II DAS ‘FEHLENDE GLIED’ DER IDEOLOGIE
Die selbstreferentielle Struktur und ihr Leeres
Das Grundparadox des psychoanalytischen Begriffs der Phantasie besteht in einer Art Zeitschleife – die ‘ursprüngliche Phantasie’ ist immer die Phantasie der Ursprünge –, das heißt: Das elementare Gerüst der Phantasieszene besteht für das Subjekt darin, als reiner Blick vor seiner eigenen Empfängnis anwesend zu sein oder, genauer, im eigentlichen Akt seiner eigenen Empfängnis. Die lakansche Formel der Phantasie ( a) bezeichnet eine solche paradoxe Konjunktion von Subjekt und Objekt qua dieses unmöglichen Blicks: Das ‘Objekt’ der Phantasie ist nicht die Phantasieszene selbst, ihr Inhalt (zum Beispiel der elterliche Koitus), sondern der unmögliche Blick, der ihn bezeugt.
Um das ‘Reisen in die Vergangenheit’ als Bestandteil der Phantasiekonstellation zu veranschaulichen, erinnern wir uns nur an die berühmte Szene aus David Lynchs Blue Velvet, in der der Held durch einen Spalt in der Schranktür das sadomasochistische sexuelle Spiel zwischen Isabella Rossellini und Denis Hopper beobachtet, Spiele, in denen Hopper sich zu Rossellini abwechselnd als ihre Mutter und als ihre Tochter verhält. Dieses Spiel ist das ‘Subjekt’, das Thema, der Inhalt der Phantasie, während ihr Objekt der Held selbst ist, reduziert auf die Anwesenheit eines reinen Blicks.20 Das Grundparadox der Phantasie besteht gerade in diesem ‘unsinnigen’ zeitlichen Kurzschluss, wodurch das Subjekt qua reiner Blick sozusagen sich selbst vorausgeht und seinem eigenen Ursprung beiwohnt.
Ein klassisches Beispiel findet sich in Mary Shelleys Frankenstein, wo die erschreckendsten Szenen Dr Frankenstein und seine Braut in ihren Momenten größter Intimität darstellen, wenn sie plötzlich gewahr werden, dass sie vom künstlich geschaffenen Monster (ihrem ‘Kind’) beobachtet werden, einem stummen Zeugen seiner eigenen Empfängnis: ‘Darin besteht das Ausgesagte der Phantasie, die den Text von Frankenstein durchdringt: der Blick zu sein, der den Genuss der eigenen Eltern widerspiegelt, einen tödlichen Genuss.’21
Woher kommt die ungeheure Wirkung einer solchen Phantasieszene? In anderen (und präziseren) Worten: Warum ersetzt das Subjekt seinen Seinsmangel (sein ‘Begehren zu sein’) mittels eines solchen unmöglichen Blicks? Den Schlüssel zu diesem Rätsel muss man in der Asymmetrie zwischen Synchronie und Diachronie suchen: Das eigentliche Hervortreten einer synchronen symbolischen Ordnung impliziert eine Lücke, eine Diskontinuität in der diachronen Kausalkette, die zu ihr geführt hat, ein ‘fehlendes Glied’ in der Kette. Phantasie ist ein Beweis a contrario dafür, dass der Status des Subjekts der eines ‘fehlenden Glieds’ ist, eines Leeren, das innerhalb der synchronen Menge den Platz seiner verworfenen diachronen Genese einnimmt. Die Unvollständigkeit der linearen Kausalkette ist folglich eine positive Bedingung dafür, dass der ‘Subjekt-Effekt’ stattfinden kann: Wenn wir ohne Rest das Hervorgehen des Subjekts aus der Positivität irgendeines natürlichen (oder geistigen) Prozesses erklären könnten – die vollständige Kausalkette rekonstruieren könnten, die zu seinem Auftreten führte –, würde das ‘Subjekt’ selbst annulliert. Die Lücke, die Unvereinbarkeit zwischen Ursache und Wirkung, ist daher irreduzibel, da sie konstitutiv für die Wirkung selbst ist: In dem Moment, in dem wir die vollständige Kette der Ursachen wiederherstellen, verlieren wir ihre Wirkung.
Mit anderen Worten, der Status des ‘fehlenden Glieds’ ist nicht nur epistemologisch, sondern primär ontologisch. Es geht nicht darum, das Spiel idealistischer Obskurantistik zu treiben und das ‘unergründliche Geheimnis der Ursprünge des Menschen’ zu predigen, während man zugleich vor der Neugier warnt, die uns antreibt, dieses verbotene Gebiet (mittels biogenetischer Experimente usw.) aufzurühren, gemäß der paradoxen Formel des Verbots des Unmöglichen (es ist unmöglich, in die Ursprünge des Menschen einzudringen, weshalb es verboten ist, solche Forschung zu betreiben, aus Angst, man könnte zu viel entdecken und so den Weg zu schrecklichen genetischen usw. Manipulationen öffnen). In seinem Sein ist das Subjekt als das ‘fehlende Glied’ einer Kausalkette konstituiert – die Kette, in der kein Glied fehlt, ist die Positivität einer Substanz ohne Subjekt: ‘Substanz ist Subjekt’ bedeutet, dass in der substantiellen Kette immer ein Glied fehlt.
So abstrakt sie klingen mögen, betreffen diese Aussagen unmittelbar unsere konkretste phänomenologische Beziehung zum Anderen: Wir können den Anderen erkennen, ihn als Person anerkennen, nur insofern er uns in einem radikalen Sinn unbekannt bleibt – Anerkennung impliziert die Abwesenheit von Kognition. Ein Nachbar, der völlig transparent und offengelegt ist, ist keine ‘Person’ mehr, wir beziehen uns nicht länger auf ihn als auf eine andere Person: Intersubjektivität gründet auf der Tatsache, dass der Andere phänomenologisch als eine ‘unbekannte Größe’ erfahren wird, als ein bodenloser Abgrund, den wir niemals ausloten können. Das lakansche ‘große Andere’ wird gewöhnlich als die unpersönliche symbolische Ordnung begriffen, als die Struktur, die symbolische Austauschprozesse reguliert; dabei wird die entscheidende Tatsache vergessen, dass der große Andere (im Gegensatz zum ‘kleinen anderen’ der imaginären Spiegelbeziehung) zuerst eingeführt wurde, um die radikale Andersheit der anderen Person jenseits unseres Spiegelns in ihr zu bezeichnen, jenseits unserer Anerkennung ihrer als unseres Spiegelbildes. Das heißt, in seinem Seminar III formulierte Lacan den Grund für die Einführung des Anderen wie folgt:
Und warum mit großem A [für Autre]? Aus einem zweifellos verrückten Grund, so wie es Verrücktheit ist jedes Mal, wenn wir gezwungen sind, zusätzliche Zeichen zu den von der Sprache gegebenen einzuführen. Hier ist der verrückte Grund der folgende. Du bist meine Frau – woher willst du das überhaupt wissen? Du bist mein Herr – bist du dessen in Wirklichkeit so sicher? Was den stiftenden Wert dieser Worte hervorbringt, ist, dass das, was in der Botschaft anvisiert ist, ebenso wie das, was in der Vortäuschung manifest ist, darin besteht, dass der andere da ist qua absoluter Anderer. Absolut, das heißt: er wird anerkannt, aber er ist nicht bekannt. Ebenso besteht das, was die Vortäuschung konstituiert, darin, dass du am Ende nicht weißt, ob es eine Vortäuschung ist oder nicht. Wesentlich ist es dieses unbekannte Element in der Alterität des anderen, das die Sprechbeziehung auf der Ebene charakterisiert, auf der zum anderen gesprochen wird.22
Mit anderen Worten: Unser Engagement, unsere Bindung an den Anderen und das Engagement des Anderen uns gegenüber, haben Sinn nur vor dem Hintergrund dieser absoluten Unwissbarkeit: Insofern der Andere vollkommen bekannt und offengelegt ist, hat es keinen Sinn, ihn auf eine Handlung zu verpflichten – was wir hier antreffen, ist die ‘agnostische’ Grundlage der Sprache qua Ordnung symbolischer Verpflichtung. Das gegebene Wort verpflichtet gerade deshalb, weil es keine faktische Garantie gibt, dass es gehalten wird.
Aus dem, was wir gerade gesagt haben, ergibt sich eine unvermeidliche, wenngleich überraschende Schlussfolgerung: Das letzte Paradigma des unerkennbaren Dings, seiner absoluten Alterität, ist der Mensch selbst, unser Nachbar – der Andere als Person. Die Natur ist einfach unbekannt, ihre Unbekanntheit ist epistemologisch, während der Andere qua andere Person ontologisch unerkennbar ist; seine Unwissbarkeit ist die Weise, in der sein Sein selbst ontologisch konstituiert ist und uns gegenüber aufgeschlossen wird. Freud hatte davon bereits eine Ahnung, als er von einem ‘fremden Kern’ [fremdes Kern] mitten in unserem Nachbarn [Nebenmensch] schrieb: Das kantische unerkennbare ‘Ding an sich’ ist letztlich der Mensch selbst.
Lacan taufte dieses Subjekt qua ‘fehlendes Glied’ das ‘Subjekt des Signifikanten’: Die signifikante Struktur ist durch ein zentrales Leeres (das ‘fehlende Glied’) definiert, um das herum sie organisiert ist – es ist gerade die Artikulation dieses Leeren (und in diesem Sinne die Repräsentation des Subjekts). Das bekannte strukturalistische Prinzip des ‘Vorrangs der Synchronie vor der Diachronie’ ist letztlich nichts anderes als die positive Kehrseite dieser Unmöglichkeit, die eigenen Ursprünge zu erreichen, die konstitutiv für die symbolische Struktur ist: Sprache als differentielles System dreht sich in einer Art Teufelskreis, sie bemüht sich sozusagen, ihren eigenen Schwanz zu fangen; sie konstituiert einen Abgrund ohne irgendeinen äußeren Referenzpunkt, der ihr als Stütze dienen könnte; jedes ihrer Elemente verweist auf alle anderen, es ‘ist’ nur seine Differenz zu ihnen, weshalb es a priori unmöglich ist, sie ‘genetisch’ zu erklären – Sprache funktioniert als geschlossener, involvierter Kreis, der sich immer-schon selbst voraussetzt. Mit anderen Worten, Sprache entsteht definitionsgemäß ex nihilo: Plötzlich ist sie ‘ganz da’, plötzlich ‘hat alles Bedeutung’.
