II DER ‘FORMELLE ASPEKT’
Geschichte einer Erscheinung
Was ist die erste ‘materialistische Umkehrung’ Hegels? Man kann sie genau verorten: Sie ereignete sich am 26. Mai 1828 auf dem zentralen Platz von Nürnberg. An diesem Tag erschien dort ein junger Mann, auffallend gekleidet, mit steifen, unnatürlichen Gesten; seine gesamte Sprache bestand aus einigen auswendig gelernten Fragmenten des Vaterunsers, die er mit grammatischen Fehlern vortrug, und aus der rätselhaften Phrase ‘Ich will ein solcher Ritter werden wie mein Vater’, dem Entwurf einer Identifikation mit dem Ich-Ideal; in seiner linken Hand trug er ein Papier mit seinem Namen – Kaspar Hauser – und der Adresse eines Hauptmanns der Nürnberger Kavallerie. Später, als er lernte, ‘richtig’ zu sprechen, erzählte Kaspar seine Geschichte: Er habe sein ganzes Leben allein in einer ‘dunklen Höhle’ verbracht, wo ein geheimnisvoller ‘schwarzer Mann’ ihm Essen und Trinken verschaffte, bis zu jenem Tag, an dem er ihn ankleidete und nach Nürnberg brachte und ihm unterwegs ein paar Sätze beibrachte .… Er wurde der Familie Daumer anvertraut, ‘menschlichte’ sich rasch und wurde zu einer Berühmtheit: ein Objekt philosophischer, psychologischer, pädagogischer und medizinischer Forschung, sogar Gegenstand politischer Spekulationen über seine Herkunft (war er der vermisste Prinz von Baden?). Nach ein paar ruhigen Jahren wurde er am Nachmittag des 14. Dezember 1833 mit einer Messerwunde tödlich verletzt aufgefunden; auf dem Sterbebett erklärte er, sein Mörder sei derselbe ‘schwarze Mann’, der ihn fünf Jahre zuvor auf den zentralen Platz von Nürnberg gebracht habe …
Obwohl das plötzliche Auftauchen Kaspar Hausers einen Schock auslöste, der zu jener Art brutaler Begegnung mit einem real-unmöglichen gehört, die den symbolischen Kreislauf von Ursache und Wirkung zu unterbrechen scheint, war das Überraschendste daran, dass seine Ankunft in gewissem Sinn erwartet worden war: gerade als Überraschung kam er pünktlich. Es ist nicht nur so, dass Kaspar den tausendjährigen Mythos eines Kindes königlicher Herkunft verwirklichte, das an einem wilden Ort ausgesetzt und dann im Jugendalter gefunden wird (man erinnere sich an das Gerücht, er sei der Prinz von Baden), oder dass die Tatsache, dass die einzigen Gegenstände in seiner ‘dunklen Höhle’ ein paar hölzerne Tierfiguren waren, auf rührende Weise den Mythos eines von Tieren geretteten Helden realisiert, die sich seiner annehmen. Der Punkt ist vielmehr, dass gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts das Thema eines Kindes, das von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen lebt, zum Gegenstand zahlreicher literarischer und wissenschaftlicher Texte wurde: Es inszenierte in reiner, ‘experimenteller’ Weise die theoretische Frage, wie im Menschen der Teil, der zur Kultur gehört, von dem Teil, der zur Natur gehört, zu unterscheiden sei.
‘Materiell’ ergab sich das Auftauchen Kaspars aus einer Reihe unvorhergesehener und unwahrscheinlicher Zufälle, doch vom formalen Standpunkt aus war es notwendig, die Wissensstruktur der Epoche hatte den Platz dafür im Voraus bereitet. Seine Erscheinung verursachte gerade deshalb eine so große Sensation, weil der leere Platz, der darauf wartete, ausgefüllt zu werden, bereits da war: Ein Jahrhundert früher oder später wäre sie unbemerkt geblieben. Diese Form zu erfassen, diesen leeren Platz, der dem Inhalt, der ihn ausfüllt, vorausgeht – darin besteht das Ziel der hegelschen Vernunft; das heißt der Vernunft insofern, als sie dem Verstand entgegengesetzt ist, bei dem eine Form einen positiven, vorgängigen Inhalt ausdrückt. Mit anderen Worten: Weit davon entfernt, durch seine ‘materialistischen Umkehrungen’ überholt zu werden, hat Hegel sie im Voraus mitgerechnet.
Sagen und Meinen-wollen
Nach der dialektischen Vulgata soll der Verstand Kategorien, begriffliche Bestimmungen, als abstrakte, geronnene Momente behandeln, von ihrer lebendigen Totalität abgeschnitten, auf die Besonderheit ihrer fixierten Identität reduziert; wohingegen die Vernunft diese Ebene des Verstandes dadurch überwindet, dass sie den lebendigen Prozess subjektiver (Selbst-)Vermittlung aufweist, dessen abstrakte, ‘tote’ Momente, dessen ‘Objektivierungen’, die Kategorien des Verstandes sind. Wo der Verstand nur starre Bestimmungen sieht, sieht die Vernunft die lebendige Bewegung, die sie hervorbringt. Die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft wird so als eine Art bergsonsche Opposition zwischen dem flexiblen élan vital und der trägen Materie, seinem Produkt, begriffen, die dem Verstand zugänglich ist.
Eine solche Auffassung verfehlt völlig, worum es in der hegelschen Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand geht: Die Vernunft ist in keiner Weise etwas ‘Mehr’ im Verhältnis zum Verstand, sie ist definitiv nicht eine lebendige Bewegung, die dem toten Skelett der Kategorien des Verstandes entgleiten würde; im Gegenteil ist die Vernunft der Verstand selbst, insofern als ihm nichts fehlt, insofern als es nichts ‘jenseits’ von ihm gibt – die absolute Form, jenseits deren es keinen transzendenten Inhalt gibt, der ihrem Zugriff entgeht. Wir bleiben auf der Ebene des Verstandes stecken, solange wir weiter glauben, dass es etwas jenseits von ihm gebe, eine unbekannte Größe außerhalb seiner Reichweite – auch wenn (und besonders wenn) wir dieses Jenseits ‘Vernunft’ nennen! Indem wir den Übergang zur Vernunft vollziehen, ‘fügen’ wir dem Verstand nichts hinzu; vielmehr ziehen wir ihm etwas ab (das Gespenst eines Objekts, das in seinem Jenseits fortbesteht) – das heißt, wir reduzieren ihn auf sein formales Verfahren: Man ‘überwindet’ den Verstand in dem Moment, in dem man sich bewusst wird, wie es bereits der Verstand selbst ist, der die lebendige Bewegung der Selbstvermittlung ist, nach der man vergeblich in seinem Jenseits gesucht hat.
