Denn sie wissen nicht was sie tun 8

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Über das Andere

I HYSTERIE, GEWISSHEIT UND ZWEIFEL

Wittgenstein als Hegelianer

In der Logik „inszeniert“ Hegel Identität (stellt sich ein Subjekt vor, das sagt: „Pflanze ist … eine Pflanze“) und gelangt so zu ihrer Wahrheit – das heißt, er demonstriert, dass Identität-mit-sich-selbst in dem absoluten Widerspruch besteht, in dem Zusammenfallen des (logischen) Subjekts mit dem Leeren an der Stelle des erwarteten, aber fehlgeschlagenen, Prädikats. Indem Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen die Identität eines Gegenstands mit sich selbst in die satirische Szene eines Verfahrens eines Subjekts übersetzt, ist er hier Hegel äußerst nahe:

„Ein Ding ist mit sich selbst identisch.“ – Es gibt kein feineres Beispiel für einen nutzlosen Satz, der doch mit einem gewissen Spiel der Einbildungskraft verbunden ist. Es ist, als ob wir in der Einbildungskraft ein Ding in seine eigene Form brächten und sähen, dass es passte. [Wir könnten auch sagen: „Jedes Ding passt in sich selbst.“ Oder auch: „Jedes Ding passt in seine eigene Form.“ Zugleich schauen wir ein Ding an und stellen uns vor, es sei eine leere Stelle für es gelassen, und nun passt es genau hinein.] Passt dieser Fleck • in seine weiße Umgebung? – Aber so würde es eben aussehen, wenn an seiner Stelle ein Loch gewesen wäre und er dann in das Loch gepasst hätte …1

Wie Hegel bestimmt Wittgenstein Identität-mit-sich-selbst als das paradoxe Zusammenfallen eines Dings mit seiner eigenen leeren Stelle: der Begriff der „Identität-mit-sich-selbst“ hat keinen Sinn außerhalb dieses „Spiels der Einbildungskraft“, in dem ein Ding seinen Raum einnimmt; außerhalb dieses Verfahrens des „Inszenierens“.

Der entscheidende Punkt ist hier, dass ein solcher Identitätsbegriff die Anwesenheit der symbolischen Ordnung impliziert: damit ein Objekt mit seiner leeren Stelle „zusammenfallen“ kann, müssen wir es im Voraus von seinem Platz „abstrahieren“ – nur so sind wir imstande, den Platz ohne das Objekt wahrzunehmen. Anders gesagt: die Abwesenheit des Objekts kann als solche nur innerhalb einer Differentialordnung wahrgenommen werden, in der Abwesenheit als solche positiven Wert gewinnt (weshalb nach Lacan die Erfahrung der Kastration der Einführung der symbolischen Ordnung entspricht: durch diese Erfahrung wird der Phallus sozusagen von seinem Platz „abstrahiert“).2 Um diese unheimliche Nähe von Hegel und Wittgenstein genauer zu bestimmen, nehmen wir als Ausgangspunkt Lacans Bezeichnung Hegels als „der sublimste aller Hysteriker“ – ist das bloß ein leeres Bonmot oder hält es einer strengen theoretischen Prüfung stand? Beantworten wir dieses Dilemma, indem wir mit der grundlegendsten Frage beginnen: Was charakterisiert die subjektive Position eines Hysterikers?

Hegels hysterisches Theater

Die elementare Form der Hysterie, die Hysterie par excellence, ist die sogenannte „Konversionshysterie“ [Konversionshysterie], bei der das Subjekt seinem Deadlock, dem Kern, den es nicht in Worte fassen kann, mittels eines hysterischen Symptoms „Körper gibt“, der Abnormität eines Teils seines Körpers oder seiner Körperfunktionen (er beginnt ohne ersichtlichen körperlichen Grund zu husten; er wiederholt zwanghafte Gesten; sein Bein oder seine Hand versteift, obwohl medizinisch nichts damit nicht stimmt, und so weiter). In diesem präzisen Sinn sprechen wir von hysterischer Konversion: der blockierte traumatische Kern wird in ein körperliches Symptom „konvertiert“; der psychische Inhalt, der im Medium der gemeinen Sprache nicht bezeichnet werden kann, macht sich in einer verzerrten Form von „Körpersprache“ hörbar.

Aus dieser kurzen Skizze kann man bereits erahnen, wo die Verbindung zu Hegel liegt: eine homologe Konversion ist es, die die „Gestalten des Bewusstseins“ in Hegels Phänomenologie des Geistes bestimmt. „Herrschaft und Knechtschaft“, „Unglückliches Bewusstsein“, „Gesetz des Herzens“, „Absolute Freiheit“ und so weiter sind nicht bloß abstrakte theoretische Positionen; was sie benennen, ist immer auch eine Art „existenzielle Dramatisierung“ einer theoretischen Position, wodurch ein gewisser Überschuss erzeugt wird: die „Dramatisierung“ widerlegt die theoretische Position, indem sie ihre impliziten Voraussetzungen hervorbringt.3

Indem das Subjekt seine Position „dramatisiert“, macht es manifest, was in ihr ungesagt bleibt, was ungesagt bleiben muss, damit diese Position ihre Konsistenz bewahrt. Anders gesagt: die „Dramatisierung“ spiegelt die Bedingungen einer theoretischen Position wider, die das Subjekt, das an ihr festhält, übersieht: die „Gestalt des Bewusstseins“ inszeniert („figuriert“) die verborgene Wahrheit einer Position – in diesem Sinn impliziert jede „Gestalt des Bewusstseins“ eine Art hysterisches Theater. Man sieht bereits, wie die Logik dieser Dramatisierung das klassische idealistische Verhältnis eines theoretischen Begriffs und seiner Exemplifikation untergräbt: weit davon entfernt, die Exemplifikation auf eine unvollkommene Illustration der Idee zu reduzieren, produziert die Inszenierung „Beispiele“, die paradoxerweise die Idee, die sie exemplifizieren, selbst untergraben – oder, wie Hegel sagen würde, die Unvollkommenheit des Beispiels im Hinblick auf die Idee ist ein Index der Unvollkommenheit, die der Idee selbst eigentümlich ist.

