Denn sie wissen nicht was sie tun 13

II ‘DER KÖNIG IST EIN DING’

Die zwei Körper des Königs

Nach Saint-Justs berühmtem Motto hat die Revolution das Glück als politischen Faktor etabliert. Was Saint-Just unter ‘Glück’ verstand, hat natürlich wenig mit Genuss zu tun: Es impliziert revolutionäre Tugend, eine radikale Entsagung der dekadenten Vergnügungen des ancien régime. Im jakobinischen Universum ist dieser Genussüberschuss, der den gesunden Körper des Volkes verdirbt, in der Person des Königs verkörpert: Es ist, als kondensiere der Körper des Königs selbst in sich die geheime Ursache der Versklavung des Volkes an die Kräfte der Korruption und der Tyrannei. Die Jakobiner vollzogen hier eine Art anamorphotischer Umkehrung: Was in der traditionellen Perspektive als charismatische Verkörperung des Volkes erschien, als der Punkt, an dem die ‘Lebenssubstanz’ des Volkes unmittelbare Existenz gewann, verwandelt sich nun, aus einer anderen Perspektive betrachtet, in eine krebsartige Ausstülpung, die den Körper des Volkes kontaminiert – weshalb die Reinigung des Volkes verlangt, dass diese Ausstülpung abgeschnitten wird. Um Saint-Just zu paraphrasieren: Soll die Republik überleben, muss dieser Mann – der König – getötet werden, denn seine bloße Existenz stellt eine Bedrohung für die Republik dar.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die Jakobiner mit dieser Logik der notwendigen Hinrichtung des Königs in eine Sackgasse gerieten; doch diese Sackgasse ist raffinierter, als es scheinen mag. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien die Jakobiner einer Illusion erlegen, auf die unter anderem Marx in einer Anmerkung zu Kapitel 1 des Kapitals hinweist: Sie übersahen, dass ‘ein König zu sein’ keine unmittelbare natürliche Eigenschaft der Person eines Königs ist, sondern eine ‘Reflexionsbestimmung’ – dass ein König König ist, weil seine Untertanen ihn so behandeln, und nicht umgekehrt. Der richtige Weg, diese Illusion loszuwerden, ist daher nicht der Mord am König, sondern die Auflösung des Netzes sozialer Beziehungen, innerhalb dessen eine bestimmte Person den Status eines Königs erlangt – sobald dieses symbolische Netzwerk seine performative Macht verliert, sehen wir plötzlich, wie die Person, die zuvor solche Faszination auslöste, in Wirklichkeit ein Individuum wie andere ist; wir werden mit dem materiellen Rest konfrontiert, der an der symbolischen Funktion klebte.36 Es ist richtig, dass wir so zu dem tröstlichen Schluss gelangen, die größte Strafe für den König sei, ihn außerhalb seiner symbolischen Funktion leben zu lassen, als gewöhnlichen Bürger, was zugleich der erfolgreichste Weg sein soll, die symbolische Wirksamkeit der Funktion ‘König’ außer Kraft zu setzen; eine solche Unterscheidung zwischen König als symbolischer Funktion und ihrem empirischen Träger verfehlt jedoch ein Paradox, das wir mit dem von Andrzej Warminski eingeführten Ausdruck ‘chiastischer Austausch von Eigenschaften’ bezeichnen könnten.37

Claude Lefort hat dieses Paradox bereits im Zusammenhang mit seiner Kritik an der klassischen These von Ernst Kantorowicz über ‘die zwei Körper des Königs’ artikuliert: seinen erhabenen, immateriellen, sakralen Körper und seinen irdischen Körper, der dem Zyklus von Entstehung und Verfall unterworfen ist.38 Der Punkt ist nicht einfach, dass sein vergänglicher materieller Körper als Stütze, Symbol, Inkarnation seines erhabenen Körpers dient; er besteht vielmehr in der merkwürdigen Tatsache, dass, sobald eine bestimmte Person als ‘König’ fungiert, ihre alltäglichen, gewöhnlichen Eigenschaften eine Art ‘Transsubstantiation’ durchlaufen und zum Objekt der Faszination werden:

… es ist der natürliche Körper, der, weil er mit dem übernatürlichen Körper verbunden ist, den Zauber ausübt, der das Volk entzückt. Insofern er ein geschlechtlicher Körper ist, ein zur Fortpflanzung und zur physischen Liebe fähiger Körper, und ein fehlbarer Körper, bewirkt er eine unbewusste Vermittlung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen.39

Die Weisheit der königlichen Familien bis zum heutigen Tag bestand daher nicht nur darin, Gerüchte über ihre Intrigen, kleinen menschlichen Schwächen, Liebesabenteuer und so weiter zu tolerieren, sondern sie sogar anzustacheln – all dies diente genau dazu, das Charisma der königlichen Figuren zu verstärken. Je mehr wir den König als gewöhnlichen Mann darstellen, gefangen in denselben Leidenschaften, Opfer derselben Kleinlichkeiten wie wir – das heißt: je mehr wir seine ‘pathologischen’ Züge (im kantischen Sinn des Wortes) akzentuieren –, desto mehr bleibt er ‘König’. Wegen dieses paradoxen Austauschs von Eigenschaften können wir dem König sein Charisma nicht einfach dadurch nehmen, dass wir ihn als unseresgleichen behandeln. Im Moment seiner größten Erniedrigung erweckt er absolutes Mitleid und Faszination – man denke an den Prozess gegen ‘Bürger Louis Capet’.

Worum es geht, ist daher nicht einfach die Spaltung zwischen der empirischen Person des Königs und seiner symbolischen Funktion. Der Punkt ist vielmehr, dass diese symbolische Funktion seinen Körper selbst verdoppelt, eine Spaltung zwischen dem sichtbaren, materiellen, vergänglichen Körper und einem anderen, erhabenen Körper einführt, einem Körper aus einem besonderen, immateriellen Stoff. In seinem Seminar über Das Begehren und seine Deutung (1958–9) schlägt Lacan eine ähnliche Lektüre des bekannten Dialogs aus Hamlet vor: ‘Der Körper ist beim König, aber der König ist nicht beim Körper. Der König ist ein Ding. – Ein Ding, mein Herr? – Aus nichts.’ Die Unterscheidung Körper/Ding fällt hier mit dem Unterschied zwischen dem materiellen und dem erhabenen Körper zusammen: Das ‘Ding’ ist, was Lacan objet petit a nennt, ein erhabener, ausweichender Körper, der ein ‘Ding aus nichts’ ist, ein reiner Schein ohne Substanz. Nach Lacan müssen wir hier den Grund für Hamlets Zögern und Ausweichen suchen: Er will Claudius so treffen, dass er, indem er dem materiellen Körper einen Schlag versetzt, das ‘Ding’ in ihm trifft, den erhabenen Körper des Königs. Zugleich weiß er, dass dieser erhabene Körper, insofern er ein reiner Schein ist, ihm auf immer entgleiten wird – sein Schlag wird immer ins Leere gehen:

… man kann den Phallus nicht schlagen, denn der Phallus, selbst der reale Phallus, ist ein Schein.

Wir waren damals von der Frage beunruhigt, warum schließlich niemand Hitler ermordet hat – Hitler, der sehr wohl dieses Objekt ist, das nicht wie die anderen ist, dieses Objekt x, dessen Funktion in der Homogenisierung der Menge mittels Identifikation Freud gezeigt hat. Führt das nicht auf das zurück, worüber wir hier sprechen?

