenheit; Zufälligkeit – Muster) wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf. Die saussureanische Anwesenheit/Abwesenheit (Differentialität) ist gerade nicht dasselbe wie materielle (körperliche) Anwesenheit/Abwesenheit, wie Hayles zu implizieren scheint; wenn sie also den ‘materiell widerständigen Text’ virtuellen elektronischen Bildern gegenüberstellt, übersieht sie, dass die Ordnung des Signifikanten immer minimal ideal ist — das heißt, wie schon die Textur von Anwesenheiten/Abwesenheiten auch ein ‘Muster’ differentialer Relationen ist, das in unterschiedlichen Medien materialisiert werden kann. Worin unterscheidet sich dieses Muster dann von Hayles’ Begriff des Musters? Durch seine durchgängige Differentialität: Ein Signifikant ist nichts als das Bündel seiner Differenzen zu anderen Signifikanten. Wenn wir hingegen ein Muster unmittelbar identifizieren/wiedererkennen, ist keine Differentialität am Werk – deshalb ist in lacanianischen Termini die Opposition Muster/Zufälligkeit, weit davon entfernt, nach der Abwesenheit/Anwesenheit des Signifikanten zu kommen, gerade das, was die imaginäre Ordnung definiert: Ist nicht der ganze Punkt der Gestalttheorie die Weise, wie ein Subjekt das Auftreten desselben Musters in der Vielheit wechselnder Prozesse zu erkennen vermag?

Wenn Claude Lévi-Strauss mana als den Signifikanten interpretiert, der, ohne irgendeine bestimmte Bedeutung, für die bloße Anwesenheit von Bedeutung im Unterschied zu ihrer Abwesenheit steht, drängt sich sofort eine Frage auf: Warum ist dieser Signifikant notwendig? Warum muss es, über ‘gewöhnliche’ Signifikanten hinaus, die etwas signifizieren, einen Signifikanten geben, der reflexiv Bedeutung als solche signifiziert? In seiner berühmten Einleitung zu Marcel Mauss’ Werk,13 schlägt Lévi-Strauss zwei unvereinbare Versionen vor. Die erste Version nimmt als Ausgangspunkt das Ideal einer vollständigen symmetrischen Deckung zwischen der symbolischen Ordnung und dem unendlichen Reichtum der Gegenstände der Welt: Jede menschliche Sprache ist eine geschlossene Totalität; in ihr kann man alles und jedes sagen; zugleich ist jedoch das tatsächliche Netzwerk der Signifikanten immer endlich und als solches unzureichend; es bleibt hinter der Komplexität seines Objekts (des Universums) zurück; aus diesem Grund muss eine Sprache, wenn sie dennoch ‘alles sagt’, einen Signifikanten enthalten, der diese Lücke zwischen der (endlichen) symbolischen Struktur und der (unendlichen) Realität, die diese Ordnung signifizieren muss, ausfüllt, indem er alle zukünftigen Bedeutungen signifiziert, die darauf warten, entdeckt zu werden.

Die Notwendigkeit dieses Signifikanten ist daher strikt empirisch: Er ist lediglich der Index der empirischen Begrenztheit jeder menschlichen Sprache und wäre als solcher im Falle einer vollständigen Deckung zwischen symbolischer Struktur und Realität überflüssig. Die zweite Version tut nichts anderes, als den Status dieses Signifikanten vom Empirischen zum Transzendentalen zu verändern: Was als empirische Begrenztheit jeder menschlichen Sprache erscheint, ist die sehr positive Bedingung ihrer Signifikationsfähigkeit. Bedeutung als solche ist reflexiv: Es ist nicht nur so, dass Signifikanten in dem einfachen Sinn differentiell sind, dass jede Bedeutung nur im Kontrast oder in Beziehung zu anderen Bedeutungen entsteht (männlich ist nicht-weiblich, alt ist nicht-jung …); Differentialität signalisiert etwas weit Stärkeres.

Damit irgendein gegebener Signifikant als eine rein differentielle Entität funktionieren kann, ‘sein’ kann nichts als ein Bündel differentialer Merkmale, die ihn von anderen Signifikanten unterscheiden, muss es einen anderen ‘reinen’ Signifikanten geben, der für Differenz als solche steht; oder: Damit irgendein gegebener Signifikant etwas bedeuten kann, muss es einen anderen Signifikanten geben, der reflexiv schlicht die Tatsache von Bedeutung als solcher signifiziert. Die letztliche Differenz liegt also nicht zwischen (der entgegengesetzten Bedeutung von) zwei Signifikanten, sondern zwischen dem Signifikanten, der etwas (Bestimmtes) bedeutet, und dem ‘leeren’ Signifikanten, der Bedeutung als solche bedeutet.

Mit anderen Worten: Was Differentialität (was Hayles die ‘Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit’ nennt) irreduzibel macht auf die Logik von Mustern und Zufälligkeit, ist ihre inhärente, konstitutive Reflexivität – Hayles verwendet diesen Begriff häufig, vergisst aber, ihn auf den (saussureanisch-lacanianischen) Signifikanten anzuwenden. Es ist nicht nur so, dass jedes symbolische System ein System von Differenzen ohne positive substanzielle Stütze ist; entscheidend ist hinzuzufügen, dass die Differenz zwischen dem (in sich geschlossenen) symbolischen System und seinem Außen selbst innerhalb des Systems eingeschrieben sein muss, in der Gestalt eines paradoxen supplementären Signifikanten, der innerhalb des Systems als Stellvertreter dessen fungiert, was das System ausschließt: dessen, was sich dem Zugriff des Systems entzieht.14

Dieser Signifikant – Lacan nennt ihn den ‘leeren Signifikanten’ – ist der Signifikant der symbolischen Kastration: ein Signifikant, dessen bloße Anwesenheit die konstitutive Abwesenheit des betreffenden Merkmals markiert. Wenn Hayles daher lacanianische ‘symbolische Kastration’ als Erfahrung der ‘doppelt verstärkten Abwesenheit … im Kern der Signifikation – der Abwesenheit der Signifikate als Dinge-an-sich ebenso wie der Abwesenheit stabiler Entsprechungen zwischen Signifikanten’ beschreibt,15 verfehlt sie ihr Schlüsselmerkmal: den reflexiven Null-Signifikanten, der notwendig ist, wenn ein System als symbolisches funktionieren soll.16 Nur innerhalb dieser reflexiven Ordnung kann die Logik der ‘aufrichtigen Lügen’, so präzise ausgedrückt von Shakespeare in seinem Sonett 138, funktionieren:

Wenn meine Liebe schwört, sie sei aus Wahrheit gemacht,

glaube ich ihr, obwohl ich weiß, dass sie lügt,

Darum liege ich bei ihr und sie bei mir,

und in unseren Fehlern werden wir durch Lügen geschmeichelt.17

Wenn Liebende einander schmeichelnde Dinge sagen, meinen sie es aufrichtig, obwohl sie wörtlich lügen (und es wissen): Die Tatsache des Lügens ist der ultimative Beweis aufrichtiger Liebe, denn ihre Botschaft lautet: ‘Ich liebe dich nicht wegen deiner Eigenschaften, sondern um deiner selbst willen.’

So kehrt Differentialität die gewöhnliche Wahrnehmung von Anwesenheit und Abwesenheit um: Nicht die Abwesenheit ist von der Anwesenheit abgeleitet, sondern umgekehrt. Nirgends ist dies klarer als im Fall der sexuellen Differenz, die sich um die Anwesenheit/Abwesenheit des Phallus dreht. Nach der Standardlektüre ist die Frau ein Mann minus Phallus: Die Frau ist nicht vollständig menschlich; ihr fehlt etwas (Phallus) im Verhältnis zum Mann als vollständigem menschlichen Wesen. In der differentiellen Lektüre jedoch geht die Abwesenheit der Anwesenheit voraus — das heißt, der Mann ist die Frau mit Phallus: Der Phallus ist eine Hochstapelei, ein Köder, der eine vorausgehende unerträgliche Leere überdeckt.18 Jacques-Alain Miller hat auf die besondere Beziehung zwischen weiblicher Subjektivität und dem Begriff der Leere aufmerksam gemacht:

wir nennen Frauen jene Subjekte, die eine wesentliche Beziehung zum Nichts unterhalten. Ich gebrauche diesen Ausdruck mit Vorsicht, da jedes Subjekt, wie es von Lacan definiert wird, auf ein Nichts bezogen ist; jedoch unterhalten in gewisser Weise jene Subjekte, die Frauen sind, mit dem Nichts eine Beziehung, die wesentlicher, näher ist.19

Warum nicht daraus den Schluss ziehen, dass letztlich Subjektivität als solche (im präzisen lacanianischen Sinn von 8, der Leere des ‘gestrichenen Subjekts’) weiblich ist? Dies erklärt die besondere Beziehung zwischen Frau und Schein (‘Weiblichkeit als Maskerade’): Schein ist eine Erscheinung, die eine Leere, ein Nichts, verbirgt – das heißt, auf Hegelisch, die Tatsache, dass es nichts zu verbergen gibt.…20

Was also ist Differentialität? Im Ex-Jugoslawien kursierten Witze über alle ethnischen Gruppen, von denen jede durch ein bestimmtes Merkmal stigmatisiert wurde – die Montenegriner etwa sollten extrem faul sein. Hier also ist einer dieser Rätsel-Witze: ‘Warum stellt ein Montenegriner abends zwei Gläser, eines voll und eines leer, an sein Bett?’ ‘Weil er zu faul ist zu entscheiden, ob er in der Nacht durstig sein wird oder nicht.’ Das ist Differentialität: Die negative Seite muss ebenfalls eingeschrieben werden in der Gestalt des leeren Glases – es reicht nicht, wenn man nicht durstig ist, das volle Glas einfach nicht zu benutzen.

Nehmen wir eine heikle intersubjektive Situation, die ähnlich strukturiert ist: Oft gibt es im Leben eines Paares eine Phase, in der ein Partner einfach Dinge tut, über die es eine stillschweigende Übereinkunft gibt, dass sie oder er nicht mit dem anderen Partner darüber sprechen wird. Sagen wir, sie oder er trifft andere Menschen und hat Affären mit ihnen, und der Partner akzeptiert einfach, dass es einen Bereich gibt, der seiner oder ihrer Reichweite entzogen ist – dass sie oder er nicht berechtigt ist, alles über seinen oder ihren Partner zu wissen. Sehr anders ist es jedoch, wenn der Partner, der geheime Abenteuer hat, einfach nicht darüber spricht, oder wenn sie oder er ausdrücklich erklärt, dass sie oder er nicht darüber sprechen wird (‘Weißt du, ich glaube, ich habe das Recht, dir nicht von all meinen Beziehungen zu erzählen; es gibt einen Teil meines Lebens, der dich nichts angeht!’). In diesem Fall, wenn der stille Pakt explizit wird, kann diese Aussage selbst nicht anders, als eine zusätzliche aggressive Botschaft zu übermitteln – der Partner, der diese Eskapaden toleriert hat, hat das Recht zu fragen: ‘Wir wussten beide, woran wir sind, also warum sagst du mir das?’ – Der Akt des Sagens ist nicht neutral.

Eine bösartige Charakterisierung von Yassir Arafat lautet, er sei ‘ein Mann, der nie die Gelegenheit verpasst, eine Gelegenheit zu verpassen’ – eine Aussage, die man gerade nicht mit der Aussage verwechseln sollte, Arafat verpasse immer eine Gelegenheit: Die zweite Version behauptet einfache Universalität, während die erste einen eigentlich dialektischen Selbstbezug einführt. Mit anderen Worten: In der zweiten Version verpasst er einfach Gelegenheiten, während er in der ersten eine besondere positive Fähigkeit hat, Gelegenheiten zu verpassen. Das nächstliegende amerikanische Äquivalent zu dieser selbstbezüglichen Negativität wäre die ehrwürdige Tradition der Versprecher von Dan Quayle und George W. Bush. Quayle produzierte besonders häufig Versprecher, in denen eine begriffliche Opposition auf die Ebene eines dialektischen Selbstverhältnisses gehoben wurde; man erinnere sich daran, wie er die Opposition zwischen Irreversibilität und Reversibilität selbst als reversibel setzte: ‘Ich glaube, wir befinden uns auf einem irreversiblen Trend hin zu mehr Freiheit und Demokratie – aber das könnte sich ändern.’ Es ist also nicht einfach so, dass Dinge entweder reversibel oder irreversibel sind: Eine Situation, die irreversibel erscheint, könnte sich in eine reversible verwandeln. Hier ist ein noch schöneres Beispiel dieser Reflexivität: ‘Die Zukunft wird morgen besser sein.’ Der Punkt ist nicht einfach, dass Quayle einen Fehler machte und behaupten wollte, dass morgen die Dinge besser sein werden: In naher Zukunft (morgen) wird die Zukunft selbst heller aussehen.… Hat Bush nicht exakt dieselbe Struktur in seiner Aussage reproduziert: ‘Einen der gemeinsamen Nenner, den ich gefunden habe, ist, dass Erwartungen über das hinaus steigen, was erwartet wird’?

Innerhalb dieses Horizonts verfehlt The Sublime Object es, die inhärente Struktur des hegelschen dialektischen Prozesses klar zu formulieren. Dieses Verfehlen zeigt sich in meiner Lektüre der hegelschen ‘Negation der Negation’, die zwischen zwei einander ausschließenden Darstellungen oszilliert: Entweder gibt es ein ‘happy end’ der Blockade, aber mit der Verschiebung zu einem anderen Subjekt, das in einer Art Transsubstantiation übernimmt; oder die letzte Wendung löst die vorherige Blockade, indem sie das Unrecht noch vergrößert: indem sie eine noch größere Katastrophe einführt, die die vorige bedeutungslos macht.

Ein medizinischer Witz mit zwei unterschiedlichen Enden trifft diesen Punkt perfekt: Ein Arzt sagt zu einem Patienten, der gespannt ist, die Ergebnisse einer Untersuchung zu erfahren: ‘Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Was willst du zuerst hören?’ ‘Zuerst die schlechten, dann die guten.’ ‘OK. Die schlechte Nachricht: Sie haben Krebs im Endstadium, und Sie werden in zwei bis drei Wochen unter großen Schmerzen sterben.’ ‘Mein Gott, wenn das die schlechte Nachricht ist, was ist dann die gute Nachricht?’ Version 1: ‘Haben Sie die umwerfende Krankenschwester in meinem Wartezimmer gesehen? Ich versuche seit Monaten, sie ins Bett zu kriegen. Gestern Abend ist es mir endlich gelungen, und wir haben die ganze Nacht wie verrückt gefickt!’ Version 2: ‘Sie haben außerdem eine akute Alzheimer-Krankheit, also werden Sie, bis Sie zu Hause ankommen, die schlechte Nachricht vergessen haben!’21

Vielleicht ist der beste Weg, die Einzigartigkeit Hegels zu erfassen, das folgende Verfahren: Wie viele Kommentatoren bemerkt haben, verfehlt Hegel in seiner Kritik an Kant oft den Punkt, vereinfacht Kant und reduziert ihn auf eine banale Unterscheidung. Während wir diese Einsicht akzeptieren, sollten wir sofort präzisieren, welche Dimension Kants genau von Hegel verfehlt wird. Diese Dimension ist die Dimension dessen, was ‘in Kant mehr als Kant’ ist, das heißt mehr als die gewöhnliche Wahrnehmung Kants. Sobald wir dies getan haben, bleibt nur noch übrig, die standardmäßige hegelsche reflexive Bewegung zu vollziehen: Es ist gerade dieser Überschuss von/in Kant, der Hegel entgeht, der den Kern der einzigartigen hegelschen Operation ausmacht. Das heißt: Die hegelsche Prämisse lautet, dass das kantische Gebäude in sich inkonsistent ist: Kant selbst oszillierte zwischen dem, was er tatsächlich hervorbrachte, seinem wahren Durchbruch, und der Wiedereinschreibung dieses Durchbruchs in das Standardfeld philosophischer Begriffe.

Nehmen wir den offensichtlichsten Fall: die formal-tautologische-leere Natur des kategorischen Imperativs: Hegels Kritik lautet, dass Kants kategorischer Imperativ aufgrund seines formalen Charakters keinen bestimmten Inhalt erzeugen kann – er kann alles und/oder nichts als ethischen Akt rechtfertigen. Es ist leicht zu zeigen, nicht nur, dass Kant sich des formalen Charakters des Imperativs sehr wohl bewusst ist, sondern auch, dass dieser formale Charakter der zentrale Teil seines Arguments ist: Kant bemüht sich nicht zu zeigen, wie wir unsere bestimmten moralischen Pflichten direkt aus dem kategorischen Imperativ ableiten können; sein Punkt ist vielmehr, dass die formale Leere des kategorischen Imperativs uns mit dem Abgrund unserer Freiheit konfrontiert – diese Leere bedeutet, dass das freie Subjekt nicht nur dafür voll verantwortlich ist, seine Pflicht zu tun, sondern auch dafür, festzulegen, was diese Pflicht ist.

Es ist jedoch nicht weniger leicht zu zeigen, dass Kant sich dieses Aspekts der Freiheit nicht vollständig bewusst war: Oft beschreibt er den kategorischen Imperativ als eine Art Maschine, die uns sagt, was unsere Pflicht ist (wenn eine Maxime, der wir in unserer Tätigkeit folgen, die Probe des kategorischen Imperativs besteht, bezeichnet sie unsere Pflicht). Darüber hinaus ist auch klar, dass diese Ambiguität, diese Vermengung der beiden Ebenen, strukturell notwendig ist: Es war Kant nicht möglich, diese Ambiguität loszuwerden, denn hätte er es getan, wäre er nicht länger Kant gewesen, sondern – wer? Hegel, eben. Was weiß Hegel hier also, was Kant nicht weiß? Es ist nicht einfach, dass Hegel weiß, was Kant ‘wirklich sagen wollte’, im Gegensatz zu Kants Selbsttäuschung; vielmehr ist es, dass Hegel auch weiß, wie diese kantische Selbsttäuschung notwendig ist: Die ‘wahre’ Position konnte nur durch (in der Gestalt der) illusorischen artikuliert werden. Hegels wahrer Ort ist somit paradoxerweise gerade die Distanz zwischen den beiden Kants – zwischen Kants ‘wahrer’ Position und ihrer notwendigen Fehlwahrnehmung.

Nehmen wir das grundlegende kantische Thema der Endlichkeit unseres Wissens – die Unmöglichkeit, das noumenale Ding-an-sich zu erreichen. Kants zentraler Begriff des transzendentalen Schematismus richtet sich gegen den metaphysischen Anspruch, Sein aus dem Begriff abzuleiten: Alle unsere universalen Begriffe können Wissen nur liefern, wenn sie auf unsere sinnliche Erfahrung angewandt werden, auf die Gegenstände, die uns durch unsere Sinne gegeben sind – daher müssen diese Begriffe ‘schematisiert’ werden, mit einem Verfahren versehen, sie auf unsere Erfahrung anzuwenden. Unser Wissen ist nicht eine direkte Einsicht unseres Geistes in die ewige Wahrheit (die altgriechische theoria), sondern das Ergebnis dessen, wie unser Geist mit den von unseren Sinnen gelieferten Daten ringt: Unser Wissen ist buchstäblich ein Be-greifen (‘Ergreifen’) als synthetische Produktion, das Ergebnis der aktiven Manipulation der sinnlichen Daten durch unseren Geist, die wir passiv empfangen. Aus diesem Grund ist unser Wissen auf die phänomenale Wirklichkeit beschränkt, die uns als endlichen Wesen zugänglich ist.

Die Schlüsselfrage ist hier: Gilt diese Argumentation auch für hegelsches ‘absolutes Wissen’? Ist hegelsches ‘absolutes Wissen’ jene Art direkter Einsicht in das Absolute, die Kant verbietet? Die Antwort lautet nein: Hegel geht über Kant hinaus innerhalb von Kants Horizont des Wissens als aktivem ‘Ergreifen’ – das heißt, Hegels ‘absolutes Wissen’ ist nicht das der von Kant verbotenen ‘intellektuellen Anschauung’, sondern die selbstbezügliche Unendlichkeit des Kreises des subjektiven Begreifens selbst. Das heißt: Aus hegelscher Perspektive ist es Kant, der in seiner transzendentalen Wendung nicht weit genug gegangen ist und der ‘vorkritischen’ Metaphysik zu viel zugestanden hat: Statt den metaphysischen Begriff absoluten Wissens, einer direkten Einsicht in die ewige Wahrheit, vollständig aufzugeben, hat er diesen Begriff nur in die unzugängliche Andersheit des göttlichen Geistes verlegt. Das hegelsche ‘wahre Unendliche’ hingegen ist das, was entsteht, wenn wir das kantische Endliche der transzendentalen Konstitution und der autonomen/spontanen Produktivität des Subjekts denken, ohne dieses verlagerte metaphysische Unendliche vorauszusetzen.

…zur hegelschen Dialektik

Ist Hegels Dialektik nicht in genau diesem präzisen Sinn die definitive Formulierung des Denkens der Zweiheit? Ihre letzte Einsicht ist weder das allumfassende Eine, das alle Differenzen enthält/vermittelt/aufhebt, noch die Explosion der Vielheiten (die – und das ist die Lehre von Deleuzes Philosophie – letztlich auf dasselbe hinausläuft: wie Alain Badiou hervorhob, ist Deleuze, der Philosoph der Vielheit, zugleich der letzte große Philosoph des Einen22), sondern die Spaltung des Einen in Zwei. Diese Spaltung hat überhaupt nichts mit der vormodernen Vorstellung zu tun, dass auf allen Ebenen der Realität ein ontologisches Ganzes stets aus zwei entgegengesetzten Kräften oder Prinzipien zusammengesetzt ist, die im Gleichgewicht gehalten werden müssen (von Yin und Yang bis zu sozialer Freiheit und Notwendigkeit). Die hegelsche Zweiheit bezeichnet vielmehr eine Spaltung, die das Eine von innen her durchschneidet, nicht in zwei Teile: Die letzte Spaltung ist nicht zwischen zwei Hälften, sondern zwischen Etwas und Nichts, zwischen dem Einen und der Leere seines Ortes. In dieser Spaltung fällt die Opposition zweier Arten mit der Opposition zwischen der Gattung selbst und ihren Arten zusammen: Es ist dasselbe Element, das sich in seiner ‘oppositionellen Bestimmung’ begegnet – oder, mit anderen Worten, die Opposition zwischen dem Einen und seinem Außen wird in die Identität des Einen selbst zurückgespiegelt.

Insofern die lacanianische Logik des Signifikanten eng mit der hegelschen Dialektik zusammenhängt, können wir sie auch in lacanianischen Termini ausdrücken: Diese minimale Kluft ist das ‘fast Nichts’ zwischen einem Element und seinem Ort (oder dem Stellvertreter dieses Ortes) – zwischen S2 und Sl5, zwischen Sein und Nichts, zwischen dem ‘gewöhnlichen’ und dem ‘leeren’ Signifikanten. Die hegelsche Zweiheit ist nicht das Zwei im Sinn von ‘eins neben (einem anderen) eins’, sondern vielmehr das Zwei als bloße anamorphotische Perspektivverschiebung: So sind zum Beispiel ganz am Anfang von Hegels Logik Sein und Nichts nicht zwei getrennte ontologische Entitäten – das Nichts ist das Sein selbst, aus einer anderen Perspektive betrachtet.23 Kurz danach macht Hegel denselben Punkt apropos von Demokrits Atomismus: Atome und Leere sind nicht (wie Demokrit selbst zu meinen schien) zwei getrennte Entitäten im Sinn von Atomen und der Leere (dem leeren Raum) zwischen ihnen, die sie voneinander trennt; die Leere ist vielmehr der Kern der Selbstidentität jedes Atoms, das, was es ‘Eins’ sein lässt. Diese Kluft ist es, die die eigentliche dialektische Bewegung in Gang setzt: die Tatsache, dass das Eine, ‘als solches’ genommen, in sich, nicht (nicht länger) das Eine ist, sondern in sein Gegenteil umschlägt. Das ist die Antwort auf eine dumme Kritik an Hegel: Warum schreitet die dialektische Bewegung überhaupt voran? Warum bleibt sie nicht einfach an einem bestimmten Punkt stecken? Die naive Antwort lautet: Sie versucht verzweifelt, stecken zu bleiben, und gerade dieses Bemühen verwandelt sie in ihr Gegenteil.

Und in dieser Kluft tritt das Reale hervor: Das Reale ist das ‘fast Nichts’, das die Kluft trägt, die ein Ding von sich selbst trennt. Die Dimension, die wir zu erkennen versuchen, lässt sich am besten mit Blick auf die durchgängige Ambiguität des Verhältnisses zwischen Realität und dem Realen formulieren. Die Standardvorstellung des ‘Lacanianischen’ ist die der Realität als Grimasse des Realen: Das Reale ist der unerreichbare traumatische Kern-Leere, die blendende Sonne, in die man unmöglich von Angesicht zu Angesicht blicken kann, wahrnehmbar nur, wenn man schräg hinsieht, von der Seite, aus einer verzerrten Perspektive – schaut man direkt hin, wird man ‘von der Sonne verbrannt’.… Das Reale wird somit durch das befriedende symbolische Netzwerk zur ‘Grimasse’ strukturiert/verzerrt, die wir Realität nennen – ähnlich wie das kantische Ding-an-sich durch das transzendentale Netzwerk zu dem strukturiert wird, was wir als objektive Realität erfahren.

Wenn wir jedoch alle Konsequenzen des lacanianischen Begriffs des Realen mitvollziehen, sind wir gezwungen, die oben zitierte Formel umzukehren: Das Reale selbst ist nichts als eine Grimasse der Realität: etwas, das nichts als eine verzerrte Perspektive auf die Realität ist, etwas, das nur durch eine solche Verzerrung hindurch aufscheint, da es ‘an sich völlig ohne Substanz’ ist. Dieses Reale ist ein Fleck in dem, was wir ‘von Angesicht zu Angesicht’ wahrnehmen, wie das Gesicht des Teufels, das in der Titelaufnahme der News of the World zwischen Tornadowolken auftaucht; das Hindernis (der sprichwörtliche ‘Knochen im Hals’), das unsere Wahrnehmung der Realität für immer verzerrt und anamorphotische Flecken in ihr erzeugt. Das Reale ist die Erscheinung als Erscheinung; es erscheint nicht nur innerhalb von Erscheinungen, es ist auch nichts als seine eigene Erscheinung – es ist schlicht eine bestimmte Grimasse der Realität, ein bestimmtes unmerkliches, unergründliches, letztlich illusorisches Merkmal, das für die absolute Differenz innerhalb der Identität verantwortlich ist. Dieses Reale ist nicht das unzugängliche Jenseits der Phänomene, sondern einfach ihre Verdopplung, die Kluft zwischen zwei inkonsistenten Phänomenen, eine Perspektivverschiebung. So sollten wir denn dem ‘offensichtlichen’ theologischen Gegenargument (oder, einfacher, der Lesart) Lacans antworten: Das Reale steht tatsächlich für die Intervention einer anderen Dimension in die Ordnung unserer Realität – und warum sollte diese andere Dimension nicht das göttliche Ding sein? Vom materialistischen Standpunkt ist das Ding ein Gespenst, das in den Zwischenräumen der Realität hervortritt, insofern Realität niemals homogen/konsistent ist, sondern stets vom Schnitt der Selbstverdopplung heimgesucht wird.

Der Großteil von Rachel Whitereads skulpturaler Arbeit besteht aus Variationen ein und desselben Themas: dem, dem Leeren des Dings unmittelbar Körper zu geben. Wenn sie, ausgehend von einem geschaffenen Objekt (einem Schrank, einem Zimmer, einem Haus …), zunächst den leeren Raum, die Leere in der Mitte, ausfüllt und dann das entfernt, was diese zentrale Leere umschlossen und so konturiert hat, erhalten wir ein massives Objekt, das der Leere selbst unmittelbar Körper gibt. Das Standardverhältnis zwischen der Leere und der Kruste/Rüstung/Schale, die diese Leere erzeugt hat, wird so umgekehrt: Statt dass die Vase die zentrale Leere verkörpert, wird diese Leere selbst direkt materialisiert. Der unheimliche Effekt dieser Objekte rührt daher, dass sie die ontologische Unvollständigkeit der Realität greifbar demonstrieren: Solche Objekte ragen definitionsgemäß heraus; sie sind ontologisch überzählig, nicht auf derselben Realitätsstufe wie ‘normale’ Objekte.

Diese Verdopplung ist niemals symmetrisch. In einem berühmten psychologischen Experiment wurden zwei Psychiater in ein Gespräch verwickelt, nachdem jedem von ihnen gesagt worden war, der andere sei nicht wirklich ein Psychiater, sondern ein gefährlicher Irrer, der unter der Wahnvorstellung lebe, er sei ein Psychiater; anschließend wurde jeder gebeten, einen professionellen Bericht über seinen Partner zu schreiben – und jeder tat dies und beschrieb die gefährlichen Symptome des anderen im Detail.… Veranschaulicht dieses Experiment nicht Eschers berühmtes Bild der beiden Hände, die einander zeichnen? Wir sollten dennoch darauf bestehen, dass, wie bei Eschers Zeichnung, perfekte Symmetrie eine Illusion ist, die ‘in der Realität nicht passieren kann’ – zwei Menschen können nicht beide nur eine Entität im Traum des jeweils anderen sein. Die hier wirksame Asymmetrie ist klar erkennbar in einem anderen ähnlichen Fall, dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch in der Tradition deutscher Mystik (Meister Eckhart): Der Mensch wird von Gott erschaffen (aus Gott geboren), und doch wird Gott im Menschen geboren – das heißt, der Mensch gebiert das, was ihn geschaffen hat. Das Verhältnis ist hier nicht symmetrisch, sondern – um es hegelsch zu sagen – eines des ‘Setzens der Voraussetzungen’: Gott ist natürlich der undurchdringliche/abgründige Grund, aus dem der Mensch hervorgeht; jedoch ist es nur durch den Menschen, dass Gott selbst sich verwirklichte, dass er ‘wird, was er immer-schon war’. Was vor der Erschaffung des Menschen eine unpersönliche substantielle Kraft war, wird durch den Menschen zur göttlichen Person.