Was wir hier haben, ist ganz buchstäblich eine „Konversion“: die Figuration („acting out“) einer theoretischen Aporie (des „Ungedachten“ einer theoretischen Position) und zugleich die Umkehrung, am besten wiedergegeben durch eine von Hegels ständigen rhetorischen Figuren: wenn Hegel zum Beispiel die Position des Asketen behandelt, sagt er, der Asket konvertiere die Verneinung des Körpers in die verkörperte Verneinung. Hier müssen wir aufpassen, diese Umkehrung nicht mit der einfachen Spiegel-Umkehr zu verwechseln, die bloß die Elemente innerhalb der Grenzen derselben Konfiguration umdreht: der entscheidende Punkt ist, dass die hegelianische Konversion durch eine Unmöglichkeit „vermittelt“ ist – da der Asket den Körper nicht verneinen kann (das hieße schlicht Tod), bleibt ihm nur, die Verneinung selbst zu verkörpern – sein körperliches Leben als eine stehende Verleugnung und Entsagung zu organisieren. Seine eigene Praxis untergräbt damit die theoretische Position, nach der das irdische, körperliche Leben von sich aus nichtig und wertlos ist: die ganze Zeit ist er mit seinem Körper beschäftigt, erfindet neue Weisen, ihn zu kasteien und zu beruhigen, statt ihm gegenüber eine gleichgültige Distanz einzunehmen. Der Übergang von einer „Gestalt des Bewusstseins“ zur nächsten erfolgt, wenn das Subjekt diese Kluft zur Kenntnis nimmt, die sein „Gesagtes“ (seine theoretische Position) von seiner Position der Äußerung trennt, und dadurch übernimmt, was es unwissentlich inszeniert hat, als seine neue explizite theoretische Position: jede „Gestalt des Bewusstseins“ inszeniert, sozusagen, im Voraus, was die nächste Position werden wird.

Und was ist Hysterie, wenn nicht die körperliche Inszenierung derselben rhetorischen Figur? Nach Lacan ist die grundlegende Erfahrung des Menschen qua Sprachwesen, dass sein Begehren gehemmt, konstitutiv unbefriedigt ist: er „weiß nicht, was er wirklich will“. Was die hysterische „Konversion“ vollbringt, ist genau eine Umkehrung dieser Hemmung: durch sie konvertiert das gehemmte Begehren in ein Begehren nach Hemmung; das unbefriedigte Begehren konvertiert in ein Begehren nach Unbefriedigung; ein Begehren, unser Begehren „offen“ zu halten; die Tatsache, dass wir „nicht wissen, was wir wirklich wollen“ – was zu begehren – konvertiert in ein Begehren, nicht zu wissen, ein Begehren nach Ignoranz …. Darin besteht das Grundparadox des hysterischen Begehrens: was er vor allem begehrt, ist, dass sein Begehren selbst unbefriedigt, behindert bleibt – mit anderen Worten: lebendig als Begehren. Lacan hat dies mit Brillanz gezeigt apropos des von Freud zitierten Traums der „lustigen Metzgersfrau“:4 als Trotz gegen Freud, gegen seine Theorie, dass ein Traum ein erfüllter Wunsch ist, schlug sie einen Traum vor, in dem der Wunsch nicht erfüllt wird; die Lösung dieses Rätsels ist natürlich, dass ihr wahres Begehren gerade darin bestand, dass ihr allzu gefügiger Mann ihr diesmal ihre Laune nicht befriedigen sollte, um so ihr Begehren offen und lebendig zu halten. Diese Konversion bestätigt den „reflexiven“ Charakter des Begehrens: Begehren ist immer auch ein Begehren nach dem Begehren selbst, ein Begehren, etwas zu begehren oder etwas nicht zu begehren.

Müssen wir hinzufügen, dass dieselbe Konversion bereits im kantischen Begriff des Erhabenen am Werk ist?5 Das Paradox des Erhabenen besteht, anders gesagt, in der Konversion der Unmöglichkeit der Darstellung in die Darstellung der Unmöglichkeit: es ist nicht möglich, das transphe-nomenale Ding-an-sich innerhalb des Bereichs der Phänomene darzustellen, also können wir diese Unmöglichkeit selbst darstellen und dadurch die transzendente Dimension des Ding-an-sich „fühlbar“ machen. Außerdem: begegnen wir nicht demselben Mechanismus im berüchtigtsten formalen Aspekt der hegelianischen Dialektik, dem der „konkreten“, „bestimmten“ Negation – einer Negation, deren Resultat nicht ein leeres Nichts, sondern eine neue Positivität ist? Was wir hier haben, ist dann dieselbe reflexive Umkehrung der „Negation des [bestimmten] Seins“ in das „[bestimmte] Sein der Negation“: das bestimmte Sein qua Ergebnis der Negation ist nichts als eine Form, in der die Negation als solche positive Existenz annimmt.

Dieser Aspekt geht in der üblichen Auffassung der „konkreten“ Negation verloren, wo Negativität als das vermittelnde, vergehende Moment der Selbst-Vermittlung des Begriffs begriffen wird; es ist falsch zu sagen, das endgültige Resultat „hebe“ die Negativität auf, indem es sie zu einem untergeordneten Moment der konkreten Totalität mache – der Punkt ist vielmehr, dass die neue Positivität des Resultats nichts anderes ist als die positivierte Macht des Negativen. So hat man die vielzitierten Sätze aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes zu lesen, die den Geist als die Macht bestimmen, dem Negativen ins Gesicht zu sehen und es ins Sein zu konvertieren: man „verweilt beim Negativen“ nicht, indem man es abstrakt dem Positiven entgegensetzt, sondern indem man das positive Sein selbst als Materialisierung der Negativität begreift – als „Metonymie des Nichts“, um den lacanianischen Ausdruck zu verwenden.

Wie wir bereits gesehen haben, ist das einzige philosophische Gegenstück zu dieser hegelianischen Strategie, eine theoretische Position durch ihr „Inszenieren“, ihre „Konversion“ in eine bestimmte existentielle Haltung zu untergraben, der „‘szenische’ Charakter von Wittgensteins Darstellung“6 – natürlich von Wittgenstein-II, dem Wittgenstein der Philosophical Investigations. Das heißt: wie geht Wittgenstein vor, wenn er ein philosophisches Problem löst, das – direkt angegangen, in seiner unmittelbaren, abstrakten Form – als dunkle, unlösbare Sackgasse erscheint? Indem er sich von der „Sache selbst“ (dem Problem in seiner allgemeinen philosophischen Form) zurückzieht und sich auf seine „Exemplifikationen“ konzentriert – auf die „Verwendungen“ der Begriffe, die das Problem innerhalb unserer alltäglichen „Lebensform“ bestimmen.