… Was hält Hamlets Arm zurück? Es ist nicht Angst – er empfindet nichts als Verachtung für den Typen –, es ist, weil er weiß, dass er etwas anderes treffen muss als das, was da ist.40

Die Sackgasse der Jakobiner in Bezug auf den König ist auf derselben Ebene anzusiedeln. Sie wurden von der richtigen Intuition geleitet, dass wir beim König nicht einfach die empirische Person von seinem symbolischen Mandat unterscheiden können – je mehr wir die Person isolieren, desto mehr bleibt dieser Rest ein König. Dennoch kann ihr Königsmord nur als fehlgerichtet auf uns wirken, als impotentes acting out, das zugleich exzessiv und leer war. Anders gesagt: Wir können dem paradoxen, widersprüchlichen Eindruck nicht entgehen, dass die Enthauptung des Königs im Grunde überflüssig war und ein entsetzlicher Sakrileg, der das Charisma des Königs gerade durch seine physische Zerstörung bestätigte. Derselbe Eindruck stellt sich in allen ähnlichen Fällen ein, einschließlich der Hinrichtung Ceaușescus: Als sie mit dem Bild seines blutbefleckten Körpers konfrontiert wurden, wichen selbst die größten Feinde seines Regimes zurück, als wären sie Zeugen übermäßiger Grausamkeit, doch zugleich blitzte ein seltsamer Schrecken in ihrem Kopf auf, gemischt mit Unglauben: Ist er das wirklich? Oder, in den Begriffen aus Hamlet: Ist das Ding wirklich bei diesem Körper? Ist es wirklich mit ihm gestorben?

Die zwei Körper Lenins

Diese Erwähnung Ceaușescus ist keineswegs zufällig. Innerhalb der nachrevolutionären ‘totalitären’ Ordnung haben wir eine Wiederkehr des erhabenen politischen Körpers in Gestalt des Führers und/oder der Partei erlebt. Die tragische Größe der Jakobiner besteht gerade darin, dass sie sich weigerten, diesen Schritt zu vollziehen: Sie zogen es vor, physisch ihren Kopf zu verlieren, statt den Übergang zur persönlichen Diktatur auf sich zu nehmen (statt einem napoleonischen Thermidor beizuwohnen). Sie wollten nicht eine bestimmte Schwelle überschreiten, jenseits derer sie wieder ‘unschuldig herrschen’ könnten, indem sie die Position eines reinen Instruments des Willens des Anderen übernähmen. Es war natürlich wiederum Saint-Just, der ‘reinste’ unter ihnen, der eine Art Vorahnung dieser Schwelle hatte, als er den Wankelmütigen, die es nicht wagten, die Last des Terrors zu übernehmen, die implizite Überlegung zuschrieb: ‘Wir sind nicht tugendhaft genug, um so schrecklich zu sein.’

Den Jakobiner fehlte die absolute Gewissheit, dass sie nichts als ein Instrument seien, das den Willen des großen Anderen (Gott, Tugend, Vernunft, Sache) erfüllt. Sie wurden stets von der Möglichkeit gequält, dass hinter der Fassade des Vollstreckers des Terrors im Namen der revolutionären Tugend irgendein ‘pathologisches’ privates Interesse verborgen sein könnte – oder, um eine knappe Formulierung Leforts zu zitieren:

Tatsache ist, dass die Organisation des Terrors niemals so beschaffen war, dass seine Agenten sich von ihrem eigenen Willen hätten befreien oder sich einem Körper hätten einprägen können, dessen Kohäsion durch die Existenz seines Kopfes gesichert war. Kurz, sie konnten nicht als Bürokraten handeln.41

Als solche waren sie, sozusagen, ontologisch schuldig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Guillotine ihre Köpfe abschneiden würde. Genau aus diesem Grund jedoch war ihr Terror demokratisch, noch nicht ‘totalitär’, im Unterschied zum postdemokratischen Totalitarismus, in dem die Revolutionäre die Rolle eines Instruments des großen Anderen vollständig übernehmen, wodurch sich ihr eigener Körper wiederum verdoppelt und erhabene Qualität annimmt. Vor diesem Hintergrund müssen wir zum Beispiel Stalins berühmtes ‘Gelöbnis der bolschewistischen Partei an ihren Führer Lenin’ begreifen: ‘Wir, die Kommunisten, sind Menschen von besonderem Schlag. Wir sind aus besonderem Stoff gemacht’ – es ist ziemlich leicht, den lacanischen Namen für diesen ‘besonderen Stoff’ zu erkennen: objet petit a, das erhabene Objekt, das Ding im Körper.

Im ersten Kapitel der ersten Ausgabe des Kapitals dachte Marx das Geld in seinem Verhältnis zu allen anderen Waren als ein paradoxes Element, das unmittelbar, in seiner Singularität selbst, die Universalität aller Waren verkörpert – als eine ‘singuläre Realität, die in sich alle tatsächlich existierenden Arten derselben Gattung umfasst’.42 Dieselbe paradoxe Logik kennzeichnet auch das Funktionieren der ‘totalitären’ Partei: Es ist, als existierte neben Klassen, Schichten, Gruppen und Untergruppen, ihren ökonomischen, politischen und ideologischen Strukturen, die zusammen die verschiedenen Teile des soziohistorischen Universums bilden, das von den objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung regiert wird, die Partei als unmittelbare individuelle Inkarnation dieser objektiven Gesetze, als ein Punkt paradoxen Kurzschlusses zwischen subjektivem Willen und objektiven Gesetzen. Darin besteht der ‘besondere Schlag’ der Kommunisten: Sie sind die inkarnierte ‘objektive Vernunft der Geschichte’, und insofern der Stoff, aus dem sie gemacht sind, letztlich ihr Körper ist, durchläuft dieser Körper wiederum eine Art Transsubstantiation; er verwandelt sich in einen Träger eines anderen Körpers innerhalb der vergänglichen materiellen Hülle.

Es wäre interessant, auf der Grundlage dieser Logik des erhabenen Körpers der Kommunisten Lenins Briefe an Maxim Gorki neu zu lesen, vor allem jene aus dem Jahr 1913, die die Debatte um den ‘Gottesaufbau’ [bogograditel’stvo] betreffen, eine revisionistische Strömung der russischen Sozialdemokratie, die von Gorki unterstützt wurde. Das Erste, was ins Auge springt, ist ein Merkmal ohne jedes offensichtliche theoretische Gewicht: Lenin ist buchstäblich von Gorkis guter Gesundheit besessen – hier einige Proben von Lenins Schlussworten:

– Lass mich wissen, wie es dir geht. / Dein, Lenin.

– Bist du bei guter Gesundheit? / Dein, Lenin.

– Pass auf dich auf. Schreib mir ein Wort. Ruh dich besser aus. / Dein, Lenin.

Als Lenin im Herbst 1913 hörte, dass ein Mitbolschewik Gorki wegen seiner Lungenentzündung mit einer neuen Methode behandelte, schrieb er ihm umgehend:

Wenn ein ‘Bolschewik’ – zwar ein alter – dich mit einer neuen Methode behandelt, muss ich gestehen, dass mich das entsetzlich beunruhigt! Gott bewahre uns vor Ärzte-Freunden überhaupt und vor Ärzte-Bolschewiken im Besonderen! … Ich versichere dir, du musst eine Kur nur bei den besten Spezialisten machen (abgesehen von harmlosen Fällen). Es ist einfach schrecklich, an sich selbst die Erfindungen eines bolschewistischen Arztes auszuprobieren!! Lass dich wenigstens von den Professoren in Neapel untersuchen … [damals lebte Gorki auf Capri]… wenn diese Professoren ihren Job wirklich verstehen .… Ich sage dir: Wenn du diesen Winter [Capri] verlässt, musst du ohne weiteres einige erstklassige Ärzte in der Schweiz und in Wien aufsuchen – es wäre unverzeihlich, das nicht zu tun!