Vielleicht ist der letzte Unterschied zwischen Idealismus und Materialismus der Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Realen: Religion ist das Reale als das unmögliche Ding jenseits der Phänomene, das Ding, das in sublimen Erfahrungen durch die Phänomene hindurch ‘aufscheint’; Atheismus ist das Reale als die Grimasse der Realität – als bloß die Kluft, die Inkonsistenz, der Realität. Deshalb muss die Standardreplik der Religiösen auf Atheist:innen (‘Aber ihr könnt nicht wirklich verstehen, was es heißt zu glauben!’) umgedreht werden: Unser ‘natürlicher’ Zustand ist zu glauben, und das wirklich Schwierige, das zu begreifen ist, ist die Position des Atheisten. Hier sollten wir uns gegen die derridasche/levinasianische Behauptung wenden, der Kern der Religion sei der Glaube an das unmögliche Reale einer gespenstischen Andersheit, die ihre Spuren in unserer Realität hinterlassen kann – der Glaube, dass diese unsere Realität nicht die letzte Realität ist.24 Atheismus ist nicht die Position, nur an positive (ontologisch vollständig konstituierte, vernähte, geschlossene) Realität zu glauben; die knappste Definition des Atheismus ist gerade ‘Religion ohne Religion’25 – die Behauptung der Leere des Realen, entkleidet jedes positiven Inhalts, vor jedem Inhalt; die Behauptung, dass jeder Inhalt ein Schein ist, der die Leere ausfüllt. ‘Religion ohne Religion’ ist der Ort der Religion, ihres Inhalts beraubt, wie Mallarmés ‘rien n’aura eu lieu que le lieu’ – das ist die wahre Formel des Atheismus: ‘Nichts wird stattgefunden haben außer dem Ort selbst.

Auch wenn dies der derridaschen/levinasianischen ‘messianischen Andersheit’ ähnlich klingen mag, ist es ihr genaues Gegenteil: Es ist nicht ‘die innere messianische Wahrheit der Religion minus die äußeren institutionellen Apparate der Religion’, sondern vielmehr die Form der Religion, ihres Inhalts beraubt, im Gegensatz zur derridaschen/levinasianischen Referenz auf eine gespenstische Andersheit, die nicht die Form, sondern den leeren Inhalt der Religion anbietet. Nicht nur insistieren sowohl Religion als auch Atheismus auf der Leere, auf der Tatsache, dass unsere Realität nicht letztgültig und geschlossen ist – die Erfahrung dieser Leere ist die ursprüngliche materialistische Erfahrung, und Religion, unfähig, sie auszuhalten, füllt sie mit religiösem Inhalt.

Und ist diese Verschiebung nicht auch die Verschiebung von Kant zu Hegel? Von der Spannung zwischen Phänomenen und Ding zu einer Inkonsistenz/Kluft zwischen den Phänomenen selbst? Die Standardauffassung von Realität ist die eines harten Kerns, der dem begrifflichen Zugriff widersteht; was Hegel tut, ist schlicht, diese Auffassung von Realität wörtlicher zu nehmen: Nicht-begriffliche Realität ist etwas, das hervortritt, wenn die Selbstentwicklung des Begriffs sich in einer Inkonsistenz verfängt und sich selbst undurchsichtig wird. Kurz: Die Grenze wird von außen nach innen verlegt: Es gibt Realität, weil, und insofern, der Begriff inkonsistent ist, nicht mit sich zusammenfällt. … Kurz: Die multiplen perspektivischen Inkonsistenzen zwischen den Phänomenen sind nicht ein Effekt des Einschlags des transzendenten Dings – im Gegenteil, das Ding ist nichts als die Ontologisierung der Inkonsistenz zwischen den Phänomenen.

Die Logik dieser Umkehrung ist letztlich dieselbe wie der Übergang von der speziellen zur allgemeinen Relativitätstheorie bei Einstein. Während die spezielle Theorie bereits den Begriff des gekrümmten Raums einführt, begreift sie diese Krümmung als Effekt der Materie: Es ist die Anwesenheit von Materie, die den Raum krümmt – das heißt, nur ein leerer Raum wäre nicht gekrümmt. Mit dem Übergang zur allgemeinen Theorie wird die Kausalität umgekehrt: Weit davon entfernt, die Krümmung des Raums zu verursachen, ist Materie ihr Effekt. Auf dieselbe Weise ist das lacanianische Reale – das Ding – nicht so sehr die träge Anwesenheit, die den symbolischen Raum ‘krümmt’ (Klüfte und Inkonsistenzen einführt), sondern vielmehr der Effekt dieser Klüfte und Inkonsistenzen.

Es gibt zwei grundlegend verschiedene Weisen, wie wir uns zur Leere verhalten, am besten erfasst durch das Paradox von Achilles und der Schildkröte: Während Achilles die Schildkröte leicht überholen kann, kann er sie niemals erreichen. Unsere Haltung zur Leere ist daher durch und durch ambivalent, geprägt von gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung. Wir können die Leere als die unmöglich-reale Grenze menschlicher Erfahrung setzen, der wir uns nur unendlich annähern können, als das absolute Ding, zu dem wir die richtige Distanz wahren müssen – kommen wir ihm zu nahe, werden wir von der Sonne verbrannt. … Oder wir setzen sie als das, wodurch wir hindurchgehen sollten (und, auf gewisse Weise, sogar immer-schon hindurchgegangen sind) – das ist der Kern der hegelschen Vorstellung des ‘Verweilens beim Negativen’, die Lacan in seiner eigenen Vorstellung des tiefen Zusammenhangs zwischen Todestrieb und schöpferischer Sublimierung ausdrückte: Damit (symbolische) Schöpfung stattfinden kann, muss der Todestrieb (hegelsche selbstbezügliche absolute Negativität) seine Arbeit verrichten, nämlich den Ort zu leeren und ihn so für die Schöpfung bereit zu machen. An die Stelle der alten Vorstellung phänomenaler Objekte, die im Strudel des Dings verschwinden/sich auflösen, treten Objekte, die nichts als die verkörperte Leere des Dings sind – oder, hegelsch, Objekte, in denen Negativität eine positive Existenz annimmt.

In religiösen Termini ist dieser Übergang vom unmöglich-realen Einen (Ding), gebrochen/reflektiert in der Vielheit seiner Erscheinungen, zur Zweiheit der Übergang vom Judentum zum Christentum: Der jüdische Gott ist das reale Ding des Jenseits, während die göttliche Dimension Christi nur eine winzige Grimasse ist, ein unmerklicher Schatten, der ihn von anderen (gewöhnlichen) Menschen unterscheidet. Christus ist nicht ‘sublim’ im Sinn eines ‘Objekts, das zur Würde eines Dings erhoben ist’, er ist nicht ein Stellvertreter des unmöglichen Ding-Gottes; vielmehr ist er ‘das Ding selbst’ – oder genauer: ‘das Ding selbst ist nichts als der Bruch/die Kluft, die Christus nicht vollständig menschlich sein lässt. Christus ist somit das, was Nietzsche, der letzte und selbstbekennende Anti-Christ, ‘Mittag’ nannte: der dünne Keil zwischen Vorher und Nachher, dem Alten und dem Neuen, dem Realen und dem Symbolischen: zwischen Gott-Vater-Ding und der Gemeinschaft des Geistes.26 Als solcher ist er beides zugleich: der Extrempunkt des Alten (die Kulmination der Logik des Opfers, er selbst als das höchste Opfer, als der selbstbezügliche Austausch, in dem wir Gott nicht mehr bezahlen, sondern Gott sich selbst für uns bezahlt und uns so in eine unendliche Schuld verstrickt) und sein Übergehen (die Perspektivverschiebung) ins Neue. Nur eine winzige Nuance, eine fast unmerkliche Perspektivverschiebung, unterscheidet Christi Opfer von der atheistischen Bejahung des Lebens, die kein Opfer braucht.

In postmoderner ‘selbstreflexiver’ Kunst kulminiert dieses dialektische Selbstverhältnis im unheimlichen Phänomen der Interpassivität, erkennbar in jenen Fällen, in denen der Künstler in das Produkt nicht nur die Spuren seines Produktionsprozesses einschreibt (das Standardverfahren der Avantgarde), sondern die antizipierten Reaktionen des passiven Betrachters – dieses Gegenstück der Hochkunst zum massenkulturellen Phänomen des Konservenlachens greift auf dasselbe Verfahren zurück wie der vulgäre Witzeerzähler, der über seinen eigenen Witz laut lacht. Der Künstler ist so aktiv als Antwort auf die antizipierte passive Position, die in Wahrheit die seine ist.27 Apropos Hitchcock bemerkte Deleuze, die Spezifik seiner Filme liege nicht nur darin, dass der Zuschauer selbst als Agent/Akteur behandelt werde (er beobachtet die Geschichte nicht bloß, sondern ist in sie verstrickt, in sie verwickelt, von ihr manipuliert), sondern auch – und vielleicht noch mehr – im entgegengesetzten Verfahren, den Schauspieler/Agenten als ratlosen Beobachter der Situation zu behandeln, in die er verwickelt ist – das ist es, was Hitchcock zu einem postmodernen Regisseur avant la lettre macht.28

Dieses unheimliche Konzept der Interpassivität lässt sich auch durch einen Bezug auf die Opposition von Begehren und Trieb klären.29 In der Standard-Doxa Lacans ist das Begehren mit aktiver Subjektivität verknüpft, während der Trieb ‘subjektive Destitution’ beinhaltet – das heißt die Identifikation des Subjekts mit dem objet petit a. Was aber, wenn es der Trieb als interpassiver ist, der uns mit der radikalsten Dimension der Subjektivität konfrontiert? Begehren ist fundamental ‘interaktiv’: Begehren ist das Begehren des Anderen; ich begehre durch einen anderen; ich bin durch einen anderen aktiv – das heißt, ich kann passiv bleiben, während mein wahrer Ort draußen ist, im anderen, der für mich begehrt. Der Trieb hingegen ist fundamental ‘interpassiv’ – um diesen Punkt klar zu machen, sollten wir uns auf die Behauptung konzentrieren, die Lacan in Die vier Grundbegriffe wiederholt aufstellt, dass die elementare Struktur des Triebs die von ‘se faire … (voir, parler …)’ ist: des ‘Sich-(gesehen-, gesprochen- …)-Machens’.30 Der skopische Trieb (im Gegensatz zum ‘Begehren zu sehen’ den schwer fassbaren Fleck des Realen im Anderen) ist das Sich-sichtbar-Machen für den Blick des Anderen, der hier als objet petit a fungiert, am besten exemplifiziert durch die leeren Augenhöhlen des Toten: ‘Die Gesichter der Toten haben nur einen Blick, und keine Augen mehr.’31 Innerhalb der Ökonomie des Triebs bin ich, das Subjekt, also aktiv, insofern ich den Blick qua Objekt externalisiere, ihn außerhalb meiner setze, den undurchdringlichen Fleck, für den ich aktiv bin und der meinen effektiven Ort bezeichnet – ‘ich bin wirklich’ jener ungerührte Fleck, der Punkt des Blicks, den ich nie sehe, für den ich mich aber dennoch ‘gesehen mache’ mittels dessen, was ich tue.32

Der Hauptpunkt, der hier nicht verfehlt werden darf, ist die Vermittlung von Subjekt und Objekt: die Grimasse, der anamorphotische Fleck des Realen in der Realität, ist nicht einfach da draußen in der Realität – er existiert nicht ‘objektiv’, da er die Einschreibung des Blicks selbst in die beobachtete Realität ist. Die Inkonsistenz des Feldes der (wahrgenommenen) Realität, die Kluft zwischen Realität und dem Realen, tritt insofern auf, als Realität bereits ‘subjektiv konstituiert’ ist. Etwa ein Drittel von Hitchcocks Shadow of a Doubt entfernt gibt es eine kurze Passage, die sein Genie voll bezeugt: der junge FBI-Detektiv, der Onkel Charlie untersucht, nimmt seine junge Nichte Charlie zu einem Date mit; wir sehen sie in ein paar Einstellungen die Straßen entlanggehen, lachend und lebhaft redend – dann, unerwartet, bekommen wir ein schnelles Ausblenden hinein in die amerikanische Einstellung von Charlie im Schockzustand, mit aufgerissenem, gebanntem Blick auf den Detektiv offscreen, die nervös herausplatzt: ‘Ich weiß, was du wirklich bist! Du bist ein Detektiv!’ … Natürlich erwarten wir, dass der Detektiv die Gelegenheit nutzt, Charlie mit Onkel Charlies dunkler Seite bekannt zu machen; was wir jedoch erwarten, ist ein allmählicher Prozess: der Detektiv sollte erst ihre heitere Stimmung durchbrechen und das ernste Thema ansprechen, so dass Charlies Ausbruch ausgelöst wird, wenn sie merkt, wie sie manipuliert wird (der Detektiv hat sie nicht zu einem Date eingeladen, weil er sie mag, sondern als Teil seiner professionellen Arbeit). Statt dieses allmählichen Prozesses werden wir direkt mit der traumatisierten Charlie konfrontiert. (Man könnte argumentieren, Charlies schockierter Blick sei keine Reaktion auf die Worte des Detektivs: was geschieht, ist, dass sie mitten in ihrem frivolen Gespräch plötzlich realisiert, dass etwas anderes als Flirten vor sich geht. Selbst in diesem Fall wäre jedoch die Standardweise, die Szene zu filmen, gewesen zu zeigen, wie das Paar angenehm redet; dann würde Charlie auf einmal von der schicksalhaften Einsicht getroffen. Der zentrale Hitchcock-Effekt würde daher fehlen: der direkte Sprung zum schockierten Blick.) Erst nach dieser schockierenden Diskontinuität äußert der Detektiv seine Verdächte über Onkel Charlies mörderische Vergangenheit. Um es in temporalen Begriffen zu sagen: es ist, als ob in dieser Szene die Wirkung ihrer Ursache vorausgeht – das heißt, uns wird zuerst die Wirkung gezeigt (der traumatisierte Blick) und dann der Kontext gegeben, der für diesen traumatischen Einschlag verantwortlich ist – oder doch nicht? Ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung hier wirklich umgekehrt? Was, wenn der Blick hier nicht bloß Empfänger des Ereignisses ist? Was, wenn er irgendwie geheimnisvoll den wahrgenommenen Vorfall erzeugt? Was, wenn das folgende Gespräch letztlich ein Versuch ist, diesen traumatischen Vorfall zu symbolisieren/zu domestizieren?33

Ein solcher Schnitt in der kontinuierlichen Textur der Realität, eine solche folgenschwere Umkehrung der richtigen zeitlichen Ordnung, zeigt das Eingreifen des Realen an: Wäre die Szene in linearer Ordnung gedreht worden (zuerst die Ursache, dann die Wirkung), wäre die Textur der Realität unbeschädigt geblieben. Das heißt, das Reale ist erkennbar in der Kluft zwischen der wahren Ursache des verängstigten Blicks und dem, was uns später als seine Ursache gezeigt wird: Die wahre Ursache des verängstigten Blicks ist nicht das, was uns nachträglich gezeigt oder gesagt wird, sondern der phantasierte traumatische Überschuss, der vom Blick in die wahrgenommene Realität ‘projiziert’ wird. Die letzte ‘Wahrheit’ dieser Szene aus Shadow of a Doubt (diese Macht des Blicks, seine eigene Ursache rückwirkend zu setzen) findet ihren letzten filmischen Ausdruck in einer Reihe herausragender jüngerer Hollywood-Filme, die eine Trilogie zum Thema ‘der Mann, der nicht da war’ bilden: David Finchers Fight Club, Bryan Singers The Usual Suspects und M. Night Syamalans The Sixth Sense.34

Was wir am Ende von The Sixth Sense entdecken, der Geschichte eines Psychiaters (Bruce Willis), der einem jungen Jungen mit übernatürlichen Fähigkeiten begegnet (Visionen toter Menschen zu materialisieren, die umhergehen, nur von ihm gesehen, und ohne zu wissen, dass sie tot sind), ist, dass, ohne es zu wissen, der Psychiater selbst die ganze Zeit schon tot war, nur ein weiteres Gespenst, das der Junge heraufbeschworen hat. Wir haben hier also die wörtliche Realisierung der Szene aus dem freudschen Traum, in dem der Vater, der seinem Sohn erscheint, nicht weiß, dass er tot ist, und daran erinnert werden muss. Der Schock dieses dénouements besteht darin, dass es die Standardentdeckung umkehrt, dass ich allein bin, dass alle Menschen um mich herum tot sind oder Puppen oder Aliens, dass sie im eigentlichen menschlichen Sinn nicht existieren: Was ich entdecke, ist, dass ich selbst (d. h. der Erzähler des Films, durch den ich den Film sehe, mein Stellvertreter im Film) nicht existiere. Die Wendung ist im eigentlichen Sinn anti-kartesisch: Nicht die Welt um mich herum ist eine Fiktion, ich selbst bin eine Fiktion.

Wir können nun sehen, wie diese Filme eine Trilogie bilden: In Fight Club wird der Erzähler, aus dessen Perspektive wir den Film wahrnehmen (Edward Norton), selbst getäuscht (er selbst weiß bis zum Ende nicht, dass sein Partner, mit dem er in einer liebevollen sadomasochistischen Beziehung gegenseitiger Schläge steht, nicht existiert; dass er lediglich seine eigene Halluzination ist); in The Usual Suspects manipuliert der Erzähler der Rückblende, die den Großteil des Films ausmacht (Kevin Spacey), den polizeilichen Vernehmer und uns, die Zuschauer, in seiner Nacherzählung der Geschichte des geheimnisvollen Keyser Soze (der entweder nicht existiert oder die Spacey-Figur selbst ist), wobei er unterwegs Details erfindet; am Ende von The Sixth Sense entdeckt der Erzähler, dass er selbst für andere nicht wirklich existiert, dass er selbst ‘der Mann ist, der nicht da ist’ in unserer gewöhnlichen Realität.

Bildet diese Trilogie dann ein geschlossenes System, oder ist es möglich, ein viertes Glied in dieser Reihe von Variationen zu konstruieren? Vielleicht sollten wir das Wagnis eingehen, die Hypothese aufzustellen, dass das fehlende vierte Glied durch einen europäischen Film geliefert wird, Krzysztof Kieslowskis Red, apropos dessen Zentralfigur (dem Richter) Kieslowski selbst bemerkte, es sei nicht sicher, ob er überhaupt existiere, oder ob er einfach ein Produkt von Valentines Einbildung, ihrer Phantasie sei (die mythische Figur, die heimlich ‘die Fäden des Schicksals zieht’). Mit Ausnahme zweier Szenen sehen wir ihn nie mit jemand anderem als Valentine:

Existiert der Richter überhaupt? Um ehrlich zu sein, der einzige Beweis … ist das Tribunal, der einzige Ort, an dem wir ihn mit anderen Menschen sehen. Ansonsten könnte er bloß ein Gespenst sein, oder besser noch, eine Möglichkeit – das Alter, das Auguste erwartet, was hätte passieren können, wenn Auguste nicht die Fähre genommen hätte.35

Daher ist der Richter in Red, obwohl er eine ‘reale Person’ ist, Teil der diegetischen Realität des Films, in seinem symbolisch-libidinösen Status dennoch eine spektrale Erscheinung – jemand, der als Valentines Phantasieschöpfung existiert. Dieses einzigartige Verfahren ist das Gegenteil der Standardenthüllung des illusorischen Status (dessen, was wir zuvor fälschlich als) Teil der Realität misswahrgenommen haben: Was dadurch vielmehr behauptet wird, ist, in einer paradoxen tautologischen Bewegung, der illusorische Status der Illusion selbst – die Illusion, dass es eine übersinnliche noumenale Entität gebe, wird gerade als ‘Illusion’ gezeigt, als flüchtige Erscheinung. Und wiederum bedeutet dies, dass wir das ‘Ganze’ der Realität, der wir begegnen, niemals begreifen können: Damit wir unserer Begegnung mit der Realität standhalten können, muss ein Teil von ihr ‘ent-realisiert’ werden, als spektrale Erscheinung erfahren werden.

Der Akt

Also, zur Rekapitulation: Was ist die hegelsche ‘Identität der Gegensätze’? In den widersprüchlichen Meinungen über die königliche Familie, die dem Tod von Princess Diana folgten, betonten einige konservative Kommentatoren, wie das Wesen des Königtums in seinem mystischen Charisma liege, weshalb die königliche Familie keine gewöhnlichen menschlichen Emotionen zeigen dürfe – sie müsse irgendwie fern bleiben, erhoben über gewöhnliche menschliche Angelegenheiten, sanft schwebend in der nostalgischen Würde ihrer ätherischen nebligen Welt; kommt man Mitgliedern dieser Familie zu nahe und richtet den Blick auf die Details ihres Alltagslebens, werden sie zu bloßen Menschen wie alle anderen, und ihr nebliges Charisma verflüchtigt sich.… Das stimmt, doch was diese Kommentatoren übersehen, ist die Weise, wie gerade diese ferne Unnahbarkeit, die Wahrnehmung, dass die Royals ‘etwas Besonderes’ seien, das stets präsente Bedürfnis trägt, Klatsch über die pikanten Details ihres Privatlebens zu hören. Wenn wir erfahren, dass unser kleinbürgerlicher Nachbar ein Trinker ist, oder dass er rohe Eier schlürft, oder dass er nur Wasser trinkt, ist das nicht einmal der übliche Stoff für Small Talk; wenn wir dies über ein Mitglied der königlichen Familie erfahren, ist es eine Nachricht.

Diese dialektische Umkehrung ist entscheidend für unsere Wahrnehmung der Royals: Gerade insofern sie mit Charisma gebrandmarkt sind, sind sie die Menschen, deren bloße ‘Gewöhnlichkeit’ den Stoff (unserer) Träume ausmacht – sie müssen sich nicht durch ihre schöpferischen Akte beweisen; sie sind eine Art nicht-entfremdete Spezies, die uns nicht wegen ihrer Qualitäten interessiert, sondern einfach wegen dessen, was sie sind. Aus diesem Grund war die öffentliche Forderung (von den Medien erzeugt), die Queen solle nach Dianas Tod irgendein öffentliches Gefühl zeigen, nicht einfach die Forderung, dass selbst die würdevollen Royals beweisen sollten, dass sie warme Menschen sind wie der Rest von uns: Der Punkt dieser Forderung war vielmehr, dass sie es für uns tun sollten, als unser Stellvertreter; dass es ihre Pflicht sei, durch einen öffentlichen Akt die Trauer von uns allen zu symbolisieren und auszudrücken.… Die Ferne ihres mystischen Charismas beinhaltet somit eine ‘spekulative Identität’ mit ihrem Gegenteil: mit dem Durst nach so vielen schäbigen, banalen Details ihres Lebens wie möglich – der niedrigste gelbe-Press-Müll trägt heimlich sein Gegenteil, charismatische Würde. Je mehr Details ihres Privatlebens wir kennen, desto stärker ist der Hintergrund, den sie für das royale Charisma liefern, wie bei einem großen Künstler oder Wissenschaftler, über den wir erfreut erfahren, dass er auch irgendeine menschliche Schwäche hat – weit davon entfernt, ihn auf unser Maß zu reduzieren, machen solche Details umso greifbarer die Kluft, die ihn von uns, gewöhnlichen Sterblichen, trennt.36

Es gibt tatsächlich eine Art spekulative Identität der Gegensätze zwischen ‘totalitären’ und ‘liberalen’ subjektiven Positionen: Die beiden sind komplementär. Wenn Adorno in Minima Moralia behauptet, ‘’Wir’ zu sagen und ‘ich’ zu meinen, ist eine der hartnäckigen Krankheiten’,37 liefert er damit eine knappe Formel der ‘totalitären’ Position, die eigene kontingente subjektive Meinung als unpersönliche objektive/kollektive Wahrheit zu präsentieren – das heißt, sich selbst als direktes Instrument des großen Anderen (‘historische Notwendigkeit’) zu bezeichnen. Das genaue Gegenteil gilt jedoch ebenfalls: ‘’Ich’ zu sagen und ‘wir’ zu meinen’ – das Unpersönliche, das Gemeinplatzhafte als deine intensive persönliche Erfahrung zu präsentieren. Das Problem der liberalen Vorstellung, ‘sein wahres Selbst auszudrücken’, besteht darin, dass sie die Form des authentischen Selbst auf das verleiht, was bloße Nachahmung öffentlicher Klischees ist.

Erinnere man sich auch an die einzigartige Figur James Jesus Angletons, des ultimativen kalten Kriegers:38 Zwei Jahrzehnte lang – von 1953 bis 1973 – war er Chef der Spionageabwehr-Abteilung der CIA, seine Aufgabe war es, ‘Maulwürfe’ in ihr aufzuspüren. Angleton, eine charismatische, hoch idiosynkratische Figur mit literarischer Bildung (er war ein persönlicher Freund von T.S. Eliot und ähnelte ihm sogar physisch), war zur Paranoia geneigt. Die Prämisse hinter seiner Arbeit war ein absoluter Glaube an den sogenannten ‘Monster Plot’: eine gigantische Täuschung, koordiniert von einer geheimen KGB-‘Organisation-in-der-Organisation’, deren Ziel es war, das westliche Nachrichtendienstnetz zu durchdringen und vollständig zu dominieren und so die Niederlage des Westens herbeizuführen.

Angleton war nicht nur überzeugt, dass es unzählige ‘Maulwürfe’ im innersten Kern der CIA gebe, ganz zu schweigen vom westeuropäischen Nachrichtendienst-Establishment (er hielt Henry Kissinger, Harold Wilson und Olaf Palme unter anderen für KGB-Agenten); er tat auch alle Anzeichen von Uneinigkeit im sozialistischen ‘Lager’ (den autonomen Weg Jugoslawiens; den Bruch zwischen der UdSSR und China; den ‘Eurokommunismus’ der 1970er und frühen 1980er Jahre) als orchestrierte Täuschung ab, bestimmt, im Westen eine falsche Vorstellung von der Schwäche des Ostens zu etablieren. Obendrein – und für die westliche Nachrichtendienst-Community am katastrophalsten – tat Angleton praktisch alle KGB-Überläufer, die unschätzbare Informationen anboten, als Fälschungen ab, schickte sie bisweilen sogar in die UdSSR zurück (wo sie natürlich sofort vor Gericht gestellt und erschossen wurden, da sie in Wirklichkeit echte Überläufer waren!).

Das letzte Ergebnis von Angletons Herrschaft war totale Stasis – entscheidend ist, dass in seiner Zeit nicht ein einziger echter ‘Maulwurf’ entdeckt und gefasst wurde. Kein Wunder, dass Clare Petty, eine der Spitzenbeamtinnen in Angletons Abteilung, die Angleton-Paranoia zu ihrem logisch selbstnegierenden Höhepunkt brachte, indem sie nach einer langen und erschöpfenden Untersuchung zu dem Schluss kam, dass Golitsyn (der russische Überläufer, mit dem Angleton in einer echten folie a deux verstrickt war) eine Fälschung sei und Angleton selbst der große Maulwurf, der die antisoswjetische Nachrichtendiensttätigkeit erfolgreich lähmte. Und tatsächlich sind wir versucht, eine Frage aufzuwerfen: Was, wenn Angleton ein Maulwurf war, der seine Tätigkeit durch die Suche nach einem Maulwurf rechtfertigte (nach sich selbst, in der letzten realen Version des Big Clock/No Way Out-Plots)? Was, wenn der wahre KGB-‘Monster Plot’ gerade das Projekt war, die Idee eines ‘Monster Plot’ in Umlauf zu bringen und so die CIA zu immobilisieren und zukünftige KGB-Überläufer im Voraus zu neutralisieren? In beiden Fällen nahm die letzte Täuschung die Gestalt der Wahrheit selbst an. Es gab einen ‘Monster Plot’ (die Idee des ‘Monster Plot’ selbst); es gab einen Maulwurf im Herzen der CIA (Angleton selbst).

Das ist die Wahrheit der paranoiden Haltung: Sie selbst ist die Bedrohung, der zerstörerische Plot, gegen den sie kämpft. Der elegante Aspekt dieser Lösung – und die letzte Verurteilung von Angletons Paranoia – ist, dass es keine Rolle spielt, ob Angleton bloß aufrichtig von der Idee eines ‘Monster Plot’ getäuscht wurde oder ob er tatsächlich der Maulwurf war: In beiden Fällen ist das Ergebnis exakt dasselbe. Was konstituierte also die Täuschung? Unser Versäumnis, in die Liste der Verdächtigen die Idee des (globalisierten) Verdachts selbst aufzunehmen, das heißt, die Idee des Verdachts unter Verdacht zu stellen – und dieser ‘Kurzschluss’, dieses Zusammenfallen der Gegensätze, ist der Punkt hegelscher selbstbezüglicher Negativität.