Das Bewusstsein hiervon kann helfen, ein verbreitetes Missverständnis hinsichtlich der hegelschen Kritik am ‘abstrakten Denken’ zu zerstreuen. Gewöhnlich behält man daraus die Idee, dass der gesunde Menschenverstand (oder der Verstand) ‘abstrakt denkt’, insofern er den ganzen Reichtum eines Gegenstands unter eine bestimmte Bestimmung subsumiert: Man isoliert aus dem konkreten Netz von Bestimmungen, die eine lebendige Totalität ausmachen, ein einziges Merkmal – ein Mensch etwa wird mit der Bestimmung ‘Dieb’ oder ‘Verräter’ identifiziert, darauf reduziert … und der dialektische Zugang soll diesen Verlust dadurch kompensieren, dass er uns hilft, den Reichtum der konkreten lebendigen Totalität wiederzugewinnen. Wie Gérard Lebrun jedoch betonte,25 verzeichnet eine solche Vorstellung den dialektischen Zugang vollständig: Sobald man in den Logos eintritt, ist der Verlust unersetzlich, was verloren ist, ist ein für alle Mal verloren; oder, in Lacans Begriffen, sobald man spricht, ist die Kluft, die das Symbolische vom Realen trennt, irreduzibel. Weit davon entfernt, diesen Verlust zu beklagen, preist Hegel vielmehr die immense Macht des Verstandes, der ‘abstrahieren’ kann – das heißt: die unmittelbare Einheit des Lebens zu zerstückeln:
Die Tätigkeit der Auflösung ist die Macht und Arbeit des Verstandes, die erstaunlichste und mächtigste aller Mächte, oder vielmehr die absolute Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen bleibt und wie Substanz seine Momente zusammenhält, ist ein unmittelbares Verhältnis, also eines, an dem nichts Erstaunliches ist. Dass aber ein Zufälliges als solches, losgelöst von dem, was es umgrenzt, was nur in seinem Zusammenhang mit anderem gebunden und wirklich ist, ein eigenes Dasein und eine abgesonderte Freiheit erlangen soll – dies ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen ‘Ich’.26
Mit anderen Worten: Das Konkrete-des-Denkens ist völlig inkommensurabel mit der unmittelbaren Konkretion, die zur Fülle des Lebens gehört: Der ‘Fortschritt’ des dialektischen Denkens gegenüber dem Verstand besteht keineswegs in einer ‘Wiederaneignung’ dieser vordiskursiven Fülle – vielmehr impliziert er die Erfahrung ihrer letzten Nichtigkeit; der Erfahrung, wie der Reichtum, der auf dem Weg zur Symbolisierung verschwindet, bereits an sich etwas Verschwindendes ist. Kurz gesagt: Wir gehen vom Verstand zur Vernunft über, wenn wir erfahren, wie der Verlust der Unmittelbarkeit durch den Verstand tatsächlich ein Verlust eines Verlustes ist, ein Verlust von etwas ohne eigentliche ontologische Konsistenz.
Der Fehler des Verstandes besteht nicht in seinem Streben, den Reichtum des Lebens auf abstrakte begriffliche Bestimmungen zu reduzieren: Sein höchster Fehler ist vielmehr gerade diese Opposition zwischen dem konkreten Reichtum des Realen und dem abstrakten Netz symbolischer Bestimmungen – sein Glaube an eine ursprüngliche Fülle des Lebens, die dem Netz symbolischer Bestimmungen angeblich entgeht. Wenn man folglich die negative Macht des Verstandes beklagt, die die lebendige, organische Totalität zerstückelt, und sie der synthetischen, heilenden Fähigkeit der Vernunft gegenüberstellt, verfehlt man gewöhnlich den entscheidenden Punkt: Die Operation der Vernunft besteht nicht darin, die verlorene Einheit auf einer ‘höheren’ Ebene wiederherzustellen, als ein Ganzes, das die innere Differenz erhält, indem es sie als sein aufgehobenes Moment setzt, oder irgendein ähnliches pseudo-hegelsches Geschwätz. Der Übergang vom Verstand zur Vernunft geschieht, wenn das Subjekt sich bewusst wird, wie das organische Ganze, das vom Verstand verloren wurde, ‘dadurch zustande kommt, dass es zurückgelassen wird’; wie es nichts jenseits oder vor dem Verstand gibt, wie dieses Jenseits eines idyllischen organischen Ganzen vom Verstand selbst rückwirkend gesetzt (vorausgesetzt) wird. Die Grundillusion des Verstandes ist genau die, dass es ein Jenseits gibt, das seinem Zugriff entgeht; also, kurz gesagt, ist die Vernunft einfach der Verstand minus dem, was ihm angeblich fehlt, was seinem Zugriff angeblich entgeht – kurz: was ihm als sein unzugängliches Jenseits erscheint.27
Die abgenutzten Formeln, nach denen die Vernunft die starren Kategorien des Verstandes ‘in Bewegung setzt’ und ihnen die Dynamik des dialektischen Lebens einführt, verfallen damit einem Missverständnis: Weit davon entfernt, ‘die Grenzen des Verstandes zu überschreiten’, markiert die Vernunft den Moment der Reduktion allen Inhalts des Denkens auf die Immanenz des Verstandes. Die Kategorien des Verstandes werden ‘flüssig’, durch die Dialektik in Bewegung gesetzt, wenn man die Auffassung von ihnen als fixen Momenten, ‘Objektivierungen’, eines dynamischen Prozesses, der sie übersteigt, aufgibt – das heißt, wenn man den Impuls ihrer Bewegung in der Immanenz ihres eigenen Widerspruchs lokalisiert. ‘Widerspruch als Impuls der dialektischen Bewegung’: wieder eine Gemeinplatzformel, deren Funktion in den meisten Fällen darin besteht, uns die Mühe zu ersparen, die genaue Natur dieses ‘Widerspruchs’ zu bestimmen. Was also ist, stricto sensu, dieser ‘Widerspruch’, der den dialektischen Prozess in Bewegung setzt?