Gehen wir über die Assoziationen hinweg, die eine rückblickende Lektüre dieser Passage heute unweigerlich hervorruft (zwanzig Jahre später probierte ganz Russland an sich die neuen Methoden eines gewissen Bolschewiken aus); stellen wir vielmehr die Frage nach dem Bedeutungshorizont von Lenins Sorge um Gorkis Gesundheit. Auf den ersten Blick scheinen die Gründe klar und unschuldig genug: Gorki war ein wertvoller Verbündeter und verdiente als solcher große Fürsorge .… Der folgende Brief wirft jedoch bereits ein anderes Licht auf die ganze Angelegenheit: Lenin ist alarmiert über Gorkis positive Haltung gegenüber dem ‘Gottesaufbau’, der nach Gorki nur ‘aufgeschoben’, ‘für den Moment’ beiseitegelegt, keinesfalls ‘zurückgewiesen’ werden solle. Eine solche Haltung ist für Lenin unbegreiflich, eine äußerst unangenehme Überraschung – hier Anfang und Ende dieses Briefes:

Lieber Alexei Maximowitsch, / was machst du denn da? Wirklich, es ist schrecklich, einfach schrecklich! // Warum tust du das? Es tut entsetzlich weh. / Dein, VI.

Und hier außerdem das Postskriptum:

P.S. Nimm deine Gesundheit ernster, wirklich, damit du im Winter reisen kannst, ohne dich zu erkälten (im Winter ist es gefährlich).

Worum es hier wirklich geht, tritt am Ende des folgenden Briefes, der zusammen mit dem vorhergehenden abgeschickt wurde, noch deutlicher hervor:

Ich lege den gestrigen Brief bei: Nimm es mir nicht übel, dass ich mich habe hinreißen lassen. Vielleicht habe ich dich nicht gut verstanden? Vielleicht hast du gescherzt, als du ‘für den Moment’ geschrieben hast? Über den ‘Gottesaufbau’ hast du das vielleicht nicht ernst gemeint? / Um Himmels willen, kümmere dich ein bisschen besser um dich. / Dein, Lenin.

Hier ist das Ding schließlich formal und ausdrücklich gesagt: Im Grunde fasst Lenin Gorkis ideologische Verwirrung und seine Zögerlichkeiten als Zeichen seiner Krankheit und körperlichen Erschöpfung auf. Deshalb nimmt er Gorkis Gegenargumente nicht ernst – in letzter Instanz besteht seine Antwort darin, zu wiederholen: ‘Entspann dich, kümmere dich besser um dich…’.

Diese Haltung Lenins hat jedoch überhaupt nichts mit irgendeiner Art vulgärem Materialismus zu tun, mit einer unmittelbaren Reduktion von Gorkis Argumentation auf physiologische Prozesse; im Gegenteil, sie impliziert einen Begriff des Kommunisten als eines Menschen von ‘besonderem Schlag’: Wenn ein Kommunist als Kommunist spricht und handelt, spricht und handelt durch ihn die objektive Notwendigkeit der Geschichte selbst. Mit anderen Worten: Der Geist eines wahren Kommunisten kann nicht abweichen, weil er das unmittelbare Selbstbewusstsein der historischen Notwendigkeit ist – folglich kann nur eines schiefgehen und Unordnung einführen: sein Körper, diese fragile Materialität, die mit dem Mandat belastet ist, als vergängliche Stütze eines anderen Körpers zu dienen, ‘aus besonderem Stoff gemacht’. Ist nicht der letztgültige Beweis dieser besonderen Haltung leninistischer Kommunisten zum Körper die Tatsache des Mausoleums – ihr zwanghafter Drang, den Körper des toten Führers (Lenin, Stalin, Ho Chi Minh, Mao Zedong) unversehrt zu bewahren? Wie lässt sich diese obsessive Sorge erklären, wenn nicht durch den Hinweis darauf, dass im symbolischen Universum der Kommunisten der Körper des Führers nicht bloß ein gewöhnlicher vergänglicher Körper ist, sondern ein in sich verdoppelter Körper, eine Hülle des erhabenen Dings?

Wie lässt sich das Volk aus dem Inneren des Volkes herausziehen?

Das Auftreten dieses erhabenen Körpers ist klar mit der illegalen Gewalt verknüpft, die die Herrschaft des Gesetzes begründet: Sobald die Herrschaft des Gesetzes etabliert ist, dreht sie sich in ihrem Teufelskreis, ‘setzt ihre Voraussetzungen’, indem sie ihre Ursprünge verwirft; damit jedoch die synchrone Ordnung des Rechts funktioniert, muss sie von einem ‘kleinen Stück des Realen’ getragen werden, das innerhalb des Raums des Rechts den Platz seiner gründenden/verworfenen Gewalt hält – der erhabene Körper ist genau dieses ‘kleine Stück des Realen’, das die Leere des Teufelskreises des Rechts ‘zustopft’ und so verdeckt. Die Logik des erhabenen Körpers des ‘totalitären’ Führers ist jedoch nicht dieselbe wie die traditionelle Logik der ‘zwei Körper des Königs’ – worin unterscheiden sie sich? Die Antwort muss über einen unerwarteten Umweg gesucht werden: beim Marquis de Sade.

Lacan – ganz zu schweigen von Adorno und Horkheimer – hat bereits die innere Verbindung zwischen de Sade und der kantischen Ethik aufgezeigt – hat behauptet, dass das sadische Universum uns die Wahrheit des kantischen ethischen Formalismus bietet. Die strukturelle Homologie zwischen Kant und dem demokratischen Terror ist ebenfalls ein klassischer Topos: In beiden Fällen besteht der Ausgangspunkt in einem Akt radikaler Entleerung, Evakuierung. Bei Kant wird der Ort des höchsten Guts evakuiert und leer gelassen: Jedes positive Objekt, das diesen Platz einnehmen würde, ist definitionsgemäß ‘pathologisch’, von empirischer Kontingenz gezeichnet, weshalb das moralische Gesetz auf die reine Form reduziert werden muss, die unseren Handlungen den Charakter der Universalität verleiht. Die elementare Operation des jakobinischen demokratischen Terrors ist ebenfalls die Evakuierung des Ortes der Macht: Jeder Prätendent auf diesen Platz ist definitionsgemäß ein ‘pathologischer’ Usurpator – ‘niemand kann unschuldig herrschen’, um Saint-Just erneut zu zitieren. Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung ist, dass es auch eine Parallele zwischen de Sade und Saint-Just geben muss.