Diese Logik selbstbezüglicher Negativität, in der die Gattung sich in einer ihrer eigenen Arten begegnet, erklärt auch, warum es so schwer ist, die Erbsünde der kapitalistischen libidinösen Ökonomie zu überwinden – kurz, einen Geizhals zu bekehren. Bei anderen Sünden des Exzesses gelingt die Bekehrung relativ leicht – man muss die betreffende Sünde einfach mäßigen und sie in eine Tugend verwandeln, das heißt, ihr die Form einer Tugend verleihen (man überwindet Völlerei durch maßvolles Essen usw.); das Problem der Habsucht jedoch, im Unterschied zu anderen Sünden, ist, dass sie bereits die Form einer Tugend annimmt (verlangt Sparsamkeit nicht vom Subjekt eine Haltung der Entsagung, Disziplin und harten Arbeit?). Der Unterschied zwischen Habsucht und (der Tugend der) Klugheit ist, in kantischen Termini, dass Klugheit gut ist, insofern sie ‘pathologisch’ bleibt und unserem Wohlbefinden dient; während sie paradoxerweise in dem Moment zur Sünde wird, in dem sie auf die eigentlich ethische Ebene erhoben wird, in dem Moment, in dem sie die Form eines an sich zu verfolgenden Zwecks annimmt, unabhängig von allen pathologischen Erwägungen.39 Dieses Paradox, ein Laster zur Tugend zu erheben, ihm die Form einer Tugend zu verleihen, liefert die elementare Formel der unglaublichen selbstantreibenden Dynamik des Kapitalismus, in der Gegensätze zusammenfallen: Nicht nur ist das Laster der Sparsamkeit (Akkumulation) die höchste Tugend; der Konsum selbst wird in die Erscheinungsweise seines Gegenteils, der Sparsamkeit, verwandelt.40 Wie also sollen wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen? Es gibt keine Rückkehr zur früheren Unschuld – keinen leichten Ausweg durch Großzügigkeit, durch Rückkehr zur vormodernen podatch-Logik a la Bataille, oder, umgekehrt, durch Rückkehr zu einer Art ausgewogener ‘begrenzter Ökonomie’.

Hier sind jedoch Lacans Aussagen über Psychoanalyse und Geld und über den antikapitalistischen Charakter der Psychoanalyse ernst zu nehmen.41 Man betrachte Jacques-Alain Millers Witz darüber, wie in der psychoanalytischen Behandlung Ausbeutung noch besser funktioniert als im Kapitalismus: Im Kapitalismus bezahlt der Kapitalist den Arbeiter, der für ihn arbeitet und so Profit produziert; während in der Psychoanalyse der Patient den Analytiker bezahlt, um selbst arbeiten zu können.…

In der Psychoanalyse haben wir es daher mit einer intersubjektiven Geldbeziehung zu tun, in der alle Parameter des Austauschs zusammenbrechen. Der entscheidende Punkt ist: Warum bezahlt der Patient den Analytiker? Die Standardantwort (damit der Analytiker außerhalb des libidinösen Kreislaufs bleibt, unbeteiligt am Durcheinander der Leidenschaften) ist richtig, aber unzureichend. Wir sollten ‘Güte’ definitiv ausschließen: Wenn der Psychoanalytiker als gut wahrgenommen wird, als ob er dem Patienten einen Gefallen tue, muss alles schiefgehen. Wir sollten jedoch eine weitere Frage angehen: Wie subjektiviert der Patient sein Bezahlen? Hier bricht die Logik des Austauschs zusammen: Wenn wir innerhalb der Parameter von ‘wie du mir, so ich dir’ bleiben (so viel für eine Traumdeutung, so viel für die Auflösung eines Symptoms), kommen wir nicht voran. ‘Den Preis für erbrachte Dienstleistungen zahlen’ hält die Analyse innerhalb der Grenzen der Habsucht (es ist leicht, sich eine weitere Beschleunigung dieser Logik vorzustellen: zahl für zwei Deutungen und bekomm die dritte gratis …). Was früher oder später geschehen muss, ist, dass die Analyse sich in der paradigmatischen zwanghaften Ökonomie verfängt, in der der Patient den Analytiker bezahlt, damit nichts geschieht – damit der Analytiker das Geschwätz des Patienten ohne subjektive Konsequenzen toleriert. Andererseits gibt es nichts Katastrophaleres als einen Psychoanalytiker, der aus Barmherzigkeit (‘Güte’) heraus handelt, um dem Patienten zu helfen; wenn überhaupt, ist dies der wirksamste Weg, einen ‘normalen’ Neurotiker in einen paranoiden Psychotiker zu verwandeln.

Ist die Antwort dann in der Verschiebung vom Haben zum Sein zu finden, in der Linie von Lacans Definition der Liebe als eines Akts, in dem man nicht gibt, was man hat, sondern was man nicht hat – das heißt, was man ist? Die Geste, sein Sein zu geben, kann auch eine falsche (megalomanische oder suizidale) sein – man denke an Nietzsches letzte megalomanische Verrücktheit, deren Struktur strikt homolog ist zum suizidalen Übergang a Vacte: In beiden Fällen bietet das Subjekt sich selbst (sein Sein) als das Objekt an, das im Realen die konstitutive Kluft der symbolischen Ordnung ausfüllt – das heißt den Mangel des großen Anderen. Das heißt: Das Schlüsselenigma von Nietzsches letzter Verrücktheit ist: Warum musste Nietzsche zu dem greifen, was uns unvermeidlich als lächerliche Selbstüberhöhung erscheinen muss (man erinnere sich an die Kapiteltitel in seinem Ecce homo: ‘Warum ich so weise bin’, ‘Warum ich so klug bin’, bis hin zu ‘Warum ich ein Schicksal bin’)? Das ist eine inhärente philosophische Blockade, die überhaupt nichts mit irgendeiner privaten Pathologie zu tun hat: seine Unfähigkeit, die Nichtexistenz des großen Anderen zu akzeptieren. Innerhalb dieser Koordinaten tritt Suizid ein, wenn das Subjekt wahrnimmt, dass die megalomanische Lösung nicht funktioniert.42

Wie Lacan betonte, kann man die Reichen nicht analysieren, für die Bezahlen nichts bedeutet. Also muss es Zahlung geben, einen gezahlten Preis – es muss weh tun.43 Was jedoch bekommt man dafür? Die eigentliche Analyse beginnt, wenn man die Zahlung als rein arbiträre Verausgabung akzeptiert. Indem er für nichts zahlt, indem er sich in reine Verausgabung begibt, bekommt der Patient das zurück, wofür es keinen Preis gibt – das objet petit a, die Ursache des Begehrens, das nur als reiner Überschuss der Gnade hervortreten kann. Der Teufelskreis der Sparsamkeit wird damit doppelt gebrochen: Der Patient tut etwas, das innerhalb des Horizonts der kapitalistischen Logik von Konsum/Akkumulation völlig sinnlos ist, und erhält im Austausch den reinen Überschuss selbst.

Der lacanianische Name für diese Geste, den Teufelskreis des Über-Ichs zu durchbrechen, ist Akt, und das Fehlen einer klaren Ausarbeitung des Begriffs des Akts in seiner Beziehung zur Phantasie ist vielleicht das zentrale Versagen von The Sublime Object. Vielleicht finden wir die schärfste Formulierung dieser Beziehung bei Shakespeare, wenn in Akt II Szene 1 von Julius Caesar Brutus seine Zweifel äußert, gegen Caesar zu handeln:

Zwischen dem Vollzug einer schrecklichen Sache

Und der ersten Regung ist alles Dazwischen

Wie ein Phantasma oder ein abscheulicher Traum.

Phantasie füllt die Kluft zwischen der abstrakten Absicht, etwas zu tun, und ihrer Verwirklichung: Sie ist der Stoff, aus dem lähmende Zögerungen bestehen – Angst, sich auszumalen, was passieren könnte, wenn ich es tue, was passieren könnte, wenn ich es nicht tue – und der Akt selbst vertreibt den Nebel dieser Zögerungen, die uns in diesem Zwischenraum heimsuchen.

Was ist dann ein Akt, gegründet im Abgrund einer freien Entscheidung? Man erinnere sich an C.S. Lewis’ Beschreibung seiner religiösen Entscheidung in Surprised by Joy – was sie so unwiderstehlich köstlich macht, ist der nüchterne skeptische ‘englische’ Stil des Autors, weit entfernt von den üblichen pathetischen Erzählungen mystischer Verzückung. Lewis’ Beschreibung des Akts vermeidet so geschickt jedes ekstatische Pathos im üblichen Stil der heiligen Teresa, jedes mehrfach-orgasmische Durchdringen durch Engel oder Gott: Es ist nicht so, dass wir in der göttlichen mystischen Erfahrung (in ex-stasis) aus unserer normalen Erfahrung der Realität heraustreten; es ist diese ‘normale’ Erfahrung, die ‘ex-statisch’ (Heidegger) ist, in der wir aus uns heraus in die äußere Realität der Entitäten geworfen sind, und die mystische Erfahrung zeigt den Rückzug aus dieser Ekstase an. Lewis bezeichnet die Erfahrung daher als das ‘seltsame Ding’; er nennt ihren gewöhnlichen Ort – ‘Ich fuhr auf dem Oberdeck eines Busses den Headington Hill hinauf’; er macht Qualifikationen wie ‘in einem Sinn’, ‘was jetzt erscheint’, ‘oder, wenn man so will’, ‘man könnte argumentieren, dass … aber ich neige eher zu der Ansicht…’, ‘vielleicht’, ‘ich mochte das Gefühl nicht besonders’:

Das Seltsame war, dass mir, bevor Gott sich über mich schloss, tatsächlich das angeboten wurde, was jetzt als ein Moment ganz freier Wahl erscheint. In einem Sinn. Ich fuhr auf dem Oberdeck eines Busses den Headington Hill hinauf. Ohne Worte und (glaube ich) fast ohne Bilder wurde mir irgendwie eine Tatsache über mich selbst vorgelegt. Mir wurde bewusst, dass ich etwas auf Abstand hielt oder etwas ausschloss. Oder, wenn man so will, dass ich eine steife Kleidung trug, wie Korsetts, oder sogar einen Harnisch, als wäre ich ein Hummer. Ich fühlte mich, dort und dann, mit einer freien Wahl ausgestattet. Ich konnte die Tür öffnen oder sie geschlossen halten; ich konnte die Rüstung lösen oder sie anbehalten. Keine der beiden Wahlen wurde als Pflicht präsentiert; an keine war eine Drohung oder ein Versprechen geknüpft, obwohl ich wusste, dass die Tür zu öffnen oder das Korsett abzulegen das Unkalkulierbare bedeutete. Die Wahl schien folgenschwer, war aber auch seltsam unemotional. Ich wurde von keinen Begierden oder Ängsten bewegt. In einem Sinn wurde ich von nichts bewegt. Ich entschied mich zu öffnen, zu lösen, die Zügel zu lockern. Ich sage: ‘Ich entschied mich’, und doch schien es nicht wirklich möglich, das Gegenteil zu tun. Andererseits war ich mir keiner Motive bewusst. Man könnte argumentieren, dass ich kein freier Handelnder war, aber ich neige eher zu der Ansicht, dass dies eher einem vollkommen freien Akt nahekam als die meisten, die ich je getan habe. Notwendigkeit muss nicht das Gegenteil von Freiheit sein, und vielleicht ist ein Mensch am freiesten, wenn er, statt Motive zu produzieren, nur sagen könnte: ‘Ich bin, was ich tue.’ Dann kam die Rückwirkung auf der Ebene der Einbildung. Ich fühlte mich, als wäre ich ein Schneemann, der endlich zu schmelzen beginnt. Das Schmelzen begann in meinem Rücken – tropf-tropf und bald rinnsal-rinnsal. Ich mochte das Gefühl nicht besonders.44

In gewisser Weise ist hier alles enthalten: die Entscheidung ist rein formal, letztlich eine Entscheidung zu entscheiden, ohne klares Bewusstsein dessen, worüber das Subjekt entscheidet; sie ist ein nicht-psychologischer Akt, unemotional, ohne Motive, Begierden oder Ängste; sie ist unkalkulierbar, nicht das Ergebnis strategischer Argumentation; sie ist ein völlig freier Akt, obwohl er nicht anders handeln konnte. Erst danach wird dieser reine Akt ‘subjektiviert’, in eine (ziemlich unangenehme) psychologische Erfahrung übersetzt.45 Es gibt nur einen Aspekt, der in Lewis’ Formulierung potenziell problematisch ist: der Akt, wie Lacan ihn versteht, hat nichts zu tun mit der mystischen Suspension der Bindungen, die uns an die gewöhnliche Realität knüpfen, mit dem Erreichen der Seligkeit radikaler Indifferenz, in der Leben oder Tod und andere weltliche Unterscheidungen nicht länger zählen; in der Subjekt und Objekt, Denken und Akt, vollständig zusammenfallen. Um es in mystischen Termini zu sagen: der lacanianische Akt ist vielmehr das genaue Gegenteil dieser ‘Rückkehr zur Unschuld’: die Erbsünde selbst, die abgründige Störung des uranfänglichen Friedens, die ursprüngliche ‘pathologische’ Wahl der unbedingten Bindung an ein spezifisches Objekt (wie das Verlieben in eine bestimmte Person, die uns danach mehr bedeutet als irgendwer oder irgendetwas anderes).46

In buddhistischen Termini ist ein Akt somit das genaue strukturelle Gegenstück zur Erleuchtung, zum Erreichen des Nirvana: die Geste selbst, durch die die Leere gestört wird und Differenz (und mit ihr falscher Schein und Leiden) in der Welt hervorgeht. Der Akt liegt so nahe bei der Geste eines Bodhisattva, der, nachdem er Nirvana erreicht hat, aus Mitgefühl – das heißt, um des gemeinsamen Guten willen – in die phänomenale Realität zurückkehrt, um allen anderen lebenden Wesen zu helfen, Nirvana zu erreichen. Der Unterschied zur Psychoanalyse besteht darin, dass aus deren Standpunkt die opferhafte Geste des Bodhisattva falsch ist: um den eigentlichen Akt zu erreichen, sollte man jeden Bezug auf das Gute auslöschen und den Akt nur um seiner selbst willen vollziehen. (Dieser Bezug auf den Bodhisattva ermöglicht es uns auch, die ‘große Frage’ zu beantworten: wenn wir jetzt danach streben müssen, aus dem Teufelskreis des Begehrens auszubrechen und in den seligen Frieden des Nirvana einzutreten, wie ist Nirvana überhaupt ‘zurückgefallen’ in das Verstricktsein ins Rad des Begehrens? Die einzige konsistente Antwort lautet: der Bodhisattva wiederholt diese ursprüngliche ‘böse’ Geste. Der Fall ins Böse wurde vom ‘ursprünglichen Bodhisattva’ vollbracht – kurz, die letzte Quelle des Bösen ist das Mitgefühl selbst.)

Das Mitgefühl des Bodhisattva korreliert strikt mit der Vorstellung, dass das ‘Lustprinzip’ unsere Tätigkeit reguliert, wenn wir im Rad der Illusion gefangen sind, das heißt, dass wir alle nach dem Guten streben und dass das letzte Problem epistemologisch ist (wir misswahrnehmen die wahre Natur des Guten) – um den Dalai Lama selbst zu zitieren: der Anfang der Weisheit ist ‘zu erkennen, dass alle Lebewesen darin gleich sind, nicht Unglück und Leiden zu wollen, und gleich in dem Recht, sich des Leidens zu entledigen’.47 Der freudsche Trieb hingegen bezeichnet gerade das Paradox des ‘Unglück-Wollens’, des Findens exzessiver Lust im Leiden selbst – der Titel von Paul Watzlawiks Buch The Pursuit of Unhappiness hat diese grundlegende Selbstblockade menschlichen Verhaltens perfekt auf den Punkt gebracht. Der buddhistische ethische Horizont ist daher noch immer der des Guten – das heißt, der Buddhismus ist eine Art Negativ der Ethik des Guten: im Bewusstsein, dass jedes positive Gute ein Köder ist, nimmt er die Leere vollständig als das einzige wahre Gute an. Was er nicht vermag, ist, ‘über das Nichts hinaus’ zu gehen, in das, was Hegel ‘Verweilen beim Negativen’ nannte: in eine phänomenale Realität zurückzukehren, die ‘jenseits des Nichts’ ist, zu einem Etwas, das dem Nichts Körper gibt. Das buddhistische Bemühen, die Illusion (des Begehrens, der phänomenalen Realität) loszuwerden, ist in der Tat ein Bemühen, das Reale dieser/in dieser Illusion loszuwerden, den Kern des Realen, der für unsere ‘hartnäckige Bindung’ an die Illusion verantwortlich ist.

Zen im Krieg

Die politischen Implikationen dieser Haltung sind entscheidend. Nehmen wir die weit verbreitete Vorstellung, aggressiver islamischer (oder jüdischer) Monotheismus sei an der Wurzel unserer Misere. Das Ziel, auf das wir uns konzentrieren sollten, ist daher gerade die Ideologie, die dann als potenzielle Lösung vorgeschlagen wird – sagen wir, orientalische Spiritualität (Buddhismus), mit ihrem ‘sanfteren’, ausgewogenen, holistischen, ökologischen Ansatz (all die Geschichten darüber, wie etwa tibetische Buddhisten beim Ausheben der Fundamente eines Hauses darauf achten, keine Würmer zu töten). Es ist nicht nur so, dass der westliche Buddhismus, dieses popkulturelle Phänomen, das innere Distanz und Indifferenz gegenüber dem hektischen Tempo der Freimarkt-Konkurrenz predigt, wohl die effizienteste Weise ist, wie wir voll am kapitalistischen Dynamismus teilnehmen können, während wir den Anschein geistiger Gesundheit bewahren – kurz, die paradigmatische Ideologie des Spätkapitalismus.

Ich sollte hinzufügen, dass es nicht länger möglich ist, diesen westlichen Buddhismus seiner ‘authentischen’ orientalischen Version entgegenzusetzen; der Fall Japan liefert hierfür den schlagenden Beweis. Nicht nur haben wir heute unter japanischen Topmanagern das weit verbreitete Phänomen des ‘Corporate Zen’; über die gesamten letzten 150 Jahre hinweg wurde Japans rasche Industrialisierung und Militarisierung, mit ihrer Ethik der Disziplin und des Opfers, von der großen Mehrheit der Zen-Denker getragen – wer weiß heute, dass D.T. Suzuki selbst, der hohe Guru des Zen im Amerika der 1960er Jahre, in seiner Jugend in Japan, in den 1930er Jahren, den Geist starrer Disziplin und militaristischer Expansion unterstützte?48 Es gibt hier keinen Widerspruch, keine manipulative Perversion der authentischen mitfühlenden Einsicht: die Haltung totaler Immersion in das selbstlose ‘Jetzt’ der instantanen Erleuchtung, in der jede reflexive Distanz verloren geht und ‘ich bin, was ich tue’, wie C.S. Lewis es ausdrückte – kurz: in der absolute Disziplin mit totaler Spontaneität zusammenfällt – legitimiert perfekt die Unterordnung unter die militaristische soziale Maschine. Hier sehen wir, wie sehr Aldous Huxley Unrecht hatte, als er in The Grey Eminence den christlichen Fokus auf Christi Leiden für seinen destruktiven sozialen Missbrauch (die Kreuzzüge usw.) verantwortlich macht und ihn dem wohlwollenden buddhistischen Sich-Entziehen gegenüberstellt.

Das entscheidende Merkmal ist hier, wie militaristisches Zen das Töten auf zwei letztlich inkonsistente Weisen rechtfertigt. Erstens gibt es die Standard-Teleologie, die auch für westliche Religionen akzeptabel ist:

Obwohl der Buddha das Nehmen von Leben verbot, lehrte er auch, dass es niemals Frieden geben wird, solange nicht alle empfindungsfähigen Wesen durch die Ausübung unendlichen Mitgefühls miteinander vereint sind. Daher sind Töten und Krieg als Mittel, um Unvereinbares in Harmonie zu bringen, notwendig.49

Es ist somit gerade die Kraft des Mitgefühls, die das Schwert führt: ein wahrer Krieger tötet aus Liebe, wie Eltern ihre Kinder aus Liebe schlagen, um sie zu erziehen und sie langfristig glücklich zu machen. Dies führt uns zur Vorstellung eines ‘mitfühlenden Krieges’, der sowohl einem selbst als auch dem Feind Leben gibt – hier ist das Schwert, das tötet, das Schwert, das Leben gibt. (So nahm die japanische Armee ihre erbarmungslose Plünderung Koreas und Chinas in den 1930er Jahren wahr und rechtfertigte sie.50)

Natürlich sind alle Dinge letztlich nichts, eine substanzlose Leere; man sollte jedoch diese transzendente Welt der Formlosigkeit [mukei] nicht mit der zeitlichen Welt der Form [yukei] verwechseln und so die zugrunde liegende Einheit der beiden verkennen. Das war der Fehler des Sozialismus: der Sozialismus wollte die zugrunde liegende Einheit (‘böse Gleichheit’) direkt in der zeitlichen Realität verwirklichen und verursachte dadurch soziale Zerstörung. Diese Lösung mag Hegels Kritik am revolutionären Terror in seiner Phänomenologie ähnlich klingen – und selbst die von einigen Zen-Buddhisten vorgeschlagene Formel (‘die Identität von Differenzierung und Gleichheit’51) kann nicht anders, als uns an Hegels berühmte spekulative Behauptung der ‘Identität von Identität und Differenz’ zu erinnern. Der Unterschied ist hier jedoch klar: Hegel hat nichts zu tun mit einer solchen pseudo-hegelschen Vision (von einigen konservativen Hegelianern wie Bradley und McTaggart vertreten) der Gesellschaft als eines organischen harmonischen Ganzen, innerhalb dessen jedes Mitglied seine ‘Gleichheit’ mit anderen dadurch behauptet, dass es seine besondere Pflicht erfüllt, seinen besonderen Platz einnimmt und so zur Harmonie dieses Ganzen beiträgt. Für Hegel hingegen ist die ‘transzendente Welt der Formlosigkeit’ (kurz: das Absolute) mit sich selbst im Krieg, das heißt, dass (selbst-)zerstörerische Formlosigkeit (absolute, selbstbezügliche Negativität) als solche im Bereich endlicher Realität erscheinen muss. Der Punkt von Hegels Begriff des revolutionären Terrors ist gerade, dass er ein notwendiger Moment in der Entfaltung der Freiheit ist.

Doch zurück zu Zen: diese ‘ideologische’ Rechtfertigung (Krieg ist ein notwendiges Übel, verübt, um das größere Gute herbeizuführen: ‘Schlacht wird notwendigerweise in Antizipation des Friedens geschlagen’52) wird begleitet von einer radikaleren Argumentationslinie, in der viel direkter ‘Zen und das Schwert ein und dasselbe’ sind.53 Diese Argumentation beruht auf der Opposition zwischen der reflexiven Haltung unserer gewöhnlichen Alltagsleben (in denen wir am Leben hängen und den Tod fürchten, nach egoistischer Lust und Profit streben, zögern und denken statt direkt zu handeln) und der erleuchteten Haltung, in der der Unterschied zwischen Leben und Tod nicht länger zählt, in der wir die ursprüngliche selbstlose Einheit wiedergewinnen und unmittelbar unser Akt sind. In einem einzigartigen Kurzschluss deuten die militaristischen Zen-Meister die grundlegende Zen-Botschaft (Befreiung liegt im Verlust des Selbst, im unmittelbaren Einswerden mit der ursprünglichen Leere) als identisch mit völliger militärischer Treue, mit dem unmittelbaren Befolgen von Befehlen und Erfüllen der Pflicht ohne Rücksicht auf das Selbst und seine Interessen. Das Standardklischee des Antimilitarismus, Soldaten würden gedrillt, einen Zustand gedankenloser Unterordnung zu erreichen und Befehle wie blinde Puppen auszuführen, wird hier als identisch mit Zen-Erleuchtung behauptet. Ishihara Shummyo macht diesen Punkt in fast althusserianischen Termini direkter, nicht-reflektierter Interpellation:

Zen ist sehr strikt hinsichtlich der Notwendigkeit, den Geist nicht anzuhalten. Sobald der Feuerstein geschlagen wird, springt ein Funke hervor. Zwischen diesen beiden Ereignissen gibt es nicht einmal den allerkürzesten Moment Zeitverlust. Wenn befohlen wird, nach rechts zu schauen, schaut man einfach nach rechts, so schnell wie ein Blitz.… Wenn zum Beispiel der Name gerufen würde, ‘Uemon’, sollte man einfach ‘Ja’ antworten und nicht innehalten, um den Grund zu erwägen, warum der Name gerufen wurde. … Ich glaube, wenn man aufgefordert wird zu sterben, sollte man nicht im Geringsten aufgewühlt sein.54

Insofern Subjektivität als solche hysterisch ist, insofern sie durch das Befragen des interpellierenden Rufs des Anderen entsteht, ist dies die perfekte Beschreibung einer perversen Desubjektivierung: das Subjekt umgeht seine konstitutive Spaltung, indem es sich direkt als Instrument des Willens des Anderen setzt.55 Und was in dieser radikalen Version entscheidend ist, ist, dass sie ausdrücklich alles religiöse Beiwerk zurückweist, das gewöhnlich mit populärem Buddhismus verbunden ist, und eine Rückkehr zur ursprünglichen bodenständigen atheistischen Version des Buddha selbst befürwortet: wie Furakawa Taigo hervorgehoben hat,56 gibt es keine Rettung nach dem Tod, kein Jenseits, keine Geister oder Gottheiten, die uns beistehen, keine Wiedergeburt – nur dieses Leben, das unmittelbar identisch ist mit dem Tod. Mit dieser Haltung handelt der Krieger nicht länger als Person; er ist durch und durch desubjektiviert – oder, wie D.T. Suzuki selbst sagte: ‘Es ist wirklich nicht er, sondern das Schwert selbst, das das Töten vollzieht. Er hatte keinen Wunsch, irgendwem zu schaden, aber der Feind erscheint und macht sich selbst zum Opfer. Es ist, als ob das Schwert automatisch seine Funktion der Gerechtigkeit vollzieht, die die Funktion der Barmherzigkeit ist.’57 (Nebenbei: stellt diese Beschreibung des Tötens nicht den letzten Fall der phänomenologischen Haltung dar, die, statt in die Realität einzugreifen, die Dinge einfach erscheinen lässt, wie sie sind? Das Schwert selbst vollzieht das Töten; der Feind selbst erscheint einfach und macht sich selbst zum Opfer – ich bin nicht verantwortlich; ich bin reduziert auf einen passiven Beobachter meiner eigenen Akte.) Die paradoxe pascalische Schlussfolgerung dieser radikal atheistischen Zen-Version lautet, dass, da es keine innere Substanz der Religion gibt, das Wesen des Glaubens korrektes Dekorum ist, Gehorsam gegenüber dem Ritual als solchem.58

Was ist dann der Unterschied zwischen dieser ‘Krieger-Zen’-Legitimierung von Gewalt und der langen westlichen Tradition, von Christus bis Che Guevara, die ebenfalls Gewalt als ‘Werk der Liebe’ preist, wie in diesen berühmten Zeilen aus Che Guevaras Tagebuch?:

Ich will sagen, auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen, dass der wahre Revolutionär von starken Gefühlen der Liebe geleitet wird. Es ist unmöglich, sich einen authentischen Revolutionär ohne diese Eigenschaft vorzustellen. Dies ist vielleicht eines der größten Dramen eines Führers; er muss einen leidenschaftlichen Geist mit einem kalten Verstand verbinden und schmerzhafte Entscheidungen treffen, ohne einen Muskel zu verziehen. Unsere Avantgarde-Revolutionäre … können nicht, mit kleinen Dosen täglicher Zuneigung, zu den Orten hinabsteigen, wo gewöhnliche Menschen ihre Liebe in die Praxis umsetzen.59

Obwohl wir uns der Gefahren der ‘Christifizierung Che’ bewusst sein sollten, ihn in eine Ikone radikal-schicker Konsumkultur zu verwandeln, einen Märtyrer, der bereit ist, aus Liebe zur Menschheit zu sterben,60 sollte man vielleicht das Risiko eingehen, diese Bewegung zu akzeptieren und sie in eine ‘Cheisierung’ Christi selbst zu radikalisieren – des Christus, dessen ‘skandalöse’ Worte aus dem Lukasevangelium (‘wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter hasst, seine Frau und Kinder, seine Brüder und Schwestern – ja, sogar sein eigenes Leben – kann er nicht mein Jünger sein’ [14:26]) genau in dieselbe Richtung gehen wie Ches berühmtes Zitat: ‘Du musst vielleicht hart sein, aber verliere nicht deine Zärtlichkeit. Du musst vielleicht die Blumen abschneiden, aber das wird den Frühling nicht aufhalten.’61