Bei einer ersten Annäherung könnte man ihn als den Widerspruch eines Allgemeinen mit sich selbst, mit seinem eigenen besonderen Inhalt bestimmen: Jede universale Totalität, als ‘These’ gesetzt, enthält notwendig innerhalb ihrer besonderen Elemente ‘mindestens eines’, das das universale Merkmal, das sie definiert, negiert. Darin liegt ihr ‘symptomatischer Punkt’; das Element, das – innerhalb des Feldes der Universalität – den Platz ihres konstitutiven Außen hält, dessen, was ‘verdrängt’ werden muss, damit die Universalität sich konstituieren kann. Folglich vergleicht man die Universalität einer ‘These’ nicht mit irgendeiner Wahrheit-an-sich, der sie entsprechen soll: Man vergleicht sie mit sich selbst, mit ihrem konkreten Inhalt. Man unterminiert eine universale ‘These’, indem man den ‘Fleck’ ihrer konstitutiven Ausnahme aufzeigt – man erinnere nur Marx’ Kapital: Die immanente Logik des Privateigentums an den Produktionsmitteln (die Logik von Gesellschaften, in denen die Produzenten selbst ihre Produktionsmittel besitzen) führt zum Kapitalismus – zu einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Produzenten keine Produktionsmittel besitzt und daher gezwungen ist, auf dem Markt sich selbst – ihre Arbeit – zu verkaufen statt ihre Produkte.
Ferner muss der Charakter dieses Vergleichs eines Allgemeinen mit sich selbst, mit seinem eigenen konkreten Inhalt, weiter präzisiert werden: Er besteht letztlich in einem Vergleich dessen, was das Subjekt, das eine universale These äußert, sagen wollte, mit dem, was es tatsächlich gesagt hat. Man unterläuft eine universale These, wenn man dem Subjekt, das sie geäußert hat, zeigt, wie es durch ihre eigene Äußerung etwas gänzlich anderes gesagt hat, als es zu sagen beabsichtigte; wie Hegel immer wieder hervorhebt, ist das Schwierigste auf der Welt, genau zu sagen, was man ‘sagen will’. Die elementarste Form einer solchen dialektischen Subversion eines Satzes durch Selbstbezug – das heißt, indem man ihn auf seinen eigenen Äußerungsprozess bezieht – findet sich in Hegels Behandlung des ‘Prinzips der Identität’: Unwissentlich schreibt das Subjekt, das es äußert, Differenz in das Herz der Identität ein, in ihre Identität selbst:
Es ist also die leere Identität, an der die festhalten, die sie als solche für etwas Wahres nehmen und zu sagen pflegen, Identität sei nicht Differenz, sondern Identität und Differenz seien verschieden. Sie sehen nicht, dass sie in dieser Behauptung selbst sagen, Identität sei verschieden; denn sie sagen, Identität sei verschieden von Differenz.28
Deshalb liegt bei Hegel die Wahrheit stets auf der Seite dessen, was gesagt wird, und nicht auf der Seite dessen, was man ‘meinte’; lassen wir diese Unterscheidung artikulieren – die übrigens mit der lacanschen Unterscheidung zwischen Signifikanz [signifiance] und Signifikation zusammenfällt – apropos der Dialektik von Wesen und Erscheinung. ‘Für uns’, für das dialektische Bewusstsein, das den Prozess nachträglich beobachtet, ist das Wesen ‘Erscheinung qua Erscheinung’: die Bewegung der Selbstaufhebung der Erscheinung, die Bewegung, durch die die Erscheinung als solche gesetzt wird – das heißt als ‘bloße Erscheinung’. ‘Für das Bewusstsein’ hingegen, für das im Prozess gefangene Subjekt, ist das Wesen etwas jenseits der Erscheinung, eine substantielle Entität, die unter der trügerischen Erscheinung verborgen ist. Die ‘Signifikation’ des Wesens, was das Subjekt ‘sagen will’, wenn es von einem Wesen spricht, ist also eine transzendente Entität jenseits der Erscheinung, während das, was es ‘tatsächlich sagt’, die ‘Signifikanz’ seiner Worte, auf die Bewegung der Selbstaufhebung der Erscheinung reduziert ist: Die Erscheinung besitzt keinerlei ontologische Konsistenz, sie ist eine Entität, deren Sein mit ihrer eigenen Desintegration zusammenfällt. Der entscheidende Punkt ist hier, wie die ‘Signifikanz’ des Wesens in der vom Subjekt vollzogenen Bewegung besteht, im Verfahren, durch das es eine Entität als Erscheinung eines Wesens setzt.
Diese Dialektik lässt sich exemplarisch durch eine Betrachtung von Hegels Interpretation der Paradoxien verdeutlichen, mit denen Zenon die Nichtexistenz der Bewegung und des Vielen zu beweisen versuchte. Zenon ‘wollte’ natürlich sagen, dass Bewegung ‘nicht existiert’ – dass nur das Eine, das unbewegliche und unteilbare Sein, wirklich existiert; doch was er tatsächlich tat, war, die widersprüchliche Natur der Bewegung zu demonstrieren: Bewegung existiert nur als Bewegung ihrer eigenen Selbstaufhebung, Selbstüberschreitung. Hier sieht man, wie irrig das gängige Verständnis der hegelschen Kategorie des An-sich [An-sich] ist, das sie als einen substantiell-transzendenten Inhalt begreift, der dem Zugriff des Bewusstseins noch entgeht, von ihm noch nicht ‘vermittelt’ ist – das heißt, das sie nach dem kantischen Begriff des ‘Dings an sich’ modelliert.
Was aber ist das ‘An-sich’ von Zenons Argumentation? Zenon nahm sein argumentatives Verfahren als einen Beweis a contrario für das unbewegliche Sein, das in sich fortbesteht, jenseits der falschen Erscheinung der Bewegung – mit anderen Worten: Eine Differenz zwischen dem, was nur ‘für das Bewusstsein’ ist, und dem, was ‘an sich’ existiert, ist bereits ‘für das Bewusstsein’ (für Zenon selbst) da: Zenons Auffassung ist, dass Bewegung eine falsche Erscheinung ist, die für das naive Bewusstsein existiert, während nur das unbewegliche Eine wirklich existiert. Dies ist daher die erste Korrektur, die in das oben erwähnte gängige Verständnis einzuführen ist: Die Differenz zwischen dem, was nur ‘für es’ (für das Bewusstsein) ist, und dem, was ‘an sich’ existiert, ist eine dem ‘naiven’ Bewusstsein selbst inhärente Differenz. Der hegelsche Zug besteht einzig darin, diese Differenz zu verschieben, indem gezeigt wird, dass ihr Platz nicht dort ist, wo das ‘naive’ Bewusstsein (oder das ‘kritische’ Bewusstsein als höchste Form der Naivität) ihn setzt.