Beginnen wir mit der grundlegenden sadischen Fantasie, wie sie der Papst in Buch V von Juliette formuliert. Die hier artikulierte sadische Vision der Natur ist ein wirkungsvoller Vorläufer des stalinistischen ‘dialektischen Materialismus’: Die Natur wird als ein ewiger Kreislauf von Entstehung und Verfall begriffen, in dem nach eisernen Gesetzen das Alte verwelkt und das Neue geboren wird. Warum aber gibt de Sade der Zerstörung eindeutig den Vorzug, bevor er das Neue hervorbringen lässt? Nach seiner Auffassung ist die Natur eine Sklavin ihrer eigenen Gesetze, gefangen in der unerbittlichen Notwendigkeit ihrer zirkulären Bewegung; der einzige Weg, sie in die Lage zu versetzen, etwas wirklich Neues zu schaffen, ist daher ein absolutes Verbrechen – das heißt ein Verbrechen, dessen zerstörerische Kraft die zirkuläre Bewegung von Entstehung und Verfall übersteigt, ein Verbrechen, das diesen Kreislauf selbst unterbricht und, sozusagen, die Natur von ihren eigenen Gesetzen befreit, ihr ermöglicht, neue Lebensformen ex nihilo zu schaffen, vom Nullpunkt aus. Darin verortet Lacan die Verbindung zwischen Sublimierung und Todestrieb: Sublimierung entspricht der Schöpfung ex nihilo auf der Grundlage der Vernichtung der vorausgehenden Tradition. Es ist nicht schwer zu sehen, wie alle radikalen revolutionären Projekte, die Roten Khmer eingeschlossen, auf derselben Fantasie einer radikalen Vernichtung der Tradition und der Schöpfung ex nihilo eines neuen (erhabenen) Menschen beruhen, befreit von der Korruption der bisherigen Geschichte. Dieselbe Fantasie inspirierte auch den jakobinischen revolutionären Terror: Die Revolution muss den Körper des Volkes, der durch die lange Herrschaft der Tyrannei verdorben wurde, auslöschen und aus ihm einen neuen, erhabenen Körper herausziehen. Um aus Billaud-Varenne’s Rede vor dem Konvent vom 20 April 1794 zu zitieren:

Das französische Volk hat euch eine Aufgabe gestellt, die so umfassend ist, wie sie schwer auszuführen ist. Die Errichtung einer Demokratie in einer Nation, die so lange in Ketten dahingesiecht ist, könnte man mit den Anstrengungen vergleichen, die die Natur während des erstaunlichen Übergangs vom Nichts zum Dasein macht, und diese Anstrengungen waren zweifellos größer als jene, die beim Übergang vom Leben zur Vernichtung im Spiel sind. Wir müssen, sozusagen, das Volk, das wir der Freiheit zurückgeben wollen, neu erschaffen.43

Die Konturen der sadischen Fantasie sind hier leicht zu erkennen: Wie der sadische Agent in Bezug auf die Natur hat der Revolutionär das Volk aus den Ketten der alten Gesellschaft zu befreien, es in die Lage zu versetzen, seinen verdorbenen Körper abzuwerfen und sich ex nihilo (neu) zu schaffen, das heißt den ‘erstaunlichen Übergang vom Nichts zum Dasein’ zu wiederholen: ‘Da das Volk aus dem Inneren des Volkes herausgezogen werden muss, ist das einzige Mittel, es aus sich selbst herauszuziehen, eine Unterscheidung zwischen Sein und Nichts zu machen.’44 Diese ‘Herausziehung des Volkes aus dem Inneren des Volkes’ entspricht der Herausziehung des erhabenen, reinen Objekts (Dings) aus dem verdorbenen Körper. Ihre Logik lässt sich perfekt durch ein wohlbekanntes Paradox aus Zeichentrickfilmen illustrieren: In einem Moment von Panik oder Kampf streift ein Wolf oder eine Katze seine Tierhaut ab, und darunter erblicken wir gewöhnliche menschliche Haut – im Cartoon-Universum hat die behaarte Tierhaut somit den Status von Kleidung; Tiere sind in Wahrheit Menschen, die als Tiere verkleidet sind. Um sich zu überzeugen, müssen wir nur ihre trügerische Hülle abkratzen .… Das Ziel des revolutionären Terrors ist ebenfalls, zu einer solchen Entkleidung zu gelangen: die tierische, barbarische Haut des Volkes abzuziehen, in der Hoffnung, dass seine wahre, tugendhafte menschliche Natur so erscheinen und sich frei behaupten werde.

Alle von Lefort in der aus Billaud-Varenne zitierten Passage aufgedeckten Paradoxien folgen derselben Matrix des Zeit-Paradoxons. Das Volk beauftragt den Konvent – das heißt seine Delegierten – mit dem Mandat, ihm Geburt zu geben, es neu aus dem Nichts zu erschaffen .… Wie kann jemand, der noch nicht existiert, die Mission delegieren, sich selbst zu erschaffen? Wie kann jemand, der noch darauf wartet, geschaffen zu werden, seiner eigenen Empfängnis vorausgehen? Hier bietet die lacanische Theorie eine präzise Antwort: Diese paradoxe Präsenz ist die eines reinen Objekts, Stimme oder Blick. Vor seiner eigentlichen Geburt ist die Nation als Über-Ich-Stimme präsent, die den Konvent mit der Aufgabe beauftragt, ihr Geburt zu geben. Lefort ist durchaus berechtigt, diesen Zustand mit dem Begriff ‘Fantasie’ zu bezeichnen. Die Struktur dieses Zeit-Paradoxons erlaubt es uns auch, die Logik des erhabenen Körpers des Führers zu artikulieren. Indem er sich als eine Instanz begreift, durch die das Volk sich selbst Geburt gibt, übernimmt der Führer die Rolle eines Stellvertreters aus (aus der) Zukunft; er handelt als Medium, durch das das zukünftige, noch nicht existierende Volk seine eigene Empfängnis organisiert. Was im Fall des Mythos der ‘ursprünglichen Akkumulation’ eine rückwirkende Projektion war, wird nun zur Selbstlegitimation eines tatsächlichen politischen Akteurs.

Die ‘Hypothese des Herrn’

Die allgemeine Schlussfolgerung aus dem, was wir bisher ausgearbeitet haben, lautet, dass es nicht ausreicht, um das Funktionieren eines gegebenen ideologischen Feldes zu erfassen, auf die symbolische Ordnung (den lacanischen ‘großen Anderen’) und ihre unterschiedlichen Mechanismen (Überdeterminierung, Verdichtung, Verschiebung und so weiter) zu verweisen. Innerhalb dieses Feldes ist stets ein Rest eines Objekts am Werk, ein Rest, der sich der Symbolisierung widersetzt, der reine Lust kondensiert, materialisiert und der in unserem Fall die Form des anderen, erhabenen Körpers des Königs oder des Führers annimmt. Dieser Rest des erhabenen Körpers der Macht ist es, der das Subjekt verführt, ‘hinsichtlich seines Begehrens nachzugeben’ und sich so in die Paradoxien der servitude volontaire zu verstricken, wie es La Boétie bereits klar war:

Euer Unterdrücker hat nur zwei Augen, zwei Hände, einen Körper, und er hat nichts, was der Geringste eurer unendlichen Zahl von Bürgern nicht hätte – außer dem Vorteil, den ihr ihm gebt, nämlich der Macht, euch zu vernichten. Woher hat er jene Augen, die euch ausspähen, wenn ihr sie ihm nicht gegeben habt? Hätte er all jene Hände, um euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch erhielte? Jene Füße, die eure Städte zertreten, woher hat er sie, wenn sie nicht die euren sind? Welche Macht hat er über euch, wenn es nicht die Macht ist, die ihr ihm gebt?45

La Boéties Antwort ist daher letztlich die Pascals und Marx’: Es ist das Subjekt selbst, das den Herrn zum Herrn macht, indem es sich dem Herrn gegenüber auf eine subjektartige Weise verhält. Das Geheimnis des Herrn, das, was ‘im Herrn mehr ist als er selbst’, jenes unergründliche X, das ihm die charismatische Aura verleiht, ist nichts als das umgekehrte Bild der ‘Gewohnheit’, des symbolischen Ritus des Subjekts – daher La Boéties Rat: Es gibt nichts Einfacheres, als den Herrn loszuwerden; man muss nur aufhören, ihn wie einen solchen zu behandeln, und automatisch wird er aufhören, einer zu sein:

… ihr könnt euch befreien, wenn ihr euch bemüht – nicht ein Bemühen, euch zu befreien, sondern ein Bemühen, es zu wollen! Beschließt, keine Sklaven mehr zu sein, und ihr seid frei! Ich verlange nicht von euch, ihn aus dem Weg zu stoßen, ihn zu stürzen: hört nur auf, ihn zu stützen, und wie ein großer Koloss, dem man den Sockel unter ihm weggezogen hat, wird er zusammenbrechen und unter seinem eigenen Gewicht zerschmettert werden.46

Beachte La Boéties präzise Formulierung: Um sich vom Joch des Herrn zu befreien, ist das Subjekt nicht verpflichtet, ein Bemühen zur Befreiung zu unternehmen, nur ein Bemühen, es tun zu wollen! Mit anderen Worten: Die Geste, die einen Herrn konstituiert, ist eine Geste, in der es keine Lücke zwischen ‘Wollen’ und dessen Vollzug gibt: In dem Moment, in dem wir etwas ‘wollen’, ist es getan. Warum bleiben die Subjekte also überhaupt Diener? Warum behandeln sie ihren Herrn auf herrenhafte Weise? Es gibt nur eine mögliche Antwort: weil dasselbe Paradox auch den Status der Freiheit bestimmt:

Freiheit ist das eine, wonach Menschen kein Verlangen haben, und es scheint, als sei der einzige Grund dafür der, dass sie sie hätten, wenn sie sie verlangten.47

‘Freiheit’ ist daher der unmögliche Punkt reiner ‘Performativität’, an dem die Intention unmittelbar mit ihrer Erfüllung zusammenfällt: Um sie zu haben, muss ich sie nur begehren – eine solche Sättigung blockiert natürlich vollständig den Raum des Begehrens. Und die ‘Hypothese des Herrn’ ist genau eine der möglichen Auswege, die es uns erlauben, unser Begehren vor dieser Sättigung zu retten: Wir ‘externalisieren’ das Hindernis, die immanente Sackgasse des Begehrens, und verwandeln sie in eine ‘repressive’ Kraft, die ihm von außen entgegentritt. Die Logik dieser ‘Externalisierung’ erscheint in ihrer reinsten Form beim Despoten, dieser exemplarischen Figur der ‘Laune des Anderen’: Um der beunruhigenden Tatsache zu entgehen, dass der Andere selbst letztlich ohnmächtig ist, gehemmt, unfähig, ‘es’ (das Objekt-Ursache unseres Begehrens) zu liefern, konstruieren wir eine Figur des Anderen, der uns hätte befriedigen können, der ‘es’ hätte geben können, es aber nicht tut, aufgrund seiner rein willkürlichen Laune.48

Kurz, der Trick ist hier derselbe wie der der ‘höfischen Liebe’: ‘Eine sehr raffinierte Weise, das Fehlen des sexuellen Verhältnisses zu ersetzen, indem man so tut, als seien wir es, die das Hindernis in seinen Weg legen.’49 Wir entgehen der immanenten Unmöglichkeit des sexuellen Verhältnisses, indem wir ihm ein äußeres Hindernis zuschreiben und so die Illusion bewahren, dass wir es ohne dieses Hindernis vollständig genießen könnten – kein Wunder also, dass die Dame in der höfischen Liebe als die eigentliche Verkörperung eines launenhaften Despoten agiert und ihren Ritter den willkürlichsten und unsinnigsten Prüfungen unterwirft. Hier sollten wir an die entscheidende Passage aus ‘Die Subversion des Subjekts und die Dialektik des Begehrens’ erinnern, in der Lacan artikuliert, wie das Gesetz das Begehren ‘zäumt’: Das Begehren, vom Gesetz ‘gehemmt’ zu werden, ist nicht das Begehren des Subjekts, sondern das Begehren seines Anderen, der Mutter als ‘ursprünglichem Anderen’; vor dem Eingriff des Gesetzes ist das Subjekt der ‘Laune’ des Anderen ausgeliefert, der allmächtigen Mutter:

… es ist diese Laune, die das Phantom der Allmacht einführt, nicht des Subjekts, sondern des Anderen, in dem seine Forderung installiert ist … und mit diesem Phantom das Bedürfnis, dass sie durch das Gesetz gehemmt werde.… [das Begehren] kehrt den unbedingten Charakter der Forderung nach Liebe um, in der das Subjekt in Unterwerfung unter den Anderen verbleibt, und erhebt ihn zur Macht der absoluten Bedingung (wobei ‘absolut’ auch ‘Abgelöstheit’ impliziert).50

Vor der Herrschaft des Gesetzes erscheint die Mutter (der ‘ursprüngliche Andere’) als das ‘Phantom der Allmacht’; das Subjekt hängt für die Befriedigung seiner Bedürfnisse vollständig von ihrer ‘Laune’, von ihrem willkürlichen (Eigen-)Willen ab; unter diesen Bedingungen totaler Abhängigkeit vom Anderen wird das Begehren des Subjekts auf die Forderung nach der Liebe des Anderen reduziert – auf das Bemühen, der Forderung des Anderen zu entsprechen und so seine Liebe zu gewinnen. Das Subjekt identifiziert sein Begehren mit dem Begehren der Anderen-Mutter und nimmt eine Position vollständiger Entfremdung ein: Es findet sich dem Anderen-ohne-Mangel, keinem Gesetz unterworfen, vollständig unterstellt, der gemäß seiner momentanen Laune die Forderung des Subjekts befriedigen oder nicht befriedigen kann.

Das Auftreten des symbolischen Gesetzes bricht diesen geschlossenen Kreis der Entfremdung: Das Subjekt erfährt, wie der Andere-Mutter selbst einem bestimmten Gesetz gehorcht (dem väterlichen Wort); die Allmacht und der Eigenwille des Anderen werden dadurch ‘gehemmt’, einer ‘absoluten Bedingung’ untergeordnet. Folglich impliziert das Auftreten des Gesetzes eine Art ‘Ententfremdung’: Insofern der Andere selbst dem ‘absoluten’ Gesetz unterworfen erscheint, ist das Subjekt der Laune des Anderen nicht mehr ausgeliefert, sein Begehren ist nicht mehr vollständig im Begehren des Anderen entfremdet – das heißt, dem Subjekt gelingt es, eine Art Distanz zum Begehren der Mutter herzustellen; sein Begehren wird nicht länger auf die Forderung nach der Liebe der Mutter reduziert. Im Gegensatz zur ‘poststrukturalistischen’ Vorstellung eines Gesetzes, das einen früheren ‘Begehrensfluss’ hemmt, kanalisiert, entfremdet, unterdrückt, ‘ödipalisiert’, wird das Gesetz hier als eine Instanz der ‘Ententfremdung’ und ‘Befreiung’ begriffen: Es eröffnet uns den Zugang zum Begehren, indem es uns ermöglicht, uns von der Herrschaft der Laune des Anderen zu lösen.

All dies sind natürlich lacanische Gemeinplätze; was hier jedoch gewöhnlich übersehen wird, ist die Weise, in der diese ‘Hemmung’ des Begehrens des Anderen mittels des Gesetzes der Struktur der ‘Negation der Negation’ folgt; der sich auf sich selbst beziehenden Negation. Das Subjekt ‘befreit’ sich nicht dadurch, dass es die negative Macht des Anderen, dem es unterworfen ist, ‘überwindet’, sondern dadurch, dass es ihren selbstreferenziellen Charakter erfährt: Die Negativität, die der Andere gegen das Subjekt richtet, ist tatsächlich gegen den Anderen selbst gerichtet, was bedeutet, dass dieser Andere bereits in sich gespalten ist, durch ein sich selbst beziehendes negatives Verhältnis markiert, seiner eigenen Negativität unterworfen. Das Verhältnis des Subjekts zum Anderen hört damit auf, eines direkter Unterordnung zu sein, da der Andere keine Figur voller Allmacht mehr ist: Was das Subjekt befolgt, ist nicht mehr der Wille des Anderen, sondern ein Gesetz, das sein Verhältnis zum Anderen reguliert – das vom Anderen auferlegte Gesetz ist zugleich das Gesetz, dem der Andere selbst gehorchen muss.