Wenn also Lenins Akte revolutionärer Gewalt ‘Werke der Liebe’ waren im strengsten kierkegaardschen Sinn des Begriffs, was ist der Unterschied zwischen dem und ‘Krieger-Zen’? Es gibt nur eine logische Antwort: es ist nicht so, dass revolutionäre Gewalt im Gegensatz zur japanischen militärischen Aggression ‘wirklich’ darauf zielt, eine gewaltfreie Harmonie zu etablieren; im Gegenteil, authentische revolutionäre Befreiung ist viel unmittelbarer mit Gewalt identifiziert – es ist die Gewalt als solche (die gewaltsame Geste des Verwerfens, des Setzens einer Differenz, des Ziehens einer Trennlinie), die befreit. Freiheit ist nicht ein selig neutraler Zustand von Harmonie und Gleichgewicht, sondern gerade der gewaltsame Akt, der dieses Gleichgewicht stört.62

Dennoch ist es allzu einfach, entweder zu sagen, diese militaristische Version von Zen sei eine Perversion der wahren Zen-Botschaft, oder in ihr die unheilvolle ‘Wahrheit’ des Zen zu sehen: die Wahrheit ist viel unerträglicher – was, wenn Zen in seinem Innersten ambivalent ist oder vielmehr dieser Alternative gegenüber völlig indifferent? Was, wenn – schrecklicher Gedanke! – die Zen-Meditationstechnik letztlich nur das ist: eine spirituelle Technik, ein ethisch neutrales Instrument, das unterschiedlichen soziopolitischen Verwendungen zugeführt werden kann, von den friedlichsten bis zu den zerstörerischsten? (In diesem Sinn hatte Suzuki Recht, zu betonen, dass Zen-Buddhismus mit jeder Philosophie oder Politik kombiniert werden kann, vom Anarchismus bis zum Faschismus.63) Die Antwort auf die verschlungene Frage ‘Welche Aspekte der buddhistischen Tradition eigneten sich zu einer so monströsen Verzerrung?’ lautet also: genau dieselben, die leidenschaftliches Mitgefühl und inneren Frieden befürworteten. Kein Wunder also, dass, als Ichikawa Hakugen, der japanische Buddhist, der nach Japans erschütternder Niederlage im Zweiten Weltkrieg die radikalste Selbstkritik ausarbeitete, unter den zwölf Eigenschaften der buddhistischen Tradition aufzählen musste, die gewissermaßen den Boden für die Legitimierung aggressiven Militarismus bereiteten, praktisch alle Grunddogmen des Buddhismus selbst: die buddhistische Lehre vom abhängigen Mitentstehen oder von Kausalität, die alle Phänomene als in einem Zustand ständigen Flusses begreift, und die damit verbundene Lehre vom Nicht-Selbst; das Fehlen eines festen Dogmas und eines persönlichen Gottes; die Betonung inneren Friedens eher als Gerechtigkeit….64 So antwortet in der Bhagavadgita der Gott Krishna Arjuna, dem Kriegerkönig, der zögert, in eine Schlacht zu ziehen, entsetzt über das Leiden, das sein Angriff verursachen wird – eine Antwort, die es wert ist, ausführlich zitiert zu werden:

Wer meint, es sei das Tötende, und wer meint, es sei das Getötete, beide wissen nichts. Das Selbst tötet nicht, und das Selbst wird nicht getötet. Es wird nicht geboren, noch stirbt es jemals, noch, nachdem es existiert hat, existiert es nicht mehr. Ungeboren, ewig, unveränderlich und uranfänglich wird das Selbst nicht getötet, wenn der Körper getötet wird. O Sohn der Pritha, wie kann jener Mensch, der das Selbst als unzerstörbar, ewig, ungeboren und unerschöpflich kennt, wie und wen kann er töten, wen kann er töten lassen? Wie ein Mensch, der alte Kleider ablegt, andere und neue anzieht, so geht das verkörperte Selbst, alte Körper ablegend, zu anderen und neuen. Waffen zerteilen das Selbst nicht; Feuer verbrennt es nicht; Wasser nässt es nicht; der Wind trocknet es nicht aus. Es ist nicht teilbar; es ist nicht verbrennbar; es ist nicht zu nässen; es ist nicht auszutrocknen. Es ist ewig, allgegenwärtig, stabil, fest und dauerhaft. Es heißt, es sei unwahrnehmbar, unvorstellbar, unveränderlich… Darum sollst du um kein Wesen trauern. Auch auf deine eigene Pflicht bedacht sollst du nicht wanken, denn es gibt für einen Kshatriya nichts Besseres als eine gerechte Schlacht.… Getötet wirst du den Himmel erlangen; siegreich wirst du die Erde genießen. Darum erhebe dich, o Sohn der Kunti, entschlossen, in die Schlacht zu ziehen. Gleich schauend auf Lust und Schmerz, auf Gewinn und Verlust, auf Sieg und Niederlage, bereite dich dann auf die Schlacht vor, und so wirst du keine Sünde auf dich laden.65

Wieder ist die Schlussfolgerung klar: wenn die äußere Realität letztlich nur eine ephemere Erscheinung ist, dann zählen selbst die furchtbarsten Verbrechen am Ende nicht. Das ist der Kern der Lehre des Nicht-Involviertseins, des uninteressierten Handelns: handle, als ob es nicht zählt, als ob du nicht der Handelnde bist, sondern die Dinge, einschließlich deiner eigenen Akte, geschehen einfach in unpersönlicher Weise … Nebenbei bin ich hier versucht, diese Passage als Rechtfertigung des Tötens von Juden in den Gaskammern gegenüber einem Henker zu paraphrasieren, der in einem Moment des Zweifels gefangen ist: da ‘wer meint, es sei das Tötende, und wer meint, es sei das Getötete, beide wissen nichts’, da ‘das Selbst nicht tötet und das Selbst nicht getötet wird’, sollst du daher ‘um keinen’ verbrannten Juden trauern, sondern, ‘gleich schauend auf Lust und Schmerz, auf Gewinn und Verlust, auf Sieg und Niederlage’, tun, was dir befohlen wurde.…

Das bedeutet, dass allumfassendes buddhistisches Mitgefühl der intoleranten, gewaltsamen christlichen Liebe entgegenzustellen ist. Die buddhistische Haltung ist letztlich die der Indifferenz, des Löschens aller Leidenschaften, die Differenzen setzen wollen; während christliche Liebe eine gewaltsame Leidenschaft ist, eine Differenz einzuführen, eine Kluft in die Ordnung des Seins – ein spezifisches Objekt zu privilegieren und zu erhöhen auf Kosten aller anderen. Liebe ist Gewalt nicht (nur) im vulgären Sinn des Balkan-Sprichworts ‘Wenn er mich nicht schlägt, liebt er mich nicht!’ – Gewalt ist schon die Liebeswahl als solche, die ihr Objekt aus seinem Kontext reißt und es zum Ding erhebt.

In montenegrinischer Folklore ist der Ursprung des Bösen eine schöne Frau: sie bringt die Männer um sie herum aus dem Gleichgewicht; sie destabilisiert buchstäblich das Universum, färbt alle Dinge mit einem Ton der Parteilichkeit.66 Dieses gleiche Thema war eine der Konstanten sowjetischer Pädagogik seit den frühen 1920er Jahren: Sexualität ist inhärent patho-logisch; sie kontaminiert kalte, ausgewogene Logik durch ein spezifisches Pathos – sexuelle Erregung war die Störung, die mit bürgerlicher Korruption assoziiert wurde, und in der Sowjetunion der 1920er Jahre gab es zahlreiche psychophysiologische ‘materialistische’ Forscher, die zu zeigen versuchten, dass sexuelle Erregung ein pathologischer Zustand ist…,67 Solche antifeministischen Ausbrüche sind der Wahrheit viel näher als die aseptische Toleranz der Sexualität.

Wenn wir die ruhige phänomenologische Haltung des ‘Sein-Lassen [Sein-Lassen]’, des Aufrechterhaltens der Offenheit, der Lichtung, betonen, in der den Dingen erlaubt wird, in ihrem eigentlichen Sein zu erscheinen, sollten wir stets im Blick behalten, dass dieser offene Raum durch eine schmerzhafte Geste des Rückzugs/der Einschränkung, ja sogar der Verrückung geschaffen worden ist (Heidegger spricht vom ‘Schmerz der Differenz’). Das ist es, was freudsche Sublimierung ist (in ihrer lacanianischen Lektüre): nicht die Verschiebung von der ‘direkten’ Aktualisierung eines Triebs zu seiner kultivierteren m^te-Befriedigung, sondern das Eingreifen einer bestimmten Hemmung, eines Hindernisses, das die direkte Realisierung des Triebs vereitelt und so einen Raum öffnet, durch den eine andere Dimension aufscheinen kann. Der freudsche Name für dieses inhärente Hindernis ist natürlich der Todestrieb, und so können wir den inhärenten Zusammenhang zwischen Todestrieb und Sublimierung klar erkennen: der Todestrieb ‘räumt gewissermaßen den Teller frei’ und schafft so die Leere/Öffnung, in der das andere Ding erscheinen kann. Was dadurch ‘sublimiert’ wird, ist nicht die rohe direkte Befriedigung, sondern das unmögliche/reale (‘noumenale’) Ding selbst. Kurz: der freudsche Begriff der Sublimierung steht dem kantischen Erhabenen viel näher, als wir vermuten könnten: das ‘erhabene’ Objekt ist ein Objekt, das zu funktionieren beginnt als empirischer Stellvertreter des unmöglich-noumenalen Dings, ein Objekt, durch das das Ding hindurchscheint.

Stellen wir uns eine ‘natürliche’ ausgewogene Ordnung vor, einen ‘natürlichen’ Kreislauf der Triebe; dann greift ein Hindernis ein, der ‘direkte’ Weg der Triebe wird entgleist, vereitelt, und diese ‘Verzerrung/Störung’ schafft die Offenheit, durch die das unmögliche/unrepräsentierbare Ding hindurchscheinen kann. Nicht nur erscheint das übersinnliche noumenale Ding nur durch die Störung der Ordnung natürlicher Phänomene – man sollte einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass es nichts ist als diese Störung. Hier ist wiederum ein Verweis auf Einsteins Übergang von der speziellen zur allgemeinen Relativitätstheorie hilfreich: nicht so, dass das Eingreifen des Dings die natürliche ausgewogene Ordnung der Phänomene stört; vielmehr ist die Störung primordial, und das Ding ist letztlich nichts als der Schein, den diese Störung erzeugt. Und ist nicht das perfekte Beispiel der generativen Macht dieser Störung die Tatsache, dass der einzige Brief, der vollständig und effektiv sein Ziel erreichte, der nicht abgeschickte Brief ist?

Die Aufbewahrung des nicht abgeschickten Briefes ist sein frappierendes Merkmal. Weder das Schreiben noch das Abschicken ist bemerkenswert (wir fertigen oft Entwürfe von Briefen an und verwerfen sie), aber die Geste, die Botschaft aufzubewahren, die wir nicht abzuschicken beabsichtigen, ist es. Indem wir den Brief aufheben, ‘schicken’ wir ihn in gewissem Sinne doch. Wir verzichten nicht auf unsere Idee oder tun sie nicht als töricht oder unwürdig ab (wie wir es tun, wenn wir einen Brief zerreißen); im Gegenteil, wir geben ihr ein zusätzliches Vertrauensvotum. Wir sagen damit faktisch, dass unsere Idee zu kostbar ist, um sie dem Blick des tatsächlichen Adressaten anzuvertrauen, der ihren Wert vielleicht nicht erfasst, also ‘schicken’ wir sie an sein Äquivalent in der Phantasie, auf dessen verständnisvolle und würdigende Lektüre wir absolut zählen können.68

Die einzige Präzisierung, die wir hinzufügen sollten, ist, dass wir es hier nicht mit einer Phantasie zu tun haben, sondern mit der symbolischen Fiktion, dem großen Anderen als dem idealen Zeugen, in dem unsere Botschaft ihre volle Aktualisierung findet. Es ist somit gerade das Hindernis, die Unmöglichkeit, das Scheitern, den ‘tatsächlichen’ Adressaten zu erreichen, das den perfekten Zeugen erzeugt, den rein virtuellen idealen Adressaten des Briefes, der alles zur Kenntnis nimmt und seinen Sinn wahrnimmt.

Religion

Also: die Problematik des Akts konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, eine materialistische Aneignung der religiösen Tradition zu wagen. Heute, da die historisch-materialistische Analyse auf dem Rückzug ist – gewissermaßen unter Deckung praktiziert, selten bei ihrem eigentlichen Namen genannt, während der theologischen Dimension in Gestalt der ‘post-säkularen’ messianischen Wendung der Dekonstruktion neues Leben eingehaucht wird – ist die Zeit gekommen, Walter Benjamins erste These zur Geschichtsphilosophie umzukehren: ‘Die Puppe, die ‘Theologie’ heißt, soll jederzeit gewinnen. Sie kann es leicht mit jedem aufnehmen, wenn sie die Dienste des historischen Materialismus in Anspruch nimmt, der heute, wie wir wissen, verschrumpelt ist und sich verborgen halten muss.’69

Wenn Heidegger in Sein und Zeit darauf besteht, dass der Tod das einzige Ereignis ist, das kein anderes Subjekt für mich übernehmen kann – ein anderer kann nicht für mich, an meiner Stelle, sterben –, ist das offensichtliche Gegenbeispiel Christus selbst: hat nicht Christus in der letzten Geste der Interpassivität für uns die letzte passive Erfahrung des Sterbens übernommen? Christus stirbt, damit wir die Chance erhalten, ewig zu leben.… Das Problem hier ist nicht nur die Tatsache, dass wir offensichtlich nicht ewig leben (die Antwort darauf ist, dass es der Heilige Geist, die Gemeinschaft der Gläubigen, ist, die ewig lebt), sondern der subjektive Status Christi: wusste er, als er am Kreuz starb, von seiner kommenden Auferstehung? Wenn er es wusste, dann war es alles ein Spiel, die höchste göttliche Komödie, da Christus wusste, dass sein Leiden nur ein Spektakel mit garantiert gutem Ausgang war – kurz, Christus spielte Verzweiflung in seinem ‘Vater, warum hast du mich verlassen?’ Wenn er es nicht wusste, in welchem präzisen Sinn war Christus dann (auch) göttlich? Begrenzte Gott der Vater den Wissensumfang des Geistes Christi auf den eines gewöhnlichen menschlichen Bewusstseins, so dass Christus wirklich dachte, er sterbe von seinem Vater verlassen? Nahm Christus tatsächlich die Position des Sohnes aus dem großartigen Witz ein über einen Rabbi, der sich verzweifelt an Gott wendet und ihn fragt, was er mit seinem schlechten Sohn tun solle, der ihn tief enttäuscht habe; Gott antwortet ruhig: ‘Mach dasselbe wie ich: schreib ein neues Testament!’70

Der Schlüssel zu Christus wird durch die Figur Hiobs geliefert, dessen Leiden das Christi präfiguriert. Die fast unerträgliche Wirkung des Buches Hiob rührt nicht so sehr von seinem erzählerischen Rahmen her (der Teufel erscheint darin als Gesprächspartner Gottes, und die beiden führen ein ziemlich grausames Experiment durch, um Hiobs Glauben zu testen) als von seinem Endergebnis. Weit davon entfernt, irgendeine Art befriedigender Erklärung für Hiobs unverdientes Leiden zu liefern, läuft Gottes Erscheinung am Ende letztlich auf ein reines Autoritätsargument hinaus, gegründet auf eine atemberaubende Machtdemonstration: ‘Siehst du alles, was ich tun kann? Kannst du das? Wer bist du dann, dich zu beklagen?’ Was wir also bekommen, ist weder der gute Gott, der Hiob wissen lässt, dass sein Leiden nur eine Prüfung sei, bestimmt, seinen Glauben zu testen, noch ein dunkler Gott jenseits des Gesetzes, der Gott reiner Willkür, sondern vielmehr ein Gott, der wie jemand handelt, der im Moment der Impotenz – zumindest der Schwäche – gefangen ist und seinem Dilemma durch leeres Prahlen zu entkommen versucht. Was wir am Ende bekommen, ist eine Art billige Hollywood-Horrorshow mit vielen Spezialeffekten – kein Wunder, dass viele Kommentatoren dazu neigen, Hiobs Geschichte als Rest der früheren heidnischen Mythologie abzutun, der aus der Bibel hätte ausgeschlossen werden sollen.

Gegen diese Versuchung sollten wir gerade die wahre Größe Hiobs lokalisieren: entgegen der üblichen Vorstellung von Hiob ist er kein geduldiger Leidender, der seine Prüfung mit festem Glauben an Gott erträgt – im Gegenteil, er klagt die ganze Zeit, weist sein Schicksal zurück (wie Ödipus in Kolonos, der ebenfalls gewöhnlich fälschlich als geduldiges Opfer misswahrgenommen wird, das sich in sein Schicksal fügt). Als die drei theologisch argumentierenden Freunde ihn besuchen, folgt ihre Argumentation der Linie der Standardideologie-Sophistik (wenn du leidest, musst du per definitionem etwas falsch gemacht haben, da Gott gerecht ist). Ihre Argumentation beschränkt sich jedoch nicht auf die Behauptung, Hiob müsse irgendwie schuldig sein: worum es auf einer radikaleren Ebene geht, ist die Bedeutung(slosigkeit) von Hiobs Leiden. Wie Ödipus in Kolonos insistiert Hiob auf der völligen Sinnlosigkeit seines Leidens – wie der Titel von Hiob 27 sagt: ‘Hiob hält an seiner Integrität fest’. Und so liefert das Buch Hiob vielleicht den ersten exemplarischen Fall der Ideologiekritik in der Menschheitsgeschichte, indem es die grundlegenden diskursiven Strategien der Legitimierung von Leiden bloßlegt: Hiobs eigentlich ethische Würde liegt in der Weise, wie er beharrlich die Vorstellung zurückweist, sein Leiden könne irgendeinen Sinn haben, sei es Strafe für frühere Sünden oder eine Prüfung seines Glaubens, gegen die drei Theologen, die ihn mit möglichen Bedeutungen bombardieren – und überraschenderweise stellt Gott sich am Ende auf seine Seite, indem er behauptet, jedes Wort, das Hiob sprach, sei wahr gewesen, während jedes Wort, das die drei Theologen sprachen, falsch gewesen sei.

Wie Fredric Jameson hervorgehoben hat,71 ruft die kieslowskische Behauptung des Zufalls inhärent die Frage nach (oder die Suche nach) einem (verborgenen) Sinn hervor; ich bin jedoch versucht hinzuzufügen, dass Kieslowski in diesem Punkt völlig ambivalent ist: erzeugt der Zufall wirklich einfach den Glauben/die Erwartung eines tieferen Sinns, oder lautet die Lehre, dass wir, um die Wirkung des traumatischen Zufalls auszuhalten, Bedeutungen konstruieren – in ihn hineinlesen? Wahrer Materialismus besteht dann gerade darin, die Zufälligkeit ohne die Implikation des Horizonts verborgenen Sinns zu akzeptieren – der Name dieses Zufalls ist Kontingenz. Das war Hiobs Größe. Es erklärt auch, in welchem Sinn der Vater (Krzysztof) in Dekalog i trotz der vagen Ähnlichkeit seiner Position mit der Hiobs nicht ein weiterer Hiob ist: er reagiert auf sein Unglück auf genau entgegengesetzte Weise – gefangen im Teufelskreis des Zufalls, frustriert und perplex angesichts seines unabwägbaren Sinns; deshalb erscheint er in späteren Teilen des Dekalogs als immer elender und ausgezehrter, versunken in Verzweiflung und Wahnsinn. So sollten wir einerseits niemals die Kluft vergessen, die Dekalog 1 von der Standarderzählung trennt, in der ein Wissenschaftsgläubiger nach einem erschütternden Erlebnis seinen Szientismus aufgibt und Trost in der Religion findet – im Gegenteil, Krzysztof verliert gleichzeitig mit dem Verlust seines Glaubens an die Wissenschaft auch das, was er nie besaß: seinen religiösen Glauben. Andererseits jedoch bleibt er im Teufelskreis enttäuschten Glaubens stecken – er verweilt in seiner Verzweiflung, weil er unfähig ist, die völlige Sinnlosigkeit/Kontingenz des traumatischen Ereignisses zu akzeptieren. Entgegen dem Standardzugang sympathischen Mitgefühls sollten wir Dekalog 1 daher als implizite Kritik an der Endposition seiner Zentralfigur lesen.72

Und im Hinblick auf diese Behauptung der Sinnlosigkeit von Hiobs Leiden sollten wir auf der Parallele zwischen Hiob und Christus bestehen, darauf, dass Hiobs Leiden den Kreuzweg ankündigt: auch Christi Leiden ist sinnlos, kein Akt sinnvollen Austauschs. Der Unterschied ist natürlich, dass im Fall Christi die Kluft, die den verzweifelt leidenden Menschen (fob) von Gott trennt, in Gott selbst verlegt wird, als seine eigene radikale Spaltung oder vielmehr Selbstverlassenheit.73 Das bedeutet, dass wir eine weit radikalere als die übliche Lektüre von Christi ‘Vater, warum hast du mich verlassen?’ wagen sollten: da es hier nicht um die Kluft zwischen Mensch und Gott geht, sondern um die Spaltung in Gott selbst, kann die Lösung nicht darin bestehen, dass Gott in all seiner Majestät (wieder)erscheint und Christus den tieferen Sinn seines Leidens enthüllt (dass er der Unschuldige war, der geopfert wurde, um die Menschheit zu erlösen). Christi ‘Vater, warum hast du mich verlassen?’ ist keine Klage an den allmächtigen launischen Gott-Vater, dessen Wege für uns sterbliche Menschen unentzifferbar sind, sondern eine Klage, die auf einen impotenten Gott hinweist: ähnlich wie ein Kind, das, an die Macht seines Vaters glaubend, mit Entsetzen entdeckt, dass sein Vater ihm nicht helfen kann. (Um ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte aufzurufen: im Moment von Christi Kreuzigung befindet sich Gott der Vater in einer Position, die der des bosnischen Vaters etwas ähnelt, der gezwungen ist, die Gruppenvergewaltigung seiner eigenen Tochter mit anzusehen und das letzte Trauma ihres mitleidig-vorwurfsvollen Blicks zu ertragen: ‘Vater, warum hast du mich verlassen?’ …74) Kurz, mit diesem ‘Vater, warum hast du mich verlassen?’ stirbt tatsächlich Gott der Vater, indem er seine völlige Impotenz offenbart, und steht daraufhin in Gestalt des Heiligen Geistes von den Toten auf.75

Da die Funktion des obszönen Über-Ich-Zusatzes zum (göttlichen) Gesetz darin besteht, diese Impotenz des großen Anderen zu maskieren, und da das Christentum diese Impotenz enthüllt, ist es folglich die erste (und einzige) Religion, die die Spaltung zwischen dem offiziellen/öffentlichen Text und seinem obszönen initiatorischen Zusatz radikal hinter sich lässt: es gibt in ihr keine verborgene, unausgesprochene Geschichte. In genau diesem Sinn ist das Christentum die Religion der Offenbarung: alles ist in ihr offenbart; kein obszöner Über-Ich-Zusatz begleitet ihre öffentliche Botschaft. In den antiken griechischen und römischen Religionen wurde der öffentliche Text immer durch geheime Initiationsrituale und Orgien ergänzt; alle Versuche jedoch, das Christentum auf dieselbe Weise zu behandeln (Christi ‘geheime Lehre’ aufzudecken, irgendwie im Neuen Testament kodiert oder in apokryphen Evangelien auffindbar) laufen auf seine häretische Wiedereinschreibung in die heidnisch-gnostische Tradition hinaus.

Apropos Christentum als ‘offenbarte Religion’ sollten wir daher die unvermeidliche dumme Frage stellen: was wird in ihr tatsächlich offenbart? Das heißt: ist es nicht wahr, dass alle Religionen irgendein Geheimnis offenbaren, durch Propheten, die die göttliche Botschaft an die Menschen übermitteln? Selbst jene Religionen, die auf der Undurchdringlichkeit des dieu obscur insistieren, implizieren, dass es ein Geheimnis gibt, das der Offenbarung widersteht, und in den gnostischen Versionen wird dieses Geheimnis den Auserwählten in irgendeiner Initiationszeremonie offenbart. Bezeichnenderweise insistieren gnostische Wiedereinschreibungen des Christentums gerade auf der Präsenz einer solchen verborgenen Botschaft, die im offiziellen christlichen Text zu entziffern sei. Was im Christentum offenbart wird, ist also nicht nur der gesamte Inhalt, sondern, spezifischer, die Tatsache, dass es nichts gibt – kein Geheimnis – hinter ihm, das zu offenbaren wäre. Um Hegels berühmte Formel aus seiner Phänomenologie zu paraphrasieren: hinter dem Vorhang des öffentlichen Textes ist nur das, was wir dort hinlegen. Oder – noch zugespitzter, in pathetischeren Termini formuliert – was Gott offenbart, ist nicht seine verborgene Macht, sondern seine Impotenz als solche.

Wo steht dann das Judentum in Bezug auf diese Opposition? Ist nicht Gottes letzte Erscheinung in der Hiob-Geschichte, in der er mit den Wundern und Monstern prahlt, die er erzeugt habe, gerade ein solches obszönes phantasmatisches Spektakel, bestimmt, diese Impotenz zu überdecken? Hier sind die Dinge jedoch komplexer. In seiner Diskussion der freudschen Figur Moses führt Eric Santner die entscheidende Unterscheidung ein zwischen symbolischer Geschichte (der Menge expliziter mythischer Erzählungen und ideologisch-ethischer Vorschriften, die die Tradition einer Gemeinschaft konstituieren – was Hegel ihre ‘Sittlichkeit’ genannt hätte) und ihrem obszönen Anderen, der unanerkennbaren ‘spektralen’, phantasmatischen Geheimgeschichte, die die explizite symbolische Tradition tatsächlich trägt, aber verwehrt bleiben muss, wenn sie operativ sein soll. Was Freud in Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu rekonstituieren versucht (die Geschichte vom Mord an Moses usw.), ist eine solche spektrale Geschichte, die den Raum der jüdischen religiösen Tradition heimsucht. Man wird nicht einfach dadurch ein volles Mitglied einer Gemeinschaft, dass man sich mit ihrer expliziten symbolischen Tradition identifiziert, sondern nur, wenn man auch die spektrale Dimension übernimmt, die diese Tradition trägt, die untoten Gespenster, die die Lebenden heimsuchen, die geheime Geschichte traumatischer Phantasien, die ‘zwischen den Zeilen’ übertragen wird, durch die Lücken und Verzerrungen der expliziten symbolischen Tradition – wie Fernando Pessoa es ausdrückte: ‘Jeder Tote ist wahrscheinlich irgendwo noch lebendig.’76 Die ‘hartnäckige Bindung’ des Judentums (Judith Buders Ausdruck) an die nicht anerkannte gewaltsame Gründungsgeste, die die öffentliche Rechtsordnung als ihr spektrales Supplement heimsucht, ermöglichte es den Juden, tausende Jahre ohne Heimat oder gemeinsame institutionelle Tradition zu bestehen und zu überleben: sie weigerten sich, ihr Gespenst aufzugeben, die Verbindung zu ihrer geheimen, verleugneten Tradition zu kappen. Das Paradox des Judentums ist, dass es Treue zum gewaltsamen Gründungsereignis gerade dadurch aufrechterhält, dass es es nicht bekennt, nicht symbolisiert: dieser ‘verdrängte’ Status des Ereignisses ist es, der dem Judentum seine beispiellose Vitalität verleiht.

Heißt das jedoch, dass die Spaltung zwischen den ‘offiziellen’ Texten des Gesetzes, mit ihrem abstrakten legalen asexuellen Charakter (Tora, das Alte Testament; Mischna, die Formulierung der Gesetze; Talmud, der Kommentar zu den Gesetzen, alle von ihnen supposed to be Teil der göttlichen Offenbarung am Sinai), und der Kabbala (der Menge tief sexualisierter dunkler Einsichten, die geheim zu halten sind – man erinnere sich an die berüchtigten Passagen über Vaginalsäfte) innerhalb des Judentums die Spannung zwischen dem reinen symbolischen Gesetz und seinem Über-Ich-Zusatz, dem geheimen initiatorischen Wissen, reproduziert? Hier muss eine entscheidende Trennlinie gezogen werden zwischen jüdischer Treue zu den verleugneten Gespenstern und der heidnischen obszönen Initiationsweisheit, die das öffentliche Ritual begleitet: die verleugnete jüdische spektrale Erzählung erzählt nicht die obszöne Geschichte von Gottes undurchdringlicher Allmacht, sondern ihr genaues Gegenteil: die Geschichte seiner Impotenz, verdeckt durch die standardmäßigen heidnischen obszönen Zusätze. Das Geheimnis, dem die Juden treu bleiben, ist der Horror göttlicher Impotenz – und dieses Geheimnis ist es, das im Christentum ‘offenbart’ wird. Deshalb kann das Christentum nur nach dem Judentum auftreten: es offenbart den Horror, dem die Juden zuerst begegneten. Es ist daher nur dadurch, dass wir diese Trennlinie zwischen Heidentum und Judentum berücksichtigen, dass wir den christlichen Durchbruch selbst richtig begreifen können.