‘Für das Bewusstsein’, für Zenon, haben wir es mit einer Unterscheidung zwischen der widersprüchlichen, sich selbst aufhebenden Erscheinung der Bewegung und dem unbeweglichen Sein zu tun, das in seiner Identität mit sich selbst verharrt; die ‘Wahrheit’ Zenons, sein ‘An-sich oder Für-uns’, ist, dass der gesamte Inhalt dieses unbeweglichen Seins, alles, was Zenon tatsächlich darüber sagt, in der Bewegung der Selbstaufhebung der Bewegung besteht – das unbewegliche Sein jenseits der Erscheinung fällt mit dem Selbstauflösungsprozess der Bewegung zusammen. Der entscheidende Punkt ist hier, dass ‘für das Bewusstsein’, für Zenon, dieses Verfahren, diese argumentative Bewegung, als etwas Äußerliches zur ‘Sache selbst’ begriffen wird, als unser Weg zum Einen, das in seinem An-sich fortbesteht, von unserem Verfahren unberührt – um auf eine bekannte Metapher zurückzugreifen, dieses Verfahren ist wie eine Leiter, die man wegstößt, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen ist. ‘Für uns’ dagegen ist der Inhalt des Seins der Weg der Argumentation, der zu ihm hinführt; das unbewegliche Sein ist nichts als eine Art ‘Gerinnung’ des Verfahrens, durch das Bewegung als falsche Erscheinung gesetzt wird.
Der Übergang von dem, was nur ‘für das Bewusstsein’ ist, zu dem, was ‘an sich oder für uns’ ist, entspricht somit keineswegs dem Übergang von einer trügerischen Erscheinung zu ihrem substantiellen Jenseits, das an sich existieren soll: Er besteht im Gegenteil in der Erfahrung, wie das, was das Bewusstsein nur für einen Weg zur Wahrheit hielt und als solchen für äußerlich zu ihr (Zenons argumentatives Verfahren etwa), bereits die Wahrheit selbst ist. In einem Sinn ist ‘alles im Bewusstsein’, das wahre An-sich ist keineswegs in irgendeinem transzendenten Jenseits verborgen: Der ganze Fehler des Bewusstseins besteht darin, die ‘Sache selbst’ für das äußere Verfahren zu halten, das zu ihr hinführt. Hier gewinnt die Kategorie ‘des formellen Aspekts’ [das Formelle] aus der Einleitung zu Hegels Phänomenologie des Geistes ihr ganzes Gewicht: Die ‘Wahrheit’ eines Moments oder einer Stufe des dialektischen Prozesses ist in seiner Form selbst zu suchen – im formalen Verfahren, in der Weise, wie das Bewusstsein zu ihm gelangt ist:
… in der Bewegung des Bewusstseins tritt ein Moment des Ansichseins oder Für-uns-Seins auf, das dem Bewusstsein, wie es in der Erfahrung selbst begriffen ist, nicht vorhanden ist. Der Inhalt aber dessen, was sich uns darstellt, existiert für es; wir begreifen nur den formellen Aspekt dieses Inhalts oder seine reine Entstehung. Für es existiert, was so entstanden ist, nur als Gegenstand; für uns erscheint es zugleich als Bewegung und ein Prozess des Werdens.29
Entgegen der üblichen Vorstellung einer äußeren Form, die den wahren Inhalt verhüllen soll, begreift der dialektische Zugang den Inhalt selbst als eine Art ‘Fetisch’, als ein Objekt, dessen träge Präsenz seine eigene Form (sein Netz dialektischer Vermittlungen) verbirgt: Die Wahrheit des eleatischen Seins ist das formale Verfahren, durch das man die ontologische Inkonsistenz der Bewegung demonstriert. Aus diesem Grund impliziert die hegelsche Dialektik die Erfahrung der letzten Nichtigkeit des ‘Inhalts’ im Sinn eines Kerns des An-sich, dem man über das formale Verfahren näherkommen soll: Dieser Kern ist im Gegenteil nichts als die invertierte Weise, in der das Bewusstsein sein eigenes formales Verfahren (ver)kennt. Wenn Hegel Kant ‘Formalismus’ vorwirft, dann deshalb, weil Kant nicht ‘formalistisch’ genug ist – das heißt, weil er noch am Postulat eines An-sich festhält, das der transzendentalen Form entgehen soll, und darin nicht ein reines ‘Gedankending’ erkennt. Die Kehrseite des dialektischen Übergangs zur ‘Wahrheit’ eines Objekts ist somit sein Verlust: Das Objekt, seine fixe Identität, wird im Netz der ‘Vermittlungen’ aufgelöst. Indem wir die Bewegung der Selbstaufhebung der Bewegung als die ‘Wahrheit’ von Zenons Sein begreifen, verlieren wir das Sein als substanzielle Entität, die an sich existiert: Alles, was bleibt, ist der abgründige Strudel der Selbstaufhebung der Bewegung – Heraklit als Wahrheit des Parmenides.
Apropos des Wahrheitsbegriffs vollzog Hegel seine berühmte Umkehrung: Wahrheit besteht nicht in der Korrespondenz unseres Denkens (Satz, Begriff) mit einem Objekt, sondern in der Korrespondenz des Objekts selbst mit seinem Begriff; wie bekannt, entgegnete Heidegger, diese Umkehrung bleibe innerhalb der Grenzen desselben metaphysischen Wahrheitsbegriffs als Korrespondenz.30 Was jedoch diesem heideggerschen Vorwurf entgeht, ist der radikal asymmetrische Charakter der hegelschen Umkehrung: Bei Hegel haben wir drei und nicht zwei Elemente – die duale ‘Erkenntnis’-Beziehung zwischen ‘Denken’ und seinem ‘Objekt’ wird durch das Dreieck aus (subjektivem) Denken, dem Objekt und seinem Begriff ersetzt, der in keiner Weise mit dem Denken zusammenfällt. Man könnte sagen, der Begriff ist die Form des Denkens, Form im strengen dialektischen Sinn des ‘formellen Aspekts’ als Wahrheit des Inhalts: Das ‘Ungedachte’ eines Gedankens ist nicht irgendein transzendenter Inhalt, der seinem Zugriff entgeht, sondern seine Form selbst. Die Begegnung zwischen einem Objekt und seinem Begriff ist aus diesem Grund notwendig eine misslingende: Das Objekt kann seinem Begriff niemals vollständig entsprechen, da sein Dasein, seine ontologische Konsistenz, an dieser Nicht-Entsprechung hängt. Das ‘Objekt’ selbst ist in gewissem Sinn die inkarnierte Unwahrheit; seine träge Präsenz füllt ein Loch im Feld der ‘Wahrheit’, weshalb der Übergang zur ‘Wahrheit’ eines Objekts seinen Verlust, die Auflösung seiner ontologischen Konsistenz, einschließt.