Die ‘Laune des Anderen’ – das Fantasiebild eines allmächtigen Anderen, von dessen Eigenwille unsere Befriedigung abhängt – ist daher nichts als eine Weise, dem Mangel im Anderen auszuweichen: Der Andere hätte das Objekt vollständiger Befriedigung beschaffen können; dass er es nicht tat, hängt schlicht von seinem unbegreiflichen Eigenwillen ab. Es ist fast überflüssig, auf die theologischen und politischen Implikationen dieser Logik der ‘Laune des Anderen’ hinzuweisen: Man muss sich nur einerseits an die calvinistische Theorie der Prädestination erinnern – die Idee eines allmächtigen und freien Gottes, der keinem Gesetz untergeordnet ist und im Voraus, nach seiner unbegreiflichen ‘Laune’, bestimmt, wer auf ewig verdammt und wer gerettet werden wird; und andererseits an die bereits erwähnte Fantasie des Despoten, einer Macht, die absolut, allmächtig und zugleich der absoluten Selbstwillkür ausgeliefert ist: wo das einzige Gesetz die Laune des Despoten ist.

In genau diesem Sinn sollten wir auch Lacans These begreifen, der zufolge der Vater selbst (als Instanz des Verbots) ein Symptom ist; eine ‘Kompromissbildung’, die bezeugt, dass das Subjekt ‘hinsichtlich seines Begehrens nachgegeben’ hat. Das Begehren in seiner Reinheit ist natürlich ‘Todestrieb’, es tritt auf, wenn das Subjekt ohne Zurückhaltung sein ‘Sein-zum-Tode’, die endgültige Vernichtung seiner symbolischen Identität, übernimmt – das heißt, wenn es die Konfrontation mit dem Realen, mit der dem Begehren konstitutiven Unmöglichkeit, aushält. Die sogenannte ‘normale’ Auflösung des Ödipuskomplexes – die symbolische Identifikation mit der väterlichen Metapher, das heißt mit der Instanz des Verbots – ist letztlich nichts als eine Weise für das Subjekt, der dem Begehren konstitutiven Sackgasse auszuweichen, indem es die immanente Unmöglichkeit seiner Befriedigung in ein Verbot verwandelt: als ob das Begehren erfüllbar wäre, wenn nicht das Verbot seinen freien Lauf hinderte .… Die Psychoanalyse jedoch ‘setzt nicht auf den Vater’; das Ziel des psychoanalytischen Prozesses besteht keineswegs darin, eine ‘erfolgreiche’ Identifikation mit dem Namen-des-Vaters herbeizuführen: Sein Ziel ist im Gegenteil, den Analysanden dazu zu bringen, in der Alternative ‘der Vater oder das Schlimmste’ [le père ou le pire] ‘das Schlimmste’ zu wählen – das heißt, den Vater qua Symptom aufzulösen, indem er die Sackgasse des Begehrens wählt, indem er die dem Begehren konstitutive Unmöglichkeit vollständig übernimmt.51

Der König als Platzhalter der Leere

Das letzte Paradox des erhabenen Körpers des Herrn ist jedoch, dass seine Rolle nicht auf die eines ‘Symptoms’ reduziert werden kann, das dem Subjekt ermöglicht, dem Realen seines Begehrens auszuweichen: Man sollte die Perspektive auch umkehren, indem man zeigt, wie der Körper des Königs ebenso als die eigentliche Garantie der Nicht-Schließung des Sozialen fungieren könnte, deren Anerkennung die Demokratie charakterisiert. Gemeint ist natürlich Hegels Deduktion der Monarchie in seiner Rechtsphilosophie.

Das Paradox des hegelschen Monarchen wird manifest, wenn wir es vor dem Hintergrund dessen verorten, was Claude Lefort die ‘demokratische Erfindung’ nannte: den radikalen Bruch in der Weise der Ausübung der Macht, der durch das Auftreten des demokratischen politischen Diskurses eingeführt wurde. Leforts grundlegende These – die heute bereits den Status eines Gemeinplatzes erlangt hat – lautet, dass mit dem Auftreten der ‘demokratischen Erfindung’ der Ort der Macht zu einem leeren Platz wird; was zuvor die Angst des Interregnums war, eine Übergangsperiode, die so schnell wie möglich zu überwinden war – die Tatsache, dass ‘der Thron leer ist’ –, ist nun der einzige ‘normale’ Zustand. In vordemokratischen Gesellschaften gibt es stets einen legitimen Prätendenten auf den Platz der Macht, jemanden, der vollständig berechtigt ist, ihn zu besetzen, und derjenige, der ihn gewaltsam stürzt, hat schlicht den Status eines Usurpators, während im demokratischen Horizont jeder, der den Ort der Macht besetzt, definitionsgemäß ein Usurpator ist.52

Alles, was in diesem Horizont erlaubt ist, ist, dass durch Wahllegitimation ein politisches Subjekt die Macht vorübergehend ausübt, wobei sein Status durch und durch der eines Stellvertreters ist: Wir sind uns stets der Distanz bewusst, die den Ort der Macht als solchen von denen trennt, die die Macht zu einem gegebenen Zeitpunkt ausüben. Demokratie ist genau durch diese unüberschreitbare Grenze definiert, die verhindert, dass irgendein politisches Subjekt mit dem Ort der Macht wesensgleich wird, und für uns ist hier von besonderer Bedeutung, dass Lefort diese Grenze mit Hilfe der lacanischen Begriffe des Realen und des Symbolischen bezeichnet. Mit dem Auftreten des demokratischen Diskurses verwandelt sich der Ort der Macht in eine rein symbolische Konstruktion, die von keiner realen politischen Instanz besetzt werden kann.

Wenn man die Homologie zwischen Leforts These vom leeren Ort der Macht und Saint-Justs berühmtem Motto ‘Niemand kann unschuldig herrschen!’ im Auge behält, das als unmittelbare Legitimierung des Terrors diente, wird der entscheidende Sachverhalt evident: Der jakobinische Terror war keine bloße Aberration oder ein Verrat am demokratischen Projekt, sondern im Gegenteil von strikt demokratischer Natur. Der jakobinische Terror unterscheidet sich vom postdemokratischen ‘totalitären’ Terror dadurch, dass er nicht der Terror jener ist, die das Recht beanspruchen, ‘unschuldig zu herrschen’ im Namen ihrer ‘historischen (Klassen-, Rassen-, religiösen …) Mission’; der Begriff der Partei als Verkörperung des ‘historischen Interesses’ ist dem Universum des Jakobinismus fremd. Die Jakobiner verstanden sich im Gegenteil als Beschützer des leeren Ortes der Macht, als Schutz gegen falsche Prätendenten auf diesen Platz: ‘Der Terror ist revolutionär darin, dass er es irgendjemandem verbietet, den Platz der Macht zu besetzen; und in diesem Sinn hat er einen demokratischen Charakter.’53

Darum besteht zum Beispiel Robespierres Argument gegen Danton nicht in irgendeinem positiven Beweis seiner Schuld. Es genügt, an die offensichtliche, rein formale Tatsache zu erinnern, dass Danton ein revolutionärer Held ist und als solcher über die Masse der gewöhnlichen Bürger erhoben – das heißt, für sich einen besonderen Status beanspruchend. Im jakobinischen Universum trennt den Helden der Revolution vom Verräter eine dünne, oft undefinierbare Linie. Die Form des Helden kann in die Form des Verräters umschlagen: Jemand, der hinsichtlich seiner Taten ein revolutionärer Held ist; diese Form erhebt ihn über gewöhnliche Bürger und setzt ihn so der Gefahr und Verlockung der Tyrannei aus. Robespierre selbst war sich dieses Paradoxons sehr wohl bewusst, und seine tragische Größe drückt sich in seiner stoischen Annahme der Aussicht aus, im Dienst der Revolution enthauptet zu werden.