Das bedeutet, dass das Judentum, indem es uns zwingt, dem Abgrund des Begehrens des Anderen (in Gestalt des undurchdringlichen Gottes) ins Auge zu sehen und sich weigert, diesen Abgrund mit einem bestimmten phantasmatischen Szenario (artikuliert im obszönen Initiationsmythos) zu überdecken, uns zum ersten Mal mit dem Paradox menschlicher Freiheit konfrontiert.77 Es gibt keine Freiheit außerhalb der traumatischen Begegnung mit der Opazität des Begehrens des Anderen: Freiheit bedeutet nicht, dass ich einfach das Begehren des Anderen loswerde – ich werde gewissermaßen in meine Freiheit geworfen, wenn ich dieser Opazität als solcher gegenübertrete, entkleidet des phantasmatischen Deckmantels, der mir sagt, was der Andere von mir will. In dieser schwierigen, angstvollen Lage, wenn ich weiß, dass der Andere etwas von mir will, ohne zu wissen, was dieses Begehren ist, werde ich auf mich selbst zurückgeworfen, gezwungen, das Risiko auf mich zu nehmen, die Koordinaten meines Begehrens frei zu bestimmen.78

Wenn wir es mit einem erotisch-religiösen Text wie dem Hohelied zu tun haben, sind Kommentatoren eifrig bemüht, uns zu warnen, dass seine extreme und explizite erotische Bildlichkeit allegorisch zu lesen sei, als Metapher – wenn der Liebende die Lippen der Frau küsst, ‘bedeutet’ das ‘eigentlich’, dass er den Juden die Zehn Gebote mitteilt, und so weiter. Kurz, was als Beschreibung einer ‘rein menschlichen’ sexuellen Begegnung erscheint, ist eine symbolische Wiedergabe der geistigen Gemeinschaft zwischen Gott und dem jüdischen Volk. Die scharfsinnigsten Bibelwissenschaftler sind jedoch selbst die ersten, die die Grenzen einer solchen metaphorischen Lektüre betonen, die den beschriebenen sinnlichen Inhalt als ‘nur ein Gleichnis’ abtut: gerade eine solche ‘symbolische’ Lektüre ist ‘rein menschlich’, das heißt, sie verharrt in der äußeren Opposition zwischen dem Symbol und seiner Bedeutung und heftet unbeholfen eine ‘tiefere Bedeutung’ an den explosiven sexuellen Inhalt.

Die wörtliche Lektüre (sagen wir, des Hohelieds als nahezu pornographischer Erotik) und die allegorische Lektüre sind zwei Seiten derselben Operation: was sie teilen, ist die gemeinsame Voraussetzung, dass ‘reale’ Sexualität ‘rein menschlich’ sei, ohne erkennbare göttliche Dimension. (Natürlich stellt sich hier die Frage: wenn Sexualität nur eine Metapher ist, warum brauchen wir diesen problematischen Umweg überhaupt? Warum offenbaren wir den wahren geistigen Inhalt nicht direkt? Weil dieser Inhalt aufgrund der Begrenzungen unserer sinnlichen endlichen Natur nicht direkt zugänglich ist?) Was aber, wenn das Hohelied nicht als Allegorie, sondern, viel wörtlicher, als Beschreibung rein sinnlichen erotischen Spiels zu lesen ist? Was, wenn die ‘tiefere’ geistige Dimension bereits in der leidenschaftlichen sexuellen Interaktion selbst wirksam ist? So besteht die wahre Aufgabe nicht darin, Sexualität auf bloße Allegorie zu reduzieren, sondern die inhärente ‘geistige’ Dimension freizulegen, die menschliche Sexualität für immer von tierischer Paarung trennt. Ist es jedoch möglich, diesen Schritt von der Allegorie zur vollen Identität im Judentum zu vollziehen? Ist das nicht, worum es im Christentum mit seiner Behauptung der direkten Identität von Gott und Mensch geht?

Es gibt ein weiteres Problem mit dem Hohelied. Die Standardverteidigung eines ‘psychoanalytischen Judentums’ gegen das Christentum umfasst zwei Behauptungen: erstens begegnen wir nur im Judentum der Angst des traumatischen Realen des Gesetzes, des Abgrunds des Begehrens des Anderen (‘Was willst du?’); das Christentum überdeckt diesen Abgrund mit Liebe, das heißt mit der imaginären Versöhnung zwischen Gott und Menschheit, in der die angstauslösende Begegnung mit dem Realen gemildert wird: nun wissen wir, was der Andere von uns will – Gott liebt uns, und Christi Opfer ist der letzte Beweis dafür.… Zweitens: zeigen nicht Texte wie das Hohelied, dass das Judentum, weit davon entfernt, (nur) eine Religion der Angst zu sein, auch – und vor allem – die Religion der Liebe ist, einer noch intensiveren Liebe als das Christentum? Ist nicht der Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk ein höchster Akt der Liebe? Wie wir soeben angedeutet haben, bleibt diese jüdische Liebe jedoch ‘metaphorisch’; als solche ist sie selbst die imaginäre Versöhnung zwischen Gott und Menschheit, in der die angstauslösende Begegnung mit dem Realen gemildert wird. Oder – direkt und brutal formuliert – ist nicht das Hohelied Ideologie in ihrer reinsten Form, insofern wir Ideologie begreifen als die imaginäre Milderung eines traumatischen Realen, als ‘das Reale der göttlichen Begegnung mit menschlichem Gesicht’?

Der Akt, erneut

Der gleiche ethische Kampf, die Sinnlosigkeit der Katastrophe aufrechtzuerhalten, ist das Thema von Atom Egoyans Meisterwerk The Sweet Hereafter, wohl dem Film über die Wirkung eines Traumas auf eine Gemeinschaft. Mitchell Stephens, ein Anwalt, trifft im winterlichen Weiler San Dent ein, um als Klienten die Eltern der Kinder zu gewinnen, die starben, als ihr Schulbus in einen eisbedeckten See stürzte. Sein Motto lautet: ‘Es gibt keine Unfälle’ – es gibt keine Lücken in der kausalen Kette der Verantwortung; es muss immer jemanden geben, der schuldig ist. (Wie wir bald erfahren, tut er das nicht aus professioneller Habsucht. Stephens’ Fixierung auf die vollständige Kausalkette ist vielmehr seine verzweifelte Strategie, mit seinem eigenen privaten Trauma fertigzuwerden: die Verantwortlichkeit in Bezug auf seine eigene Tochter Zoe zu ordnen, eine Junkie, die ihn verachtet, obwohl sie ihn wiederholt anruft und Geld verlangt; er besteht darauf, dass alles eine Ursache haben müsse, um der unerklärlichen Kluft entgegenzuwirken, die ihn von Zoe trennt.) Nachdem Stephens Dolores Driscoll, die Busfahrerin, befragt hat, die sagt, der Unfall sei ein Zufall gewesen, besucht er die Familien der toten Kinder, und einige von ihnen schließen sich ihm an, um eine Klage einzureichen. Unter ihnen sind die Eltern von Nicole Burnell, einer Teenagerin, die den Crash als Paraplegikerin überlebte, sich aber an nichts erinnert. Stephens’ Fall hängt davon ab zu beweisen, dass die Busgesellschaft oder der Schulrat schuld war, nicht Dolores’ Fahrweise.

Nicole, seit dem Unfall entfremdet und zynisch, sieht ihre Eltern der Gier und Stephens’ dunklem Einfluss erliegen. Ihr Vater hat sie seit Jahren missbraucht; wo sie einst an seine Liebe glaubte, sieht sie nun nur noch Ausbeutung. Bei der Untersuchung beschließt sie zu lügen und auszusagen, Dolores sei zu schnell gefahren – Stephens’ Fall ist damit ruiniert. Während Nicole nun für immer von der Gemeinschaft isoliert ist, wird sie von nun an in der Lage sein, ihre eigene Zukunft zu steuern. In der letzten Szene des Films, die zwei Jahre später spielt, trifft Dolores, die nun an einem nahegelegenen Flughafen einen Minibus fährt, Stephens auf seinem Weg, um seine Tochter erneut zu retten; sie erkennen einander, ziehen es aber vor, nicht zu sprechen. In den letzten Zeilen begleitet Nicoles Voice-over diese Begegnung zwischen Stephens und Dolores: ‘Wenn ihr euch seht, fast zwei Jahre später, frage ich mich, ob ihr etwas merkt: Ich frage mich, ob ihr merkt, dass wir alle – Dolores, ich, die Kinder, die überlebt haben, die Kinder, die es nicht haben – dass wir jetzt alle Bürger einer anderen Stadt sind. Einer Stadt von Menschen, die im süßen Jenseits leben.’

Auf den ersten Blick wirkt Stephens wie der Protagonist des Films: die Geschichte beginnt mit seiner Ankunft in der Stadt, er ist am Höhepunkt beteiligt, und ein großer Teil der ersten Hälfte wird aus seiner Perspektive gesehen. Es ist Stephens’ Leidenschaft, die die Klage antreibt, die dramatische Wirbelsäule der Geschichte – daher scheint es, dies sei eine Standard-Hollywood-Erzählung, in der die größere Tragödie (der Busunfall) lediglich den Hintergrund für den eigentlichen Fokus bildet, das Zurechtkommen des Protagonisten mit seinem eigenen Trauma. Doch zur Hälfte durchkreuzt Egoyan unsere Erwartungen mit einer großen Verschiebung des Blickpunkts: als Nicole das Krankenhaus als Paraplegikerin verlässt, wird die Geschichte zu ihrer, und Stephens wird als ihr Antagonist neu positioniert.

Ist Nicoles Lüge also ein Akt der Rettung der Gemeinschaft, der es den Einwohnern ermöglicht, der schmerzhaften juristischen Untersuchung zu entkommen, die ihr Leben auseinandergerissen hätte? Ist es nicht so, dass die Gemeinschaft durch sie sich selbst zu entlasten vermag – das heißt, das zweite Trauma der Symbolisierung des Unfalls zu vermeiden – und in die phantasmatische Seligkeit des ‘süßen Jenseits’ einzutreten, in der, durch einen unausgesprochenen Pakt unter ihnen, die Katastrophe stillschweigend ignoriert wird? Ist ihre Lüge in diesem Sinn ein Akt im strengen Sinn des Begriffs: eine ‘unmoralische’ Lüge, die dem unbedingten Ruf der Pflicht entspricht und der Gemeinschaft ermöglicht, von vorn zu beginnen?79 Ist das nicht die grundlegende Lehre des Films: dass unsere soziale Realität als solche ein ‘süßes Jenseits’ ist, gegründet auf einer konstitutiven Lüge? Dieses junge inzestuöse Mädchen ermöglicht mit ihrer Lüge einer Gemeinschaft, sich neu zu konstituieren – wir alle leben in einem ‘süßen Jenseits’, soziale Realität selbst ist ein ‘süßes Jenseits’, gegründet auf der Verleugnung irgendeines Traumas. Die Bewohner, die als Gemeinschaft überleben, verbunden durch ein geheimes Band verleugneten Wissens, ihren eigenen geheimen Regeln gehorchend, bilden nicht das Modell einer pathologischen Gemeinschaft, sondern gerade das (nicht anerkannte) Modell unserer ‘normalen’ sozialen Realität – wie in Freuds Traum von Irmas Injektion, in dem soziale Realität (das Spektakel der drei Arzt-Freunde, die widersprüchliche Ausreden für das Scheitern von Freuds Behandlung Irmas vorschlagen) als das ‘süße Jenseits’ hervortritt, das seinem traumatisierenden Blick tief in Irmas Kehle folgt.

Eine solche Lektüre vereinfacht jedoch die Textur des Films. Unterbricht der traumatische Unfall das idyllische Leben dieser Kleinstadtgemeinschaft? Es scheint, dass das Gegenteil der Fall ist: vor dem katastrophalen Unfall war die Gemeinschaft alles andere als idyllisch – ihre Mitglieder frönten Ehebruch, Inzest und so weiter, so dass der Busunfall, indem er die Gewalt in einem äußeren/kontingenten Trauma lokalisiert, indem er sie auf diesen Unfall verschiebt, die Gemeinschaft rückwirkend edenisch erscheinen lässt.… Doch auch diese Lektüre verfehlt den Punkt. Der Schlüsselhinweis auf das Gemeinschaftsleben ergibt sich aus der Weise, wie der Tochter/Vater-Inzest (der vor dem Unfall stattfand) präsentiert wird: seltsamerweise wird diese äußerste Übertretung als völlig nicht-traumatisch wiedergegeben, als Teil alltäglicher intimer Beziehungen. Wir sind in einer Gemeinschaft, in der Inzest ‘normal’ ist.

Vielleicht erlaubt uns dies dann, eine Lévi-Strauss’sche Lektüre des Films zu wagen: was, wenn seine strukturierende Opposition dieselbe ist, die Lévi-Strauss in seiner Analyse des Ödipus-Mythos identifiziert:80 die Opposition zwischen Überbewertung und Unterbewertung der Verwandtschaftsbande – konkret: zwischen Inzest und dem Verlust von Kindern in einem Unfall (oder, im Fall des Anwalts Stephens, dem Verlust der Bindung zu einer Junkie-Tochter)? Die zentrale Einsicht der Geschichte betrifft die Verbindung zwischen den beiden Gegensätzen: es ist, als ob Eltern, da sie so stark an ihren Kindern hängen, gemäß der sprichwörtlichen zwanghaften Strategie lieber präventiv zuschlagen – das heißt, den Verlust des Kindes selbst inszenieren, um das unerträgliche Warten auf den Moment zu vermeiden, in dem das Kind, erwachsen geworden, sie verlassen wird. Diese Vorstellung wird von Stephens deutlich ausgesprochen in einer von Egoyan nicht verwendeten Handlungsline, wenn er über seine verleugnete Entscheidung nachsinnt, seine junge Tochter in einem Laden zurückzulassen: ‘Ich muss gewusst haben, dass ich, wenn mein Kind mir tatsächlich verloren gehen sollte, all meine Kraft brauchen würde, nur um diese Tatsache zu überleben, also hatte ich im Voraus beschlossen, nicht irgendeine meiner Kraft damit zu vergeuden, zu retten, was schon verloren war.’81

Der Hintergrundbezug des Films ist natürlich Robert Brownings berühmtes Gedicht The Pied Piper of Hamelin, das Nicole wiederholt zitiert, wobei das längste Zitat dann kommt, wenn ihr Vater sie in die Scheune zum Sex führt. Und das letzte proto-hegelsche Paradox (Identität der Gegensätze) ist, dass es Stephens selbst ist, der wütende Außenseiter, der im Film der wahre Rattenfänger ist. Das heißt: die Weise, wie die Gemeinschaft den Verlust überlebte, bestand darin, das tote Kind durch das geträumte zu ersetzen: ‘Es ist das andere Kind, das geträumte Baby, das erinnerte, das wir für ein paar Momente zu existieren glauben. Für diese wenigen Momente ist das erste Kind, das wirkliche Baby, das tote, nicht fort; es war einfach nie.’82 Wäre die von Stephens betriebene Prozessführung erfolgreich gewesen, hätte sie den Zusammenbruch dieser fragilen Lösung verursacht: das befriedende Gespenst des geträumten Kindes wäre zerfallen, die Gemeinschaft wäre mit dem Verlust als solchem konfrontiert worden, mit der Tatsache, dass ihre Kinder existierten, jetzt aber nicht mehr. Wenn Stephens also der Rattenfänger des Films ist, dann ist seine Drohung, nicht die realen Kinder zu rauben, sondern die geträumten, und so die Gemeinschaft nicht nur mit dem Verlust als solchem zu konfrontieren, sondern mit der inhärenten Grausamkeit ihrer Lösung, die die Verleugnung der Existenz der verlorenen realen Kinder einschließt. Ist das also der Grund, warum Nicole log? In einem echten Geniestreich schrieb Egoyan eine zusätzliche Strophe im Browning-Stil, die Nicole über einer Nahaufnahme des Mundes ihres Vaters rezitiert, nachdem sie Dolores fälschlich belastet hat:

Und warum ich log, das wusste nur er

Doch aus meiner Lüge wurde dies wahr

Jene Lippen, aus denen er seine Weise zog

Waren gefroren wie der Wintermond.

Diese gefrorenen Lippen stehen natürlich nicht nur für die toten Kinder, sondern auch für Nicoles Zurückweisung weiterer Inzestverstrickung: nur ihr Vater wusste die Wahrheit darüber, warum sie bei der Anhörung log – die Wahrheit ihres Nein! zu ihm. Und dieses Nein! ist zugleich ein Nein! zur Gemeinschaft [Gemeinschaft] im Gegensatz zur Gesellschaft [Gesellschaft].

Wann gehört man zu einer Gemeinschaft? Der Unterschied betrifft die Unterwelt ungeschriebener obszöner Regeln, die die ‘inhärente Übertretung’ der Gemeinschaft regulieren, die Weise, wie wir ihre expliziten Regeln verletzen dürfen/sollen. Deshalb wird das Subjekt, das die expliziten Regeln einer Gemeinschaft strikt befolgt, von ihren Mitgliedern niemals als ‘eine:r von uns’ akzeptiert werden: er oder sie nimmt nicht an den transgressiven Ritualen teil, die diese Gemeinschaft tatsächlich zusammenhalten. Und Gesellschaft, im Gegensatz zur Gemeinschaft, ist ein Kollektiv, das auf dieses Set ungeschriebener Regeln verzichten kann – da dies unmöglich ist, gibt es keine Gesellschaft ohne Gemeinschaft. Hier liegen Theorien falsch, die den subversiven Charakter von Mimikry vertreten; nach diesen Theorien besteht die eigentlich subversive Haltung des Anderen – sagen wir, eines kolonisierten Subjekts, das unter der Dominanz der kolonialisierenden Kultur lebt – darin, den dominanten Diskurs nachzuahmen, aber auf Distanz, so dass das, was er oder sie tut und sagt, wie das ist, was die Kolonisatoren selbst tun … fast, mit einer unergründlichen Differenz, die seine oder ihre Andersheit umso greifbarer macht. Ich bin versucht, diese These umzudrehen: es ist der Fremde, der die Regeln der dominanten Kultur, in die er oder sie eindringen und mit der er oder sie sich identifizieren will, treu befolgt, der dazu verurteilt ist, für immer Außenseiter:in zu bleiben, weil er oder sie es versäumt, die Selbstdistanz der dominanten Kultur zu praktizieren, an ihr teilzunehmen, die ungeschriebenen Regeln, die uns sagen, wie und wann wir die expliziten Regeln dieser Kultur verletzen sollen. Wir sind ‘drin’, in eine Kultur integriert, von Mitgliedern als ‘eine:r von uns’ wahrgenommen, nur wenn es uns gelingt, diese unergründliche Distanz zu den symbolischen Regeln zu praktizieren – letztlich ist es nur diese Distanz, die unsere Identität, unser Zugehörigsein zur betreffenden Kultur, verkündet.83

Und das Subjekt erreicht das Niveau einer wahrhaft ethischen Haltung erst dann, wenn es über diese Dualität der öffentlichen Regeln ebenso wie ihres Über-Ich-Schattens hinausgeht; in John Irvings The Cider House Rules werden diese drei Ebenen der Ethik exemplarisch inszeniert. Zuerst haben wir gerade Moral (das Set expliziter Regeln, denen wir zu folgen wählen – Homer Wells, der Held des Romans, wählt, niemals eine Abtreibung vorzunehmen); dann erleben wir ihre obszöne Unterseite (das ist, was im ‘cider house’ geschieht, wo Homer, in saisonaler Arbeit dort, lernt, dass explizite Regeln durch obszönere implizite Regeln gestützt werden, mit denen man sich besser nicht anlegt); schließlich, wenn er auf Grundlage dieser Erfahrung die Notwendigkeit anerkennt, die expliziten moralischen Regeln zu brechen (er führt eine Abtreibung durch), erreicht er die Ebene der Ethik im eigentlichen Sinn. Gilt dasselbe nicht für Nicole in The Sweet Hereafter? Ist Nicoles Akt nicht die Geste, ihre Distanz gegenüber beiden Polen zu behaupten, gegenüber der weiteren Gesellschaft ebenso wie gegenüber dem ‘süßen Jenseits’ der traumatisierten Gemeinschaft und ihren geheimen Regeln?

Man könnte diese Blockade auch über Lacans Begriff der spezifisch symbolischen Weise der Täuschung angehen: Ideologie ‘betrügt’ genau dadurch, dass sie uns wissen lässt, dass ihre Propositionen (etwa zu universellen Menschenrechten) nicht a la lettre zu lesen sind, sondern vor dem Hintergrund eines Sets ungeschriebener Regeln. Manchmal besteht die wirksamste anti-ideologische Subversion des offiziellen Menschenrechtsdiskurses darin, ihn in übermäßig ‘wörtlicher’ Weise zu lesen, das Set zugrunde liegender ungeschriebener Regeln zu missachten, so dass eine Vertreter:in der offiziellen Ideologie uns dieselbe Frage entgegenwerfen kann wie der unglückliche Jude aus der freudschen Geschichte: ‘Warum sagst du mir, wir sollten die Menschenrechte respektieren, wenn du in Wirklichkeit willst, dass wir die Menschenrechte respektieren?’

Wenn wir mit einer solchen erzwungenen Wahl konfrontiert sind (‘Du bist frei zu wählen – unter der Bedingung, dass du die richtige Wahl triffst!’), bleibt uns dann als einzige subversive Geste, das ungeschriebene Verbot öffentlich anzukündigen und so das zu stören, was Hegel die ‘wesentliche Erscheinung’ freier Wahl genannt hätte? Die Situation ist tatsächlich komplexer: manchmal ist die höchste Subversion, sich ironisch auf die erzwungene Wahl zu beziehen, als wäre sie eine tatsächliche. Aus meiner Jugend erinnere ich mich an den Streich, den eine Studentenzeitung den herrschenden Kommunisten spielte. Die Wahlen in Jugoslawien waren so ziemlich wie in anderen kommunistischen Ländern: die Partei (oder vielmehr ihre Dach-Massenorganisation, unbeholfen Sozialistischer Bund der Werktätigen genannt) erhielt regelmäßig (vielleicht nicht die standardmäßigen stalinistischen 99.9 Prozent der Stimmen, aber) irgendwo um die 90 Prozent. So erschien am Abend des Wahltags eine Sonderausgabe dieser Studentenzeitung mit extra-großen ‘letzten Nachrichten’: ‘Obwohl die Endergebnisse noch nicht bekannt sind, haben unsere Reporter aus vertraulichen Quellen nahe der Wahlkommission erfahren, dass der Sozialistische Bund einem weiteren Wahlsieg entgegengesht!’84 Ich muss kaum hinzufügen, dass die Zeitung sofort konfisziert und das Redaktionskomitee entlassen wurde. Was ging hier schief? Als der Chefredakteur gegen die Konfiskation protestierte, fragte er die Partei-Apparatschiks naiv: ‘Was ist das Problem? Unterstellst du, dass die Wahlen eine Farce waren, mit im Voraus bekannten Ergebnissen?’ Interessanterweise war die Antwort der Apparatschiks ausweichend aggressiv und spielte direkt auf den unausgesprochenen sozialen Pakt an: ‘Genug von deinen Witzen! Du weißt sehr genau, was du getan hast!’

Es ist also nicht nur so, dass gegen die Realität der erzwungenen Wahl die Erscheinung freier Wahl aufrechterhalten werden sollte – diese Erscheinung selbst sollte auch nicht zu laut betont werden, da sie durch ihren offensichtlichen Zusammenstoß mit dem allgemeinen Wissen, dass die Wahlen nicht wirklich frei sind, unvermeidlich einen komischen Effekt erzeugt.… Folglich, da beide Versionen verboten sind (du kannst das Verbot nicht direkt artikulieren, aber du kannst die Erscheinung freier Wahl selbst auch nicht direkt behaupten), bleibt als einzige Position, die Sache zu ignorieren, als hätten wir es mit einem peinlichen öffentlichen Geheimnis zu tun: ‘Wir alle wissen, dass der Schein freier Wahl eine Fälschung ist, also sagen wir nicht zu viel darüber – machen wir einfach weiter mit dem Geschäft!’

In einer klassischen Zeile aus einer Hollywood-Screwball-Komödie fragt das Mädchen ihren Freund: ‘Willst du mich heiraten?’ ‘Nein!’ ‘Hör auf, dem Thema auszuweichen! Gib mir eine klare Antwort!’ In gewisser Weise ist die zugrunde liegende Logik hier korrekt: die einzige akzeptable klare Antwort für das Mädchen ist ‘Ja!’, also zählt alles andere, einschließlich eines klaren ‘Nein!’, als Ausweichen. Diese zugrunde liegende Logik ist natürlich wieder die der erzwungenen Wahl: du bist frei zu entscheiden, unter der Bedingung, dass du die richtige Wahl triffst. Würde nicht ein Priester sich auf dasselbe Paradox stützen in einem Streit mit einem skeptischen Laien? ‘Glaubst du an Gott?’ ‘Nein.’ ‘Hör auf, dem Thema auszuweichen! Gib mir eine klare Antwort!’ Wieder ist in den Augen des Priesters die einzige klare Antwort, seinen Glauben an Gott zu bejahen: weit davon entfernt, für eine klare symmetrische Haltung zu stehen, ist die atheistische Verneinung des Glaubens ein Versuch, der Frage der göttlichen Begegnung auszuweichen.

Ideologie

Das bedeutet, dass in unseren angeblich ‘permissiven’ Gesellschaften ideologische Zensur lebendig und wohlauf ist, wenn auch in verschobener Weise. In den guten alten Tagen der Zensur des Hays Office bestand das sprichwörtliche Hollywood-Verfahren darin, das traurige Ende der literarischen oder dramatischen Vorlage eines Films in das obligatorische aufmunternde Happy End zu verwandeln. Mit Ridley Scotts Hannibal schließt sich der Kreis gewissermaßen: es ist Thomas Harris’ Roman, der damit endet, dass Hannibal Lecter und die FBI-Agentin Clarice Starling als Paar in Buenos Aires zusammenleben, während der Film dieses Ende zensierte und sich für ein akzeptableres entschied. Eine solche seltsame Umkehr des Standardverfahrens verlangt nach näherer Analyse: sie zeugt von extrem starken ideologischen Investitionen.85 Warum ist es also geschehen? Als Ridley Scott zustimmte, Hannibal zu inszenieren, trat er sofort an Harris heran:

‘Das Ende war eine sehr heikle Frage, also war das Erste, was ich tat, Tom Harris anzurufen. Ich sagte, ich glaube nicht so recht daran. Plötzlich war es dieser Quantensprung bei dieser Figur, von der ich dachte, sie sei unbestechlich und unveränderlich. Das konnte nicht sein. Diese Qualitäten waren das, was sie für Hannibal am faszinierendsten machte. Hätte sie zu ihm Ja gesagt, hätte er sie getötet.’86

Was also ist so unzulässig an diesem ‘bizarrsten Happy End in der Geschichte populärer Fiktion’? Ist es wirklich nur Psychologie – nur die Tatsache, dass ‘diese Auflösung völlig out of character für Clarice’ ist?

Die richtige Antwort ist vielmehr das Gegenteil: in Hannibal finden wir eine direkte Realisierung dessen, was Freud die ‘Grundphantasie’ nannte: die innerste Szene des Begehrens des Subjekts, die nicht direkt eingestanden werden kann. Natürlich ist Hannibal ein Objekt intensiver libidinöser Investition, einer wahrhaft leidenschaftlichen Bindung. In The Silence of the Lambs lieben wir ihn (und, im Paar Hannibal und Clarice, steht Clarice für dieses ‘wir’, den gewöhnlichen Zuschauer, den Identifikationspunkt); er ist ein absoluter Charmeur. Hannibal (der Roman) scheitert genau deshalb, weil er am Ende diese Phantasie, die implizit bleiben muss, direkt realisiert – daher ist das Ergebnis ‘psychologisch unüberzeugend’ nicht, weil es eine Fälschung wäre, sondern weil es unserem phantasmatischen Kern zu nahe kommt. Ein Mädchen, das von der charmant satanischen Vaterfigur verschlungen wird – ist das nicht die Mutter aller Happy Ends, wie sie es im Irak formuliert hätten? Die letzte Ursache von Hannibals Scheitern ist daher, dass es das Verbot der Grundphantasie verletzte, das das filmische Universum psychologisch ‘tangibel’ macht.87 Das ist die Wahrheit von Adornos aperçu: ‘Vielleicht könnte ein Film, der dem Hays-Office-Code strikt gehorcht, als großes Kunstwerk gelingen, aber nicht in einer Welt, in der es ein Hays Office gibt.’88 Die Grundphantasie ist nicht die letzte verborgene Wahrheit, sondern die letzte gründende Lüge; deshalb zeugt eine Distanz zur Phantasie, eine Weigerung, sie direkt zu inszenieren, nicht einfach von einer Kraft der Verdrängung, sondern ermöglicht uns auch, die Falschheit dieser Phantasie zu artikulieren.