Der hegelsche Performativ
Es ist diese notwendige Disharmonie zwischen einem Objekt und seiner ‘Wahrheit’, die das grundlegende hegelsche Paradox der ‘nachträglichen Performativität’ erklärt – das heißt die Tatsache, dass der dialektische Prozess durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist, die einander gegenseitig auszuschließen scheinen. Das Hauptmotiv von Hegels Kritik an der ‘naiven’, common-sensical Erkenntnistheorie besteht darin, dass sie den Erkenntnisprozess nach dem Modell des Eindringens in ein zuvor unbekanntes Gebiet begreift: Die ‘spontane’ Vorstellung ist, dass man irgendeine Wirklichkeit entdeckt, enthüllt, die schon vor unserem Prozess, sie zu erkennen, existierte; diese ‘naive’ Theorie übersieht den konstitutiven Charakter des Erkenntnisprozesses in Bezug auf sein Objekt: die Weise, wie die Erkenntnis selbst ihr Objekt modifiziert, ihm die Form verleiht, die es als ‘Gegenstand der Erkenntnis’ hat.
Dieser konstitutive Charakter der Erkenntnis scheint es zu sein, was Kant im Sinn hatte, als er von transzendentaler Subjektivität sprach; doch Hegels Akzent liegt anderswo und richtet sich gerade gegen Kant. Das heißt: Bei Kant verschafft das Subjekt dem substantiellen Inhalt transzendenter Herkunft (dem ‘Ding an sich’) die universale Form; wir bleiben damit im Rahmen der Opposition zwischen Subjekt (dem transzendentalen Netz der möglichen Formen der Erfahrung) und Substanz (dem transzendenten ‘Ding an sich’), während Hegel bestrebt ist, die Substanz selbst als Subjekt zu erfassen. Im Erkenntnisprozess dringen wir nicht in irgendeinen substantiellen Inhalt ein, der unserem Erkennen gegenüber an sich gleichgültig wäre; vielmehr ist unser Erkenntnisakt im Voraus in seinem substantiellen Inhalt enthalten – wie Hegel es formuliert, der Weg zur Wahrheit hat Anteil an der Wahrheit selbst. Um diesen Punkt zu klären, erinnern wir uns an ein Beispiel, das Lacans These bestätigt, dass der Marxismus keine ‘Weltanschauung’ ist,31 – nämlich die Idee, dass das Proletariat zu einem wirklichen revolutionären Subjekt wird, indem es die Kenntnis seiner historischen Rolle integriert:32 Der historische Materialismus ist keine neutrale ‘objektive Erkenntnis’ der historischen Entwicklung, da er ein Akt der Selbsterkenntnis eines historischen Subjekts ist; als solcher impliziert er die proletarische subjektive Position. Mit anderen Worten: Die dem historischen Materialismus eigene ‘Erkenntnis’ ist selbstreferentiell, sie verändert ihr ‘Objekt’ – erst durch den Erkenntnisakt wird das Objekt zu dem, was es in Wahrheit ‘ist’.
Dieser Akzent auf der ‘Performativität’ des hegelschen Erkenntnisprozesses, auf der Weise, wie er sein Objekt verändert und hervorbringt, ist natürlich ein Gemeinplatz; was jedoch gewöhnlich stillschweigend übergangen wird, ist seine Kehrseite. Das heißt: Wenn Hegel den dialektischen Prozess, seine entscheidende Umkehrung, beschreibt, greift er immer auf Redefiguren zurück, die einen bereits gegebenen Sachverhalt feststellen: ‘schon hier’, ‘immer-schon’ und so weiter. Der Übergang von Spaltung zu ‘Synthese’ besteht nicht in irgendeinem produktiven Versöhnungsakt, sondern in einer bloßen Perspektivverschiebung, durch die wir uns bewusst werden, wie das, was wir für Spaltung hielten, schon an sich Versöhnung ist: Die Spaltung wird nicht ‘überwunden’, sondern vielmehr nachträglich ‘rückgängig gemacht’.33
Wie also sollen wir diese beiden Aspekte des dialektischen Prozesses, die einander gegenseitig auszuschließen scheinen, zusammendenken – nämlich seinen ‘performativen’ Charakter und die Tatsache, dass im Verlauf eines dialektischen Prozesses ein Hindernis dadurch beseitigt wird, dass festgestellt wird, es sei überhaupt nie eines gewesen? Darin liegt der letzte Beweis, dass die hegelsche Logik eine Logik des Signifikanten ist, da gerade diese Einheit der beiden entgegengesetzten Merkmale, dieses Paradox der nachträglichen Performativität, den Begriff des Signifikanten definiert: Eine signifikante Markierung ‘macht’ eine Sache zu dem, was sie ‘immer-schon war’. In einer entscheidenden Stelle der Enzyklopädie artikuliert Hegel den Zusammenhang zwischen dieser nachträglichen Performativität und der Dialektik von Wahrheit und Täuschung:
Die Vollendung des unendlichen Zweckes besteht daher bloß darin, die Täuschung zu entfernen, die ihn als noch unvollendet erscheinen lässt. Das Gute, das absolut Gute, vollbringt sich ewig in der Welt: und das Resultat ist, dass es nicht auf uns zu warten braucht, sondern schon dem Sinne nach wie auch in voller Wirklichkeit vollbracht ist. Dies ist die Täuschung, unter der wir leben. Sie allein liefert zugleich die verwirklichende Kraft, auf der das Interesse an der Welt beruht. Im Verlauf seines Prozesses erzeugt die Idee jene Täuschung, indem sie ihr eine Antithese gegenüberstellt; und ihr Handeln besteht darin, die Täuschung loszuwerden, die sie erzeugt hat. Nur aus diesem Irrtum entsteht die Wahrheit. In dieser Tatsache liegt die Versöhnung mit dem Irrtum und mit der Endlichkeit. Der Irrtum oder das Anderssein ist, aufgehoben, immer noch ein notwendiges dynamisches Moment der Wahrheit: denn Wahrheit kann nur dort sein, wo sie sich zu ihrem eigenen Resultat macht.34
Auf den ersten Blick scheint alles so klar zu sein, wie es nur sein kann: Bestätigt diese Passage nicht den Gemeinplatz über Hegel? Die Idee, das absolut Gute, ist das Substanz-Subjekt des gesamten Prozesses, und der Riss, die Täuschung, ist nur ein Spiel, das die Idee mit sich selbst treibt. Die Idee realisiert ihre wahren Zwecke mittels der ‘List der Vernunft’: Sie erlaubt den Individuen, ihren endlichen Zwecken zu folgen, während sie ihren unendlichen Zweck durch die gegenseitige ‘Abnutzung’ und das Scheitern der endlichen Zwecke vollbringt. Die ‘Täuschung’ besteht somit darin, dass die einzelnen Handelnden ihre Interessen verfolgen, nach Reichtum, Macht, Lust, Ruhm und anderen ideologischen Werten streben, während sie unwissentlich nichts als unbewusste Werkzeuge der Idee sind.