Nehmen wir zum Beispiel einen Grundbegriff der Philosophie des Geistes, wie Erinnern, Vorstellen, Rechnen: wenn wir das Problem direkt angehen und fragen „Was ist die wirkliche Natur des Erinnerns, Vorstellens, Rechnens?“, geraten wir früher oder später in die Sackgasse fruchtloser Grübeleien über verschiedene Arten von „mentalen Ereignissen“ und so weiter. Was Wittgenstein vorschlägt, ist, unsere ursprüngliche Frage durch die Frage zu ersetzen: „Welche Umstände setzen wir voraus, wenn wir von jemandem sagen: ‚Er erinnerte sich plötzlich, wo er seinen Hut hingelegt hatte‘, ‚Er stellte sich das Haus vor, das er wollte‘, oder ‚Er rechnete die Zahl im Kopf aus?‘“ Dem philosophischen gesunden Menschenverstand erscheint ein solches Verfahren natürlich wie ein „Ausweichen vor der eigentlichen Sache“; während der dialektische Ansatz in der szenischen Dramatisierung, die die Frage verschiebt und die abstrakte Form des Problems durch konkrete Szenen seiner Aktualisierung innerhalb einer Lebensform ersetzt, den einzigen möglichen Zugang zu ihrer Wahrheit erkennt – wir erhalten Zutritt zum Bereich der Wahrheit nur, indem wir einen Schritt zurücktreten, indem wir der Versuchung widerstehen, direkt in ihn einzudringen.

In anderen (hegelianischen) Worten: die einzige Lösung eines philosophischen Problems ist seine Verschiebung – eine Neuformulierung seiner Termini, die es als Problem verschwinden lässt. Weit davon entfernt, eine common-sense-Haltung zu implizieren, die gewöhnlich (und fälschlich) mit Wittgenstein-II verbunden wird, ist eine solche Strategie das Herzstück des hegelianischen Verfahrens: ein Problem verschwindet, wenn wir (wenn wir es „inszenieren“) seinen Kontext der Äußerung berücksichtigen. Darin liegt Wittgensteins „Eine Methode wird nun mittels von Beispielen gezeigt werden“:7 wie bei Hegels „Inszenieren“ geht es hier nicht um eine „Illustration“ allgemeiner Sätze – Beispiele sind hier nicht „bloße Beispiele“, sondern „szenische Darstellungen“, die seine ungesagten Voraussetzungen manifest machen. Diese wittgensteinischen „Inszenierungen“ sind nicht ohne satirischen Stachel, wie in Philosophical Investigations 38, wo er über das philosophische Problem des Benennens ironisiert – des Anheftens von „Wörtern“ an „Gegenstände“ –, indem er sich eine einsame Szene vorstellt, in der ein Philosoph in unmittelbarer Gegenwart eines Gegenstands ist, den er anstarrt und zwanghaft seinen Namen oder sogar das Wort „Dies! Dies!“ wiederholt – muss man hinzufügen, dass Wittgenstein hier (vermutlich unwissentlich) die Dialektik der „sinnlichen Gewissheit“ aus Kapitel I der Phänomenologie des Geistes wieder aufnimmt, wo Hegel die sinnliche Gewissheit ebenso durch „Inszenieren“ untergräbt, indem er ein Subjekt auf einen Gegenstand zeigen und immer wieder „Dies! Hier! Jetzt!“ wiederholen lässt …

Der Gehalt von Wittgensteins „Behaviorismus“ ist daher das Bestreben, „Bedeutung“ als fetischistische, „verdinglichte“ gegebene Entität, als „Eigenschaft des Wortes“, in eine Reihe der Weisen zu übersetzen, zu transponieren, wie wir dieses Wort verwenden – oder, um auf Wittgensteins eigenes Beispiel zu verweisen: wenn ich sage „Der König im Schach ist die Figur, die man schach bieten kann“, dann „kann das nicht mehr bedeuten als dass man in unserem Schachspiel nur dem König schach bietet“.8 Henry Staten fügt hierzu einen scharfen Kommentar hinzu: „Beachte die genaue Unterscheidung, die Wittgenstein hier macht. Was wie eine Eigenschaft des Königs aussieht, wird in eine Bemerkung darüber übersetzt, wie wir etwas tun.“9 Auf Hegelisch: die Eigenschaft eines Gegenstands erweist sich als seine „Reflexionsbestimmung“ [Reflexionsbestimmung]; die Reflexion-ins-Objekt unseres eigenen, des subjektiven, Umgangs mit ihm.10

Cogito und die erzwungene Wahl

Was ist die Dimension, das gemeinsame Medium, das es uns ermöglicht, Hegel und Wittgenstein zu „vergleichen“ – als Teil derselben Linie zu begreifen? Die heideggerianische Antwort wäre hier schnell und unzweideutig: beide gehören zur Tradition der kartesischen Subjektivität. Was wir herauszuarbeiten versuchen, ist im Gegenteil die Weise, in der sowohl Wittgenstein als auch Hegel die kartesische Tradition der Gewissheit durch radikalen Zweifel in Frage stellen.