Diese Blockade der jakobinischen Position des Beschützers des leeren Ortes der Macht ließe sich präzise durch Bezug auf die lacanische Unterscheidung zwischen dem Subjekt des Ausgesagten und dem Subjekt der Äußerung artikulieren. Auf der Ebene des Ausgesagten bewahrt der Jakobiner die Leere des Ortes der Macht; er verhindert, dass irgendjemand diesen Platz besetzt – reserviert er sich damit nicht einen privilegierten Platz, fungiert er nicht als eine Art König-im-Gegenteil, das heißt: Ist nicht die Position der Äußerung, von der aus er handelt und spricht, die Position absoluter Macht? Ist das Bewahren des leeren Ortes der Macht nicht die raffinierteste und zugleich brutalste, unbedingteste Weise, ihn zu besetzen?

Weit davon entfernt, irgendeine Rückkehr zur vordemokratischen politischen Ordnung mit einem legitimen ‘natürlichen’ Prätendenten auf den Ort der Macht zu implizieren, präsentiert uns die hegelsche Verteidigung der Monarchie eine spekulative Lösung dieser jakobinischen Sackgasse. Die Funktion des hegelschen Monarchen entspricht exakt der des jakobinischen Terroristen: als Beschützer des leeren Ortes der Macht zu dienen. Das heißt, seine Funktion ist letztlich rein negativer Natur; er ist eine leere, formale Instanz, deren Aufgabe schlicht darin besteht, den jeweiligen Ausübenden der Macht (Exekutive) daran zu hindern, am Ort der Macht ‘kleben zu bleiben’ – das heißt, sich unmittelbar mit ihm zu identifizieren. Der ‘Monarch’ ist nichts als eine Positivierung, eine Materialisierung der Distanz, die den Ort der Macht von denen trennt, die sie ausüben. Aus diesem Grund – weil seine Funktion rein negativ ist – kann, ja muss, die Frage ‘wer herrschen soll’ der Kontingenz biologischer Abstammung überlassen bleiben – nur so wird die völlige Bedeutungslosigkeit der Positivität des Monarchen wirksam behauptet.

Wir können nun sehen, warum der Monarch, gerade als der Punkt, der die Identität des Staates qua rationaler Totalität garantiert und personifiziert, eine reine ‘Reflexionsbestimmung’ ist. Die Sackgasse, der Kurzschluss, der jakobinischen Position wird durch eine ‘Reflexion-in-sich’ der negativen Schranke aufgelöst, die im demokratischen Universum politische Subjekte daran hindert, den Ort der Macht zu besetzen – diese Schranke selbst wird erneut in einem Subjekt materialisiert, in dem der reine, leere Name mit der Unmittelbarkeit des ‘letzten Restes’ der Natur zusammenfällt. Mit anderen Worten: Die einzige Weise, politische Subjekte wirksam daran zu hindern, am Ort der Macht ‘festzukleben’, besteht darin, diese Schranke selbst in der Person des Monarchen erneut zu subjektivieren. Der Teufelskreis des Terrors – Demokraten, die einander endlos die Köpfe abschlagen – wird so unterbrochen. Der Monarch ist also eine Art Umkehrung des jakobinischen Paradoxons. Wenn beim Jakobiner seine Position der Äußerung (Vollstrecker der Macht) sein Ausgesagtes (das eines Beschützers des leeren Ortes der Macht, das heißt seines demokratischen Charakters) Lügen straft, gelingt es dem Monarchen umgekehrt, auf der Ebene der Äußerung als wirksamer Beschützer des leeren Ortes der Macht zu fungieren, gerade indem er auf der Ebene des Ausgesagten die Gestalt einer einheitlichen, positiven Person annimmt, die eines Souveräns, Garanten und Verkörpers der Identität des Staates mit sich selbst.54

Ist die heutige Linke daher dazu verurteilt, all ihre Kräfte auf den Sieg der Demokratie zu verpflichten? Die Ironie ist unverkennbar: Bis vor kurzem entfaltete die Linke all ihre dialektische Virtuosität, um zu zeigen, dass die liberal-demokratische Freiheit noch nicht ‘wirkliche Freiheit’ ist, dass ihr ein immanenter Antagonismus eignet, der ihr letztlich ihr eigenes Grab schaufeln wird, dass alle Phänomene, die der liberal-demokratischen Ideologie als bloße Exzesse, Degenerationen, Aberrationen erscheinen – kurz: als Zeichen, dass das liberal-demokratische Projekt noch nicht vollständig verwirklicht ist –, stricto sensu ihre Symptome sind, Punkte, an denen ihre verborgene Wahrheit hervortritt. Soll die heutige Linke sich daher dazu entschließen, die pseudo-hegelsche These vom ‘Ende der Geschichte’ zu akzeptieren und – um Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie55 zu paraphrasieren – die Vernunft als die Rose der einzigen möglichen Freiheit im Kreuz der spätkapitalistischen Gegenwart zu erkennen? Soll sie beschämt verstummen oder sich dem masochistischen Ritual hingeben, das ‘totalitäre Potential’ ihrer eigenen Vergangenheit zu denunzieren – zur großen Befriedigung konformistischer Zwerge, deren Selbstgefälligkeit in der heutigen Schurkenzeit über den linken ‘Utopianismus’ triumphiert?

Angesichts des scheinbar weltweiten Triumphs der liberal-kapitalistischen Ideologie wäre es weit produktiver, an Hegels Diktum zu erinnern, dass eine politische Bewegung den Sieg gewinnt, wenn sie sich spaltet. Der Moment des Triumphs der liberalen Demokratie, der Moment, in dem ihr äußerer Gegner, verkörpert im kommunistischen ‘Reich des Bösen’, zerfiel, ist an sich (und wird bald auch ‘für sich’ werden) der Moment der Konfrontation mit ihrer immanenten Grenze: Ihre eigenen Schwächen können nicht länger durch den Vergleich mit ‘Ihnen’ entschuldigt werden. Im Westen wie im Osten erleben wir bereits neue politische Bewegungen, die ‘Ereignisse’ im von Alain Badiou ausgearbeiteten Sinn sind: Hervortreten von etwas, das nicht in die bestehenden ideologischen Rahmen integriert werden kann, Zeichen des Neuen, dessen bahnbrechender Charakter durch die Tatsache bezeugt ist, dass sie nicht wissen, wovon sie Zeichen sind, und deshalb oft Zuflucht in der Sprache der Vergangenheit nehmen; es genügt, die grüne Bewegung zu erwähnen.