Nehmen wir den Fall der Marktwirtschaft. Einzelne Produzenten, die auf dem Markt erscheinen, geleitet vom Bemühen, ihre egoistische Profitgier zu befriedigen, sind sich der Weise nicht bewusst, wie die historische Vernunft das Zusammenspiel ihrer Leidenschaften benutzt, um den wahren Zweck der gesellschaftlichen Produktion zu realisieren, die Entwicklung der Produktivkräfte, das Wachstum des produktiven Potentials der Gesellschaft, in dem der Geist ‘objektive’ Existenz erreicht. In diesem Sinn ist Täuschung ein ‘notwendiges dynamisches Moment der Wahrheit’: Die historische Vernunft kann ihren wahren Zweck nur mittels Täuschung vollbringen: mittels der listigen Ausbeutung individueller Interessen und Leidenschaften – grob gesprochen, niemand arbeitet ‘für die Entwicklung der Produktivkräfte’, Individuen nehmen diesen wahren Zweck notwendig als Mittel wahr, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen …
Eine solche Gemeinplatzauffassung der ‘List der Vernunft’ impliziert jedoch einen Begriff von Vernunft als substantieller Entität, die dem historischen Prozess äußerlich ist, über ihm steht, seine Akteure (handelnde Individuen) ‘manipuliert’, Täuschung ‘spielt’, während sie selbst hinter den Kulissen unbeschädigt bleibt, in sicherer Distanz vom historischen Tumult, wie der Gott der traditionellen Teleologie, der die Geschichte benutzt, um seine unbegreiflichen Ziele zu vollbringen. Wenn wir diese Lesart übernehmen, weisen wir den Individuen die Position eines Werkzeugs des unbegreiflichen Willens Gottes zu – mit anderen Worten: ‘Substanz’ ist nicht wirksam ‘Subjekt’, da Subjekte auf Mittel eines transzendenten substantiellen Zwecks reduziert werden. Gibt es also eine andere mögliche Lesart der zitierten Passage aus der Enzyklopädie?
Die ‘List der Vernunft’ neu gelesen
Eine ganz andere Möglichkeit ergibt sich, wenn wir diese Passage vor dem Hintergrund von Hegels Logik der Reflexion lesen – dem reflexiven ‘Setzen von Voraussetzungen’.35 Der Gemeinplatz hinsichtlich dieser Logik lautet, dass der dialektische Prozess vom unmittelbaren Ausgangspunkt durch seine reflexive Vermittlung zur wiederhergestellten, vermittelten Unmittelbarkeit des Resultats verläuft. Was dabei verloren geht, ist Hegels entscheidende Einsicht, der zufolge schon die anfängliche Unmittelbarkeit immer-schon nachträglich ‘gesetzt’ ist, sodass ihr Auftreten mit ihrem Verlust zusammenfällt:
Die Reflexion findet daher vor sich ein Unmittelbares, das sie überschreitet und von dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist nur das Voraussetzen dessen, was die Reflexion vor sich findet. Was so gefunden wird, kommt nur dadurch zustande, dass es zurückgelassen wird; seine Unmittelbarkeit ist aufgehobene Unmittelbarkeit.36
Damit erscheint die dem dialektischen Prozess eigene ‘Täuschung’ in einem neuen Licht. Wir sind ‘getäuscht’, insofern wir denken, dass das, was ‘gefunden’ wird, bereits vor dem ‘Zurücklassen’ existiert habe — insofern wir denken, dass wir einmal, vor dem Verlust, das besaßen, was durch Reflexion verloren wird. Mit anderen Worten: Worin wir uns täuschen, ist die Tatsache, dass wir nie hatten, was wir durch Reflexion verloren haben. Es ist genau dieses Paradox, das es uns ermöglicht, eine knappe Abgrenzung von ‘äußerer’ und ‘absoluter’ Reflexion zu formulieren. ‘Äußere’ Reflexion übt ihre Tätigkeit an einem Objekt aus, das sie als substanzielle Entität wahrnimmt, die im Voraus gegeben ist – das heißt unabhängig von ihrer Tätigkeit. Ihr Problem ist, dass die Tätigkeit der Reflexion den Verlust der unmittelbaren, vollen Gegenwart des Objekts impliziert – in der Reflexion geht das Objekt ‘als solches’ verloren; es wird mortifiziert, seziert mittels analytisch-reflexiver Kategorien. Was das Netz der Reflexion festhält, sind nur partielle Aspekte; statt der lebendigen Totalität bleiben wir mit einer toten Abstraktion zurück. In diesem Sinn ist der Philosoph der ‘äußeren Reflexion’ par excellence Kant – etwa seine Theorie, wie das Ding an sich der subjektiven Reflexion entgeht.
