Der erhabenste Hysteriker
Der erhabenste
Hysteriker
Hegel mit Lacan
Slavoj Žižek
Übersetzt von Thomas Scott-Railton
polity
Zuerst in Französisch veröffentlicht als Le plus sublime des hystériques. Hegel avec Lacan © Presses Universitaires de France, 2011
Diese englische Ausgabe © Polity Press, 2014
Dieses Buch wird vom Institut français (Royaume-Uni) im Rahmen des Burgess-Programms unterstützt.
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ISBN-13: 978-0-7456-6374-6
ISBN-13: 978-0-7456-6375-3(pb)
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Satz in 10.5 auf 12 pt Sabon
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Inhalt
Einleitung: Unmögliches absolutes Wissen 1
Buch I: Hegel mit Lacan 7
- ‘Der formale Aspekt’: Vernunft versus Verstand 9
- Das nachträgliche Performativ, oder wie das Notwendige aus dem Kontingenten hervorgeht 21
- Die Dialektik als Logik des Signifikanten (1): Das Eine der Selbstreferenz 35
- Die Dialektik als Logik des Signifikanten (2): Das Reale der ‘Triade’ 54
- Das Ungeschehenmachen: Wie ist Lacan ein Hegelianer? 70
- ‘Die List der Vernunft’, oder die wahre Natur der hegelianischen Teleologie 83
- ‘Das Übersinnliche ist das Phänomen als Phänomen’, oder wie Hegel über das kantische Ding-an-sich hinausgeht 97
vi Inhalt
- Zwei hegelianische Witz, die uns helfen zu verstehen, warum absolutes Wissen spaltend ist 105
Buch II: Posthegelianische Aporien 125 - Das Geheimnis der Warenform: Warum ist Marx der Erfinder des Symptoms? 127
- Ideologie zwischen Traum und Phantasma: Ein erster Versuch, ‘Totalitarismus’ zu definieren 146
- Göttliche Psychose, politische Psychose: Ein zweiter Versuch, ‘Totalitarismus’ zu definieren 156
- Zwischen zwei Toden: Dritter und letzter Versuch, ‘Totalitarismus’ zu definieren 175
- Der Stepppunkt der Ideologie: Oder warum Lacan kein ‘Poststrukturalist’ ist 195
- Benennung und Kontingenz: Hegel und die analytische Philosophie 209
Literaturverzeichnis 230
Index 236
Einleitung: Unmögliches absolutes
Wissen
Foucault hat einmal vorgeschlagen, die Philosophie als solche mit Anti-Platonismus zu definieren. Gerade weil Platon der Denker war, dessen Werk den Boden für das Feld der Philosophie freigeräumt hat, würde jeder Philosoph, beginnend mit Aristoteles, sein Projekt dadurch bestimmen, dass er sich von Platon distanziert. In ähnlicher Weise können wir die Philosophie der letzten zwei Jahrhunderte als durch Distanznahme zu Hegel definiert denken. Hegel ist die Inkarnation des ‘panlogischen’ Monsters, der totalen dialektischen Vermittlung der Wirklichkeit, der totalen Auflösung der Wirklichkeit in der Selbstbewegung der Idee. Angesichts dieses Monsters wurden verschiedene Ideen vorgebracht, die angeblich der Vermittlung des Begriffs zu entkommen vermögen. Dieses Verfahren ist bereits sichtbar in den drei großen posthegelianischen Umkehrungen, die dem Absolutismus der Idee entgegentraten: im Namen des irrationalen Abgrunds des Willens (Schelling), im Namen des Paradoxons der individuellen Existenz (Kierkegaard) und im Namen des produktiven Prozesses des Lebens (Marx). Selbst wenn man sich auf Hegels Seite stellt, weigern sich die wohlwollendsten Kommentatoren, die Linie zur Annahme des absoluten Wissens zu überschreiten. So betonte Jean Hyppolite, dass die posthegelianische Erfahrung die irreduzible Öffnung des historisch-zeitlichen Prozesses durch eine leere Wiederholung ermögliche, die den Rahmen des Fortschritts der Vernunft zerstöre. Selbst unter Parteigängern Hegels ist ihr Verhältnis zum hegelianischen System stets eines von ‘Natürlich, aber dennoch . . .’ – natürlich hat Hegel den grundlegend antagonistischen Charakter der Wirklichkeit, die Dezentrierung des Subjekts usw. bejaht, aber dennoch . . . ; diese Spaltung wird schließlich durch die Selbstvermittlung der absoluten Idee aufgehoben, die alle Wunden heilt.