Beginnen wir mit den Paradoxien des kartesischen cogito selbst, wie Lacan sie herausstellt. Die entscheidende Tatsache, die in der Regel stillschweigend übergangen wird, ist, dass es in Lacans Lehre zwei unterschiedliche, ja einander sogar ausschließende Interpretationen des kartesischen cogito gibt. Man berücksichtigt gewöhnlich nur die Interpretation aus Seminar XI, die das cogito als Ergebnis einer erzwungenen Wahl des Denkens begreift: das Subjekt ist mit einer Wahl konfrontiert „zu denken oder zu sein“; wenn es das Sein wählt, verliert es alles (einschließlich des Seins selbst, da es Sein nur als Denken hat); wenn es das Denken wählt, erhält es dieses, aber amputiert um den Teil, in dem Denken mit Sein sich schneidet – dieser verlorene Teil des Denkens, dieses dem Denken selbst inhärente „Ungedachte“, ist das Unbewusste. Descartes’ Fehler war anzunehmen, dass das Subjekt, indem es das Denken wählte, sich ein kleines Stück Sein sicherte; die Gewissheit eines „Ich“ als „denkender Substanz“ [res cogitans] gewann. Nach Lacan verfehlte Descartes damit die eigentliche Dimension seiner eigenen Geste: das Subjekt, das als Rest des radikalen Zweifels übrig bleibt, ist keine Substanz, kein „Ding, das denkt“, sondern ein reiner Punkt substanzloser Subjektivität, ein Punkt, der nichts als eine Art verschwindende Lücke ist, die Lacan „Subjekt des Signifikanten“ nennt (im Gegensatz zum „Subjekt des Signifikats“), das Subjekt ohne jede Stütze in positivem, bestimmtem Sein.11

Im Schatten dieser berühmten Thesen aus Seminar XI vergisst man gewöhnlich die Tatsache, dass Lacan zwei Jahre später, im Seminar über Logik der Phantasie (1966–7), eine der Umkehrungen seiner vorherigen Position vollzog, die für sein Verfahren so charakteristisch sind, und die entgegengesetzte Lesart des kartesischen Zweifels vorschlug. Während er weiterhin daran festhält, dass die Termini des cogito durch eine erzwungene Wahl zwischen Denken und Sein bestimmt sind, behauptet er nun, das Subjekt sei zu einer Wahl des Seins verurteilt: das Unbewusste ist genau das Denken, das durch diese Wahl des Seins verloren geht. Lacans neue Paraphrase von cogito ergo sum lautet daher: Ich (das Subjekt) bin, insofern es (Es, das Unbewusste) denkt. Das Unbewusste ist buchstäblich das „Ding, das denkt“ und als solches dem Subjekt unzugänglich: insofern ich bin, bin ich niemals dort, wo „es denkt“. Anders gesagt: ich bin nur insofern, als etwas ungedacht bleibt; sobald ich zu tief in dieses Gebiet des verbotenen/unmöglichen Denkens eindringe, zerfällt mein Sein selbst.

Was wir hier haben, ist das grundlegende lacanianische Paradox eines auf Verkennung gegründeten Seins: das „Unbewusste“ ist ein Wissen, das unbekannt bleiben muss, dessen „Verdrängung“ eine ontologische Bedingung für die Konstitution des Seins selbst ist.12 Das vom Subjekt gewählte Sein hat seine Stütze natürlich in der Phantasie: die Wahl des Seins ist die Wahl der Phantasie, die dem, was wir „Realität“ nennen, Rahmen und Konsistenz verschafft, während das „Unbewusste“ Wissensreste bezeichnet, die diesen Phantasierahmen untergraben.

Die Konsequenzen dieser Verschiebung sind weiterreichend, als sie scheinen mögen: durch sie wird die Akzentsetzung des Begriffs der Übertragung radikal verlagert. In Seminar XI definiert Lacan Übertragung als ein unterstelltes Wissen, das sich auf Sein stützt (das heißt auf das „objet petit a“ qua Rest-Schein des in der erzwungenen Wahl des Sinns verlorenen Seins), während in der Logik der Phantasie Übertragung als Durchbruch in das Gebiet des Wissens (Denkens) begriffen wird, das in der erzwungenen Wahl des Seins verloren ist. Übertragung entsteht, wenn das im Wahlakt des Seins verlorene Wissen auf ein Objekt „übertragen“ wird (das Subjekt, zu dem wir ein Übertragungsverhältnis unterhalten) – das heißt, wenn wir voraussetzen, dass dieses Objekt (Subjekt) über Wissen verfügt, dessen Verlust eine Bedingung unseres Seins selbst ist. Zuerst hatten wir Wissen, das sich auf den Rest-Schein des Seins stützte; jetzt haben wir Sein (des Subjekts, zu dem wir ein Übertragungsverhältnis unterhalten), an das ein unmögliches/reales Wissen angehakt ist.

Im Hintergrund dieser Verschiebung finden wir eine der entscheidenden Veränderungen zwischen Lacans Lehre der 1950er Jahre und seiner Lehre der 1970er Jahre: die Veränderung der Akzentsetzung in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. In der Hochphase der 1950er Jahre wurde das Objekt entwertet und das Ziel des psychoanalytischen Prozesses folglich als „(Re)-Subjektivierung“ bestimmt: Übersetzung des „verdinglichten“ Inhalts in die Termini der intersubjektiven Dialektik; während in den 1970er Jahren das Objekt im Subjekt in den Vordergrund tritt: was dem Subjekt Würde verleiht, ist agalma, das, was „in ihm mehr ist als er selbst“, das Objekt in ihm.13 Genauer: in den 1950er Jahren wird das Objekt auf ein Medium, einen Bauern, in der intersubjektiven Dialektik der Anerkennung reduziert (ein Objekt wird im strengen psychoanalytischen Sinn Objekt, insofern das Subjekt in ihm das Begehren des Anderen erkennt: ich begehre es nicht um seiner selbst willen, sondern weil es vom Anderen begehrt wird); in den 1970er Jahren hingegen ist das Objekt, das in den Vordergrund tritt, das objet petit a, das Objekt, das die übertragungsförmige Strukturierung der Beziehung zwischen Subjekten ermöglicht (ich unterstelle einem anderen Subjekt Wissen, insofern „in ihm etwas mehr ist als er selbst“, a). Deshalb vermeidet Lacan ab den 1960er Jahren, von „Intersubjektivität“ zu sprechen, und bevorzugt den Begriff „Diskurs“ (in klarer Opposition zu den 1950er Jahren, als er immer wieder wiederholte, dass der Bereich der Psychoanalyse der der Intersubjektivität sei): was „Diskurs“ von „Intersubjektivität“ unterscheidet, ist genau die Hinzufügung des Objekts als viertem Element zur Triade der (zwei) Subjekte und des großen Anderen als Medium ihrer Beziehung.