Die Umkehrung der ‘äußeren’ in die ‘absolute’ Reflexion erfolgt, wenn wir erfahren, wie das Objekt in seiner unmittelbaren, vorreflexiven Gegebenheit ‘nur dadurch zustande kommt, dass es zurückgelassen wird’; wie es also nichts gibt, was der Bewegung der Reflexion vorausgeht, da diese Bewegung selbst ‘ihre Voraussetzungen setzt’; die nachträgliche Illusion produziert, der zufolge ihr Objekt im Voraus gegeben gewesen sei.37 Darin besteht der hegelsche ‘Verlust des Verlustes’: nicht in der Aufhebung des Verlustes, nicht in der Wiederaneignung des verlorenen Objekts in seiner vollen Präsenz, sondern in der Erfahrung, dass wir nie hatten, was wir verloren haben – in der Erfahrung, dass der Verlust gewissermaßen dem vorausgeht, was verloren wird. ‘Am Anfang’ gab es immer-schon einen Verlust, und dieser Verlust öffnet den Raum, der von Objekten ausgefüllt wird. Im Verlauf des Übergangs der ‘äußeren’ in die ‘absolute’ Reflexion wird der Verlust somit nicht in der vollen Selbstgegenwart des Subjekt-Objekts abgeschafft, es verschiebt sich nur sein Ort.38
Die aus dieser Verschiebung des Verlustes für die Logik des politischen Raums zu ziehenden Schlussfolgerungen sind weitreichend. Nehmen wir nur den Fall der gegenwärtigen Desintegration des ‘realen Sozialismus’. Diese Desintegration wird natürlich unmittelbar als ein ‘Verlust’ wahrgenommen – Verlust der quasi-idyllischen Stabilität, die das soziale Gefüge des poststalinistischen ‘realen Sozialismus’ charakterisiert, das Gefühl, den Halt verloren zu haben. Der entscheidende Schritt, der hier zu tun ist, besteht darin, diese nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen geschlossenen Universum loszuwerden, indem man anerkennt, dass wir nie hatten, was wir verloren haben; die Idylle war von Anfang an falsch, die Gesellschaft war immer-schon von heftigen Antagonismen durchzogen. Der traumatischste Verlust, der in der Desintegration des ‘realen Sozialismus’ eintritt, ist zweifellos der der ‘wesentlichen Erscheinung’, die die Gesellschaft zusammenhielt:39 der Erscheinung, der zufolge die gesamte Gesellschaft die Partei unterstützt und begeistert den Sozialismus aufbaut – wenn diese Erscheinung zerfällt, haben wir den reinsten möglichen Fall des ‘Verlustes eines Verlustes’. Das heißt, durch diese Desintegration verlieren wir gewissermaßen nichts (niemand glaubte wirklich an die Erscheinung), aber der Verlust ist nichtsdestoweniger ungeheuer, wird als traumatisch erfahren. Wenn also die Erscheinung enthusiastischer Unterstützung für die Partei zerfällt, verliert die Partei buchstäblich das, was sie nie besaß – nämlich die Unterstützung des Volkes.
Mit Bezug auf den von Laclau und Mouffe ausgearbeiteten Begriff des sozialen Antagonismus40 könnten wir auch sagen, dass durch den ‘Verlust eines Verlustes’ der Antagonismus als ‘ursprünglich’ anerkannt wird, nicht als bloße sekundäre Störung einer ursprünglichen Harmonie. Wenn wir also mit einem Zusammenbruch der bislang stabilen sozialen Ordnung konfrontiert sind, bezeichnet ‘Verlust eines Verlustes’ die Erfahrung, wie diese vorausgehende Stabilität selbst falsch war, indem sie den inneren Streit verdeckte. Und nebenbei: Das ist es, was hegelsche ‘Versöhnung’ letztlich bedeutet: das genaue Gegenteil dessen, was gewöhnlich angenommen wird – ein demütiges Einverständnis, dass ‘nicht alles rational ist’, dass das Moment kontingenten Antagonismus irreduzibel ist, dass die begriffliche Notwendigkeit selbst daran hängt und in eine umfassende Kontingenz ‘eingelassen’ ist. Um überzeugt zu sein, muss man nur die genaue Stelle in der Phänomenologie des Geistes in Erinnerung rufen, wo das ‘Wort der Versöhnung’ vorkommt: am Ende der Dialektik der schönen Seele, wenn das Subjekt gezwungen ist zu akzeptieren, dass der ‘Gang der Welt’ dem Zugriff (seiner) Vernunft entgeht.
Nun scheint auch klar zu sein, wie wir die zitierte Passage aus Hegels Enzyklopädie neu lesen sollen. Wir verfallen der Täuschung gerade dann, wenn wir das Gute als etwas wahrnehmen, das ‘nicht auf uns zu warten braucht, sondern schon dem Sinne nach wie auch in voller Wirklichkeit vollbracht ist’ – das heißt, wenn wir übersehen, wie das absolut Gute ebenfalls ‘nur dadurch zustande kommt, dass es zurückgelassen wird’. Wir verfallen der Täuschung, wenn wir die Existenz eines Substanz-Subjekts annehmen, das von den Wechselfällen des historischen Prozesses ausgeschlossen ist, das die Täuschung endlicher Subjekte ‘inszeniert’, mit ihnen ‘spielt’ und ihre Tätigkeit für die Vollbringung seiner eigenen Zwecke ausbeutet. Kurz: Die höchste Täuschung ist der Gemeinplatzbegriff der ‘List der Vernunft’ selbst, die Unterstellung der Vernunft als transzendenter Instanz, die an den Fäden zieht und die Geschichte ‘inszeniert’.
Es wäre jedoch völlig irreführend, diese beiden Täuschungen einfach gegeneinanderzustellen (die Täuschung des alltäglichen Bewusstseins, das seinen egoistischen Zwecken folgt, ohne zu wissen, dass es ein Werkzeug ist, durch das die historische Vernunft ihren unendlichen Zweck vollbringt; und die Täuschung selbst, zu denken, wir seien ein Werkzeug irgendeiner transzendenten Vernunft, die, obwohl uns unbekannt, den Sinn und die Konsistenz des historischen Prozesses garantiert) und die erste zur ‘Illusion’ und die zweite zur ‘Wahrheit’ zu erklären. Damit würden wir den Wahrheitsmoment verfehlen, der der ersten Auffassung zukommt. Die Erfahrung, wie der absolute Zweck ‘nicht auf uns zu warten braucht, sondern schon vollbracht ist’, bringt das ‘stille Weben des Geistes’ zum Ausdruck; die notwendige Verzögerung des formalen Entscheidungsakts. Das unbewusste ‘Weben’ wartet in der Tat nicht auf uns, sodass es, wenn der Konflikt offen zutage tritt, illusorisch ist zu glauben, nun hänge alles von uns ab, von unserer Entscheidung – die Dinge sind tatsächlich ‘schon vollbracht’.