Das ist es, was die ‘Arbitrarität des Signifikanten’ bedeutet: nicht die Tatsache, dass wir von außen Worte und Dinge ‘vergleichen’ und feststellen könnten, ihre Verbindung sei beliebig (table heißt ‘table’ oder ‘Tisch’ oder …), sondern im Gegenteil die eigentliche Unmöglichkeit, eine solche äußere Position einzunehmen, von der aus wir Worte und Dinge ‘vergleichen’ könnten. Worte bedeuten, was sie bedeuten, nur in Bezug auf ihren Platz in der Totalität der Sprache; diese Totalität bestimmt und strukturiert den Horizont, innerhalb dessen sich uns die Realität erschließt; innerhalb dessen wir schließlich einzelne Worte mit Dingen ‘vergleichen’ können.
Die jüngere analytische Philosophie ist zum selben Ergebnis gelangt:23 Wir können natürlich einzelne Propositionen mit der ‘Realität’ vergleichen und ihre ‘Korrespondenz’ mit dem beschriebenen Sachverhalt feststellen; es wäre jedoch eine Illusion zu glauben, wir hätten damit eine Art unmittelbaren Kontakt gefunden, einen Übergang von ‘Sprache’ zu ‘Realität’, einen Punkt, an dem Worte direkt an Dinge ‘angehakt’ sind – eine solche Feststellung von ‘Korrespondenz’ ist vielmehr nur innerhalb des bereits etablierten globalen Feldes der Sprache möglich. Ich kann natürlich die Proposition ‘Im Zimmer nebenan steht ein Tisch’ mit dem faktischen Sachverhalt ‘vergleichen’ und so ihre Richtigkeit feststellen, aber ein solches Verfahren stützt sich bereits auf die Sprach-Totalität, und zwar für die Bedeutung der Proposition ‘Im Zimmer nebenan steht ein Tisch’ selbst.24
Die bloße Idee einer synchronen zirkulären Ordnung impliziert daher eine Lücke, eine Diskontinuität in ihrer Genese: Die synchrone ‘Struktur’ kann niemals aus einem diachronen ‘Prozess’ deduziert werden, ohne eine petitio principii zu begehen. Ganz plötzlich finden wir uns durch einen wundersamen Sprung innerhalb einer geschlossenen synchronen Ordnung wieder, die keinerlei äußere Stütze zulässt, weil sie sich in ihrem eigenen Teufelskreis dreht. Dieses Fehlen einer Stütze, aufgrund dessen Sprache letztlich nur auf sich selbst verweist – mit anderen Worten: dieses Leere, das die Sprache in ihrer Selbstreferenz umkreist –, ist das Subjekt als ‘fehlendes Glied’. Die ‘Autonomie des Signifikanten’ ist strikt korrelativ zur ‘Subjektivierung’ der signifikanten Kette: ‘Subjekte’ sind nicht die ‘effektive’ Präsenz von ‘Fleisch-und-Blut’-Agenten, die Sprache als Teil ihrer sozialen Lebenspraxis benutzen und die abstrakten Sprachschemata mit tatsächlichem Inhalt ausfüllen; das ‘Subjekt’ ist vielmehr der Abgrund, der Sprache für immer vom substantiellen Lebensprozess trennt.
Aus diesem Grund verfehlt die klassische Kritik an der strukturalen Linguistik, die ihr vorwirft, Sprache ‘idealistisch’ zu behandeln, als autonome ideale Ordnung differentieller Relationen – das heißt: zu übersehen, dass Sprache nur als Moment einer bestimmten ‘Lebensform’ wirklich ist, eingebettet in das Gewebe konkreter Praktiken –, den Punkt völlig: Wenn wir Sprache auf ein Moment einer überlinguistischen ‘Lebensform’ reduzieren könnten, ginge der eigentliche ‘Bedeutungseffekt’ verloren, und mit ihm die Subjektivität, die ihm zukommt.25 Der entscheidende Punkt ist hier wiederum, dass der selbstreferentielle Teufelskreis einer Sprach-Totalität – die Tatsache, dass die Weise, wie sie sich zur ‘überlinguistischen Realität’ verhält, bereits durch die Sprache selbst overdeter-mined ist – als ihre positive ontologische Bedingung fungiert: Weit davon entfernt, eine Art ‘Defekt’ zu zeigen, der durch eine ‘konkrete Analyse’ der Rolle der Sprache innerhalb der Totalität sozialer Praktiken oder durch eine genetische Darstellung des Hervorgehens der Sprache aus tierischem Ausdrucksverhalten zu kompensieren wäre, eröffnet dieser Teufelskreis erst den Raum der Bedeutung. Mit anderen Worten: Die Schranke, die das Symbolische vom Realen trennt, ist unmöglich zu überschreiten, da das Symbolische diese Schranke selbst ist.
Was die symbolische Ordnung kennzeichnet, ist der spezifische Modus der Kausalität, nämlich retroaktive Kausalität: Positive, ‘substanzielle’ Kausalität verläuft linear-progressiv, die Ursache geht ihrer Wirkung voraus; während in der symbolischen Ordnung ‘die Zeit rückwärts läuft’; die ‘symbolische Wirksamkeit’ (um diesen Ausdruck von Claude Lévi-Strauss zu entlehnen) besteht in einem fortwährenden ‘Umschreiben der eigenen Vergangenheit’, im Einbeziehen vergangener signifikanten Spuren in neue Kontexte, die ihren Sinn retroaktiv verändern. Der berühmteste Fall einer solchen retroaktiven Kausalität im Feld der Psychoanalyse ist natürlich der des ‘Wolfsmanns’, Freuds russischem Analysanden, der als Kind den elterlichen Koitus a tergo beobachtete: All seine späteren Symptombildungen waren nichts als so viele Versuche, diese Urszene in das gegenwärtige synchrone symbolische Netz zu integrieren, ihr Bedeutung zu verleihen und so ihre traumatische Wirkung einzudämmen – oder, in Lacans Terminologie der 1950er Jahre: sie in der Dimension der Wahrheit zu verorten, sie ‘im Symbolischen zu realisieren’. Die Originalität von Lacans Lektüre des freudschen Begriffs der ‘nachträglichen Handlung’ [Nachträglichkeit], spezifisch für die neurotische Kausalität, besteht gerade darin, ihn mit dem Motiv des ‘Vorrangs der Synchronie vor der Diachronie’ zu verbinden: Was ursprünglich ein bedeutungsloses Ereignis war, erhält später, retroaktiv, bedeutungsvolle Wirkung, da erst später die Spuren dieses Ereignisses in ein symbolisches Netz aufgenommen werden, das ihm seinen Sinn gibt. Die Psychoanalyse befasst sich daher nicht mit der Vergangenheit ‘als solcher’, in ihrer faktischen Reinheit, sondern mit der Weise, wie vergangene Ereignisse in das gegenwärtige synchrone Bedeutungsfeld aufgenommen werden – mit anderen Worten: Die eigentliche Dimension der Psychoanalyse ist nicht die der ‘Realität’, sondern die der ‘Wahrheit’:
Es geht in der psychoanalytischen Anamnese nicht um Realität, sondern um Wahrheit, weil es die Wirkung der vollen Rede ist, vergangene Kontingenzen neu zu ordnen, indem sie ihnen den Sinn von Notwendigkeiten verleiht, die kommen werden, so dass das kleine Stück Freiheit, durch das das Subjekt sie gegenwärtig macht, sie konstituiert.26
Kurz: Das Wahre, die Vergangenheit (längst vergessene traumatische Begegnungen) bestimmt zwar die Gegenwart, aber die Weise dieses Bestimmens ist durch das gegenwärtige synchrone symbolische Netz überbestimmt. Wenn die Spur einer alten Begegnung plötzlich Wirkung zu entfalten beginnt, dann deshalb, weil das gegenwärtige symbolische Universum des Subjekts so strukturiert ist, dass es dafür empfänglich ist.
Erinnern wir uns nur an die Logik künstlerischer Strömungen: Wenn zum Beispiel gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts das historische Interesse vom Klassizismus zu Shakespeare überging, als Shakespeare plötzlich ‘wiederentdeckt’ wurde, ist es nicht angemessen zu sagen, er habe ‘erneut Einfluss auszuüben begonnen’ – das entscheidende Ereignis ist die innere Verschiebung im damaligen ‘Zeitgeist’, so dass er plötzlich für Shakespeare empfänglich wurde: die Weise, wie es möglich wurde, gegenwärtige Traumata und Antagonismen mittels Bezugnahme auf Shakespeare zur Kenntnis zu nehmen. Worauf wir hier nicht übersehen dürfen, ist, wie diese retroaktive Kausalität, dieses symbolische ‘Umschreiben der Vergangenheit’, inhärent mit der Problematik des ‘fehlenden Glieds’ verbunden ist: Gerade weil die Kette linearer Kausalität immer gebrochen ist, weil die Sprache als synchrone Ordnung in einem Teufelskreis gefangen ist, versucht sie, das ‘fehlende Glied’ wiederherzustellen, indem sie ihre Vergangenheit retroaktiv reorganisiert, indem sie ihre Ursprünge rückwärts rekonstruiert. Mit anderen Worten: Die Tatsache des unablässigen ‘Umschreibens der Vergangenheit’ bezeugt die Präsenz einer bestimmten Lücke, die Wirksamkeit eines bestimmten traumatischen, fremden Kerns, den das System ‘nachträglich’ wieder einzugliedern versucht. Wenn der Übergang von ‘Genese’ zu ‘Struktur’ kontinuierlich wäre, gäbe es keine Umkehr der Kausalrichtung: Es ist das ‘fehlende Glied’, das den Raum eröffnet, die Vergangenheit neu zu ordnen.