Dieser obszöne Vater ist natürlich das genaue Gegenteil des Namens-des-Vaters, des Agenten des symbolischen Verbots. Was also ist der Name-des-Vaters? Wenden wir uns Krzysztof Kieslowskis Dekalog 4 zu, der Geschichte von Anka, deren Mutter tot ist und die mit Michal, ihrem Vater, lebt. Sie kommen gut miteinander aus, eher Kolleg:innen als Vater und Tochter. Während Michal auf einer Auslandsreise ist, findet Anka in seinem Zimmer einen Umschlag mit der Aufschrift: ‘Nicht zu öffnen bis nach meinem Tod’. Darin ist ein weiterer, an sie adressierter Umschlag, in der Handschrift ihrer Mutter. Statt ihn zu öffnen, fälscht Anka einen neuen Brief, in dem ihre Mutter offenbart, dass Michal nicht ihr wirklicher Vater sei. Michal kehrt zurück, Anka zeigt ihm diesen gefälschten Brief und bietet sich ihm an, da sie nicht seine Tochter sei. Michal weist ihre sexuellen Annäherungen sanft, aber bestimmt zurück und bricht zu einer weiteren Reise auf. Anka läuft ihm nach und gesteht ihre Fälschung – der wirkliche Brief der Mutter ist noch ungeöffnet. Die beiden kehren nach Hause zurück und verbrennen den Brief, da sie es vorziehen, die Wahrheit nicht zu wissen. Hier erreicht der (Brief der toten Mutter) definitiv seinen Adressaten: nachdem Anka und Michal ihn verbrannt haben, bleibt das Einzige, was in Ankas Händen bleibt, der Anfang des Briefes, die Worte: ‘Vater ist nicht.…’ Ich würde darauf bestehen, dass diese Botschaft – wohl die eigentliche Botschaft der Mutter – als vollständig zu betrachten ist, nicht als verstümmelt: die symbolische Funktion des Vaters besteht darin, als ein Nein zu fungieren, als Instanz des Verbots – das heißt, der ‘reale’ Vater gibt letztlich einfach dieser rein symbolischen Funktion Körper, weshalb Lacan mit der Homonymie zwischen le Nom-du-Père (der Name-des-Vaters) und le Non-du-Père (das Nein-des-Vaters) spielt. Und die Leere dieses Nein ruft natürlich Perversionen hervor (père-versions, wie Lacan es schreibt: ‘Versionen des Vaters’), das heißt perverse Phantasien darüber, was die Person, die Träger dieses Nein ist, ‘wirklich will’, über den obszönen Genuss, der dieses Nein trägt.89

In derselben Linie lautet die wahre Über-Ich-Injunktion – im Gegensatz zu den präzisen Verboten des Gesetzes (‘Du sollst nicht töten, stehlen…’) – einfach das abgeschnittene ‘Du sollst nicht!’ – was tun? Diese Lücke öffnet den Abgrund des Über-Ichs: du selbst sollst wissen oder erraten, was du nicht tun sollst, so dass du in die unmögliche Position versetzt wirst, immer und a priori unter dem Verdacht zu stehen, irgendein (unbekanntes) Verbot zu verletzen. Genauer: das Über-Ich spaltet jedes bestimmte Gebot in zwei komplementäre, wenn auch asymmetrische, Teile – ‘Du sollst nicht töten!’ etwa wird gespalten in das formal-unbestimmte ‘Du sollst nicht!’ und die obszöne direkte Injunktion ‘Töte!’ Der stille Dialog, der diese Operation trägt, lautet also: ‘Du sollst nicht!’ ‘Ich soll nicht – was? Ich habe keine Ahnung, was von mir verlangt wird. Che vuoi?’ ‘Du sollst nicht!’ ‘Das macht mich verrückt, unter Druck zu stehen, etwas zu tun, ohne zu wissen was, mich schuldig zu fühlen, ohne zu wissen wofür, also explodiere ich einfach und fange an zu töten!’ Töten ist somit die verzweifelte Antwort auf das undurchdringliche abstrakte Über-Ich-Verbot. Und dieses Paradox liefert die Koordinaten der Hannibal-Figur: seine mörderische Raserei kann nur vor dem Hintergrund eines abstrakten ‘Du sollst nicht…’ hervortreten.90

Der exemplarische Fall einer solchen obszönen Injunktion ist die New-Age-Injunktion, die Unschuld/Idiotie seines wahren Selbst (wieder)zuentdecken. Darin liegt die pornographische Obszönität von Lars von Triers The Idiots: weder in seiner Einbeziehung von ‘tatsächlichem Sex’ in die Erzählung, noch in seiner Verwischung der klaren Linie zwischen Fiktion und Dokumentarischem, sondern in seinem grundlegenden ideologischen Projekt, eine Gruppe ‘gesunder’ bürgerlicher Mittelklasseleute zur ‘Idiotie’ regressieren zu lassen, den Idioten in sich ausagieren zu lassen – wir haben bürgerliche Mittelklasse-Schauspieler, die eine Gruppe von Menschen spielen, die Idiotie spielen, um ihr unschuldiges inneres idiotisches Selbst aus bürgerlichen Zwängen zu befreien. Weit davon entfernt, einen befreienden Effekt der Solidarität mit grundlegenden Kräften des Lebens zu zeigen, ist eine solche Nachahmung tatsächlicher ‘Idioten’ ein obszöner herablassender Witz, wie wenn ‘gesunde’ Menschen grausam einen Verrückten nachäffen. Hier ist Trier das genaue Gegenteil von Kieslowski: Kieslowski wählt bewusst Fiktion gegen Dokumentarisches, um die Grenze pornographischer Obszönität nicht zu überschreiten, während Triers Vorstoß in eine Mischung aus Dokumentarischem und Fiktion, weit davon entfernt, uns aus bürgerlichen Zwängen zu befreien, lediglich die obszöne Idiotie der bürgerlichen Existenz selbst freisetzt.

Was aber, wenn Trier sich dessen allem bewusst ist, da er ein Arbeiterklassenmädchen einführt, eine wirkliche ‘Idiotin’, die, von ihrer Familie tief verletzt, sich an die Gruppe der Idioten-Spielenden wendet, die sie bereitwillig aufnehmen? Mit anderen Worten: entlarvt er nicht – durch den ‘entfremdeten’ Blick dieses Mädchens – die Falschheit des ganzen Experiments, den ‘inneren Idioten’ zu befreien? Was also, wenn Triers Pointe gerade die Unmöglichkeit (der gespielte Charakter) jeder ‘Regression’ zur authentischen Idiotie ist? Adorno bemerkte einmal, den Moment wirklich zu genießen sei das Schwierigste, und dasselbe gilt für die Regression zur Idiotie. Trier kehrt damit implizit die Standardvorstellung um, wir seien hinter fragilen falschen Masken und Ritualen eingesperrt, in der oberflächlichen Schale der Moral, die jeden Moment explodieren könne und die primitive Idiotie darunter enthülle: das Problem ist genau das entgegengesetzte: wie man die scheinbar ‘oberflächliche’ Maske zivilisierter symbolischer Rituale wirklich loswird. In dieser Hinsicht steht Idiots nahe bei Vinterbergs Festen, in dem die Botschaft ebenfalls nicht die ist, das traumatische Familiengeheimnis offenzulegen, das unter der zivilisierten Oberfläche lauert und jeden Moment explodieren kann, sondern vielmehr die entgegengesetzte: selbst wenn die angeblich traumatische Botschaft öffentlich offengelegt wird, wird das ‘oberflächliche’ Ritual des Essens nicht unterbrochen, es schleppt sich weiter und weiter.… Dort, in der Spannung zwischen diesen beiden Lesarten, liegt die Ambiguität der Dogma-Filme.91

Also zurück zu Hannibal: seine grundlegende Lehre betrifft damit die unheimliche absolute Nähe von Trauma und Phantasie: die beiden sind niemals einfach gegensätzlich (wobei die Phantasie als Schutzschild gegen das rohe Reale eines Traumas dient). Es gibt immer etwas zutiefst Traumatisches daran, seiner Grundphantasie direkt zu begegnen – eine solche Begegnung kann, wenn sie nicht vom Analytiker richtig gehandhabt wird, leicht zur vollständigen subjektiven Desintegration führen. Und umgekehrt gibt es immer etwas Phantasmatisches am Trauma: selbst das äußerste Trauma kollektiver Vergewaltigung, von Konzentrationslagerleid und Erniedrigung, kann seltsame Resonanzen in unseren tiefsten verleugneten Phantasien finden; deshalb fühlt sich das Subjekt, nachdem es gezwungen wurde, eine solche grauenhafte Tortur zu durchlaufen, in der Regel ‘irrational’ schuldig oder zumindest beschmutzt – dies ist der letzte Beweis einer unerträglichen jouissance.92 Während also der ‘klassische’ strukturalistische Lacan mich einlädt, die Wahrheit zu wagen, die Wahrheit meines Begehrens, die in den großen Anderen eingeschrieben ist, subjektiv zu übernehmen, kommt der spätere Lacan viel näher an so etwas wie Wahrheit oder Pflicht: (die symbolische) Wahrheit ist für jene, die nicht wagen – was? Dem phantasmatischen Kern (des Realen) ihrer jouissance ins Auge zu sehen. Auf der Ebene der jouissance ist Wahrheit einfach inoperativ, etwas, das letztlich keine Rolle spielt.

Michael Hanekes Film Code Unknown erzählt die Geschichte einer Gruppe von Figuren, darunter eine illegale Immigrantin aus Rumänien, ein Kriegsfotograf und eine Schauspielerin (gespielt von Juliette Binoche – ein signifikanter Umstand im Kontext ihrer Rolle in Kieslowskis Blue, da Haneke von einigen Kritikern bereits als der Kieslowski des nächsten Jahrzehnts gefeiert wird). Diese Figuren besetzen denselben Raum, dieselben Straßen, aber sie könnten ebenso gut auf verschiedenen Planeten leben – selbst wenn sie versuchen, einander zu helfen, sind die Ergebnisse oft katastrophal. Das Problem ist nicht nur, dass diese Individuen voneinander entfremdet sind: sie sind bereits von sich selbst entfremdet, unfähig, ihr wahres Wesen zu zeigen.

In einer Schlüsselszene, einer Art ‘Film-im-Film’, wird Binoche gezeigt, wie sie für den (unbekannten) Regisseur die Thrillerrolle der Gefangenen eines Serienmörders spielt; in einem eng isolierten Raum eingeschlossen, wird sie von der Stimme ihres (unsichtbaren) Peinigers bombardiert: ‘Zeig mir dein wahres Gesicht!’; ‘Sei einfach spontan!’; ‘Zeig mir einen echten Ausdruck!’ – wenn sie diesen Forderungen nicht nachkommt, wird er sie töten. Sie ist natürlich nicht in der Lage zu verstehen, was er meint. In Gestalt einer Fiktion-in-der-Fiktion inszeniert diese Szene die Wahrheit des Films: keine der Figuren wagt es, sein oder ihr wahres Gesicht, ihr inneres Selbst, zu enthüllen, also kennt niemand jemand anderen – mitten im modernen Paris sind diese Menschen unfähig, miteinander zu kommunizieren. Darauf bezieht sich der Titel des Films, jenseits des offensichtlichen Verweises auf den geänderten Code für den Eingang zum Wohnhaus: ‘Du kannst nicht verstehen, was gesagt wird, wenn du den Code nicht kennst.’93

Wie sollen wir diese Blockade also lesen? Einerseits gibt es die offensichtliche humanistische Lesart: wir sollten lernen, unser wahres Gesicht zu zeigen, spontan zu sein, zu zeigen, was wir wirklich fühlen und meinen, und die Welt wird besser sein, es wird authentischere Kommunikation und Solidarität geben, unsere Handlungen werden sich wirklich auf andere beziehen … Jedoch drängt sich auch eine völlig andere Lesart auf: was, wenn es gerade keinen ‘unbekannten Code’ zu entziffern gibt – was, wenn die Realität ist, dass wir den Code nicht kennen, weil es keinen Code gibt, keine substanzielle psychologische Realität hinter den Masken, die wir tragen? Genau darauf zielt Lacan mit seiner Proposition, dass ‘es keinen großen Anderen gibt [il n’y a pas de grand Autre]’: es gibt keinen letzten Code, der unsere Austausche reguliert. Wenn wir den Film so lesen, dann ist die geheimnisvolle Stimme, die Binoche anspricht, weit davon entfernt, ein wohlwollender Agent authentischer Kommunikation zu sein, die terroristische Über-Ich-Instanz, die uns mit unmöglichen und letztlich obszönen Forderungen bombardiert (und weist nicht schon die Tatsache, dass diese Stimme die Stimme eines pathologischen Mörders ist, in diese Richtung?).

Im ‘post-säkularen’ Denken ist es modisch, die Defizienz des cartesianischen Ego zu betonen: das menschliche Individuum muss seine Dezentrierung anerkennen – es kann autonom und voll menschlich nur sein, wenn es sich auf den schützenden Schild eines wohlwollenden und liebenden Anderen stützen kann. Es ist nicht mehr ‘Ich denke, also bin ich’, sondern ‘Ich bin nur insofern, als da draußen jemand ist, der mich lieben kann’ – oder, um Lacans Dialektik von Auge und Blick zu paraphrasieren: Geliebt-Werden geht der Liebe voraus; ich kann nur insofern wirklich lieben, als ich mich bereits in der Position befinde, von einem Anderen geliebt zu werden. Dieser Andere kann unterschiedliche Wendungen erhalten, von der religiösen (der unergründliche göttliche Andere) bis zur psychoanalytisch-kleinianischen (obwohl wir unsere symbiotische Beziehung zur Mutter abbrechen müssen, hält ein reifer Mensch weiterhin den Bezug auf die aufgehobene/transsubstantiierte Mutterfigur als den liebenden und schützenden Hintergrund aufrecht, der ihm oder ihr Mut und Vertrauen gibt, sich der Welt zu stellen). Peter Sloterdijk hat in Spheres94 dieser Idee den systematischsten Ausdruck gegeben: sobald wir geboren sind, brutal in die Welt geworfen, versuchen wir wieder und wieder, die Sphäre des mütterlichen Hafens in Gestalt von Familie, ethnischer Gemeinschaft, der symbolischen Ordnung (Sprache) selbst zu rekonstituieren.… Hier wird erneut die Kluft zwischen diesem Ansatz und dem Lacans unmittelbar sichtbar: für Lacan ist es so, dass ich am Ende der psychoanalytischen Behandlung gerade akzeptieren muss, dass ‘es keinen großen Anderen gibt’ – es gibt niemanden da draußen, auf dessen schützende Fürsorge und Liebe ich mich verlassen kann. Mit anderen Worten, das Ende der Behandlung, die ‘Durchquerung der (Grund-)Phantasie’, ist gleichbedeutend mit der Akzeptanz des radikalen atheistischen Abschlusses.

Welcher Ideologiebegriff ist also durch Lacans theoretisches Gebäude impliziert? In einem der frühen Marx-Brothers-Filme gibt es eine urkomische ‘Why a duck?’-Szene: Groucho sagt Chico, sie müssten jemanden an einem Viadukt treffen, und Chico fragt: ‘Why a duck?’; als Groucho ihm erklärt, ein Viadukt sei eine große Brücke über ein Tal, beharrt Chico: ‘Why a duck?’ Groucho erklärt weiter: ‘Du weißt schon, eine Brücke! Unter der Brücke ist eine grüne Wiese.…’ ‘Why a duck?’ wiederholt Chico. So geht der Austausch weiter: ‘Inmitten dieser Wiese ist ein Teich.’ ‘Why a duck?’ ‘Im Teich schwimmen ein paar Enten.…’ ‘Also deshalb eine Ente!’ ruft Chico triumphierend aus, er trifft es aus dem falschen Grund, wie es bei ideologischer Legitimierung oft der Fall ist. Nach einer wilden Etymologie wird die Bezeichnung eines Namens hier durch die wörtliche Bedeutung seiner Teile erklärt: Why a duck? Weil Enten im Teich darunter schwimmen.… Das Schlüsselmerkmal ist, dass die Frage (warum dieser Name) in den Namen selbst eingeschrieben ist. Wie wir alle wissen, entstand das Wort ‘kangaroo’ in einem ähnlichen Missverständnis: als die ersten weißen Entdecker Australiens die Aborigines fragten: ‘Was ist das?’, auf ein nahe stehendes Känguru zeigend, verstanden die Aborigines den Punkt nicht, also antworteten sie ‘kangaroo’, was in ihrer Sprache ‘Was willst du?’ bedeutete, und die Entdecker missverstanden diese Frage als den Namen des Kängurus.

Wenn also diese Fehlwahrnehmung der Frage als positiver Term, diese Unfähigkeit, die Frage zu erkennen, eines der Standardverfahren ideologischer Verkennung ist, dann zeigt gerade die Albernheit des Marx-Brothers-Dialogs eine kritisch-ideologische Dimension, insofern sie die Dimension einer Frage in das wieder einführt, was wie eine positive Bezeichnung erscheint: ‘viaduct’ ist in Wahrheit ‘why a duck?’ Beruht nicht die Logik des Antisemitismus auf einer ähnlichen Verkennung: während ‘der (antisemitischen Figur des) Juden’ scheinbar eine bestimmte ethnische Gruppe direkt bezeichnet, kodiert sie tatsächlich nur eine Reihe von Fragen – ‘Warum werden wir ausgebeutet? Warum fallen alte Bräuche auseinander?’, und so weiter –, auf die der ‘jüdische Komplott’ als der Schein einer Antwort angeboten wird. Mit anderen Worten, die erste Geste der Kritik des Antisemitismus besteht darin, ‘den Juden’ als ‘Warum ein Jude?’ zu lesen … In der gängigen amerikanischen Umgangssprache begann auch die Baseball-Phrase ‘Who’s on first?’, nachdem sie in einer Komödie von Abbott und Costello für eine positive Aussage gehalten worden war, als Antwort in der Form einer Frage zu fungieren.

Als Christopher Hitchens die schwierige Frage anging, was die Nordkoreaner wirklich über ihren ‘Geliebten Führer’ Kim Yong II denken, lieferte er, was wohl die knappste Definition von Ideologie ist: ‘Massenwahn ist das Einzige, was ein Volk bei Verstand hält.’95 Dieses Paradox weist auf die fetischistische Spaltung im Herzen einer effektiv funktionierenden Ideologie hin: Individuen verlagern ihren Glauben auf den großen Anderen (verkörpert im Kollektiv), der daher an ihrer Stelle glaubt – die Individuen bleiben so als Individuen bei Verstand, indem sie die Distanz zum ‘großen Anderen’ des offiziellen Diskurses aufrechterhalten. Nicht nur die direkte Identifikation mit dem ideologischen ‘Wahn’ würde Individuen in den Wahnsinn treiben, sondern auch die Suspension ihres (verleugneten, verschobenen) Glaubens. Mit anderen Worten, wenn Individuen dieses Glaubens beraubt würden (projiziert auf den ‘großen Anderen’), müssten sie einspringen und den Glauben selbst direkt übernehmen. (Vielleicht erklärt dies das Paradox, dass so mancher Zyniker an genau dem Punkt, an dem der ‘offizielle’ Glaube zerfällt, zum aufrichtigen Gläubigen wird.)96 Diese notwendige Lücke in der Identifikation erlaubt es uns, die Instanz des Über-Ichs zu lokalisieren: das Über-Ich tritt als Ergebnis der misslungenen Interpellation hervor: ich erkenne mich als Christ, doch tief in meinem Herzen glaube ich nicht wirklich an das Christentum, und dieses Bewusstsein, meine interpellierte symbolische Identität nicht vollständig zu bejahen, kehrt als Über-Ich-Druck der Schuld zurück. Verdeckt diese Logik jedoch nicht ihr genaues Gegenteil? Auf einer ‘tieferen’ Ebene gibt das Über-Ich der Schuld Ausdruck, einem Verrat, der den Akt der Interpellation als solchen betrifft: Interpellation als symbolische Identifizierung mit dem Ich-Ideal ist als solche, in sich selbst, ein Kompromiss, eine Weise, ‘sein Begehren aufzugeben’. Die Schuld, kein wahrer Christ zu sein, fungiert nur insofern als Über-Ich-Druck, als sie auf einer ‘tieferen’ Schuld beruht, sein Begehren zu kompromittieren, indem man sich überhaupt erst als Christ identifiziert.…

Das ist es, was Lacan mit seiner Behauptung meinte, die wahre Formel des Materialismus sei nicht ‘Gott existiert nicht’, sondern ‘Gott ist unbewusst’. Milena Jesenska schrieb über Kafka in einem Brief an Max Brod: ‘Vor allem sind Dinge wie Geld, Börse, Devisenverwaltung, Schreibmaschine für ihn durch und durch mystisch (was sie in der Tat sind, nur nicht für uns, die anderen).’97 Wir sollten dies vor dem Hintergrund von Marx’ Analyse des Warenfetischismus lesen: die fetischistische Illusion liegt in unserem wirklichen sozialen Leben, nicht in unserer Wahrnehmung davon – ein bürgerliches Subjekt weiß sehr gut, dass am Geld nichts Magisches ist, dass Geld nur ein Objekt ist, das für ein Set sozialer Beziehungen steht, und dennoch handelt es im wirklichen Leben, als ob es glaubte, Geld sei ein magisches Ding. Das gibt uns dann einen präzisen Einblick in Kafkas Universum: Kafka war in der Lage, phantasmatische Glaubensformen direkt zu erfahren, die wir ‘normalen’ Menschen verleugnen – Kafkas ‘Magie’ ist das, was Marx gern die ‘theologische Verrücktheit’ der Waren nannte.

Lacans ‘Gott ist unbewusst’ darf nicht mit der entgegengesetzten jungianischen New-Age-These ‘das Unbewusste ist Gott’ verwechselt werden – der Unterschied zwischen beiden, der der hegelschen Umkehrung von Subjekt und Prädikat, betrifft die Opposition zwischen Lüge und Wahrheit. (Die Opposition hier ist genau dieselbe wie die zwischen ‘Ein Traum ist Leben’ und ‘Das Leben ist ein Traum’: während die erste Aussage auf eine nietzscheanische Bejahung des Traums als vollblütige Lebenserfahrung zielt, drückt die zweite die Haltung melancholischer Verzweiflung à la Calderón aus: was ist unser Leben anderes als ein wertloser Traum, ein blasser Schatten ohne Substanz? …) Lacans ‘Gott ist unbewusst’ enthüllt die grundlegende Lüge, die die phantasmatische Einheit einer Person konstituiert: was wir antreffen, wenn wir den innersten Kern unseres Seins sondieren, ist nicht unser wahres Selbst, sondern die ursprüngliche Lüge \proton pseudos] – heimlich glauben wir alle an den ‘großen Anderen’. Im Gegensatz dazu bedeutet ‘das Unbewusste ist Gott’, dass die göttliche Wahrheit in den unerforschten Tiefen unserer Persönlichkeit wohnt: Gott ist die innerste geistige Substanz unseres Seins, der wir begegnen, wenn wir in unser wahres Selbst hinabsteigen.98

Hitchens’ Definition von Ideologie zeigt uns, wie wir die langweilige Standardkritik an der Anwendung der Psychoanalyse auf soziale-ideologische Prozesse beantworten sollen: ist es ‘legitim’, den Gebrauch von Begriffen, die ursprünglich für die Behandlung von Individuen eingesetzt wurden, auf kollektive Entitäten auszudehnen und zum Beispiel zu sagen, Religion sei eine ‘kollektive Zwangsneurose’? Der Fokus der Psychoanalyse ist ein ganz anderer: das Soziale, das Feld sozialer Praktiken und sozial gehaltener Überzeugungen, liegt nicht einfach auf einer anderen Ebene als individuelle Erfahrung, sondern ist etwas, wozu das Individuum selbst sich verhalten muss, etwas, das das Individuum selbst als Ordnung erfahren muss, die mindestens ‘verdinglicht’, externalisiert ist. Das Problem ist daher nicht ‘wie man vom Individuum auf die soziale Ebene springt’; das Problem ist: wie muss die dezentrierte sozio-symbolische Ordnung institutionalisierter Praktiken/Überzeugungen strukturiert sein, wenn das Subjekt seinen ‘Verstand’, seine ‘normale’ Funktionsfähigkeit, behalten soll? Welche Wahnvorstellungen sollten dort deponiert werden, damit Individuen bei Verstand bleiben können? Nimm den sprichwörtlichen Egoisten, der das öffentliche System moralischer Normen zynisch abtut: in der Regel kann ein solches Subjekt nur funktionieren, wenn dieses System ‘da draußen’ ist, öffentlich anerkannt – das heißt, um privat ein Zyniker zu sein, muss er die Existenz naiver anderer voraussetzen, die ‘wirklich glauben’.99

Diese seltsame Macht des Glaubens an eine symbolische Fiktion erzeugt oft ein unheimliches je sais bien, mais quand même …: selbst wenn wir sehr wohl wissen, dass in der bekannten Szene des Scheißeessens aus Pasolinis Salò die Schauspieler in Wirklichkeit eine köstliche Mischung aus Honig und bester Schweizer Schokolade aßen, ist die Wirkung auf den Zuschauer (immer vorausgesetzt natürlich, er oder sie ist kein Koprophage) dennoch eine des Ekels. So sollte eine echte ‘Kulturrevolution’ durchgeführt werden: nicht indem man direkt Individuen ins Visier nimmt und versucht, sie ‘umzuerziehen’, ihre ‘reaktionären Einstellungen’ zu ‘ändern’, sondern indem man ihnen die Stütze im ‘großen Anderen’, in der institutionellen symbolischen Ordnung, entzieht.

Gibt es eine Politik der Subtraktion?

Diese Unterminierung des ‘großen Anderen’ selbst liegt im Kern dessen, was Alain Badiou als das Schlüsselmerkmal des zwanzigsten Jahrhunderts identifizierte: die ‘passion für das Reale [la passion du réel]’.100 Im Gegensatz zum neunzehnten Jahrhundert utopischer oder ‘wissenschaftlicher’ Projekte und Ideale, Zukunftspläne, zielte das zwanzigste Jahrhundert darauf, das Ding selbst zu liefern, die ersehnte Neue Ordnung direkt zu realisieren – oder, wie Fernando Pessoa es ausdrückte:

Verlange nicht, im Raum zu bauen

von dem du denkst, er liege in der Zukunft,

dass er dir irgendein Morgen verspricht.

Verwirkliche dich heute, warte nicht.

Du allein bist dein Leben.

Die letzte und definierende Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts war die direkte Erfahrung des Realen im Gegensatz zur alltäglichen sozialen Realität – das Reale in seiner extremen Gewalt als der Preis, der zu zahlen ist, um die trügerischen Schichten der Realität abzuschälen. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs feierte Ernst Jünger bereits den Nahkampf als die authentische intersubjektive Begegnung: Authentizität liegt im Akt gewaltsamer Übertretung, vom lacanianischen Realen – dem Ding, dem Antigone begegnet, wenn sie die Ordnung der Stadt verletzt – bis zum bataille’schen Exzess. Im Bereich der Sexualität selbst ist die Ikone dieser ‘Passion für das Reale’ Oshimas Empire of the Senses, ein japanischer Kultfilm der 1970er Jahre, in dem die Liebesbeziehung des Paars zu gegenseitiger Folter bis zum Tod radikalisiert wird (kein Wunder, dass Lacan auf diesen Film in seinem Seminar XX: Encore verweist). Ist nicht die ultimative Verkörperung der Passion für das Reale die Option, die man auf Hardcore-Pornoseiten bekommt, das Innere einer Vagina aus der Perspektive einer winzigen Kamera an der Spitze des eindringenden Dildos zu beobachten? An diesem Extrempunkt tritt eine Verschiebung ein: wenn wir dem begehrten Objekt zu nahe kommen, schlägt erotische Faszination in Ekel vor dem Realen des bloßen Fleisches um.

Erinnere dich an die Überraschung des durchschnittlichen Amerikaners nach den Ereignissen des 11. September: ‘Wie ist es möglich, dass diese Menschen eine solche Missachtung ihres eigenen Lebens zeigen und praktizieren?’ Ist nicht die Kehrseite dieser Überraschung die ziemlich traurige Tatsache, dass es uns in den Ländern der Ersten Welt immer schwerer fällt, uns überhaupt eine öffentliche oder universale Sache vorzustellen, für die wir bereit wären, unser Leben zu opfern? Als nach den Bombardierungen sogar der Taleban-Außenminister sagte, er könne den Schmerz der amerikanischen Kinder ‘fühlen’, bestätigte er damit nicht die hegemoniale ideologische Rolle von Bill Clintons Markenzeichen-Phrase? Es scheint in der Tat, als ob die Spaltung zwischen Erster Welt und Dritter sich zunehmend entlang der Opposition vollzieht zwischen einem langen befriedigenden Leben, voll materiellen und kulturellen Reichtums, und der Widmung seines Lebens an eine transzendente Sache.