Um jedoch zur lacanianischen Lesart des kartesischen cogito zurückzukehren: was beide Versionen gemeinsam haben, ist, dass Lacan, im Gegensatz zu Descartes, auf der irreduziblen Kluft zwischen Denken und Sein besteht: als Subjekt bin ich nie dort, wo ich denke. Wenn man diese Kluft berücksichtigt, wird es möglich, das zu formulieren, was Lacan in seinem Seminar XI das „freudsche cogito“ nennt: den freudschen Schritt vom Zweifel zur Gewissheit; die freudsche Weise, unsere Gewissheit mittels des Zweifels selbst zu bestätigen.

Nach Lacan lautet Freuds Variation von „Ich denke, also bin ich“: „Wo das Subjekt [Analysand] Zweifel hat, können wir sicher sein, dass es Unbewusstes gibt“: die Zweifel des Analysanden, sein Zögern und sein Widerstand, eine vom Analytiker vorgeschlagene Deutung anzunehmen, sind der bestmögliche Beweis dafür, dass der Eingriff des Analytikers einen traumatischen unbewussten Nerv gereizt hat. Solange das Subjekt die Deutungen des Analytikers ohne Störung und Unbehagen akzeptiert, haben wir „es“ noch nicht berührt; ein plötzliches Auftreten von Widerstand (von ironischem Zweifel bis zur entsetzten Verweigerung) bestätigt, dass wir endlich auf der richtigen Spur sind.

Trotz ihrer formalen Ähnlichkeit unterscheidet sich die inhärente Logik dieses freudschen Modus, Zweifel als Hebel zu benutzen, um Gewissheit zu erreichen, radikal von der kartesischen Umkehrung des Zweifels in Gewissheit: hier wird der Zweifel nicht als hyperbolische Geste benutzt, jeden ihm heterogenen Inhalt zu suspendieren, sondern im Gegenteil als letzter Beweis dafür, dass es einen traumatischen, insistierenden Kern gibt, der sich dem Zugriff unseres Denkens entzieht. Wiederum ist die einzige philosophische Homologie zu diesem Verfahren die der hegelianischen Strategie, Heteronomie gerade in der Weise zu erkennen, wie ein Bewusstsein seine Autonomie behauptet (wie der Asket, der seine Abhängigkeit von der materiellen Welt durch seine Besessenheit, sie loszuwerden, selbst zur Schau stellt).

Lacans letztes Wort jedoch ist nicht Gewissheit über das Unbewusste: er reduziert den Zweifel des Subjekts nicht auf dessen Widerstand gegen die unbewusste Wahrheit. Was das Problem des „Skeptizismus“ betrifft, des Infragestellens unserer sichersten alltäglichen Gewissheiten, ist Lacan weit radikaler als Descartes: sein „Skeptizismus“ betrifft das, was der späte Wittgenstein als das Feld der „objektiven Gewissheit“ definierte, das Feld, das Lacan „den großen Anderen“ taufte.

„Objektive Gewissheit“

Wittgensteins Verweis auf die in der „Lebensform“ selbst eingebettete „objektive Gewissheit“ ist eine Antwort auf einen Zweifel, der noch einen Schritt weiter geht als der kartesische. Das heißt: Wittgenstein stellt die Kohärenz und Konsistenz unseres Denkens selbst in Frage: Woher weiß ich, dass ich überhaupt denke? Wie kann ich sicher sein, dass die Worte, die ich benutze, bedeuten, was: ich denke, dass sie bedeuten? Durch den Verweis auf die „Lebensform“ bemüht sich Wittgenstein, einen Halt ausfindig zu machen, der in unseren Sprachspielen, einschließlich des Spiels des philosophischen Zweifels, immer-schon vorausgesetzt ist. Hier müssen wir präzise sein, um seinen entscheidenden Akzent nicht zu verfehlen: „Lebensform“ ist – anders als das kartesische cogito – kein Rest, der selbst dem radikalsten Zweifel standhält; sie ist zugleich weniger und mehr: sie ist die Instanz, die jede Art radikalen Skeptizismus schlicht sinnlos macht, indem sie ihm seinen Boden selbst abträgt. Mit anderen Worten: sie ist nicht die Instanz, die die Probe besteht, die die Frage löst, eine Antwort auf sie, sondern die Instanz, die uns zwingt, die Frage selbst als falsch aufzugeben.

In einer ersten Annäherung scheint Wittgensteins Lösung darin zu bestehen, sich auf eine grundlegende Ebene des Glaubens, der Annahme, des Vertrauens zu stützen – durch den bloßen Akt des Sprechens nehmen wir am grundlegenden sozialen Pakt teil, wir setzen die Konsistenz der Sprachordnung voraus: „Unser Lernen beruht auf Glauben.“14/„Wissen beruht zuletzt auf Annahme-Anerkennung“ [Anerkennung].15/„Ein Sprachspiel ist nur möglich, wenn man etwas vertraut.“16 Doch müssen wir hier vorsichtig sein, den Träger dieser Annahme-Anerkennung nicht mit dem kartesischen Subjekt zu verwechseln: der „große Andere“, auf dessen Konsistenz das Subjekt sich hier stützt, ist nicht der kartesische Gott, der nicht täuscht. Wittgensteins Pointe ist, dass unser Wissen, Denken, Sprechen nur als Momente einer bestimmten „Lebensform“ Sinn haben, innerhalb deren Rahmen Individuen praktisch zueinander und zur Welt, die sie umgibt, in Beziehung treten. „Sprechen“ heißt, sich auf Gegenstände in der Welt zu beziehen, unsere Nachbarn anzusprechen und so weiter; weshalb Fragen wie „Wie kann ich sicher sein, dass Gegenstände in der Welt tatsächlich der Bedeutung meiner Worte entsprechen?“ strikt am Punkt vorbeigehen: sie setzen eine Kluft voraus, die, wenn sie existierte, den Akt des Sprechens selbst unmöglich machen würde.