Die Ursprünge erzählen
Nun können wir zu unserer Ausgangsfrage nach der Funktion des Phantasie-Objekts zurückkehren: Dieses Objekt als Blick füllt ein Leeres aus, das der symbolischen Ordnung, ihrem Teufelskreis, konstitutiv ist; es dient dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass jedes gegebene Feld symbolisch strukturierter Bedeutung sich in gewisser Weise immer selbst voraussetzt und sich selbst vorausgeht. Sobald wir innerhalb eines Bedeutungsfeldes sind, ist es definitionsgemäß unmöglich, ihm gegenüber eine äußere Haltung einzunehmen; es gibt keinen kontinuierlichen Übergang von seinem Außen zu seinem Innen – wie Althusser formulierte: Ideologie hat kein Außen. Der verborgene Abgrund dieses Teufelskreises erscheint in seiner reinsten Gestalt unter dem Deckmantel der Tautologie: ‘Gesetz ist Gesetz’, ‘Gott ist Gott’. Schon eine verfeinerte alltägliche Sensibilität macht sichtbar, wie solche Tautologien funktionieren: gerade im hegelianischen Sinn, als Identität-mit-sich-selbst, die den höchsten Widerspruch enthüllt. Kündigt die Aussage ‘Gott ist Gott’ nicht seine unheilvolle Kehrseite an: Der erste Gott (‘Gott ist…’) ist der Gott der Ruhe, der Gnade und der Liebe, während der zweite Gott (‘… Gott’) der Gott einer unbeherrschbaren Wut und Grausamkeit ist. Und ist es nicht dasselbe bei der Tautologie ‘Gesetz ist Gesetz’ – zeigt sie nicht den illegalen und illegitimen Charakter der eigentlichen Grundlage der Herrschaft des Gesetzes? Blaise Pascal war vermutlich der erste, der diese subversive Dimension der Tautologie ‘Gesetz ist Gesetz’ erkannte:
Brauch ist die Gesamtheit der Billigkeit aus dem alleinigen Grund, dass er akzeptiert ist. Das ist die mystische Grundlage seiner Autorität. Wer versucht, ihn auf sein erstes Prinzip zurückzuführen, zerstört ihn. Nichts ist so fehlerhaft wie jene Gesetze, die Fehler korrigieren. Wer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht einer imaginären Gerechtigkeit, nicht dem Wesen des Gesetzes, das vollständig in sich geschlossen ist: es ist Gesetz und nichts weiter.… Darum pflegten die weisesten Gesetzgeber zu sagen, dass man die Menschen oft zu ihrem eigenen Besten täuschen müsse, und ein anderer kluger Politiker: Wenn er nach der Wahrheit fragt, die ihm Freiheit bringen soll, ist es gut, dass er getäuscht wird. Die Wahrheit über die Usurpation darf nicht sichtbar werden; sie kam ursprünglich ohne Grund zustande und ist vernünftig geworden. Wir müssen dafür sorgen, dass sie als authentisch und ewig gilt, und ihre Ursprünge müssen verborgen werden, wenn wir nicht wollen, dass sie bald endet.27
Es ist nahezu überflüssig, auf den skandalösen Charakter dieser Aussagen hinzuweisen: Sie untergraben die Grundlagen der Macht, ihrer Autorität, in dem Moment, in dem sie den Eindruck erwecken, sie zu stützen. ‘Am Anfang’ des Gesetzes gibt es einen gewissen ‘Gesetzlosen’, ein gewisses Reales der Gewalt, das mit dem Akt selbst der Errichtung der Herrschaft des Gesetzes zusammenfällt: Die letzte Wahrheit über die Herrschaft des Gesetzes ist die einer Usurpation, und alles klassische politisch-philosophische Denken beruht auf der Verleugnung dieses gewaltsamen Gründungsakts. Die illegitime Gewalt, durch die das Gesetz sich trägt, muss um jeden Preis verborgen werden, weil diese Verbergung die positive Bedingung der Funktionsweise des Gesetzes ist: Es funktioniert, insofern seine Subjekte getäuscht werden, insofern sie die Autorität des Gesetzes als ‘authentisch und ewig’ erfahren und ‘die Wahrheit über die Usurpation’ übersehen.
Diese Wahrheit tritt in jenen seltenen Momenten wieder hervor, in denen die philosophische Reflexion an ihre Grenzen rührt – etwa in Kants Metaphysik der Sitten, wo er ausdrücklich verbietet, den dunklen Ursprüngen der Rechtsgewalt nachzuforschen: Durch eben ein solches Fragen würde der Makel illegitimer Gewalt sichtbar, der immer, wie eine Art Erbsünde, die Reinheit der Herrschaft des Rechts beschmutzt. Es überrascht daher nicht, dass dieses Verbot erneut die paradoxe Form annimmt, die in der Psychoanalyse wohlbekannt ist: Es verbietet etwas, das bereits an sich als unmöglich gesetzt ist:
Der Ursprung der obersten Gewalt ist für alle praktischen Zwecke für das Volk, das ihr unterworfen ist, nicht zu entdecken. Mit anderen Worten: Das Subjekt soll sich nicht auf Spekulationen über ihren Ursprung einlassen, um danach zu handeln … das sind völlig fruchtlose Argumente für ein Volk, das bereits dem bürgerlichen Gesetz unterworfen ist, und sie stellen eine Bedrohung für den Staat dar.28
Es ist fruchtlos, nach historischer Dokumentation über die Ursprünge dieses Mechanismus zu jagen. Das heißt, wir können nicht bis zu der Zeit zurückgehen, in der die bürgerliche Gesellschaft zuerst entstand.… Aber es wäre durchaus schuldhaft, solche Untersuchungen zu unternehmen, um die gegenwärtig bestehende Verfassung gewaltsam zu verändern.29
Was wir hier haben, ist eine Art ironische Umkehr von Kants eigener berühmter ethischer Maxime ‘Du kannst, denn du sollst!’ (Du kannst, weil du musst!): Du kannst zu den dunklen Ursprüngen des Gesetzes, der legitimen Ordnung, nicht gelangen, weil du es nicht darfst! Das heißt, Kant verbietet formal die Erforschung der Ursprünge der legitimen Ordnung; er argumentiert, dass eine solche Erforschung uns a priori außerhalb der legitimen Ordnung platziert; sie hebt ihre eigene Geltung auf, indem sie sie von historisch-empirischen Umständen abhängig macht: Wir können nicht zugleich die historischen Ursprünge des Gesetzes in einer gesetzlosen Gewalt annehmen und seine Subjekte bleiben. Sobald das Gesetz auf seine gesetzlosen Ursprünge reduziert wird, ist seine volle Geltung suspendiert.
Ähnlich verhält es sich mit der Suche nach den historischen Ursprüngen des Christentums. Gewiss können wir das Christentum als ein ‘historisches Phänomen’ untersuchen, wir können versuchen, es auf der Grundlage sozialer Prozesse zu erklären und so weiter; aber der Punkt ist, dass wir es nicht als Christen tun können, weil wir damit den Zugang zum christlichen Bedeutungsfeld verlieren. Der Mechanismus dieses geschlossenen Kreises wird in Boschs berühmter Darstellung der Kreuzigung entblößt, wo einer der beiden Diebe, die zusammen mit Jesus Christus hingerichtet werden, vor seinem Tod einem Priester beichtet, der eine Bibel unter dem Arm hält. Dieser unsinnige Kurzschluss geht weit über eine naive Darstellung der Geschlossenheit eines ideologischen Feldes hinaus, das unfähig ist, sein Äußeres zu repräsentieren und deshalb gezwungen ist, seine Anwesenheit in seiner eigenen Genese vorauszusetzen – er weist auf eine ‘Ideologie’ hin, die der symbolischen Ordnung als solcher eigen ist.
Die von der bürgerlichen Ideologie konstruierte Phantasie, um die Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft – das heißt: der Herrschaft des Rechts – zu erklären, ist natürlich die berühmte Fiktion des ‘Gesellschaftsvertrags’, durch den die Subjekte von einem natürlichen in einen bürgerlichen Zustand übergehen. Wir finden hier denselben selbstreferentiellen Teufelskreis, der die Phantasie definiert: Wie Hegel hervorhob, setzt die Fiktion eines ‘Gesellschaftsvertrags’ im Voraus voraus, was ihr Resultat ist oder sein soll, ihr Endausgang – die Anwesenheit von Individuen, die nach den Regeln einer zivilisierten rationalen Ordnung handeln (wie beim Mythos der ‘ursprünglichen Akkumulation’, der die Anwesenheit eines kapitalistischen Individuums voraussetzt, um das Entstehen des Kapitalismus zu erklären). Was hier notwendig verworfen ist – der ‘verbotene’ Vermittler, der verschwinden, unsichtbar werden, zu einem ‘fehlenden Glied’ werden muss, wenn die Herrschaft des Rechts etabliert werden soll –, ist natürlich der ‘pathologische’ Gewaltakt, aus dem die ‘bürgerliche Verfassung’ hervorgegangen ist – die Nabelschnur, die den Gesellschaftsvertrag (die synchrone Rechtsordnung) mit der ‘Natur’ verbindet.30 Dies ist es, was eine ‘ursprüngliche Verdrängung’ durchmachen muss, wenn die Herrschaft des Rechts greifen soll: nicht die ‘Natur als solche’, sondern vielmehr das Paradox eines Gewaltakts, durch den die ‘Natur’ sozusagen sich selbst übersteigt und ‘Kultur’ (den bürgerlichen Zustand) begründet; die ‘Schnittstelle’ von Natur und Kultur, die weder Natur ist (da sie bereits pervertierte, entgleiste Natur ist, Natur ‘außer Rand und Band’) noch Kultur (da sie ein Gewaltüberschuss ist, der von der Kultur definitionsgemäß verworfen wird). Diese unheimliche dritte Sphäre, die Schnittstelle von Natur und Kultur, ist die des Abgrunds absoluter Freiheit: das reine Böse einer Gewalt, die ‘nicht mehr’ Natur ist (sie überschreitet die Natur gerade durch die ‘exzessive Natur’ ihrer unbedingten Forderung) und ‘noch nicht’ Kultur. Mit anderen Worten: Was die Herrschaft des Rechts zähmen und unterwerfen muss, ist nicht die ‘Natur’, sondern der Überschuss an Bösem, durch den die Natur sich selbst in die Kultur übersteigt – darin, in der Zähmung dieser radikalen ‘Unbändigkeit’, besteht das grundlegende Ziel der Erziehung:
Unbändigkeit besteht in Unabhängigkeit vom Gesetz. Durch Disziplin werden Menschen den Gesetzen der Menschheit unterworfen und dazu gebracht, ihren Zwang zu fühlen.… Die Liebe zur Freiheit ist von Natur aus so stark im Menschen, dass er, wenn er einmal an Freiheit gewöhnt ist, alles ihretwegen opfern wird.31
Entscheidend ist hier die radikale Lücke, die diese ‘Unbändigkeit’ von den ‘tierischen Impulsen’ im Menschen trennt – an diesem Punkt ist Kant ganz eindeutig, wenn er die ‘Unbändigkeit’ des Menschen direkt der triebhaften Stabilität des Tieres entgegensetzt:
Wegen seiner natürlichen Liebe zur Freiheit ist es notwendig, dass der Mensch seine natürliche Rauheit geglättet bekommt; bei den Tieren macht ihr Instinkt dies unnötig.32
Der freudsche Name für diese ‘Unbändigkeit’, für diese selbstzerstörerische Freiheit, die den radikalen Bruch mit den natürlichen Instinkten markiert, ist natürlich der Todestrieb. Die Bedingung des Übergangs von Natur zu Kultur ist somit eine unheimliche innere Spaltung der Natur selbst in Natur als ausgewogener, durch Instinkte regulierter Kreislauf und Natur als ‘Unbändigkeit’, die durch das Gesetz gezähmt werden muss. Der letzte ‘verschwindende Vermittler’ zwischen Natur und Kultur ist der Todestrieb als diese entgleiste, denaturalisierte Natur – der Punkt, an dem die Natur selbst unheimlich beginnt, der Kultur in ihrer höchsten Form zu ähneln, der des ‘nicht-pathologischen’ moralischen Akts. Diese Ähnlichkeit lässt sich an dem vielleicht entscheidenden Passus von Kants politischen Schriften erkennen, der langen – ja seltsam überlangen – Bemerkung zur bereits zitierten Allgemeinen Anmerkung über die rechtlichen Folgen aus der Natur der bürgerlichen Vereinigung, die die Rolle eines Symptoms spielt: Es ist, als ob die Doppelbewegung der ‘Bemerkung zu einer Bemerkung’ den Wahrheitseffekt erzeugte, so wie doppelte Spiegelung den Punkt nicht-imaginärer, symbolischer Identifikation hervorbrachte. Das heißt: In dieser Bemerkung ‘sagt Kant mehr, als er zu sagen beabsichtigte’ und erreicht die eigentliche Schwelle der Verbindung, die ihn mit de Sade verknüpft; ihr Thema ist der Unterschied zwischen Königsmord und der Vollstreckung des Todesurteils gegen den König.