Zwei philosophische Bezüge drängen sich im Zusammenhang mit diesem ideologischen Antagonismus zwischen der westlichen konsumistischen Lebensweise und dem muslimischen Fundamentalismus sofort auf: Hegel und Nietzsche. Ist dieser Antagonismus nicht der zwischen dem, was Nietzsche ‘passiven’ und ‘aktiven’ Nihilismus nannte? Wir im Westen sind die nietzscheanischen letzten Menschen, versunken in oberflächliche tägliche Vergnügungen, während die muslimischen Fundamentalisten bereit sind, alles zu riskieren, engagiert im Kampf bis hin zur eigenen Selbstzerstörung. (Man kann die signifikante Rolle der Börse bei den WTC-Anschlägen am 11. September kaum übersehen: der ultimative Beweis ihrer traumatischen Wirkung war, dass die New Yorker Börse vier Tage lang geschlossen blieb, und ihre Öffnung am folgenden Montag als das zentrale Zeichen präsentiert wurde, dass die Dinge zur Normalität zurückkehrten.) Vielleicht fasst dieses nietzscheanische Paar von aktivem und passivem Nihilismus die heutige Spannung angemessener zusammen als alle Verweise auf die posttraditionale Gesellschaft und die fundamentalistischen Widerstände gegen sie. Wenn man diese Opposition zudem durch die Linse des hegelschen Kampfes zwischen Herr und Knecht wahrnimmt, lässt sich ein Paradox nicht vermeiden: obwohl wir im Westen als ausbeutende Herren wahrgenommen werden, sind wir es, die die Position des Knechts einnehmen, der, weil er am Leben und seinen Vergnügungen hängt, unfähig ist, sein Leben zu riskieren (man erinnere sich an Colin Powells Begriff eines High-Tech-Krieges ohne menschliche Opfer), während die muslimischen Fundamentalisten Herren sind, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren.…

Wie Badiou in seiner Diskussion der stalinistischen Schauprozesse gezeigt hat, endet dieses gewaltsame Bemühen, das reine Reale aus der schlüpfrigen Realität zu destillieren, notwendig in seinem Gegenteil – in der Obsession mit der reinen Erscheinung: im stalinistischen Universum kulminiert die Passion für das Reale (die rücksichtslose Durchsetzung der sozialistischen Entwicklung) somit in ritualistischen Inszenierungen eines theatralischen Spektakels, an dessen Wahrheit niemand glaubt. Der Schlüssel zu dieser Umkehr liegt in der letzten Unmöglichkeit, eine klare Unterscheidung zwischen trügerischer Realität und einem festen positiven Kern des Realen zu ziehen: jedes positive Stück Realität ist a priori verdächtig, da (wie wir von Lacan wissen) das reale Ding letztlich ein anderer Name für das Nichts, für das Leere, ist.

Die Jagd nach dem Realen ist somit gleichbedeutend mit totaler Vernichtung, einer (selbst-)destruktiven Raserei, in der die einzige Weise, die Unterscheidung zwischen dem Schein und dem Realen nachzuzeichnen, genau darin besteht, sie in einem falschen Spektakel zu inszenieren. Die grundlegende Illusion hierbei ist, dass, sobald die gewaltsame Arbeit der Reinigung erledigt ist, der Neue Mensch ex nihilo hervorgehen wird, befreit vom Schmutz vergangener Korruption. In diesem Horizont werden ‘wirklich existierende Menschen’ auf den Vorrat an Rohmaterial reduziert, der für den Bau des Neuen rücksichtslos ausgebeutet werden kann – die stalinistische revolutionäre Definition des Menschen ist eine zirkuläre: ‘Der Mensch ist, was zu zermalmen, zu stempeln, erbarmungslos zu bearbeiten ist, um einen neuen Menschen hervorzubringen.’ Hier haben wir die Spannung zwischen der Reihe ‘gewöhnlicher’ Elemente (‘gewöhnliche’ Menschen als das ‘Material’ der Geschichte) und dem außergewöhnlichen ‘leeren’ Element (dem sozialistischen ‘Neuen Menschen’, der zunächst nichts als ein leerer Platz ist, der durch den revolutionären Aufruhr mit positivem Inhalt zu füllen ist). In einer Revolution gibt es keine a priori positive Bestimmung dieses Neuen Menschen: eine Revolution wird nicht durch die positive Vorstellung legitimiert, was das Wesen des Menschen – unter gegenwärtigen Bedingungen ‘entfremdet’ und durch den revolutionären Prozess zu verwirklichen – sei: die einzige Legitimation einer Revolution ist negativ, ein Wille, mit der Vergangenheit zu brechen.

Man sollte die Dinge sehr präzise formulieren: der Grund, warum die stalinistische Raserei der Reinigung so destruktiv ist, liegt gerade darin, dass sie vom Glauben getragen wird, dass, sobald die destruktive Arbeit der Reinigung vollbracht ist, etwas übrig bleiben wird: der erhabene ‘unteilbare Rest’, das Vorbild des Neuen – oder, um Fernando Pessoa erneut zu zitieren: ‘Je mehr das Leben jetzt verfault, desto mehr Dünger wird es für die Zukunft geben.’ Um zu verbergen, dass es darüber hinaus nichts gibt, muss der Revolutionär in strikt perverser Weise an der Gewalt als dem einzigen Index seiner Authentizität festhalten; und auf dieser Ebene missdeuten Kritiker des Stalinismus gewöhnlich die Ursache der Bindung des Kommunisten an die Partei. In den Jahren 1939–41, als prosowjetische Kommunisten ihre Parteilinie zweimal über Nacht ändern mussten (nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde nicht der Faschismus, sondern der Imperialismus zur Hauptfeindfigur erhoben; ab dem 22. Juni 1941, als Deutschland die Sowjetunion angriff, war es wieder die Volksfront gegen das faschistische Ungeheuer), war es die Brutalität der aufgezwungenen Positionswechsel, die sie anzog. In derselben Linie übten auch die Säuberungen selbst eine unheimliche Faszination aus, besonders auf Intellektuelle: ihre ‘irrationale’ Grausamkeit diente als eine Art ontologischer Beweis, der Zeugnis davon ablegte, dass wir es mit dem Realen zu tun haben, nicht bloß mit leeren Plänen – die Partei ist rücksichtslos brutal, also muss es ihr ernst sein.…

Wenn also die Passion für das Reale in der reinen Semblanz des politischen Theaters endet, dann endet, in einer exakten Umkehrung, die ‘postmoderne’ Passion für die Semblanz der letzten Menschen in einer Art Realen. Nimm das Phänomen der ‘Cutter’ (Menschen – meist Frauen –, die einen unwiderstehlichen Drang verspüren, sich mit Rasierklingen zu schneiden oder sich anderweitig zu verletzen), strikt korrelativ zur Virtualisierung unserer Umgebung: dies ist eine verzweifelte Strategie, zum Realen des Körpers zurückzukehren. Als solche ist das Schneiden den normalen Tätowierinschriften auf dem Körper entgegenzustellen, die die Einbindung des Subjekts in die (virtuelle) symbolische Ordnung garantieren – bei Cuttern ist das Problem das entgegengesetzte: die Behauptung der Realität selbst. Weit davon entfernt, suizidal zu sein, weit davon entfernt, ein Begehren nach Selbstvernichtung anzuzeigen, ist das Schneiden ein radikaler Versuch, (wieder) einen Halt in der Realität zu gewinnen, oder (ein anderer Aspekt desselben Phänomens), das Ich fest in der leiblichen Realität zu verankern, gegen die unerträgliche Angst, sich als nicht existent zu erleben. Cutter sagen gewöhnlich, sobald sie das warme rote Blut aus der selbst zugefügten Wunde fließen sehen, fühlten sie sich wieder lebendig, fest in der Realität verwurzelt.101 Daher ist das Schneiden zwar natürlich ein pathologisches Phänomen, aber dennoch ein pathologischer Versuch, eine Art Normalität wiederzugewinnen, einen totalen psychotischen Zusammenbruch zu vermeiden.

Auf dem Markt finden wir heute eine ganze Reihe von Produkten, denen ihre bösartige Eigenschaft entzogen ist: Kaffee ohne Koffein, Creme ohne Fett, Bier ohne Alkohol … Virtuelle Realität verallgemeinert dieses Verfahren einfach, ein Produkt anzubieten, dem seine Substanz entzogen ist: sie liefert die Realität selbst, der ihre Substanz entzogen ist, der harte widerständige Kern des Realen. So wie entkoffeinierter Kaffee riecht und schmeckt wie echter Kaffee, ohne echter Kaffee zu sein, wird Virtuelle Realität als eine Realität erfahren, ohne eine zu sein. Am Ende dieses Prozesses der Virtualisierung wartet jedoch die unvermeidliche benthamistische Schlussfolgerung auf uns: die Realität ist ihre eigene beste Semblanz.

War ferner der 11. September-Angriff auf das WTC nicht in Bezug auf die Hollywood-Katastrophenfilme so etwas wie Snuff-Pornographie im Verhältnis zu gewöhnlichen sado-maso Pornofilmen? Dies ist das Element der Wahrheit in Karl-Heinz Stockhausens provokanter Aussage, die Flugzeuge, die die WTC-Türme trafen, seien das ultimative Kunstwerk gewesen. Man könnte den Einsturz der WTC-Türme tatsächlich als den klimaktischen Abschluss der ‘Passion für das Reale’ der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts wahrnehmen – die ‘Terroristen’ taten es nicht primär, um realen materiellen Schaden anzurichten, sondern wegen des spektakulären Effekts. Die authentische Passion des zwanzigsten Jahrhunderts, zum Realen Ding vorzudringen (letztlich: zum destruktiven Nichts) durch das Spinnennetz der Semblanzen, die unsere Realität konstituieren, kulminiert somit im Thrill des Realen als dem ultimativen ‘Effekt’, gesucht von digitalisierten Spezialeffekten über Reality-TV und Amateurpornographie bis hin zu Snuff-Movies. Snuff-Movies, die das ‘echte Ding’ liefern, sind vielleicht die ultimative Wahrheit der Virtuellen Realität. Es gibt eine intime Verbindung zwischen der Virtualisierung der Realität und dem Auftreten eines unendlichen und infinitisierten leiblichen Schmerzes, weit stärker als die übliche: öffnen nicht Biogenetik und Virtuelle Realität kombiniert neue ‘verbesserte’ Möglichkeiten der Folter, neue und unerhörte Horizonte der Ausdehnung unserer Fähigkeit, Schmerz zu ertragen (durch Erweiterung unserer sensorischen Kapazität, ihn zu ertragen, durch Erfindung neuer Formen, ihn zuzufügen)? Vielleicht wartet das ultimative sadianische Bild eines ‘untoten’ Folteropfers, das endlosen Schmerz ertragen kann, ohne über den Ausweg in den Tod zu verfügen, ebenfalls darauf, Realität zu werden.

An diesem Punkt stehen wir vor den Schlüsselfragen: bedeutet der selbstdestruktive Ausgang der ‘Passion für das Reale’, dass wir die resignierte erzkonservative Haltung annehmen sollten, den Schein aufrechtzuerhalten? Soll unsere letzte Haltung eine sein von ‘bohre nicht zu tief ins Reale, du könntest dir dabei die Finger verbrennen’? Es gibt jedoch einen anderen Modus, sich dem Realen zu nähern; das heißt, die Passion für das Reale des zwanzigsten Jahrhunderts hat zwei Seiten: die der Reinigung und die der Subtraktion. Anders als die Reinigung, die sich bemüht, den Kern des Realen durch ein gewaltsames Abziehen herauszuschälen, beginnt die Subtraktion beim Nichts, bei der Reduktion (‘Subtraktion’) allen bestimmten Inhalts, und versucht dann, eine minimale Differenz zwischen diesem Nichts und einem Element zu etablieren, das als sein Stellvertreter fungiert.

Neben Badiou selbst war es Jacques Rancière, der diese Struktur als die einer Politik der ‘leeren Menge’, des ‘überzähligen’ Elements entwickelte, das zur Menge gehört, aber keinen unterscheidbaren Platz in ihr hat. Was ist für Rancière Politik im eigentlichen Sinne?102 Ein Phänomen, das zum ersten Mal im antiken Griechenland erschien, als Mitglieder des demos (jene, die keinen festen, bestimmten Platz im hierarchischen sozialen Gefüge hatten) nicht nur verlangten, dass ihre Stimme gegen jene in der Macht, jene, die soziale Kontrolle ausübten, gehört werde – das heißt, sie protestierten nicht nur gegen das Unrecht [le tort], das sie erlitten, und wollten, dass ihre Stimme gehört, als im öffentlichen Raum enthalten anerkannt werde, auf gleicher Ebene mit der herrschenden Oligarchie und Aristokratie; vielmehr präsentierten sie, die Ausgeschlossenen, jene ohne fixen Platz im sozialen Gefüge, sich als die Repräsentanten, der Stellvertreter, des Ganzen der Gesellschaft, der wahren Universalität (‘Wir – die ‘Nichts’, nicht gezählt in der Ordnung – sind das Volk, wir sind Alle gegen andere, die nur für ihr partikulares privilegiertes Interesse stehen’).

Kurz: politischer Konflikt ist die Spannung zwischen dem strukturierten sozialen Körper, in dem jeder Teil seinen Platz hat, und ‘dem Teil ohne Teil’, der diese Ordnung aufgrund des leeren Prinzips der Universalität, dessen, was Étienne Balibar égaliberté nennt, der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen als sprechender Wesen, ins Wanken bringt – bis hin zu den liumang, den ‘Rowdys’, im gegenwärtigen feudalkapitalistischen China: jene, die (in Bezug auf die bestehende Ordnung) versetzt sind und frei flottieren, ohne Arbeits- und Wohnsitz, aber auch ohne kulturelle oder sexuelle Identität und Registrierung.103

So involviert Politik im eigentlichen Sinne immer eine Art Kurzschluss zwischen dem Universalen und dem Partikularen: das Paradox eines singulier universel, eines Singulären, das als Stellvertreter des Universalen erscheint und die ‘natürliche’ funktionale Ordnung der Beziehungen im sozialen Körper destabilisiert. Diese Identifizierung des Nicht-Teils mit dem Ganzen, des Teils der Gesellschaft ohne ordentlich definierten Platz in ihr (oder der sich dem zugewiesenen untergeordneten Platz in ihr widersetzt) mit dem Universalen, ist die elementare Geste der Politisierung, erkennbar in allen großen demokratischen Ereignissen von der Französischen Revolution (in der sich le troisième état gegen Aristokratie und Klerus als identisch mit der Nation als solcher erklärte) bis zum Zusammenbruch des ehemaligen europäischen Sozialismus (in dem dissidente ‘Foren’ sich gegen die Parteinomenklatura als Repräsentanten der gesamten Gesellschaft ausgaben).

In diesem präzisen Sinn sind Politik und Demokratie synonym: das grundlegende Ziel antidemokratischer Politik ist immer und per definitionem Depolitisierung gewesen – die unbedingte Forderung, ‘die Dinge sollten zur Normalität zurückkehren’, wobei jede:r einzelne seine oder ihre besondere Arbeit tut. Derselbe Punkt lässt sich auch in anti-staatlichen Begriffen machen: jene, die dem Zugriff des Staates entzogen sind, werden nicht berücksichtigt, nicht mitgezählt – das heißt, ihre multiple Präsenz ist im Einen des Staates nicht ordentlich repräsentiert.104 In diesem Sinne ist die ‘minimale Differenz’ die Differenz zwischen der Menge und diesem Überschuss-Element, das zur Menge gehört, aber jede differentielle Eigenschaft entbehrt, die seinen Platz innerhalb ihres Gefüges spezifizieren würde: gerade dieser Mangel an spezifischer (funktionaler) Differenz macht es zur Verkörperung der reinen Differenz zwischen dem Platz und seinen Elementen. Dieses ‘überzählige’ Element ist somit eine Art ‘Malevich in der Politik’, ein Quadrat auf einer Oberfläche, das die minimale Differenz zwischen dem Platz und dem, was stattfindet, zwischen Hintergrund und Figur markiert. In den Begriffen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe tritt dieses ‘überzählige’ Element hervor, wenn wir von Differenz zu Antagonismus übergehen: da alle qualitativen Differenzen, die dem sozialen Gefüge inhärent sind, in ihm suspendiert sind, steht es für ‘reine’ Differenz als solche, für das Nicht-Soziale innerhalb des Feldes des Sozialen. Oder – in Begriffen der Logik des Signifikanten – in ihm wird das Null selbst als Eins gezählt.105

Ist die Opposition von Reinigung und Subtraktion also letztlich die von Staatsmacht und Widerstand gegen sie? Heißt es, dass, sobald die Partei die Staatsmacht ergreift, Subtraktion in Reinigung umschlägt, in eine Vernichtung des ‘Klassenfeinds’, die umso totaler ist, je reiner die Subtraktion war (da das demokratisch-revolutionäre Subjekt jeder bestimmten Eigenschaft entbehrte, macht mich jede solche Eigenschaft verdächtig…)? Das Problem ist, wie man die Politik der Subtraktion weiterverfolgt, sobald man an der Macht ist: wie man die Position der schönen Seele vermeidet, die in der ewigen Rolle des ‘Widerstands’ feststeckt, die Macht opponiert, ohne sie tatsächlich subvertieren zu wollen. Laclaus Standardantwort (und auch die von Claude Lefort) lautet: Demokratie. Das heißt: die Politik der Subtraktion ist die Demokratie selbst (nicht in ihrer konkreten liberal-parlamentarischen Gestalt, sondern als die unendliche Idee, um es in Badious platonistischen Begriffen zu sagen). In einer Demokratie ist es gerade der amorphe Rest ohne Qualitäten, der die Macht übernimmt, ohne besondere Qualifikationen, die seine Mitglieder rechtfertigten (im Gegensatz zum Korporatismus braucht man keine besonderen Qualifikationen, um demokratisches Subjekt zu sein); außerdem wird in der Demokratie die Herrschaft des Einen von innen her gesprengt, durch die minimale Differenz zwischen Platz und Element: in der Demokratie ist der ‘natürliche’ Zustand jedes politischen Akteurs Opposition, und Machtausübung ist eine Ausnahme, eine zeitweilige Besetzung des leeren Platzes der Macht. Es ist diese minimale Differenz zwischen dem Platz (der Macht) und dem Agenten/Element (das Macht ausübt), die in vormodernen Staaten ebenso wie im ‘Totalitarismus’ verschwindet.

So überzeugend das klingen mag, sollte man diesen einfachen Ausweg zurückweisen – warum? Das Problem der Demokratie ist, dass sie, sobald sie als positives formales System etabliert ist, das die Weise reguliert, in der eine Vielzahl politischer Subjekte um die Macht konkurriert, einige Optionen als ‘undemokratisch’ ausschließen muss, und dieser Ausschluss, diese gründende Entscheidung darüber, wer in das Feld demokratischer Optionen eingeschlossen und wer daraus ausgeschlossen ist, ist nicht demokratisch. Ich spiele keine formal-logischen Spiele mit den Paradoxien der Metasprache, denn genau an diesem Punkt bleibt Marx’ Einsicht voll gültig: dieses Einschließen/Ausschließen ist durch den fundamentalen sozialen Antagonismus (‘Klassenkampf’) überdeterminiert, der aus eben diesem Grund niemals adäquat in die Form demokratischer Konkurrenz übersetzt werden kann.

Die ultimative demokratische Illusion – und zugleich der Punkt, an dem die Grenzen der Demokratie unmittelbar greifbar werden – ist die, dass man soziale Revolution schmerzlos, durch ‘friedliche Mittel’, vollbringen könne, indem man einfach Wahlen gewinnt. Diese Illusion ist im strengsten Sinn des Wortes formalistisch: sie abstrahiert vom konkreten Rahmen sozialer Beziehungen, innerhalb dessen die demokratische Form operativ ist. Daher sollten wir, obwohl es keinen Sinn hat, politische Demokratie lächerlich zu machen, dennoch auf der marxistischen Lehre insistieren, bestätigt durch das postsozialistische Verlangen nach Privatisierung, wonach politische Demokratie auf Privateigentum angewiesen ist. Kurz: das Problem der Demokratie ist nicht, dass sie eine Demokratie ist, sondern – um die anlässlich der NATO-Bombardierung Jugoslawiens eingeführte Wendung zu verwenden – ihr ‘Kollateralschaden’: der Umstand, dass sie eine Form staatlicher Macht ist, die bestimmte Produktionsverhältnisse involviert. Marx’ alter Begriff der ‘Diktatur des Proletariats’, von Lenin reaktualisiert, zielt genau in diese Richtung, indem er versucht, auf die entscheidende Frage eine Antwort zu geben: welche Art von Macht wird es geben, nachdem wir die Macht ergriffen haben?106

In diesem Sinn sollte die revolutionäre Politik des einundzwanzigsten Jahrhunderts der zwanzigsten Jahrhundert-‘Passion für das Reale’ treu bleiben und die leninistische ‘Politik der Reinigung’ in Gestalt der ‘Politik der Subtraktion’ wiederholen. Obwohl Lenin als der Ursprungspunkt der Politik der Reinigung erscheinen mag, wäre es jedoch genauer, ihn als die neutrale Figur zu begreifen, in der beide Versionen der ‘Passion für das Reale’ noch koexistieren. Sind nicht die Fraktionskämpfe in revolutionären Parteien (und, wie ich hinzuzufügen versucht bin, psychoanalytischen Organisationen) immer Kämpfe, eine ‘minimale Differenz’ zu definieren? Man erinnere sich an Lenins Beharren in den Polemiken zur Zeit der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki darauf, wie das Vorhandensein oder Fehlen eines einzigen Wortes im Parteistatut das Schicksal der Bewegung für Jahrzehnte beeinflussen kann: der Akzent liegt hier auf der kleinsten, am ‘oberflächlichsten’ wirkenden Differenz, auf dem Schibboleth eines Akzents in der Formulierung, das sich als von schicksalhaften Konsequenzen im Realen erweist.

In den guten alten Zeiten des Stalinismus, und sogar bis 1962 (dem Zweiundzwanzigsten Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, mit seiner radikaleren und öffentlichen Verurteilung Stalins), gab es oben links in jeder Ausgabe der Pravda eine abzeichenartige Zeichnung der nebeneinanderstehenden Profile Lenins und Stalins. Nach 1962, mit der ‘Entstalinisierung’, geschah etwas ziemlich Merkwürdiges: diese Zeichnung wurde nicht durch eine Zeichnung Lenins allein ersetzt, sondern durch eine verdoppelte Zeichnung Lenins: zwei identische Lenin-Profile nebeneinander. Wie soll man diese unheimliche Wiederholung lesen? Die Lesart, die sich aufdrängt, ist natürlich, dass der Bezug auf den abwesenden Stalin in diesem Wiederholungszwang Lenins beibehalten wurde. Hier haben wir die Logik des Doppelgängers in ihrer reinsten Form – oder, mit anderen Worten, die perfekte Exemplifikation von Hegels These über die Tautologie als den höchsten Widerspruch: Stalin ist Lenins unheimlicher Doppelgänger, sein obszöner Schatten, zu dem wir gelangen, indem wir Lenin einfach verdoppeln. Wenn die offizielle Hagiographie vor der ‘Entstalinisierung’ in mantraartiger Weise die stalinistische Viererbande ‘Marx, Engels, Lenin, Stalin’ beschwor, dann hätte man sie nach 1962 einfach zu ‘Marx, Engels, Lenin, Lenin’ ändern sollen.… Es gibt jedoch eine andere – vielleicht weit produktivere – Annäherung: was, wenn die Wiederholung Lenins das ultimative Beispiel der Logik der Subtraktion ist, des Erzeugens der minimalen Differenz?

Lacan und Badiou

Wie verhält sich Lacans Theorie also zu Badious Philosophie? Es ist Bruno Bosteels, ein Schüler Badious, der die detaillierteste Darstellung des Unterschieds zwischen Badiou und dem lacanianischen Ansatz geliefert hat.107 Was beide Ansätze teilen, ist der Fokus auf die erschütternde Begegnung mit dem Realen: auf die ‘symptomale Torsion’, die die gegebene symbolische Situation zusammenbrechen lässt. Was geschieht dann an diesem Punkt der Intrusion absoluter Negativität?

Nach Badiou ist die Opposition hier die zwischen Impasse und Passe. Für Lacan ist die letztlich authentische Erfahrung (‘Durchquerung der Phantasie’) die, die fundamentale Impasse der symbolischen Ordnung vollständig zu konfrontieren; diese tragische Begegnung mit dem unmöglichen Realen ist die Grenzerfahrung eines Menschen: wir können sie nur ertragen, wir können keinen Durchgang durch sie erzwingen. Die politischen Implikationen dieser Haltung liegen auf der Hand: während Lacan uns erlaubt, einen Einblick in die Falschheit des bestehenden Staates zu gewinnen, ist dieser Einblick bereits ‘das’: es gibt keinen Weg, durch ihn hindurchzugehen; jeder Versuch, eine neue Ordnung aufzuzwingen, wird als illusorisch denunziert. Vom Standpunkt des Realen als abwesender Ursache muss jede geordnete Konsistenz in der Tat notwendig als imaginär erscheinen, insofern sie diesen grundlegenden Mangel selbst verdeckt. Ist dies nicht die erzkonservative Vision, nach der die letzte Wahrheit des Seins die Nichtigkeit jeder Wahrheit ist, der ursprüngliche Wirbel, der uns in seinen Abgrund zu ziehen droht? Alles, was wir nach dieser erschütternden Einsicht tun können, ist zur Semblanz zurückzukehren, zur Textur von Illusionen, die es uns vorübergehend erlaubt, den Blick in den schrecklichen Abgrund zu vermeiden, in dem demütigen Bewusstsein der Fragilität dieser Textur.… Während für Lacan die Wahrheit diese erschütternde Erfahrung des Nichts ist – ein plötzlicher Einblick in den Abgrund des Seins, ‘nicht so sehr ein Prozess als eine kurze traumatische Begegnung oder ein erhellender Schock mitten in der gewöhnlichen Realität’ –, ist Wahrheit für Badiou das, was danach kommt: die lange, mühsame Arbeit der Treue, das Erzwingen eines neuen Gesetzes auf die Situation.108 Die Wahl lautet also: ‘entweder eine vergehende Erscheinung des Realen als abwesende Ursache (für Lacan) oder eine kraftvolle Transformation des Realen in eine konsistente Wahrheit (für Badiou)’.108

das Problem mit dieser [Lacans] Doktrin ist gerade, dass sie, während sie niemals aufhört, dialektisch zu sein, indem sie die abwesende Ursache und ihre spaltenden Effekte auf das Ganze punktgenau bestimmt, dennoch an dieses Ganze selbst gebunden bleibt und daher nicht in der Lage ist, dessen mögliche Transformation zu erklären. […] Sicher im Realen als einem Mangel an Sein verankert, ist ein Wahrheitsverfahren dasjenige, das diesem Mangel gerade Sein gibt. Die abwesende Ursache oder das konstitutive Außen einer Situation zu bestimmen, bleibt mit anderen Worten eine dialektische, jedoch idealistische Taktik, sofern dieser vergehende Punkt des Realen nicht gezwungen, verzerrt und ausgedehnt wird, um dem Realen als einer neuen generischen Wahrheit Konsistenz zu geben.

Hier erinnert Bosteels an Badious Opposition zwischen Sophokles und Aischylos. Nicht nur die lacanianische Psychoanalyse, sondern die Psychoanalyse als solche, ihre gesamte Geschichte, war auf das sophokleische Thema von Ödipus’ Familie fokussiert: von Ödipus, der dem unerträglichen Ding gegenübertritt, dem Horror seines Verbrechens, dem Horror, der unmöglich zu ertragen ist – wenn man sich dessen bewusst wird, was man getan hat, bleibt keine andere Option, als sich zu blenden – bis zu Antigones verhängnisvollem Schritt in die tödliche Zone zwischen den zwei Toden, der Kreons Über-Ich-Raserei provoziert, bestimmt, das Nichts des Dings zu verdecken. Diesem sophokleischen Paar von Über-Ich/Angst setzt Badiou das aischyleische Paar von Mut und Gerechtigkeit entgegen: den Mut des Orest, der es wagt, seinen Akt zu vollziehen, die durch das neue Gesetz der Athene (wieder-)hergestellte Gerechtigkeit.

So überzeugend dieses Beispiel ist, können wir der offensichtlichen Frage nicht ausweichen: ist dieses neue, von Athene auferlegte Gesetz nicht das patriarchale Gesetz, das auf der Ausschließung/Repression dessen beruht, was dann als obszöne Über-Ich-Wut wiederkehrt? Das fundamentalere Problem ist jedoch: ist Lacan wirklich unfähig, ein Verfahren zu denken, das dem Mangel selbst Sein gibt? Ist dies nicht die Arbeit der Sublimierung? Gibt Sublimierung nicht genau “diesem Mangel Sein”, dem Mangel als/ des unmöglichen Dings, insofern Sublimierung “ein Objekt ist, das zur Würde eines Dings erhoben ist” (Lacans Standarddefinition der Sublimierung aus Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse)? Deshalb verbindet Lacan Todestrieb und kreative Sublimierung: der Todestrieb verrichtet die negative Arbeit der Zerstörung, der Suspendierung der bestehenden Ordnung des Gesetzes, wobei er sozusagen den Tisch abräumt, den Raum für Sublimierung öffnet, die die Arbeit der Schöpfung (wieder-)beginnen kann. Sowohl Lacan als auch Badiou teilen somit die Vorstellung eines radikalen Schnitts/Bruchs, “Ereignisses”, einer Begegnung mit dem Realen, die den Raum für die Arbeit der Sublimierung öffnet, für die Schaffung der neuen Ordnung; die Distanz, die sie trennt, ist anderswo zu suchen – wo? So beschreibt Bosteels die Modalität des Wahrheitsverfahrens:

Ausgehend vom Nichts, das vor dem Ereignis in der Sprache des etablierten Wissens ununterscheidbar bleibt, benennt eine subjektive Intervention das Ereignis, das nicht eher verschwindet, als es erscheint; sie verbindet treu so viele Elemente der Situation wie möglich mit diesem Namen, der die einzige Spur des verschwundenen Ereignisses ist, und zwingt anschließend die erweiterte Situation aus der Schieflage der neuen Wahrheit, als ob diese letztere in der Tat bereits allgemein anwendbar wäre.