Um die spezifische Ebene dieses Pakts zu isolieren, an dem wir durch den bloßen Akt des Sprechens teilhaben, führt Wittgenstein den Unterschied zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Gewissheit ein. „Subjektive Gewissheit“ ist eine Gewissheit, die dem Zweifel unterworfen ist, sie betrifft Sachverhalte, bei denen die üblichen Kriterien von Richtigkeit und Falschheit, von Wissen und Unwissen, gelten. Die Einstellungen und Überzeugungen, die „objektive Gewissheit“ konstituieren, sind demgegenüber a priori nicht der Prüfung und dem Zweifel unterworfen: der Akt, sie in Frage zu stellen, würde den Rahmen unserer „Lebensform“ selbst untergraben und das nach sich ziehen, was die Psychoanalyse „Realitätsverlust“ nennt. Es ist daher überflüssig und sogar falsch, überhaupt zu sagen, „objektive Gewissheit“ betreffe Dinge, von denen „wir zweifellos wissen, dass sie wahr sind“: eine solche Behauptung führt eine reflexive Distanz ein, die völlig fehl am Platz ist, da die Einstellungen und Überzeugungen der „objektiven Gewissheit“ den Hintergrund bilden, vor dem wir überhaupt konsistent an etwas zweifeln, es prüfen und so weiter können. Sagen wir, ich habe Zweifel an der Anwesenheit eines Tisches im Zimmer nebenan: ich gehe hinein und sehe, dass der Tisch da ist; wenn nun jemand mich fragt: „Aber woher weißt du, dass du es warst, der das Zimmer betreten hat? Wie kannst du sicher sein, dass das, was du gesehen hast, ein Tisch war?“, wäre es völlig unangebracht zu antworten: „Ich weiß es, ich war mir meiner selbst völlig bewusst, als ich es betrat, ich sah den Tisch mit meinen eigenen Augen“ … solche Fragen (und Antworten, die implizit ihre Gültigkeit akzeptieren) ergeben innerhalb des Rahmens unserer „Lebensform“ schlicht keinen Sinn.

Was Wittgenstein „objektive Gewissheit“ nennt, ist daher sein Gegenstück zum lacanianischen „großen Anderen“: das Feld eines symbolischen Pakts, der „immer-schon“ da ist, den wir „immer-schon“ annehmen und anerkennen. Derjenige, der ihn nicht anerkennt, derjenige, dessen Haltung die des Unglaubens „an den großen Anderen“ ist, hat in der Psychoanalyse einen präzisen Namen: ein Psychotiker. Ein Psychotiker ist „verrückt“ genau insofern, als er an Einstellungen und Überzeugungen festhält, die von der bestehenden „Lebensform“ ausgeschlossen sind: es ist kein Zufall, dass Wittgensteins Beispiele von Sätzen, die „objektive Gewissheit“ in Frage stellen (Wittgenstein behauptet, sein Name sei nicht Ludwig Wittgenstein, sondern Napoleon; jemand mitten in einem schottischen Moor behauptet, er sei auf dem Trafalgar Square, und so weiter), wie karikaturhafte Aussagen aus Witzen über Verrückte klingen. So scheint es, dass Wittgenstein schließlich doch seine Bindung an das kartesische Verfahren in der Geste, den abstrakten Status des cogito zu untergraben, bekräftigt: spielt „objektive Gewissheit“ nicht die Rolle des letzten Halts und Horizonts, der uns ermöglicht, die Möglichkeit des Zweifels selbst loszuwerden?

Wittgensteins letztes Wort jedoch ist nicht „objektive Gewissheit“: in einer Sammlung seiner letzten Fragmente, die einen etwas kartesisch klingenden Titel trägt – Über Gewissheit – behauptet er eine irreduzible – wenn auch unmerkliche und unaussprechliche – Kluft, die „objektive Gewissheit“ von „Wahrheit“ trennt. „Objektive Gewissheit“ betrifft nicht „Wahrheit“; im Gegenteil, sie ist „eine Frage der Haltung“, eine durch die bestehende Lebensform implizierte Stellungnahme, wobei es keine Versicherung gibt, dass nicht „etwas wirklich Unerhörtes“17 auftauchen wird, das die „objektive Gewissheit“ untergräbt, auf der unser „Wirklichkeitssinn“ gründet. Erinnern wir uns nur an den abgenutzten Fall eines primitiven steinzeitlichen Stammes, der plötzlich mit Fernsehen konfrontiert wird: diese „Kiste mit lebenden Menschen darin“ kann nicht anders, als ihre „objektive Gewissheit“ abzutragen, wie es eine Begegnung mit außerirdischem Leben bei uns tun würde (oder, tatsächlich, wie es bereits bei der zeitgenössischen Teilchenphysik der Fall ist, mit ihren Thesen über das Zeit-Raum-Kontinuum, über gekrümmten Raum und so weiter).

Mit anderen Worten: Wittgenstein ist sich sehr wohl bewusst, dass Lebensformen letztlich, sozusagen, „im leeren Raum schweben“; dass sie keinen „festen Boden unter den Füßen“ besitzen – oder, in lacanianischen Termini, dass sie selbstreferentielle symbolische Teufelskreise bilden, die eine unbenennbare Distanz zum Realen aufrechterhalten. Diese Distanz ist leer; wir können keine positive, bestimmte Tatsache angeben, die „objektive Gewissheit“ in Frage stellen würde, da alle derartigen Tatsachen immer-schon vor dem unbezweifelbaren Hintergrund der „objektiven Gewissheit“ erscheinen; doch bezeugt sie den Mangel an Stütze des „großen Anderen“, seine letzte Impotenz, die Tatsache, dass, wie Lacan sagen würde, „der große Andere nicht existiert“, dass sein Status der eines Hochstaplers, einer bloßen Vorspiegelung, ist. Und erst hier durchbricht Wittgenstein effektiv die kartesischen Grenzen: durch die Behauptung einer radikalen Diskontinuität zwischen Gewissheit und „Wahrheit“; durch die Setzung einer Gewissheit, die, obwohl unbezweifelbar, ihre „Wahrheit“ nicht garantiert.18