Dieser Unterschied betrifft das Verhältnis zwischen Form und Inhalt: Obwohl Königsmord Rechtsnormen in extrem schwerer Weise verletzt, berührt er die Form der Legalität als solche nicht — er behält zu ihr das Verhältnis eines Exzesses zur Norm. Wenn jedoch die Aufständischen einen Prozess organisieren und den König zum Tode verurteilen, stellt dies eine weit größere Bedrohung für den Staat dar, da es die Form von Legalität und Souveränität selbst untergräbt – die rechtliche Hinrichtung des Königs (der Person, die die oberste Gewalt verkörpert, die als letzte Garantie der Rechtsordnung dient) ist nicht nur der Tod des Königs als Person, sie entspricht dem Tod der königlichen Funktion selbst – einem ‘Akt des Selbstmords des Staates’.33 Das Todesurteil gegen den König ist eine abscheuliche Travestie, in der das Verbrechen die Form des Gesetzes annimmt und es sozusagen von innen her unterminiert; in ihr setzt die eigentliche Subversion der Rechtsordnung die Maske der Legalität auf. Dies ist daher ‘ein Verbrechen, das immer als solches bleiben muss und das niemals getilgt werden kann [crimen immortale, inexpiabile]’34 – oder, um hegelianische Terminologie zu verwenden, ein Verbrechen, das nicht ‘ungeschehengemacht’ werden kann (nachträglich ungeschehen gemacht); das, um Kant nochmals zu zitieren, ‘weder in dieser Welt noch in der nächsten jemals vergeben werden kann’35 – warum? Weil es ‘eine vollständige Umkehrung der Prinzipien beinhaltet, die das Verhältnis zwischen dem Souverän und dem Volk regieren. Denn es läuft darauf hinaus, das Volk, das seine Existenz rein der Gesetzgebung des Souveräns verdankt, zu Herrschern über den Souverän zu machen’, und damit ‘einen Abgrund öffnet, der alles verschlingt, ohne Hoffnung auf Rückkehr’.36
Kants Fehler besteht hier darin, diesen ‘Abgrund, der alles verschlingt’, nur in seinem negativen Aspekt zu begreifen: Was er übersieht, ist, dass, wenn der Kreis der Selbstzerstörung geschlossen ist – wenn die Schlange ihren eigenen Schwanz verschlingt –, das Resultat nicht reines Nichts ist, sondern gerade und einfach eine (neue) Herrschaft des Rechts. Das absolute, selbstreferentielle Verbrechen, das die Form seines Gegenteils annimmt, beschreibt die eigentliche Genese des Gesetzes, die ‘vergessen’ (verdrängt) wird in dem Moment, in dem die Herrschaft des Rechts etabliert ist. Vor diesem Hintergrund ist daher die oben zitierte kantische These zu verorten, der zufolge man zum (historischen) Ursprung der Rechtsgewalt nicht gelangen kann, da es verboten ist, danach zu suchen: Die traumatische Tatsache, die durch dieses paradoxe Verbot verdeckt wird, ist genau die Tatsache eines absoluten Verbrechens, auf dem die Rechtsgewalt gründet. Jede Herrschaft des Rechts hat ihre verborgenen Wurzeln in einem solchen absoluten – selbstreferentiellen, selbstverneinenden – Verbrechen, durch das das Verbrechen die Form des Gesetzes annimmt, und wenn das Gesetz in seiner ‘normalen’ Form herrschen soll, muss dieses Gegenteil unbedingt verdrängt werden.
Hier sollte man Freuds These über die Korrelation zwischen Verdrängung und (unbewusstem) Gedächtnis in Erinnerung rufen: Das absolute Verbrechen kann nicht richtig ‘vergessen’ (ungeschehen gemacht, gesühnt und vergeben) werden; es muss als verdrängter traumatischer Kern fortbestehen, da es die stiftende Geste der Rechtsordnung enthält – seine Auslöschung aus dem ‘unbewussten Gedächtnis’ würde den Zerfall der Herrschaft des Rechts selbst nach sich ziehen; diese Herrschaft würde ihrer (verdrängten) stiftenden Kraft beraubt. Der Grund, warum selbst die absolute Macht des Geistes, der nichts widerstehen kann – nämlich seine Fähigkeit des Ungeschehenmachen, die Vergangenheit nachträglich ‘ungeschehen’ zu machen – gegenüber diesem höchsten Verbrechen hilflos ist, besteht darin, dass dieses Verbrechen buchstäblich die Herrschaft des Geistes durchsetzt: Es ist das Negative des Geistes selbst, seine verborgene Stütze und Quelle.
Der Status des kantischen absoluten Verbrechens ist somit genau derselbe wie der des freudschen ursprünglichen Vatermords: ein unmögliches Reales, das vorausgesetzt werden muss (retroaktiv rekonstruiert), wenn man die bestehende soziale Ordnung erklären will. Was Kant als ‘unmöglich’ denkt (die undenkbare, unergründliche Realität des äußersten Bösen), ist tatsächlich das immer-schon realisierte (wenn auch verdrängte) Fundament der Herrschaft des Rechts selbst – und das Ziel dialektischer ‘Erinnerung’ ist gerade, uns an dieses absolute Verbrechen zu erinnern, das die notwendige Kehrseite der Herrschaft des Rechts ist. Entscheidend ist hier jedoch, dass Kant dieses ‘Verbrechen, für das es keine Sühne geben kann’, ausdrücklich als einen formalen und völlig fruchtlosen (nicht-profitablen) – das heißt nicht-pathologischen – Akt bestimmt:
Soweit man sehen kann, ist es den Menschen unmöglich, ein Verbrechen von einer solchen formalen und völlig fruchtlosen Bosheit zu begehen, obwohl kein System der Moral versäumen sollte, es zu berücksichtigen, und sei es nur als reine Idee, die das äußerste Böse repräsentiert.37
Wir sehen nun, warum dieses unmögliche – das heißt reale – Verbrechen dem ethischen Akt unheimlich nahe ist: Es hat die Form der Legalität (das heißt: Was wir haben, ist nicht bloß ein gewaltsamer Aufruhr, sondern ein rechtmäßiges Verfahren) und darüber hinaus wird es nicht von materiellen, eigennützigen, ‘pathologischen’ Motiven geleitet. Dieses Paradox des ‘nicht-pathologischen’, ‘ethischen’ Bösen ist es, was de Sade als das ‘absolute Verbrechen’ beschreibt, das den Kreislauf der Natur unterbricht: Was nämlich ist das Auftreten des menschlichen Universums, wenn nicht ein Bruch, der Ungleichgewicht in den natürlichen Kreislauf einführt? Vom Standpunkt der Natur ist der ‘Geist’ selbst ‘ein Verbrechen, das niemals getilgt werden kann’; deshalb ist jedes positive Gesetz in gewisser Weise bereits seine eigene spöttische Imitation, ein gewaltsamer Umsturz eines vorherigen ‘ungeschriebenen’ Gesetzes; ein Verbrechen, das in Gesetz verwandelt wird. Dieses vorherige ‘ungeschriebene’ Gesetz hat natürlich nie ‘als solches’, in der Gegenwart, existiert: Sein Status ist wiederum der des Realen – es wird retroaktiv (voraus) gesetzt als das, was durch die Durchsetzung unserer, ‘menschlichen’, Herrschaft des Rechts ‘verletzt’ wurde.