Das eigentliche Problem ist: Wie können beide Ebenen der Täuschung zusammengedacht werden? Mit anderen Worten: Warum ist die illusorische Unterstellung der Vernunft als transzendenter Instanz notwendig? Um diese paradoxe Verknüpfung zu veranschaulichen, nehmen wir den Fall der Oktoberrevolution: Heute ist klar, dass die Ideologie, von der die Bolschewiki geleitet waren, als sie die Revolution durchführten – die Ideologie, der zufolge sie bloße Vollstrecker historischer Notwendigkeit seien, ein ‘Werkzeug der Geschichte’, das die vorgeschriebene historische Mission erfüllt – falsch war. Die entscheidende Tatsache ist jedoch, dass sie die Revolution nicht hätten zustande bringen können, wenn sie nicht geglaubt hätten, bloße Werkzeuge der Geschichte zu sein – um an Leszek Kołakowskis knappe Formulierung zu erinnern: Lenins Erfolg beruhte darauf, im richtigen Moment die richtigen Fehler zu machen. Hier haben wir beide Ebenen der Täuschung zusammen: Die Bolschewiki glaubten an die ‘List der Vernunft’, sie hielten sich für Instrumente historischer Notwendigkeit, und diese Täuschung war an sich ‘produktiv’, eine positive Bedingung ihres Vollzugs.
Eine solche paradoxe Logik impliziert eine Art zeitliches Paradox. Was wir suchen, wird durch den Prozess unserer Suche selbst erzeugt; es ist in einer Reihe von Witzen am Werk, wie in dem über den Rekruten, der versucht, dem Militärdienst zu entgehen, indem er vorgibt, verrückt zu sein. Sein Symptom ist, dass er zwanghaft alle Zettel kontrolliert, die er in die Hände bekommen kann, und ständig wiederholt: ‘Das ist es nicht!’ Er wird zum Militärpsychiater geschickt, in dessen Büro er ebenfalls alle Papiere in der Umgebung untersucht, einschließlich der im Papierkorb, und die ganze Zeit wiederholt: ‘Das ist es nicht!’ Der Psychiater, schließlich überzeugt, dass er wirklich verrückt ist, gibt ihm einen schriftlichen Bescheid, der ihn vom Militärdienst befreit. Der Rekrut wirft einen Blick darauf und sagt fröhlich: ‘Das ist es!’41
Wenn Hegel davon spricht, dass ‘der Irrtum’ ‘ein notwendiges dynamisches Moment der Wahrheit’ sei, wenn er schreibt, dass ‘Wahrheit nur dort sein kann, wo sie sich zu ihrem eigenen Resultat macht’, und so weiter, dann sind diese seltsam klingenden Sätze vor dem Hintergrund der Logik zu begreifen, die dem Witz über den Rekruten eigen ist: Ohne Irrtum, ohne die Illusion der Personen um den Rekruten herum, er suche nach einem bereits existierenden Papier, wäre dieses Papier am Ende nicht produziert worden (wie bei der Oktoberrevolution, die ohne die Illusion ihrer Beteiligten, sie erfüllten eine historische Notwendigkeit, nicht stattgefunden hätte). In genau diesem Sinn ‘macht’ die Wahrheit ‘sich zu ihrem eigenen Resultat’ – das Papier, das den Rekruten schließlich zufriedenstellt, wird nicht einfach gefunden, sondern ist buchstäblich das Resultat des ganzen Aufhebens darum: der Verwirrung, die der Rekrut durch seine ‘verrückte’ Suche nach ihm ausgelöst hat. So ist die berüchtigte hegelsche ‘Teleologie der Vernunft’ zu verstehen: Der Zweck, dem die Bewegung zustrebt, ist nicht im Voraus gegeben, er wird sozusagen durch die Bewegung selbst erzeugt – die notwendige Täuschung besteht darin, dass die Subjekte, damit diese Bewegung stattfinden kann, übersehen müssen, wie ihre eigene Suche das erzeugt hat, was sie am Ende ‘finden’. Der lacansche Name für diese strukturelle Täuschung ist sujet supposé savoir, ‘das als wissend vorausgesetzte Subjekt’, und was Hegel ‘absolutes Wissen’ nennt, ist genau der Fall des als wissend vorausgesetzten Subjekts. Das heißt, der Ausgangspunkt des dialektischen Prozesses ist natürlich die Voraussetzung des Wissens; das Vertrauen, dass das Wissen, das wir suchen, bereits im Anderen präsent ist: Wie Hegel immer wieder betont, wendet der Dialektiker keine äußere Methode auf das Objekt an, seine einzige Voraussetzung ist, dass ‘die Vernunft die Wirklichkeit regiert’ – dass die Wirklichkeit bereits an sich ‘vernünftig’ ist (es ist dasselbe in der Psychoanalyse, wo die Voraussetzung der sogenannten ‘freien Assoziationen’ ist, dass unter ihrem scheinbaren Chaos ein Sinn verborgen ist). Deshalb kann der Dialektiker seine Rolle auf die eines reinen Beobachters beschränken, der die immanente Rationalität des Realen entdeckt. Am Ende des dialektischen Prozesses verliert diese Voraussetzung an Boden: Das Subjekt entdeckt, dass es von Anfang an keine Stütze im Anderen gab, dass es selbst den ‘entdeckten’ Sinn produziert hat. Und schließlich sollte man nicht vergessen, dass im Fall des Witzes über den Rekruten das durch die Suche erzeugte Objekt nichts anderes als ein Brief ist, eine amtliche Mitteilung, sodass dieser Witz letztlich ein Witz darüber ist, wie ein Brief immer an seinem Bestimmungsort ankommt.
[…] Totalität aus Scheitern7. Hegels Logik: Wie Unsinn Sinn ergibt8. Die Bühne des Philosophen9. Hegel und der notwendige Fehler10. Das verborgene Vierte11. Das fehlende Glied12. Glaube an die Lüge13. Der König ist ein Ding14. […]
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