Von Ⱥ zu $

In seinen Philosophischen Untersuchungen stieß Wittgenstein bereits auf die „Nichtexistenz des großen Anderen“ als Garantie der Konsistenz unseres symbolischen Universums in der Form seines „skeptischen Paradoxons“: „kein Handlungsverlauf könnte durch eine Regel bestimmt werden, weil jeder Handlungsverlauf so ausgelegt werden kann, dass er mit der Regel übereinstimmt.“19 Kurz: jeder Handlungsverlauf, der die etablierte Menge von Regeln zu verletzen scheint, kann nachträglich als ein Handeln gemäß einer anderen Menge von Regeln interpretiert werden. Wir alle kennen die mathematische Funktion der Addition, die durch das Wort „plus“ bezeichnet wird. Sagen wir zum Beispiel, dass „68 + 57“ eine Rechnung ist, die ich noch nie zuvor ausgeführt habe; wenn ich sie schließlich ausführe, stelle ich fest, dass „68 + 57 = 5“ ist. Nehmen wir weiter an, das Wort „quus“ bezeichne eine Additionsregel, die dasselbe Ergebnis wie „plus“ liefert, mit der einzigen Ausnahme, dass sie für „68 + 57“ „5“ ergibt; so antworte ich auf die Proteste meines verwirrten Begleiters: „Woher weißt du, dass das ein Fehler ist? Ich bin einfach einer anderen Regel gefolgt: für mich bedeutet ‚plus‘ und hat immer bedeutet ‚quus‘, und ‚68 + 57 = 5‘ ist eine korrekte Anwendung von quus!“20

Es wäre natürlich einfach genug, dieses Paradox innerhalb eines hermeneutischen Ansatzes dadurch zu widerlegen, dass man darauf hinweist, wie es eine gewisse Distanz zur „Regel“ voraussetzt, die in unserer alltäglichen Haltung nicht vorhanden ist: wenn wir in unserem Alltag addieren, „folgen“ wir keiner Regel, die dem Akt äußerlich wäre – die „Regel“ ist dem Akt selbst inhärent; sie konstituiert den Horizont, innerhalb dessen überhaupt nur von „Addieren“ gesprochen werden kann; weshalb wir, wenn wir addieren, nicht zuerst von seiner „Regel“ abstrahieren und uns dann fragen können, welche Regel wir befolgt haben. Dieser hermeneutische Bedeutungshorizont, der immer-schon als immanenter Hintergrund unserer Operationen vorhanden ist – und als solcher den Ort konstituiert, von dem aus wir sprechen und der daher nicht auf konsistente Weise in Frage gestellt werden kann – ist eine der Dimensionen dessen, was Lacan als „den großen Anderen“ bezeichnet: der große Andere ist immer-schon da; durch unseren bloßen Akt des Sprechens bezeugen wir unseren „Glauben“ an ihn.

Doch ist das Feld der Psychoanalyse nicht auf diese Dimension des großen Anderen beschränkt – dafür zeugt die entscheidende Rolle, die die Interpretation von Versprechern in ihr spielt: sie lassen sich durch den hermeneutischen Horizont nicht erklären. Das heißt: ist ein Versprecher nicht gerade ein Akt, den wir nicht im Einklang mit seiner inhärenten Regel auszuführen vermochten, bei dem aber unser bloßes Scheitern, der Regel zu folgen, unsere Abweichung von ihr, im Einklang mit einer anderen, unbekannten Regel geschah (nämlich der Regel, die durch seine Interpretation freigelegt wird)? Ist das Ziel der Interpretation nicht gerade, eine Regel zu erkennen, der unbewusst gefolgt wurde, wo der „gesunde Menschenverstand“ nichts als sinnloses Chaos sieht – mit anderen Worten, „quus“ zu erkennen, wo der „gesunde Menschenverstand“ einen bloßen Fehler sieht, ein bloßes Scheitern unseres Bemühens, „plus“ zu folgen? Der Analytiker als „Subjekt, dem Wissen unterstellt wird“ soll genau das „quus“ wissen, die verborgene Regel, der wir unbewusst gefolgt sind, die Regel, die unseren Versprechern nachträglich Sinn und Konsistenz verleihen wird …. Auf diese Weise jedoch haben wir gerade den „großen Anderen“ des hermeneutischen Horizonts durch einen anderen „großen Anderen“, durch eine andere „Regel“ ersetzt, die die Konsistenz unserer Rede garantiert: der „große Andere“ existiert immer noch, der Analytiker fungiert immer noch als Garantie, dass all unsere Versprecher und Irrwege irgendeiner verborgenen Regel folgen.

Die äußerste Schlussfolgerung, die aus dem „skeptischen Paradox“ zu ziehen ist, ist weit radikaler – sie besteht im exakten Gegenstück zu Lacans später These, dass „der große Andere nicht existiert“: wenn jeder Regelverstoß so ausgelegt werden kann, dass er mit der Regel übereinstimmt, dann muss, wie Kripke es bündig ausdrückt, „die Leiter schließlich weggetreten werden“:21 streng genommen wissen wir nie, welcher – wenn überhaupt irgendeiner – Regel wir folgen. Die Konsistenz unserer Sprache, unseres Bedeutungsfeldes, auf die wir uns im Alltag stützen, ist immer eine prekäre, kontingente Bastelei, die in jedem Augenblick in eine gesetzlose Reihe von Singularitäten explodieren kann. „Wittgenstein-II“, der Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen, meinte noch, es sei möglich, dieser radikalen Schlussfolgerung durch den Verweis auf den unbezweifelbaren Halt der „Lebensform“ zu entgehen; erst in Über Gewissheit artikulierte er seine Version der „Nichtexistenz des großen Anderen“.

Über Gewissheit zwingt uns daher, einen anderen Wittgenstein, „Wittgenstein-III“, von „Wittgenstein-II“ zu unterscheiden: was „Wittgenstein-II“ außer Betracht lässt, ist der Abgrund, die „leere“ Distanz, die eine „Lebensform“ für immer vom nicht-symbolisierbaren Realen trennt. Die „unerhörten Vorkommnisse“, deren Auftauchen „objektive Gewissheit“ untergräbt, sind – um lacanianische Termini zu verwenden – genau die Einbrüche eines traumatischen Realen, die einen „Realitätsverlust“ nach sich ziehen. In Über Gewissheit skizziert Wittgenstein drei mögliche Modi der Antwort des Subjekts auf ein solches „unerhörtes Vorkommnis“; veranschaulichen wir sie am bereits erwähnten Fall der zeitgenössischen Physik.