Mit anderen Worten: Es gibt kein ‘ursprüngliches’ Gesetz, das nicht auf Verbrechen beruht: Die Institution des Gesetzes als solche ist eine ‘illegitime’ Usurpation. Das kantische undenkbare Verbrechen, das die Form des Gesetzes mittels seiner eigenen Imitation untergräbt, ist damit in sich selbst bereits die Selbstaufhebung des Verbrechens, die Stiftung eines neuen Gesetzes – was Kant für eine obszöne Imitation des Gesetzes hält, ist tatsächlich das Gesetz selbst. Das absolute, selbstbezügliche Verbrechen ist somit ‘unheimlich’ [unheimlich] im strengen freudschen Sinn: Was so erschreckend an ihm ist, ist nicht seine Fremdheit, sondern vielmehr seine absolute Nähe zur Herrschaft des Rechts.
Sogenannte ‘ursprüngliche Akkumulation’
Der berühmte Satz aus Marx’ Grundrisse, dem zufolge ‘die Anatomie des Menschen uns einen Schlüssel zur Anatomie des Affen bietet’, weist ebenfalls in diese Richtung. Zuerst müssen wir über einen ausgearbeiteten Begriff des ‘Menschen’, der letzten Stufe der Evolution, verfügen, und erst von diesem Standpunkt aus können wir retroaktiv seine diachrone Genese aus dem ‘Affen’ rekonstruieren. Folglich sollten wir bei der Verfolgung dieser Genese keinen einzigen Moment vergessen, dass wir in Wahrheit den ‘Menschen nicht vom Affen ableiten’: Alles, was wir effektiv tun, ist, den Prozess rückwärts zu rekonstruieren, vom Standpunkt des fertigen Resultats. Marx formuliert diesen Satz apropos der Genese des Kapitalismus, weshalb er auch als eine Art Leitfaden dienen könnte, um den ‘Vorrang der Synchronie vor der Diachronie’ im Funktionieren der kapitalistischen Ideologie zu begreifen.
Das heißt: Gemäß der üblichen Doxa des ‘historischen Materialismus’ würden wir erwarten, dass Marx in seiner historischen Genese den Schlüssel sucht, der es ihm ermöglicht, die Logik des Kapitalismus zu artikulieren – den Kapitalismus aus der Abfolge vorhergehender Produktionsweisen ‘abzuleiten’, aus der Auflösung des Feudalismus und der allmählichen Durchsetzung marktorientierter Warenproduktion. Ist nicht der Grundsatz der ‘historischen’ Erklärungsmethode, dass ein gegebenes Phänomen theoretisch zu verstehen gleichbedeutend damit ist, seine historische Genese zu entfalten? Was Marx jedoch tut, ist das genaue Gegenteil dieses Standardverfahrens. Zuerst untersucht er die ‘innere Anatomie’ des kapitalistischen Systems – er präsentiert den ‘synchronen’ Schnitt des Universums des Kapitals; und erst dann (im letzten Kapitel von Band I des Kapitals) stellt er sich der Frage seiner historischen Genese, in der Form der ‘sogenannten ursprünglichen Akkumulation’.
Interpreten, die meinen, die anfängliche Triade Ware – Geld-Kapital liefere die Matrix der historischen Entwicklung, reduziert auf ihr logisches Skelett, verdichtet und von historischer Kontingenz gereinigt, liegen grundlegend falsch. Von Anfang an ist der Gegenstand von Marx’ Untersuchung der ‘entwickelte’ Kapitalismus – um auf seine eigene Formulierung in der ersten Zeile des ersten Kapitels zu verweisen: Gesellschaften, in denen die Warenproduktion vorherrscht. Erst wenn der ‘synchrone’ Begriff der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt ist, können wir ihre historischen Bedingungen, die Umstände ihres Entstehens, in den Griff bekommen; hier ist Marx’ Argumentation jedoch weit interessanter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Der Kern seines Arguments ist, dass, sobald der Kapitalismus sich als vollständig artikuliertes System etabliert, ihm die Bedingungen seines Entstehens gleichgültig sind. Es gab zwei Hauptbedingungen: einerseits eine Arbeitskraft, die von ihrer ‘substantiellen’ Bindung an die objektiven Bedingungen der Produktion (Produktionsmittel und Produktionsgegenstände) befreit ist – reduziert auf den Status reiner Subjektivität; andererseits einen Geldüberschuss (Kapital). Wie diese beiden Bedingungen entstanden, ist für die dialektische Deduktion ohne Belang. Es ist schlicht eine Frage empirischer historischer Forschung – eine dunkle Geschichte gewaltsamer Enteignung und Plünderung, von Kaufmannsabenteurern und so weiter; eine Geschichte, mit der wir nicht vertraut sein müssen, um das ‘synchrone’ Funktionieren des kapitalistischen Systems zu begreifen.
In diesem Rahmen ist die ‘sogenannte ursprüngliche Akkumulation’ nichts als der ideologische Mythos, den der Kapitalismus retroaktiv produziert, um seine eigene Genese zu erklären und zugleich die gegenwärtige Ausbeutung zu rechtfertigen: der Mythos vom ‘fleißigen sparenden Arbeiter’, der seinen Überschuss nicht sofort konsumierte, sondern ihn klug in die Produktion reinvestierte und so allmählich Kapitalist wurde, Eigentümer der Produktionsmittel, fähig, andere Arbeiter zu beschäftigen, die nichts besitzen als ihre Fähigkeit zu arbeiten. Wie jeder Mythos ist dies zirkulär – er setzt voraus, was er zu erklären vorgibt: den Begriff des Kapitalisten. Er ‘erklärt’ das Entstehen des Kapitalismus, indem er die Existenz eines Akteurs voraussetzt, der ‘wie ein Kapitalist handelt’ von Anfang an. Was wir hier antreffen, ist somit erneut die Logik der Phantasie: Die Struktur des ideologischen Mythos der ‘ursprünglichen Akkumulation’ entspricht genau der des ‘Reise in die Vergangenheit’; der ‘Kapitalist’ ist als Blick bei seiner eigenen Empfängnis anwesend. Auch in der Ideologie ist das Phantasiekonstrukt eine Weise für das Subjekt, das ‘fehlende Glied’ seiner Genese auszufüllen, indem es seine Anwesenheit im Charakter eines reinen Blicks bei seiner eigenen Empfängnis versichert — indem es ihm ermöglicht, ‘in die Vergangenheit zu springen’ und als seine eigene Ursache zu erscheinen.
Entscheidend ist hier, dass die synchrone symbolische Ordnung das Leere ihrer ‘Ursprünge’ mittels einer Erzählung ausfüllt: Phantasie hat definitionsgemäß die Struktur einer zu erzählenden Geschichte. Obwohl dies wie ein Nebenaspekt wirkt, hat es seine Wurzeln im philosophischen Konflikt zwischen Hegel und Schelling über die Weise, das Absolute darzustellen [darstellen]: durch logos oder mythos, durch logische Deduktion oder durch Erzählung von Gottes ‘Zeitaltern’? Hegel, um Pascalsche Begriffe zu verwenden, setzt alles auf logos (oder so schien es – fälschlich – Marx): Die Totalität des Absoluten kann in der Form der logischen Entwicklung des Begriffs gedacht und dargestellt werden; ‘Geschichte’ wird auf die ‘äußere’, zeitliche Erscheinung der inneren, zeitlosen logischen Artikulation reduziert. Schelling hingegen besteht auf der Erzählung als dem angemessenen Medium der Darstellung des Absoluten: Gott kann nicht auf logos reduziert werden, es gibt etwas in Ihm, das nicht Vernunft, Wort ist, nämlich der dunkle Grund seiner Existenz, das, was in Gott ‘mehr als Er selbst’ ist, das Reale in Gott; deshalb muss die Darstellung des Inhalts des Absoluten die Form einer Erzählung annehmen, einer Geschichte über Gottes ‘Zeitalter’, die über die Darlegung der inneren Notwendigkeit eines Netzes reiner logischer Bestimmungen hinausgeht.
Bei Marx erscheint diese Problematik in der Form des Verhältnisses zwischen ‘logischem’ und ‘historischem’ Aspekt: Gegen Hegel besteht Marx auf der immanenten Begrenzung einer rein dialektischen Darstellung; auf der Notwendigkeit, sie durch historische Beschreibung zu ergänzen. Für ihn ist die Lücke zwischen dialektischer Darstellung und historischer Beschreibung somit irreduzibel: Ihr Verhältnis ist nicht das zwischen ‘innerem’ und ‘äußerem’, zwischen ‘Wesen’ und ‘Erscheinung’; historische Beschreibung stellt nicht den empirischen Reichtum des Prozesses dar, dessen begriffliche Struktur, von kontingentem empirischem Gehalt gereinigt, dann durch eine dialektische Deduktion wiedergegeben würde. Was die historische Beschreibung manifest macht, sind vielmehr die radikal äußeren historischen Voraussetzungen der synchronen dialektischen Totalität, ihr kontingenter Ausgangspunkt, der dem dialektischen Zugriff entgeht, ihr ‘fehlendes Glied’, dessen Ausschluss die dialektische Totalität mittels einer Phantasieszene auszufüllen versucht.
Kehren wir zum Fall des Kapitalismus zurück: Dialektisch darstellen kann man das ‘synchrone’ Funktionieren des kapitalistischen Systems insofern, als dieses System bereits ‘seine Voraussetzungen gesetzt’ hat, seine äußeren Ausgangspunkte so umgeordnet hat, dass sie nun als innere Momente des geschlossenen Kreises seiner Selbstreproduktion funktionieren. Die Rolle der historischen Beschreibung ist jedoch, ‘durch’ die Phantasie zu ‘gehen’, die diesen Teufelskreis maskiert: die mythische Erzählung zu denunzieren, mittels derer das synchrone System seine eigene Vergangenheit, seine eigenen Ursprünge, retroaktiv organisiert, und die kontingente Realität voll Blut und roher Gewalt sichtbar zu machen:
… die Akkumulation von Kapital setzt Mehrwert voraus; Mehrwert setzt kapitalistische Produktion voraus; kapitalistische Produktion setzt die Verfügbarkeit beträchtlicher Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Die ganze Bewegung scheint sich daher in einem Teufelskreis zu drehen, aus dem wir nur herauskommen können, indem wir eine ursprüngliche Akkumulation annehmen … die der kapitalistischen Akkumulation vorausgeht; eine Akkumulation, die nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.
Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie die Erbsünde in der Theologie. Adam biss in den Apfel, und daraufhin fiel die Sünde auf das Menschengeschlecht. Ihr Ursprung soll erklärt werden, wenn er als Anekdote über die Vergangenheit erzählt wird. Vor langer, langer Zeit gab es zwei Arten von Menschen; die einen, die fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite; die anderen, faule Taugenichtse, die ihre Habe, und mehr, in ausschweifendem Leben verprassten. Die Legende der theologischen Erbsünde sagt uns gewiss, wie der Mensch dazu kam, sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen zu müssen; aber die Geschichte der ökonomischen Erbsünde enthüllt uns, dass es Menschen gibt, für die dies keineswegs wesentlich ist.… In der wirklichen Geschichte ist es eine notorische Tatsache, dass Eroberung, Versklavung, Raub, Mord, kurz, Gewalt, die größte Rolle spielen. In den zarten Annalen der politischen Ökonomie herrscht seit undenklichen Zeiten das Idyll.… Tatsächlich sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andere als idyllisch.38
In einer ersten Annäherung bieten sich diese Zeilen mit einer trügerischen Selbstverständlichkeit als Kritik am hegelianischen ‘geschlossenen Kreis’ an: Ist nicht die ‘spekulative’ Zirkulation des sich selbst erzeugenden Kapitals das eigentliche Paradigma der dialektischen ‘Spekulation’, ihrer begrifflichen Selbstbewegung? Ist demnach nicht das implizite Ziel der zitierten Passage aus dem Kapital, die Illusion der immanenten Selbstreproduktion des Kapitals qua ‘absoluter Geist’ zu denunzieren, indem die irreduzible Spur kontingenter Materialität gezeigt wird, die niemals ‘aufgehoben’, wiedererinnert, zu einem inneren Moment gemacht werden kann, das vom Kapital-Geist selbst gesetzt ist? Es wäre jedoch ein verhängnisvolles Missverständnis, dieser Selbstverständlichkeit zu erliegen: Hegel ist sich der radikal kontingenten und äußeren Ausgangspunkte, der ‘Voraussetzungen’, einer dialektischen Bewegung vollkommen bewusst; er ist sich vollkommen bewusst, dass der Kreis niemals dadurch geschlossen werden kann, dass diese Voraussetzungen restlos ‘aufgehoben’ werden – der Kreis bleibt auf ewig ein Teufelskreis; oder, in topologischen Begriffen, seine Struktur ist die eines Möbiusbandes.
Was die dialektische Darstellung liefert, ist nicht der geschlossene Kreis, sondern der eigentliche Prozess der Umkehrung – selbst kontingent –, durch den die äußeren, kontingenten Voraussetzungen retroaktiv ‘gesetzt’, innerhalb eines synchronen Kreises umgeordnet werden: mit anderen Worten, der eigentliche Prozess, der die Illusion eines geschlossenen Kreises erzeugt. Und was die dialektische Darstellung entsprechend entlarvt, ist der ‘Fetisch’ eines Ursprungs, mittels dessen der Kreis (das synchrone System) bemüht ist, seinen teuflischen Charakter zu verbergen – im Fall des Kapitals: der Mythos der ‘ursprünglichen Akkumulation’, mittels dessen der Kapitalismus die Geschichte seiner Ursprünge erzeugt. In diesem Sinne könnten wir sagen, dass dialektische Analyse letztlich nichts anderes ist als ein wiederholtes ‘Durchgehen durch die Phantasie’, das den teuflischen Charakter des Kreises unverdeckt hält.
Heute, in der Epoche erneuerter nationaler Wiederbelebung, sind die klarsten Fälle solcher Phantasiekonstruktion, die das Leere der ‘Ursprünge’ ausfüllt, natürlich nationalistische Mythen: Es gibt keine nationale Identität vor ihrer (kolonialistischen usw.) ‘Unterdrückung’; nationale Identität konstituiert sich durch Widerstand gegen ihre Unterdrückung – der Kampf um nationale Wiederbelebung ist daher die Verteidigung von etwas, das erst dadurch entsteht, dass es als verloren oder gefährdet erfahren wird.39 Die nationalistische Ideologie bemüht sich, diesem Teufelskreis zu entkommen, indem sie einen Mythos der Ursprünge konstruiert – einer Epoche vor Unterdrückung und Ausbeutung, in der die Nation schon da war (das Khmer-Reich in Kambodscha, Indien vor dem englischen Kolonialismus, Irland vor der protestantischen Invasion und so weiter) – die Vergangenheit wird als Nation umcodiert, die bereits existierte und zu der wir durch einen Befreiungskampf zurückkehren sollen.
Das Paradox einer endlichen Totalität
Die zeitgenössische Systemtheorie hat einen genau solchen Begriff einer symbolischen Struktur hervorgebracht, die um ein ‘fehlendes Glied’ als Punkt ihrer Ex-Timität (zentrale Äußerlichkeit, immanente Grenze) organisiert ist: Ihre Hauptanstrengung besteht darin, die sogenannten ‘autopoietischen’ Systeme zu formalisieren – Systeme, die nachträglich, mittels einer retroaktiven ‘Umcodierung’, ihre Ausgangs-, Anfangsbedingungen transformieren.40 In ihrer ‘Vorgeschichte’ beginnt ein System innerhalb von Bedingungen, die es auf äußere Weise bestimmen – das heißt, deren Signifikation nicht vom System selbst bestimmt ist; diese ‘Vorgeschichte’ ist vorbei, das System findet sein Gleichgewicht und beginnt seinen eigenen Lauf, wenn es seine Anfangsbedingungen umcodiert, indem es sie in immanente Momente seiner Selbstentwicklung verwandelt.
Darin, in einem solchen retroaktiven ‘Setzen von Voraussetzungen’, besteht die grundlegende Matrix des hegelianischen ‘Sich-auf-sich-Beziehens des Begriffs’: Im Verlauf des dialektischen ‘Fortschritts’ ‘entwickelt’ sich die Anfangskategorie zu einer ‘höheren’ Kategorie in einer Weise, dass sie ‘umcodiert’ wird, als ihr untergeordnet-vermitteltes Moment gesetzt; im Übergang vom ‘Sein’ zum ‘Wesen’ wird der gesamte Bereich des ‘Seins’ retroaktiv als der der ‘Erscheinung’ bestimmt, als das Medium, in dem das ‘Wesen’ manifest wird, sich sich selbst zeigt. An jedem ‘Knoten’ der Logik umcodiert (restrukturiert, ordnet neu) das Auftreten einer neuen Kategorie das gesamte vorhergehende Netz, macht es auf neue Weise sichtbar;41 oder, noch zugespitzter, die neu entstehende Kategorie ist nichts anderes als das Prinzip der Umcodierung der vorhergehenden Kategorien (das ‘Wesen’ ist, wie Hegel sagt, ‘Erscheinung qua Erscheinung’ – nichts als das Prinzip der Umcodierung des unmittelbaren Seins in eine ‘bloße Erscheinung’: Die Illusion des Verstandes besteht gerade darin, dass das ‘Wesen’ ein positives Seiendes jenseits der negativen Bewegung der Selbstaufhebung der Erscheinung sei).
Wie wir bereits in Erinnerung gerufen haben, hat dieser involutive Prozess des retroaktiven ‘Setzens von Voraussetzungen’ die Struktur eines Möbiusbandes, der ‘schleifenförmigen’, ‘inneren’ Acht: Gegen Ende seiner Logik bestimmt Hegel selbst den dialektischen Prozess als einen ‘in sich zurückkehrenden Kreis’.42 Und wie wir gerade gesehen haben: Ist nicht die Darstellung der Genese des kapitalistischen Systems in Marx’ Kapital eine Beschreibung einer solchen retroaktiven ‘Umcodierung’? Ist das nicht der Grund, weshalb Marx zwischen der historischen Genese des Kapitalismus und der Logik seiner Selbstreproduktion unterscheidet: Der Kapitalismus erreicht das Niveau der Selbstreproduktion, sobald seine äußeren Ausgangsbedingungen als Momente seiner immanenten Selbstentwicklung gesetzt sind. Geld zum Beispiel ist zunächst die äußere Voraussetzung, die nicht vom Kapitalismus selbst geschaffen wird (es wurde durch ‘nicht-kapitalistische’ Mittel akkumuliert – Raub, internationaler Handel und so weiter); sobald jedoch der Kreis kapitalistischer Reproduktion in Gang gesetzt ist, wird Geld als eine der ‘Inkarnationen’ des Kapitals selbst gesetzt, als ein Moment seiner Bewegung Geld-Ware-Geld.
Diese äußeren Voraussetzungen — das Reale einer Gewalt, die das System gründet und dennoch verleugnet wird, sobald das System das Niveau seiner Selbstreproduktion erreicht – spielen die Rolle eines ‘verschwindenden Vermittlers’: Sie müssen verschwinden, unsichtbar werden, wenn das System seine Konsistenz und Kohärenz bewahren soll. Mit anderen Worten: Die Lücke, die die Genese einer Struktur von ihrer Selbstreproduktion trennt, ist unüberbrückbar; die Struktur kann die äußeren Bedingungen ihrer Genese nicht ‘in sich reflektieren’, da sie durch ihre ‘Verdrängung’ konstituiert ist; durch eine Umcodierung, die ihren äußeren, kontingenten Charakter auslöscht. Damit ist klar, wozu diese Logik der ‘autopoietischen’ Umcodierung für die Konzeptualisierung psychoanalytischer Praxis dient: Umcodierung betrifft die Integration eines äußeren, kontingenten traumatischen Kerns in das symbolische Universum des Subjekts; sie ist die Weise, eine traumatische Erfahrung zu ‘gentrifizieren’, ihren traumatischen Einschlag auszulöschen, indem sie in ein Moment sinnvoller Totalität verwandelt wird.
Erinnern wir uns nur an das Unbehagen der traditionellen demokratischen Ideologie, wenn sie mit dem ‘Exzess’ des Jakobinismus konfrontiert ist, mit der Tatsache, dass die sogenannten jakobinischen ‘Schrecken’ ein notwendiger Vermittler bei der Etablierung einer ‘normalen’ demokratischen Ordnung waren: Das Problem wird gelöst, indem man retroaktiv in den Prozess der Französischen Revolution eine Unterscheidung einführt zwischen ihrem liberalen Mainstream (Menschenrechte und Freiheiten und so weiter) und ihrer protototalitären Aberration – das heißt, indem man den Jakobinismus zu einer rein zufälligen Ausnahme erklärt.