Dieses Neue ist erkennbar an den vielfältigen Formen der Weigerung, der aktualisierten Formel des kategorischen Imperativs zu folgen: ‘Handle so, dass deine Tätigkeit in keiner Weise die freie Zirkulation und Reproduktion des Kapitals behindert!’ Heute, da die Risse in der Fassade der weltweiten Vergrünung der Demokratie immer sichtbarer ihr graues Fleisch des Kapitals werden lassen; da – exemplarisch die ehemalige DDR – demokratische Begeisterung sich als nichts anderes erweist als ein Vorspiel zur Integration eines neuen Territoriums in den Fluss des Kapitals, dieser effektiven Kraft der Deterritorialisierung, die alle festen lokalen Identitäten unterminiert, dieses veritable Rhizom unserer Zeit, ist die Psychoanalyse mehr denn je mit der Aufgabe betraut, den Raum möglichen Widerstands gegen diese Zirkulation zu begrenzen: neue Formen hysterischer Weigerung des Subjekts, den vorgeordneten Platz in dieser Zirkulation einzunehmen, neue Formen der hysterischen Frage, die an das Kapital gerichtet ist.

Angemessene Namen für dieses Neue zu finden, ist die bevorstehende Aufgabe linken Denkens. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe hat die Linke keinen Grund, ihrer Vergangenheit zu entsagen: Wie symptomatisch ist das heutige Vergessen der Tatsache, dass die Linke der ‘verschwindende Vermittler’ war, der die meisten der Rechte und Freiheiten erkämpfte, die heute von der liberalen Demokratie angeeignet werden, angefangen beim allgemeinen Wahlrecht; wie symptomatisch ist das Vergessen der Tatsache, dass die Sprache, mittels derer selbst die Massenmedien den Stalinismus wahrnehmen (‘Big Brother’, ‘Ministerium der Wahrheit’ und so weiter), das Produkt einer linken Kritik der kommunistischen Erfahrung war. Heute mehr denn je, mitten in der Schurkenzeit, in der wir leben, ist es die Pflicht der Linken, die Erinnerung an alle verlorenen Sachen, an alle zerschlagenen und pervertierten Träume und Hoffnungen, die mit linken Projekten verbunden sind, lebendig zu halten. Die Ethik, die wir hier im Hinblick auf diese Pflicht meinen, ist die Ethik der Sache qua Ding, die Ethik des Realen, das, wie Lacan sagt, ‘immer an seinen Platz zurückkehrt’.

Die Psychoanalyse kennt viele Arten von Ethik; man könnte fast sagen, dass jede ‘Pathologie’ ihre eigene ethische Haltung impliziert. Der hysterische ethische Imperativ lautet, das Begehren um jeden Preis lebendig zu halten: Bei jedem Objekt, das es befriedigen könnte und so droht, es zu löschen, ist die hysterische Reaktion ein ‘Das ist es nicht!’, das das Begehren wieder in Bewegung setzt. Das Objekt des zwanghaften Begehrens ist die Forderung des Anderen: Sein Imperativ ist, sie um jeden Preis zu erraten und ihr zu entsprechen. Der Zwanghafte ist völlig ratlos, wenn der Andere keine Forderungen an ihn stellt, wenn er dem Anderen in keiner Weise ‘nützlich’ sein kann; da dieser Mangel an Forderung ihn dem Abgrund des Begehrens des Anderen jenseits seiner Forderung gegenüberstellt – der Zwanghafte opfert sich, arbeitet die ganze Zeit für den Anderen, um das Auftreten des Begehrens des Anderen zu verhindern. Der Imperativ eines Perversen ist im Gegenteil, für den Genuss des Anderen zu arbeiten, ein Objekt-Instrument davon zu werden. Und es scheint, als habe die Linke bis jetzt zwischen diesen drei Positionen geschwankt: von der anarchistischen radikalen Linken, die vom ‘Narzissmus einer verlorenen Sache’ beherrscht ist, die sich gut fühlt, wenn sie fern der Macht ist, wo sie unbefriedigt bleiben und ihre Distanz zur bestehenden sozialen Ordnung wahren kann, über die traditionelle sozialdemokratische zwanghafte Ethik des kompulsiven Befriedigens der (Wähler-)Forderungen des Anderen – ‘lasst uns große Ziele vergessen, lasst uns auf das konzentrieren, was die Menschen wirklich wollen, und versuchen, es innerhalb der Grenzen des Möglichen bereitzustellen’ – bis zur stalinistischen perversen Position eines Instruments, das dem Genuss des großen Anderen der Geschichte dient (den ‘eisernen Gesetzen des historischen Fortschritts’ und so weiter).

Neben diesen drei Ethiken des hysterischen Begehrens, der zwanghaften Forderung und des perversen Genusses gibt es jedoch eine vierte ethische Haltung, die des Triebs. Lacans These wird hier bis zum Äußersten zugespitzt: Es ist nicht nur so, dass das Subjekt ‘hinsichtlich seines Triebs nicht nachgeben’ darf; der Status des Triebs selbst ist inhärent ethisch. Wir befinden uns im exakten Gegenteil eines vitalistischen Biologismus: Das Bild, das den Trieb am angemessensten exemplifiziert, ist nicht ‘blindes tierisches Gedeihen’, sondern der ethische Zwang, der uns dazu zwingt, die Erinnerung an eine verlorene Sache wiederholt zu markieren. Es geht nicht darum, das vergangene Trauma so exakt wie möglich zu erinnern: Eine solche ‘Dokumentation’ ist a priori falsch, sie verwandelt das Trauma in eine neutrale, objektive Tatsache, während das Wesen des Traumas gerade darin besteht, dass es zu entsetzlich ist, um erinnert, um in unser symbolisches Universum integriert zu werden. Alles, was wir zu tun haben, ist, das Trauma als solches, in seiner eigenen ‘Unmöglichkeit’, in seinem nicht integrierten Grauen, durch irgendeine ‘leere’ symbolische Geste wiederholt zu markieren.

Ein tief bewegender Fall einer solchen Geste war die Aussage eines polnischen Juden, der Auschwitz überlebte und sich trotz des Drucks der kommunistischen Macht weigerte, in den Westen zu gehen. Von Journalisten nach den Gründen für sein Beharren gefragt, antwortete er, dass er bei jedem Besuch des Lagergeländes einen Betonblock bemerke, einen Rest irgendeines Lagergebäudes – er selbst sei wie dieser stumme Betonblock, das einzig Wichtige sei, dass er zurückkehrt, dass er da ist. Auf einer anderen Ebene tat Claude Lanzmann dasselbe in seiner Holocaust-Dokumentation Shoah: Er verzichtete im Voraus auf jeden Versuch, die ‘Realität’ des Holocaust zu rekonstruieren; durch zahlreiche Interviews mit Überlebenden, mit Bauern, die heute auf dem Gelände von Auschwitz leben, durch Aufnahmen verwüsteter Lagerreste umkreiste er den unmöglichen Ort der Katastrophe. Und so definiert Lacan den Trieb: als den Zwang, den Ort des verlorenen Dings immer wieder zu umkreisen, ihn in seiner eigenen Unmöglichkeit zu markieren – wie durch die Verkörperung des Triebs in seinem Nullgrad, in seinem elementarsten, den Grabstein, der nur den Ort des Toten markiert.

Dies ist also der Punkt, an dem die Linke nicht ‘nachgeben’ darf: Sie muss die Spuren aller historischen Traumata, Träume und Katastrophen bewahren, die die herrschende Ideologie vom ‘Ende der Geschichte’ lieber auslöschen würde – sie muss selbst zu ihrem lebendigen Monument werden, damit, solange die Linke hier ist, diese Traumata markiert bleiben. Eine solche Haltung, weit davon entfernt, die Linke in nostalgischer Verliebtheit in die Vergangenheit einzuschließen, ist die einzige Möglichkeit, eine Distanz zur Gegenwart zu gewinnen, eine Distanz, die es uns erlaubt, Zeichen des Neuen zu erkennen.

One comment

Comments are closed.