Erstens kann ich mich „rational“ verhalten und die vorherige Gewissheit durch Zweifel ersetzen („vielleicht verhalten sich Teilchen tatsächlich auf diese seltsame Weise, vielleicht ist Materie nur gekrümmter Raum, obwohl mir mein gesunder Menschenverstand sagt, das sei absurd“); die zweite Möglichkeit ist, dass ein solcher Schock meine Fähigkeit zu denken und zu urteilen vollständig untergräbt („wenn die Natur sich so verhält, dann ist das Universum verrückt und über irgendetwas wirklich Konsistentes kann nichts gesagt werden“); schließlich kann ich die neuen Belege schlicht zurückweisen und an meiner vorherigen Gewissheit festhalten („all das Grübeln über das Zeit-Raum-Kontinuum, über gekrümmten Raum usw. ist blanker Unsinn, man muss nur die Augen öffnen und erfahren, wie die Welt wirklich ist …“). Und was ist „Traumatismus“ in der Psychoanalyse, wenn nicht ein solches „unerhörtes Vorkommnis“, das, wenn es vollständig übernommen wird, die „objektive Gewissheit“ untergräbt, die zu unserer „Lebensform“ gehört?

Mit anderen Worten: entsprechen nicht die drei von Wittgenstein artikulierten Modi drei möglichen Reaktionen des Subjekts auf den Einbruch eines psychischen Traumatismus: seiner Aufnahme in den psychischen Apparat, der Desintegration des Apparats, der Weigerung des Apparats, das traumatische Vorkommnis zu berücksichtigen? Was uns hier jedoch besonders interessiert, ist, dass diese Inkonsistenz des „großen Anderen“ (des Feldes der „objektiven Gewissheit“, des „Gemeinwissens“) ihre Kehrseite in der Spaltung des Subjekts selbst hat, in seiner Teilung in S1, einen Signifikanten, der es innerhalb der symbolischen Ordnung repräsentiert, und den Rest der signifikanten Repräsentation, das reine Leere, dessen Gegenstück das nicht-symbolisierte Objekt (a) ist. Wittgenstein zeichnete diese Spaltung durch seine feinen Beobachtungen darüber nach, wie das Pronomen „ich“ funktioniert; er weist entschlossen die Idee zurück, dass „ich“ ein Demonstrativpronomen sei, durch das ein Satz selbstreferentiell auf sein Subjekt der Äußerung zeigt:

Wenn ich sage „Ich habe Schmerzen“, zeige ich nicht auf eine Person, die Schmerzen hat, da ich in einem gewissen Sinn überhaupt nicht weiß, wer Schmerzen hat. Und dies kann gerechtfertigt werden. Denn der Hauptpunkt ist: Ich habe nicht gesagt, dass eine bestimmte Person Schmerzen hat, sondern „Ich bin …“ …. Was heißt es, zu wissen, wer Schmerzen hat? Es heißt zum Beispiel, zu wissen, welcher Mann in diesem Raum Schmerzen hat: etwa der, der dort sitzt, oder der, der in jener Ecke steht …. Worauf will ich hinaus? Darauf, dass es viele verschiedene Kriterien für die „Identität“ einer Person gibt.22

Der entscheidende Punkt ist hier, dass „ich“, entgegen dem philosophischen common sense, die Identität des Subjekts nicht sichert: „ich“ ist nichts als ein leerer verschwindender Punkt des „Subjekts der Äußerung“, das seine Identität erst durch seine Identifizierung mit einem Platz im symbolischen Netz erreicht, das die soziale Realität strukturiert; erst hier wird das Subjekt „jemand“; erst hier können wir die Frage „Wer hat Schmerzen?“ beantworten. Es ist wegen dieser Distanz zwischen dem „Subjekt der Äußerung“ und dem „Subjekt des Gesagten“, dass Sätze wie „Ich, Ludwig Wittgenstein, verpflichte mich hiermit …“ nicht pleonastisch sind: die Funktion von „Ludwig Wittgenstein“ besteht genau darin, eine Antwort auf die Frage „Wer bin 1?“ zu liefern. Wenn ich, statt einfach zu sagen „Ich behaupte …“, sage „Ich, Ludwig Wittgenstein, behaupte …“, identifiziere ich mich mit einem Platz im symbolischen intersubjektiven Netz.

Wie Lacan in seiner Analyse von Hamlet hervorhebt,23 bezeugen Sätze wie „Ich, Ludwig Wittgenstein, …“ die Fähigkeit des Subjekts, „zur Tat zu schreiten“, gegründet in der Gewissheit symbolischer Identifizierung – des vollständigen Übernehmens eines symbolischen Mandats. Hamlet selbst, die Verkörperung obsessiven Aufschiebens, unfähig, „zur Tat zu schreiten“, wird in dem exakten Moment handlungsfähig, in dem er im letzten Akt des Stücks die rhetorische Frage „Wer bin ich?“ beantwortet: „Was ist er, dessen Kummer / ein solches Gewicht trägt? …/… das bin ich, Hamlet der Däne.“ Es ist die Spaltung zwischen „ich“ und „Hamlet der Däne“, zwischen dem verschwindenden Punkt des Subjekts der Äußerung und seiner Stütze in symbolischer Identifizierung, die primordial ist: der Moment des „Zur-Tat-Schreitens“ ist nichts als ein illusorischer Moment der Entscheidung, in dem das Sein des Subjekts ohne Rest mit seinem symbolischen Mandat zusammenzufallen scheint. Wittgenstein ist ganz klar und eindeutig in seinem Beharren auf dem primordialen Charakter dieser Spaltung: „Das Wort ‚ich‘ bedeutet nicht dasselbe wie ‚L.W.‘, auch wenn ich L.W. bin, noch bedeutet es dasselbe wie der Ausdruck ‚die Person, die jetzt spricht‘.“24

So befinden wir uns wieder am Anfang, denn es ist gerade diese Spaltung – der Widerstand, das Zögern des Subjekts, sein symbolisches Mandat vollständig zu übernehmen –, die die Position eines Hysterikers definiert: was ist ein Hysteriker, wenn nicht ein „ich“, das der vollen Identifizierung mit dem Mandat „Ludwig Wittgenstein“ („Vater“, „Ehefrau“, „Sohn“, „Anführer“, „Schüler“ …) widersteht? Und was ist hysterisches Theater, wenn nicht eine Inszenierung dieses Widerstands? Dies ist der letzte Bereich von Zweifel und Gewissheit: eine Gewissheit, dass „ich“ mein symbolisches Mandat bin, ein Zweifel, ob „ich“ das wirklich bin.

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