Warum ist diese ‘Verdrängung’ des ‘verschwindenden Vermittlers’ notwendig? Weil ein symbolisches System definitionsgemäß den Charakter einer Totalität hat. Es gibt Bedeutung nur, wenn alles Bedeutung hat. In der Analyse eines Traums zum Beispiel kann man nicht einfach unter seinen Elementen diejenigen unterscheiden, die als Signifikanten interpretiert werden können, von denen, die aus rein physiologischen Prozessen resultieren: Wenn Träume ‘wie eine Sprache strukturiert’ sind, dann sind alle ihre Bestandteile als Elemente eines signifikanten Netzes zu behandeln; selbst wenn der physiologische Kausalzusammenhang offensichtlich scheint (wie im karikaturalen Fall eines Subjekts, das von einem tropfenden Wasserhahn träumt, wenn es ein Bedürfnis zu urinieren verspürt), muss man ihn ‘in Klammern setzen’ und sich auf die signifikante Reichweite der Traumbestandteile beschränken. Was Freud ‘ursprüngliche Verdrängung’ [Urverdräng-ung] nannte, ist genau dieser radikale Bruch, durch den ein symbolisches System seine Einbindung in die Kette materieller Kausalität zerbricht: Wenn kein Signifikant fehlte, hätten wir keine signifikante Struktur, sondern ein positives Netz von Ursachen und Wirkungen. In seinem Seminar XI taufte Lacan diesen ‘ursprünglich verdrängten’ Signifikanten – das ‘fehlende Glied’ der Kette des Signifikanten – den ‘binären Signifikanten’: Wegen seines konstitutiven Mangels läuft die Kette in einem Teufelskreis, sie produziert immer wieder neue ‘unäre’ Signifikanten (Herrensignifikanten), die den Kreis zu schließen versuchen, indem sie ihm retroaktiv Fundament geben.
Vielleicht gibt der philosophische Begriff der ‘transzendentalen’ Dimension den klarsten Ausdruck dieses Paradoxons einer Ordnung, deren positive Bedingung ist, dass etwas – ihr eigenes Fundament – fehlen muss, ‘verdrängt’ bleiben muss; einer Ordnung, die um ihr zentrales Leeres kreist, einer Ordnung, die durch dieses Leere definiert ist: Würde dieses Leere ausgefüllt, verlöre die Ordnung selbst ihre Konsistenz und löste sich auf. Das heißt: Die symbolische Ordnung ist durch das Paradox einer endlichen Totalität definiert: Jede Sprache konstituiert eine ‘Totalität’, ein in sich vollständiges und geschlossenes Universum; sie erlaubt kein Außen, alles kann in ihr gesagt werden; und doch ist diese Totalität zugleich von einer irreduziblen Endlichkeit gezeichnet. Die innere Spannung einer endlichen Totalität wird durch eine Schleife bezeugt, die zu unserer Grundhaltung gegenüber der Sprache gehört: Spontan setzen wir irgendwie voraus, dass die Sprache von einer ‘äußeren’ Realität abhängt, dass sie einen unabhängigen Sachverhalt ‘wiedergibt’; doch diese ‘äußere’ Realität ist immer-schon durch die Sprache erschlossen, durch sie vermittelt.
Dieser rätselhafte Zwischenstatus der symbolischen Ordnung entspricht genau dem kantischen Begriff der ‘transzendentalen Konstitution’: Transzendentale Konstitution ist mehr als eine bloß subjektive Perspektive auf die Realität, mehr als ein anderer Name für die Tatsache, dass wir dazu verurteilt sind, die Realität innerhalb der Grenzen unseres subjektiven Horizonts wahrzunehmen – der transzendentale Horizont ist ontologisch konstitutiv für das, was wir ‘Realität’ nennen; und doch ist transzendentale Konstitution in keiner Weise dasselbe wie ontische Verursachung (‘Schöpfung’) der Realität – sie ist entschieden weniger: nämlich ihr ontologischer Horizont.43 In diesem präzisen Sinn fällt der Begriff der transzendentalen Ordnung mit dem des Symbolischen zusammen: In beiden Fällen haben wir es mit einer Totalität zu tun, die auf der Ebene der ontischen Verkettung ein ‘fehlendes Glied’ impliziert. Transzendentale Konstitution vollzieht sich nur innerhalb der Schranken ontischer Endlichkeit – nur insofern die Lücke, die die phänomenale Welt unserer Erfahrung vom übersinnlichen Noumenon trennt, fortbesteht; nur insofern das Ding an sich unzugänglich bleibt – sobald über diese Lücke hinweggesprungen wird, sobald wir Zugang zum Ding an sich gewinnen, bedeutet dies das Ende des Transzendentalen als eines spezifischen Zwischenbereichs. Darin besteht der Kern von Kants philosophischer Revolution: Endlichkeit als ontologisch konstitutiv zu denken.
Und der entscheidende Punkt, der hier nicht übersehen werden darf, ist, dass Hegel gerade aufgrund des Begriffs des ‘absoluten Wissens’ vollständig innerhalb dieses kantischen Horizonts der Endlichkeit als ontologisch konstitutiv bleibt. Das heißt: Das hegelianische ‘absolute Wissen’ wird gewöhnlich als Beweis seiner Rückkehr zur vorkritischen Metaphysik angeführt: als ob die kantische Lehre vergessen wäre und das Denken erneut vorgäbe, das Absolute selbst zu ergreifen.… Mitunter stellt man dieses ‘absolute Wissen’ sogar Hegels angeblichem ‘Historizismus’ entgegen: Wie können wir uns als Teil des historischen Prozesses begreifen, als unsere (historische) Zeit im Denken gefasst, und zugleich beanspruchen, das endgültige Urteil über die Geschichte von einem Standpunkt aus zu fällen, der irgendwie davon ausgenommen ist, als ob die Geschichte zu Ende gekommen wäre?
Hegels Antwort ist natürlich, dass gerade der scheinbar bescheidene relativistische Standpunkt à la Karl Popper, der sich seiner Begrenzungen bewusst zu sein vorgibt (‘der Wahrheit kann man sich nur asymptotisch nähern, zugänglich sind uns Fragmente von Wissen, die jederzeit als falsch erwiesen werden könnten’), falsch und zu anmaßend ist: Die Position der Äußerung solcher Aussagen verrät ihr bescheidenes Ausgesagtes, da sie einen neutralen, ausgenommenen Standpunkt voraussetzt, von dem aus sie ein Urteil über die Begrenztheit ihres Inhalts fällen kann. Für Hegel hingegen gibt es keinen Widerspruch zwischen unserem Aufgehen im historischen Prozess und der Tatsache, dass wir nicht nur können, sondern verpflichtet sind, vom Standpunkt des ‘Endes der Geschichte’ zu sprechen: Gerade weil wir restlos in die Geschichte aufgenommen sind, nehmen wir unseren gegenwärtigen Standpunkt als ‘absolut’ wahr – das heißt, wir können keine äußere Distanz zu ihm wahren.
Mit anderen Worten: Absoluter Historizismus hebt sich selbst auf: Historizität besteht in der Tatsache, dass wir in jedem gegebenen historischen Moment aus einem endlichen Horizont heraus sprechen, den wir als absolut wahrnehmen – jede Epoche erfährt sich als das ‘Ende der Geschichte’. Und ‘absolutes Wissen’ ist nichts anderes als die Explikation dieses historisch bestimmten Feldes, das unseren Horizont absolut begrenzt: Als solches ist es ‘endlich’, es kann in einem endlichen Buch enthalten sein – etwa in den Werken des Individuums namens Hegel.44 Dies ist der Grund, weshalb Hegel am äußersten Ende seines Systems, auf der letzten Seite seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, sagt: ‘Dies ist nun der Standpunkt unserer Zeit, und die Reihe der geistigen Gestaltungen ist damit fürs erste [für jetzt] abgeschlossen.’45 – ein Satz, der völlig sinnlos ist, wenn wir ihn vor dem Hintergrund des Standardbegriffs von ‘absolutem Wissen’ lesen.
Hier können wir eine topologische Spezifikation des Kant-Hegel-Verhältnisses wagen. Die Struktur des kantischen transzendentalen Feldes ist die eines Kreises mit einer Lücke, da der Mensch als endliches Wesen keinen Zugang zur Totalität des Seienden hat:
Entgegen der verbreiteten Ansicht besteht der Übergang von Kant zu Hegel jedoch nicht darin, den Kreis zu schließen:
Wäre dies der Fall, würde Hegel einfach zur vorkantischen, vorkritischen Metaphysik zurückkehren. Hegel ‘schließt den Kreis’ in der Tat, aber diese Schließung selbst führt eine zusätzliche Schleife ein, die ihn in die ‘innere Acht’ des Möbiusbandes verwandelt:
Mit anderen Worten: Hegel bewahrt die Lücke, um die herum das transzendentale Feld strukturiert ist, eindeutig: Die Retroaktivität des dialektischen Prozesses (das ‘Setzen von Voraussetzungen’) bezeugt sie. Der Punkt ist nur, dass er sie verschiebt: Die äußere Grenze, die die Schließung des Kreises verhindert, verwandelt sich in eine Krümmung, die den geschlossenen Kreis selbst teuflisch macht.