Die Schlüsselwörter in dieser treuen Darstellung von Badious Position sind das scheinbar unschuldige “als ob”: um das stalinistische Desaster zu vermeiden, das auf der Fehllektüre der neuen Wahrheit als direkt auf die Situation anwendbar, als deren ontologische Ordnung, beruht, sollten wir nur so verfahren, als ob die neue Wahrheit anwendbar sei.… Kann man sich eine direktere Anwendung der kantischen Unterscheidung zwischen konstitutiven Prinzipien (a priori Kategorien, die die Realität direkt konstituieren) und regulativen Ideen vorstellen, die auf die Realität nur im Modus des als ob anzuwenden sind (wir sollen handeln, als ob die Realität durch eine teleologische Ordnung getragen wäre; als ob es einen Gott und eine unsterbliche Seele gäbe, usw.)? Wenn Badiou das “Unbenennbare” als Widerstandspunkt des Realen, den “unteilbaren Rest”, behauptet, der die “kraftvolle Transformation” verhindert, die seine Arbeit abschließen würde, ist diese Behauptung strikt korrelativ zum als ob-Modus der nach-ereignishaften Arbeit, das Reale zu zwingen: wegen dieses Rests kann die Arbeit der Wahrheit diesen konditionalen Modus niemals hinter sich lassen.

Wenn Bosteels also behauptet:

dass an der Kritik, wonach Badious Sein und Ereignis später in einer naiven undialektischen, ja sogar vorkritischen Trennung dieser beiden Sphären – Sein und Ereignis, Wissen und Wahrheit, das endliche Tier und das unsterbliche Subjekt

feststecken würde, etwas ist, das mehr als nur unbeholfen ist,

kann man nur hinzufügen: ja, und dieses “mehr” besteht darin, dass diese Kritik zutrifft. Schon für Kant gibt es keine subjektive Reinheit (eine solche Position ist nur einem Heiligen zugänglich, und wegen ihrer Endlichkeit kann kein Mensch diese Position erreichen): das kantische Subjekt ist der Name für eine unabschließbare ethische Arbeit, und Reinheit ist lediglich das negative Maß unserer immerwährenden Unreinheit (wenn wir einen ethischen Akt vollziehen, können wir niemals behaupten oder wissen, dass wir ihn nicht tatsächlich wegen irgendeiner pathologischen Motivation getan haben). Und es ist Badiou, der in seiner Kluft zwischen der “Ewigkeit” etwa der Idee der Gerechtigkeit und der unabschließbaren Arbeit, sie in eine Situation zu zwingen, zutiefst kantisch ist. Und was ist mit Badious wiederholtem Insistieren, dass “Konsequenzen in der Realität” nicht zählen; dass man – apropos des Übergangs von Leninismus zu Stalinismus zum Beispiel – Stalinismus nicht als die enthüllte Wahrheit des Leninismus begreifen könne? Was ist mit seinem Insistieren, dass der Prozess der Wahrheit in keiner Weise von dem, was auf der Ebene des Seins vorgeht, berührt wird? Für Badiou hört ein bestimmtes Wahrheitsverfahren aus strikt immanenten Gründen auf, wenn seine Sequenz erschöpft ist – was zählt, ist Sequenz, nicht Konsequenz. Das heißt, die irreduzible Unreinheit hat ihr Maß in der Ewigkeit der reinen Wahrheit als ihrem immanenten Maß: obwohl die Idee egalitärer Gerechtigkeit immer auf unreine Weise verwirklicht wird, durch die mühsame Arbeit, sie der Vielheit der Ordnung des Seins aufzuzwingen, berühren diese Wechselfälle die Idee selbst nicht, die durch sie hindurchleuchtet.

Der Schlüssel zu Badious Opposition von Sein und Ereignis ist die vorausgehende Spaltung innerhalb der Ordnung des Seins selbst, zwischen der reinen Vielheit der Präsenz der Seienden (zugänglich der mathematischen Ontologie) und ihrer Re-Präsentation in einem bestimmten Staat des Seins: die gesamte Vielheit des Seins kann in einem Staat des Seins niemals adäquat repräsentiert werden, und ein Ereignis tritt immer am Ort dieses Überschusses/Rests auf, der dem Zugriff des Staates entgeht. Die Frage ist daher die nach dem präzisen Status dieser Kluft zwischen der reinen Vielheit der Präsenz und ihrer Repräsentation in Staat(en). Wiederum ist der verborgene kantische Bezug hier entscheidend: die Kluft, die die reine Multiplizität des Realen vom Erscheinen einer “Welt” trennt, deren Koordinaten in einem Satz von Kategorien gegeben sind, die ihren Horizont vorbestimmen, ist genau die Kluft, die bei Kant das Ding-an-sich von unserer phänomenalen Realität trennt – das heißt, von der Weise, wie die Dinge uns als Gegenstände unserer Erfahrung erscheinen.

Das Grundproblem bleibt sowohl bei Kant als auch bei Badiou ungelöst: wie entsteht die Kluft zwischen der reinen Multiplizität des Seins und seinem Erscheinen in der Vielheit der Welten? Wie erscheint das Sein sich selbst? Oder, in “leninistischen” Begriffen: das Problem ist nicht, ob es irgendeine Realität unterhalb der phänomenalen Welt unserer Erfahrung gibt; das wahre Problem ist genau das entgegengesetzte – wie öffnet sich die Kluft innerhalb der absoluten Geschlossenheit des Realen, innerhalb derer Elemente des Realen erscheinen können? Warum das Bedürfnis, dass die reine Vielheit in einem Staat re-präsentiert wird? Wenn Bosteels schreibt, dass der Zustand einer Situation “ein massiver Abwehrmechanismus ist, der errichtet ist, um gegen die Gefahren des Nichts zu schützen”, sollten wir daher eine naive, aber dennoch entscheidende Frage stellen: woher kommt dieses Bedürfnis nach Abwehr? Warum sind wir nicht in der Lage, einfach im Nichts zu wohnen? Ist es nicht so, dass bereits irgendeine Spannung/irgendein Antagonismus innerhalb der reinen Vielheit des Seins selbst operativ sein muss? Mit anderen Worten: ist Badiou, indem er dieses Thema übergeht, Deleuze, seinem großen Gegner, nahe? Darüber hinaus gibt es im Unterschied zur reinen indifferenten Vielheit des Seins eine konflikthafte Vielheit von Staaten des Seins; ein Ereignis tritt am Ort der Zwischenräume von Staaten hervor — die zweite Schlüsselfrage ist daher die Natur des konflikthaften Nebeneinanders von Staaten.

Badious Oszillation in Bezug auf das Ereignis ist hier entscheidend: während er das Ereignis mit seiner Benennung verbindet und jeden mystischen direkten Zugang zu ihm ablehnt, jede romantische Rhetorik des Eintauchens in das namenlose absolute Ding, wird Badiou dennoch fortwährend von Zweifeln über die Angemessenheit von Benennungen genagt (apropos Marxismus zum Beispiel behauptet er, dass uns noch der richtige Name für das fehlt, was in den revolutionären Turbulenzen der letzten Jahrhunderte tatsächlich geschah – dass “Klassenkampf” keine angemessene Benennung sei). Wir sehen diese Sackgasse in ihrer reinsten Form, wenn Badiou die “perverse” Position derer definiert, die sich so zu verhalten versuchen, als hätte es kein Ereignis gegeben: Badious “offizielle” Position ist, dass das Ereignis radikal subjektiv ist (es existiert nur für jene, die sich ihm verpflichten); wie kann dann der Perverse etwas ignorieren, das für ihn überhaupt nicht da ist? Ist es nicht so, dass das Ereignis dann einen Status haben muss, der nicht auf den Kreis subjektiver Anerkennung/Benennung reduziert werden kann, so dass auch diejenigen innerhalb der Situation, aus der das Ereignis hervorgegangen ist, die das Ereignis ignorieren, von ihm betroffen sind? Kurz: was Badiou hier zu verfehlen scheint, ist die minimale Struktur der Geschichtlichkeit (im Unterschied zum bloßen Historismus), die in dem besteht, was Adorno “die Verbindlichkeit des Neuen/the power of the New to bind us”109 nannte: wenn etwas wirklich Neues hervortritt, können wir nicht weitermachen, als wäre es nicht geschehen, da schon die bloße Tatsache dieses Neuen alle Koordinaten verändert. Nach Schönberg können Komponisten nicht weiter Musik im alten romantischen tonalen Modus schreiben; nach Kandinsky und Picasso können Künstler nicht im alten figurativen Stil malen; nach Kafka und Joyce können Schriftsteller nicht im alten realistischen Stil schreiben. Genauer: natürlich können sie das tun, aber wenn sie es tun, sind diese alten Formen nicht mehr dieselben; sie haben ihre Unschuld verloren und sehen nun wie eine nostalgische Fälschung aus.

Von diesen Bemerkungen aus können wir zu Bosteels’ grundlegender Kritik zurückkehren, wonach die Psychoanalyse:

in einen augenblicklichen Akt zusammenfallen lässt, was in Wirklichkeit ein fortlaufendes und unreines Verfahren ist, das von einem singulären Ereignis zu einer generischen Wahrheit über einen erzwungenen Rücklauf auf die anfängliche Situation führt. Während für Žižek der leere Ort des Realen, das unmöglich zu symbolisieren ist, irgendwie schon der Wahrheitsakt selbst ist, kommt für Badiou eine Wahrheit nur dadurch zustande, dass das Reale gezwungen und der leere Ort verschoben wird, um das Unmögliche möglich zu machen. “Jede Wahrheit ist nach-ereignishaft,” schreibt Badiou.

Das erste Missverständnis, das hier zu beseitigen ist, ist, dass für Lacan das Ereignis (oder der Akt, oder die Begegnung mit dem Realen) nicht in der Dimension der Wahrheit stattfindet. Auch für Lacan ist “Wahrheit nach-ereignishaft”, wenn auch in einem anderen Sinn als für Badiou: Wahrheit kommt danach, als die Symbolisierung des Ereignisses. Ebenso sollten wir, wenn Bosteels die Zeilen aus meinem Sublime Object über das “Durchqueren der Phantasie” als das “fast Nichts” der anamorphotischen Perspektivverschiebung zitiert, als den einzigartigen erschütternden Moment der vollständigen symbolischen Veränderung, in der, obwohl sich in der Realität nichts verändert hat, auf einmal “nichts dasselbe bleibt”, nicht vergessen, dass diese augenblickliche Umkehr nicht das Ende, sondern der Anfang ist: die Verschiebung, die den Raum für die “nach-ereignishafte” Arbeit öffnet; hegelisch formuliert ist es das “Setzen der Voraussetzung”, das die eigentliche Arbeit des Setzens eröffnet.110

Nirgends ist die Kluft, die Badiou von Lacan trennt, klarer sichtbar als apropos der vier Diskurse (der Diskurs der Hysterikerin, der Diskurs des Herrn, der Diskurs des Perversen und der Diskurs des Mystikers); durch eine Kritik an Lacan hat Badiou kürzlich (in seinen neuesten Seminaren) seine eigene Version dieser Diskurse vorgeschlagen. Am Anfang steht der Diskurs der Hysterikerin: im hysterischen Subjekt explodiert die neue Wahrheit in einem Ereignis, sie wird in Gestalt einer inkonsistenten Provokation artikuliert, und das Subjekt selbst ist blind für die wahre Dimension dessen, worüber es gestolpert ist – man denke an den sprichwörtlichen unerwarteten Ausbruch gegenüber dem Geliebten: “Ich liebe dich!”, der sogar diejenige Person überrascht, die ihn ausspricht. Es ist die Aufgabe des Herrn, die Wahrheit in einen konsistenten Diskurs auszuarbeiten, ihre Sequenz auszuarbeiten. Der Perverse hingegen arbeitet so, als hätte es kein Wahrheitsereignis gegeben, kategorisiert die Effekte dieses Ereignisses, als ließen sie sich in der Ordnung des Wissens erklären (zum Beispiel ein Historiker der Französischen Revolution wie François Furet, der sie als Ergebnis der Komplexität der französischen Situation im späten achtzehnten Jahrhundert erklärt und ihr ihren universalen Umfang nimmt). Zu diesen dreien sollte man den Diskurs des Mystikers hinzufügen, die Position des Festhaltens am reinen An-sich der Wahrheit, das jenseits der Reichweite jedes Diskurses liegt.

Es gibt eine Reihe miteinander verbundener Differenzen zwischen dieser Auffassung von vier Diskursen und Lacans Matrix der vier Diskurse;111 die zwei prinzipiellen betreffen die Opposition von Herr und Analytiker. Erstens ist es bei Lacan nicht die Hysterikerin, sondern der Herr, der den Akt der Benennung vollzieht: er spricht den neuen Herrensignifikanten aus, der das gesamte Feld restrukturiert; die Intervention des Herrn ist momenthaft, einzigartig, singulär, wie die magische Berührung, die die Perspektive verschiebt und auf einmal Chaos in die neue Ordnung verwandelt – im Unterschied zum Diskurs der Universität, der die Sequenz vom neuen Herrensignifikanten her ausarbeitet (das neue System des Wissens).112 Die zweite Differenz ist, dass es in Badious Darstellung keinen Platz für den Diskurs des Analytikers gibt – seinen Platz hält der mystische Diskurs, fixiert auf das unbenennbare Ereignis, der seiner diskursiven Ausarbeitung als uneigentlich widersteht. Für Lacan gibt es keinen Platz für einen zusätzlichen mystischen Diskurs, aus dem einfachen Grund, dass eine solche mystische Haltung kein Diskurs (kein soziales Band) ist – und der Diskurs des Analytikers ist gerade ein Diskurs, der als seinen “Agenten”, als sein strukturierendes Prinzip, den traumatischen Kern des Realen nimmt, der als unüberwindbares Hindernis für das diskursive Band wirkt und in es einen unauslöschlichen Antagonismus, eine Unmöglichkeit, eine destabilisierende Kluft einführt.

Das ist der wahre Unterschied zwischen Badiou und Lacan: was Badiou ausschließt, ist die Möglichkeit, einen Diskurs zu entwerfen, der als strukturierendes Prinzip den unbenennbaren “unteilbaren Rest” hat, der dem diskursiven Zugriff entgeht – das heißt, für Badiou sollten wir, wenn wir mit diesem Rest konfrontiert sind, ihn benennen, ihn in den Diskurs des Herrn transponieren oder ihn in mystifizierter Ehrfurcht anstarren. Das heißt, wir sollten Badious Kritik an Lacan gegen Badiou selbst zurückwenden: Badiou ist es, der unfähig ist, die Begegnung mit dem Realen in einen Diskurs auszudehnen, Badiou, für den diese Begegnung, wenn sie zu funktionieren beginnt als Diskurs, in einen Diskurs des Herrn transponiert werden muss.

Der ultimative Unterschied zwischen Badiou und Lacan betrifft daher das Verhältnis zwischen der erschütternden Begegnung mit dem Realen und der darauf folgenden mühsamen Arbeit, diese Explosion von Negativität in eine neue Ordnung zu transformieren: für Badiou “hebt” diese neue Ordnung die explodierende Negativität in eine neue konsistente Wahrheit auf; während für Lacan jede Wahrheit die Struktur einer (symbolischen) Fiktion aufweist, das heißt, unfähig ist, das Reale zu berühren. Bedeutet dies, dass Badiou recht hat, wenn er sagt, Lacan relativiere, in einer paradigmatischen Geste dessen, was Badiou “Antiphilosophie” nennt, Wahrheit zu nur einer weiteren Erzählung/symbolischen Fiktion, die den “irrationalen” harten Kern des Realen immer verfehlt? Hier sollten wir an die drei Dimensionen des lacanianischen Realen erinnern: weit davon entfernt, auf das traumatische Nichts des Dings reduziert zu werden, das der Symbolisierung widersteht, bezeichnet es auch die sinnlose symbolische Konsistenz (des “Mathems”), sowie das reine Erscheinen, das auf seine Ursachen nicht reduzierbar ist (“das Reale einer Illusion”). Lacan ergänzt also nicht nur das Reale als das Nichts der abwesenden Ursache durch das Reale als Konsistenz; er fügt einen dritten Term hinzu, den des Realen als reines Erscheinen, der auch bei Badiou operativ ist in Gestalt dessen, was er die “minimale Differenz” nennt, die entsteht, wenn wir alle falsche partikulare Differenz subtrahieren – von der minimalen “reinen” Differenz zwischen Figur und Hintergrund in Malevichs Weißes Quadrat auf weißer Fläche bis hin zur unergründlichen minimalen Differenz zwischen Christus und anderen Menschen.

Mehrlust

In seiner elementarsten Form ist das Reale ein anamorphotischer Fleck, der plötzlich mitten in der Realität auftaucht; ein solcher Fleck (wie der Tintenfleck, der in Decalogue 1113 plötzlich auf den Tisch verschüttet wird) fungiert nicht bloß als Teil der Realität; er ist kein bloßer Fleck in der Realität – vielmehr zeigt er einen Prozess der ontologischen Desintegration der Realität selbst an. Man erinnere sich an den Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl 1985: der Horror daran war, dass es schien, als hätten wir es nicht mit einem Unfall innerhalb unserer Realität zu tun, als ob die Textur der Realität selbst auseinanderfiele – eine Art reales Gegenstück zu den Computerviren, die die virtuelle Textur, in die wir (Nutzer) eingelassen sind, desintegrieren lassen.114 Ein Echo davon findet sich sogar in biogenetischen Monstrositäten wie einer Kuh, die mit einem gigantischen Ohr statt eines Kopfes geboren wird. Mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Technologie werden all diese Bilder des sadeianischen “zweiten Todes” zu einer realen Möglichkeit. Dieser Bereich zwischen den zwei Toden ist der des Untoten, eines spektralen Bösen, das über den Tod hinaus fortbesteht. “Apropos sehr schlimme Menschen: es ist tatsächlich nicht möglich, sich auch nur vorzustellen, dass sie sterben werden.”115 Diese Unmöglichkeit, dass sie sterben, ist natürlich ein fundamentales phantasmatisches Merkmal: selbst wenn sie in der Realität sterben, können wir es nicht akzeptieren, sie verfolgen uns weiter – ihr Böses macht sie “größer als das Leben”, untote spektrale Entitäten.

Deshalb sind die zwei Merkmale von Sylvia Plaths später Dichtung strikt korrelativ: einerseits das zeitliche Paradox von “Daddy”, das Jacqueline Rose formulierte: der Vater muss getötet werden, insofern er bereits tot ist;116 andererseits die Tatsache, dass “diese Gedichte so lesen, als wären sie posthum geschrieben”.117 In beiden Fällen haben wir es mit dem Raum “zwischen den zwei Toden” zu tun: der zu tötende Vater ist (biologisch) bereits tot, also muss getötet werden das väterliche Gespenst, das Sylvia verfolgt; Sylvia selbst hingegen ist biologisch noch am Leben, während sie sich als (symbolisch) bereits tot behandelt. Und das ist auch eine der großen Lehren der Psychoanalyse: der einzige Weg, auf das spukende väterliche Gespenst, auf den untoten Vater, zu reagieren, ist, mich selbst zu behandeln, als wäre ich bereits tot.…

Dies führt uns zurück zur Dimension, die durch den Untertitel von For they know not what they do angezeigt ist: “Enjoyment as a Political Factor”. Nimm Sylvia Plaths Faszination für die “schmutzige” Seite ihres Körpers (die verstopften Poren ihrer Haut, ihre mit Schleim gefüllten Nebenhöhlen, ihr Menstruationsblut, ihr Erbrechen); in einer bizarren Passage, geschrieben, als sie Undergraduate-Studentin war, feiert sie “das unerlaubte sinnliche Entzücken, das ich daraus ziehe, in der Nase zu bohren”:

Es gibt so viele subtile Variationen der Empfindung. Ein zarter, spitznageliger fünfter Finger kann unter trockene Schorfe und Schleimflocken im Nasenloch greifen und sie herausziehen, um sie zu betrachten, zwischen den Fingern zu zerkrümeln und als winzige Krusten auf den Boden zu schnippen. Oder ein schwererer, entschlossener Zeigefinger kann hinaufreichen und die weichen, widerstandsfähigen, elastischen grünlich-gelben, eher kleinen Schleimklumpen nach unten-und-außen schmieren, sie rund und geleeartig zwischen Daumen und Zeigefinger rollen und sie auf die Unterseite eines Tisches oder Stuhls streichen, wo sie zu organischen Krusten verhärten werden. Wie viele Tische und Stühle habe ich seit der Kindheit auf diese Weise heimlich beschmutzt? Oder manchmal wird Blut mit dem Schleim vermischt sein: in trockenen braunen Schorfen oder als helles plötzliches nasses Rot am Finger, der die Nasenmembranen zu grob geschabt hat. Gott, welche sexuelle Befriedigung! Es ist aufzehrend, mit neuen plötzlichen Augen auf die alten abgetragenen Gewohnheiten zu blicken: ein plötzlich luxuriöses und pestilentes “rotzgrünes Meer” zu sehen und beim Schock der Wiedererkennung zu schaudern.118

TEIL I

E Pluribus Unum

1

Über das Eine

I DIE GEBURT EINES MEISTER-SIGNIFIKANTEN

Der nicht-analysierbare Slowene

Beginnen wir mit unserem Ort der Äußerung – Slowenien. Was heißt es, psychoanalytisch gesprochen, ein Slowene zu sein?

Es gibt nur eine einzige Erwähnung eines „Slowenen“ im gesamten Werk Freuds, und zwar in einem Brief an den Triester Psychoanalytiker Edoardo Weiss vom 28. Mai 1922; doch diese eine Erwähnung ist an sich mehr als genug, da sie eine ganze Reihe von Schlüsselfragen psychoanalytischer Theorie und Praxis in sich verdichtet, von der Ambiguität des Über-Ichs bis zum Problem der Mutter als Trägerin des Gesetzes/Verbots in der slowenischen Tradition. Es lohnt sich also, sie näher anzusehen.

Weiss, der in den zwanziger Jahren Psychoanalyse praktizierte (er emigrierte in den dreißiger Jahren nach Amerika, als die politischen Bedingungen in Italien seine Praxis unmöglich machten), korrespondierte regelmäßig mit Freud. Ihre Korrespondenz drehte sich vor allem um Weiss’ Fälle: Weiss berichtete Freud über den Verlauf der Analyse und bat ihn um seinen Rat. So ersuchte er Freuds Ansicht zu zwei Patienten zu Beginn der zwanziger Jahre, die beide unter demselben Symptom litten – Impotenz. Sehen wir uns Weiss’ eigene Darstellung der beiden Fälle an:

Ich habe 1922 zwei Patienten behandelt, die beide an Impotenz leiden. Der erste ist ein hochgebildeter Mann, etwa vierzig Jahre alt, also ungefähr zehn Jahre älter als ich. Seine Frau, die er sehr liebte, war einige Jahre zuvor gestorben. Während der Ehezeit erlebte er volle sexuelle Kraft. Die Frau verfiel in eine schwere Depression, Versuche, sie durch einen Wiener Analytiker zu heilen, führten überhaupt zu keinen Ergebnissen. Sie beging Selbstmord. Mein Patient reagierte auf den Selbstmord mit schwerer Melancholie.…

Der zweite Patient, ein Slowene, war ein junger Mann. Er hatte im Ersten Weltkrieg in der Armee gedient und war erst kurz zuvor demobilisiert worden. Im sexuellen Bereich war er vollständig impotent. Eine Reihe von Menschen war seiner Täuschung zum Opfer gefallen und er hatte ein durch und durch unmoralisches Ich.1

Was in dieser Darstellung ins Auge fällt, ist die nahezu vollständige Symmetrie der beiden Fälle: der erste Patient ist zehn Jahre älter als Weiss, der zweite etwa zehn Jahre jünger; der erste ist ein hochgebildeter und moralischer Mann, der zweite äußerst unmoralisch – und in beiden Fällen haben wir es mit demselben Effekt zu tun, Impotenz. (Streng genommen ist die Symmetrie nicht vollständig: der Italiener war zu gelegentlichem sexuellen Kontakt mit Prostituierten fähig – für einen Mann von „hoher Bildung und Sitten“ gilt das natürlich nicht als wirklicher sexueller Kontakt, als Kontakt mit einer Ebenbürtigen – während der Slowene vollständig impotent war.) Freuds Antwort im Brief vom 28. Mai 1922 griff diese Dualität auf: Er meinte, der Italiener rechtfertige eine weitere Behandlung, da es sich um einen Mann von „hoher Bildung und Sitten“ handle; in seinem Fall sei es schlicht übertriebene Reue, seine Impotenz sei das Ergebnis eines pathologischen Schuldkomplexes; die Lösung für ihn – einen Mann verfeinerter Sensibilität – sei die Annahme des Selbstmords seiner Frau. Über den Slowenen bemerkte Freud:

Der zweite Fall, der Slowene, ist offensichtlich ein Nichtsnutz, der Ihre Mühen nicht verdient. Unsere analytische Kunst versagt angesichts solcher Menschen, unsere Scharfsicht allein kann nicht zu der dynamischen Beziehung durchdringen, die sie beherrscht.2

Es ist nicht schwer, in Freuds Antwort eine grundlegende Blockade zu erkennen – sie zeigt sich vor allem in ihrem widersprüchlichen Charakter, in seinem Schwanken zwischen zwei Positionen. Zunächst stellt er den Slowenen als jemanden dar, der psychoanalytischer Fürsorge unwürdig ist, mit der Implikation, es handle sich um einen einfachen Fall direkter, oberflächlicher Bosheit, Unmoral, ohne irgendeine Art von „Tiefe“, die zu unserer unbewussten psychischen Dynamik gehört; dann jedoch wird sein Fall im folgenden Satz gegenteilig als einer bestimmt, der nicht analysiert werden kann; die Barriere ist hier also nicht „ethisch“ (der Analyse unwürdig), sondern epistemologischer Natur (er ist an sich nicht analysierbar, ein analytischer Versuch an ihm scheitert). Das Paradox, mit dem wir es hier zu tun haben, entspricht genau dem logischen Paradox des „Inzestverbots“: Was verboten ist, ist etwas, das an sich bereits unmöglich ist, und der rätselhafte Charakter des Inzestverbots liegt gerade in dieser Redundanz – wenn etwas an sich unmöglich ist, warum ist es dann notwendig, es zusätzlich zu verbieten?

Worin besteht also das Paradox der Impotenz des Slowenen? Nichts ist leichter, als diese Impotenz als Ergebnis übermäßigen Gehorsams, der Reue, als Ergebnis eines „Schuldgefühls“ zu erklären, das aus übermäßiger Disziplin und rigider „moralischer Sensibilität“ hervorgeht, und so weiter. Das ist die gewohnte, alltägliche Auffassung der Psychoanalyse: Gegen die übermäßige Disziplin des Über-Ichs, dieser Instanz „internalisierter sozialer Repression“, ist es notwendig, die Fähigkeit des Subjekts zu gelassener Fruchtition wieder zu bekräftigen; es ist notwendig, dass das Subjekt die „innere Hemmung“ löst, die seinen Zugang zum Genießen blockiert.

Freuds Slowene zeigt deutlich die Unzulänglichkeit einer solchen Logik des „Befreiens des Begehrens von der Fessel innerer Repression“: Er ist, in Weiss’ Worten, „sehr unmoralisch“, er beutet seine Nachbarn aus und täuscht ohne jede moralische Skrupel – und doch ist er in all dem weit davon entfernt, im Sex eine gelassene Fruchtition zu erreichen, ohne irgendeine Art „innerer Obstruktion“; er ist „vollständig impotent“, das Genießen ist ihm gänzlich verboten. Oder, in Lacans Worten gegen Dostojewski, gegen seine berühmte Position „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“: Wenn es keinen Gott gibt – den Namen-des-Vaters als Instanz des Gesetzes/Verbots – ist alles verboten. Und ist es zu viel gesagt, dass dies genau die Logik des „totalitären“ politischen Diskurses ist? Das „Hindernis“ des Subjekts, das durch diesen Diskurs hervorgebracht wird, resultiert aus einem ähnlichen Fehlen, einer Suspendierung, des Gesetzes/Verbots. Doch um zu unserem Slowenen zurückzukehren: Auf der Grundlage der Tatsache, dass es nur Lacan war, der dieses logische Paradox des „Hindernisses“, des universalisierten Verbots, ausgearbeitet hat, das durch die bloße Abwesenheit des Gesetzes/Verbots herbeigeführt wird, könnten wir eine wilde Spekulation wagen und sagen, dass wir Slowenen – nach Freud „nicht analysierbar“ – auf Lacan warten mussten, um eine Begegnung mit der Psychoanalyse zu finden; erst mit Lacan erreichte die Psychoanalyse selbst ein Niveau der Raffinesse, auf dem sie fähig ist, solche schäbigen Erscheinungen wie die Slowenen anzugehen.3

Wie erklären wir dieses Paradox, dass die Abwesenheit des Gesetzes das Verbot universalisiert? Es gibt nur eine mögliche Erklärung: Das Genießen selbst, das wir als „Übertretung“ erfahren, ist in seinem innersten Status etwas Aufgezwungenes, Angeordnetes – wenn wir genießen, tun wir es niemals „spontan“, wir folgen immer einer bestimmten Anordnung. Der psychoanalytische Name für diese obszöne Anordnung, für diesen obszönen Ruf „Genieße!“, ist das Über-Ich. Dieses Paradox des Über-Ichs wird in Monty Pythons Sinn des Lebens in seiner reinen Form inszeniert, in der Episode über Sexualerziehung: gelangweilte Schuljungen gäh

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