Das kantische Ding
Der Status des ‘Dings an sich’ ist daher strikt ontisch: Es ist der Teil des Ontischen (der ‘innerweltlichen’ Entitäten), der nicht erscheinen darf, aus dem ontologischen Horizont herausfallen muss, wenn die ontologische Konstitution stattfinden soll – um heideggerianische Begriffe zu verwenden: wenn die ontologische Differenz sich ereignen soll. Kant war sich dieser ‘ontologischen Zweideutigkeit’ des Verhältnisses zwischen dem Transzendentalen und dem Ding an sich tief bewusst; es genügt, den letzten Absatz des ersten Teils der Kritik der praktischen Vernunft zu überfliegen, wo er ausdrücklich die Unzugänglichkeit des Dings (Gott, in diesem Fall) als positive Bedingung unserer ethischen Tätigkeit denkt: Würde Gott qua Ding sich uns unmittelbar offenbaren, könnte unsere Tätigkeit nicht länger ethisch sein, da wir das Gute nicht um des moralischen Gesetzes selbst willen tun würden, sondern aufgrund unserer direkten Einsicht in Gottes Natur – aus unmittelbarer Gewissheit, dass das Böse bestraft würde. Es ist, als ob an diesem Punkt Kants berühmte ethische Maxime ‘Du kannst, weil du sollst!’ erneut in ‘Du kannst nicht (Gott qua Ding erkennen), weil du nicht darfst (weil die Folgen dieses Wissens für den Menschen qua moralisches Wesen katastrophal wären)!’ umschlüge.
Diese katastrophalen Folgen des Eindringens in den verbotenen/unmöglichen Bereich des Dings werden im Schauerroman ausbuchstabiert: Es ist keineswegs zufällig, dass der Schauerroman, so sehr er vom Motiv des Dings in seinen verschiedenen Verkörperungen (die ‘lebenden Toten’ und so weiter) besessen ist, zeitgenössisch zu Kants transzendentaler Wende ist. Wir könnten sogar die Hypothese wagen, dass der Schauerroman eine Art Kritik avant la lettre an Kants Beharren auf der unüberwindlichen Lücke zwischen Phänomenen und dem transzendenten Ding an sich ist: Was sind die Gespenster, die darin erscheinen, wenn nicht Erscheinungen des Dings, wenn nicht Punkte eines ‘Kurzschlusses’, an denen das transphänomenale Ding in den phänomenalen Bereich eindringt und seine Kausalordnung stört?
Apropos der ‘transzendentalen Apperzeption’ weist Kant auf die völlige Leerheit des denkenden ‘Ich’ hin: ‘Ich’ ist die leere Form der Gedanken, wir können nie den Schritt von ihr zur Substanz vollziehen und das hypothetische X erreichen, ‘das Ding, das denkt’ – doch die Erscheinungen in den Schauerromanen sind genau dies: Dinge, die denken. Dieser kantische Hintergrund ist am leichtesten in den Vampirromanen zu erkennen; wenn der Held in einer typischen Szene versucht, das unschuldige Mädchen, das zum Vampir geworden ist, zu erlösen, indem er es auf die angemessene Weise endgültig erledigt (der Holzpfahl durchs Herz und so weiter), ist das Ziel dieser Operation, das Ding vom Körper zu unterscheiden, das Ding, diese Verkörperung perversen und traumatischen Genießens, aus dem Körper auszutreiben, der dem ‘normalen’ Kausalzusammenhang unterworfen ist. Erinnern wir uns nur an die Szene aus Bram Stokers Dracula, in der Arthur Lucy, seine Ex-Verlobte, pfählt:
Das Ding im Sarg wand sich; und ein entsetzliches, das Blut gerinnen machendes Kreischen kam aus den geöffneten roten Lippen. Der Körper bebte und zuckte und wand sich in wilden Verrenkungen, die scharfen weißen Zähne schnappten zusammen, bis die Lippen aufgeschnitten waren, und der Mund war mit einem karmesinroten Schaum beschmiert.
– ein verzweifelter Widerstand des Dings, des Genießens, das dagegen kämpft, nicht aus dem Körper entfernt zu werden. Wenn schließlich das Ding ausgetrieben ist, verändert sich der Ausdruck auf Lucys Gesicht wieder zum Normalen, nimmt erneut die Züge unschuldiger Seligkeit an – das Ding im Körper ist tot. Eine der üblichen Formeln über das Ding im Schauerroman ist der entsetzte Ausruf: ‘Es lebt!’ – das heißt, die Substanz des Genießens ist noch nicht mortifiziert, zerstückelt durch das transzendental-symbolische Netz. Das übliche marxistische Vampirmetapher ist die des Kapitals, das das Blut der Arbeitskraft saugt, Verkörperung der Herrschaft der Toten über die Lebenden; vielleicht ist die Zeit gekommen, sie umzukehren: die wirklichen ‘lebenden Toten’ sind wir, gewöhnliche Sterbliche, dazu verurteilt, im Symbolischen zu vegetieren.
Gerade aus diesem Grund jedoch sind Vampire nicht Teil unserer Realität: Sie existieren nur als ‘Wiederkehr des Realen’; als Phantasieformationen, die die Lücke ausfüllen, die radikale Diskontinuität zwischen den beiden Perspektiven (dem ‘Vorwärtsblick’, der die Situation als ‘offen’ wahrnimmt, und dem ‘Rückwärtsblick’, der den vergangenen Verlauf der Ereignisse als kausal bestimmt wahrnimmt). Die beiden Perspektiven können niemals vollständig synchronisiert werden, da die Lücke, die sie trennt, ein anderer Name für das Subjekt ist. Man kann eine Perspektive nicht auf die andere reduzieren, indem man zum Beispiel behauptet, das ‘wahre’ Bild sei das der Notwendigkeit, das der ‘Rückwärtsblick’ entdeckt, und Freiheit sei nur eine Illusion der unmittelbaren Handelnden, die übersehen, wie ihre Tätigkeit nur ein Rad innerhalb des großen Kausalmechanismus ist; oder umgekehrt, indem man eine Art sartreanische existentialistische Perspektive einnimmt und die letzte Autonomie und Freiheit des Subjekts bekräftigt, die Erscheinung von Determinismus als spätere ‘pratico-inerte’ Objektivierung der spontanen Praxis des Subjekts begreift. Wenn wir so verfahren, behalten wir die ontologische Einheit des Universums bei, sei es in der Form substantieller Notwendigkeit, die hinter dem Rücken des Subjekts die Fäden zieht, oder in der Form der autonomen Tätigkeit des Subjekts, die sich in der substantiellen Einheit ‘objektiviert’ – verloren geht in beiden Fällen das Subjekt im lakanschen Sinn, das nicht eine autonome Macht ist, die die Substanz ‘setzt’, sondern genau ein Name für die Lücke innerhalb der Substanz, für die Diskontinuität, die uns daran hindert, die Substanz als in sich geschlossene Totalität zu denken.
Die letzte Konsequenz dieses Status des Subjekts qua Diskontinuität innerhalb der Substanz, seiner zeitlichen Nicht-Synchronisierung, ist jedoch, dass er eine zusätzliche ‘Drehung der Schraube’ einschließt: eine Umkehrung des oben beschriebenen Begriffs des historischen Prozesses als ‘vorwärts offen – rückwärts bestimmt’. Nämlich: Als wir von der symbolischen Integration eines Traumas sprachen, ließen wir ein entscheidendes Detail aus: Die Logik von Freuds Begriff der ‘Nachträglichkeit’ besteht nicht in der nachträglichen ‘Gentrifizierung’ einer traumatischen Begegnung durch ihre Verwandlung in eine normale Komponente unseres symbolischen Universums, sondern in fast dem genauen Gegenteil davon – etwas, das zunächst als ein bedeutungsloses, neutrales Ereignis wahrgenommen wurde, verwandelt sich retroaktiv, nach dem Auftreten eines neuen symbolischen Netzes, das den Ort der Äußerung des Subjekts bestimmt, in ein Trauma, das in dieses Netz nicht integriert werden kann.
Erinnern wir uns nur an Freuds Analyse des Wolfsmanns: Der väterliche Koitus a tergo wurde zunächst als etwas Neutrales wahrgenommen, als eine Spur ohne libidinöses Gewicht, und erst Jahre später, mit der weiteren Ausarbeitung der sexuellen ‘Theorien’ des Kindes, erhielt er seinen traumatischen Status: Erst auf dieser späteren Stufe wurde es dem Kind möglich, ‘etwas damit zu machen’, es in einen symbolischen Rahmen in der Form einer traumatischen Wunde einzupassen. Auch hier erhält Hegels Satz, dass das, was verloren ist, dadurch wird, dass es verloren ist, seinen vollen Wert: Ein Ereignis wird nachträglich, mit dem Auftreten eines symbolischen Raums, innerhalb dessen es nicht vollständig integriert werden kann, als ‘traumatisch’ erfahren.
Und ist es letztlich nicht dasselbe beim Akt der Freiheit? Ein Akt ist niemals vollständig ‘gegenwärtig’, die Subjekte sind niemals vollständig dessen bewusst, dass das, was sie ‘jetzt’ tun, das Fundament einer neuen symbolischen Ordnung ist – erst nachträglich nehmen sie die wahre Dimension dessen zur Kenntnis, was sie bereits getan haben. Die gängige Weisheit, nach der Geschichte in actu als der Bereich der Freiheit erlebt wird, während wir retroaktiv ihre kausale Bestimmtheit wahrnehmen können, ist daher am Ende doch idiotisch und muss umgekehrt werden: Wenn wir im Fluss der Ereignisse gefangen sind, handeln wir ‘automatisch’, als ob unter dem Eindruck, dass es nicht anders möglich sei, dass es wirklich keine Wahl gebe; während der rückblickende Blick zeigt, wie die Ereignisse eine radikal andere Wendung hätten nehmen können – wie das, was wir als Notwendigkeit wahrnahmen, tatsächlich eine freie Entscheidung von uns war. Mit anderen Worten: Was wir hier antreffen, ist eine weitere Bestätigung der Tatsache, dass die Zeit des Subjekts niemals ‘gegenwärtig’ ist – das Subjekt ‘ist’ niemals, es wird nur ‘gewesen sein’: Wir sind niemals frei, erst nachträglich entdecken wir, wie wir frei gewesen sind.46 Das ist die letzte Bedeutung des ‘fehlenden Glieds’: Es fehlt niemals ‘jetzt’ – ‘jetzt’, in der Gegenwart, ist die Kette immer vollendet; erst nachträglich, wenn wir versuchen, die Kette zu rekonstruieren, entdecken wir, wie ‘etwas fehlt’.
[…] ergibt8. Die Bühne des Philosophen9. Hegel und der notwendige Fehler10. Das verborgene Vierte11. Das fehlende Glied12. Glaube an die Lüge13. Der König ist ein Ding14. Die verborgenen Strukturen der […]
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