2 Einleitung
Die Position des absoluten Wissens, der endgültigen Versöhnung, spielt die Rolle des hegelianischen Dings. Es ist das Monster, das zugleich furchterregend und lächerlich ist, von dem man am besten Abstand hält. Es ist zugleich unmöglich (absolutes Wissen ist, natürlich, unerreichbar, ein unrealisierbares Ideal!) und verboten (absolutes Wissen ist unerquicklich, weil es die Mortifikation des ganzen Reichtums des Lebendigen durch die Selbstbewegung des Begriffs bedroht!). Mit anderen Worten: Jede Identifikation mit hegelianischem Denken impliziert einen Moment, in dem diese Identifikation zusammenbricht – das Ding muss stets geopfert werden.
Für uns ist dieses Bild Hegels als ‘Panlogizist’, der die lebendige Substanz des Besonderen verschlingt und mortifiziert, das Reale seiner Kritiker. ‘Real’ im lacanianischen Sinn: die Konstruktion eines Punktes, der tatsächlich nicht existiert (ein Monster ohne Bezug zu Hegel selbst), der jedoch vorausgesetzt werden muss, um unsere Position durch negative Bezugnahme auf den Anderen zu legitimieren, indem wir uns distanzieren. Woher stammt dieser Schrecken, der die Posthegelianer angesichts des Monsters des absoluten Wissens ergreift? Was ist in der faszinierenden Präsenz dieser phantasmatischen Konstruktion verborgen? Ein Loch, ein leerer Raum. Es ist möglich, dieses Loch zu definieren, indem man Hegel mit Lacan liest, das heißt vor dem Hintergrund der lacanianischen Problematik des Mangels im Anderen, der traumatischen Leere, um die herum der signifikante Prozess sich artikuliert. Aus dieser Perspektive erweist sich das absolute Wissen als der hegelianische Name für das, was Lacan mit dem Begriff ‘die Passe’ [la passe] festzunageln versuchte, den letzten Moment des analytischen Prozesses, die Erfahrung des Mangels im Anderen. Wenn, nach Lacans berühmter Formulierung, Sade uns die Wahrheit Kants gibt, dann könnte Lacan selbst uns Zugang zur grundlegenden Matrix geben, die der Bewegung der hegelianischen Dialektik ihre Struktur verleiht; Kant mit Sade, Hegel mit Lacan. Wie also ist das Verhältnis zwischen Hegel und Lacan?
Heute scheinen die Dinge eindeutig. Während niemand bestreitet, dass Lacan eine gewisse Schuld gegenüber Hegel hat, ist zugleich weithin akzeptiert, dass Hegels Einfluss auf bestimmte theoretische Entlehnungen begrenzt war, die innerhalb eines sehr festen Zeitrahmens erfolgten. Zwischen dem späten Jahrzehnt der 1940er und dem frühen der 1950er Jahre versuchte Lacan, den psychoanalytischen Prozess in den Begriffen der intersubjektiven Logik der Anerkennung des Begehrens und/oder des Begehrens nach Anerkennung zu artikulieren. Schon zu dieser Zeit achtete Lacan darauf, sich von der Schließung des hegelianischen Systems zu distanzieren, vom absoluten Wissen, das er mit dem unzugänglichen Ideal eines vollkommen homogenen Diskurses verband, vollständig und in sich verschlossen. Später würde die Einführung der Logik des pas-tout* und des Begriffs des durchgestrichenen Anderen diese anfängliche Bezugnahme auf Hegel obsolet machen. Lässt sich ein unvereinbarerer Widerspruch denken als zwischen hegelianischem absolutem Wissen – dem versiegelten ‘Kreis der Kreise’ – und dem lacanianischen durchgestrichenen Anderen – Wissen als unwiderruflich mangelhaft? Ist Lacan nicht der Anti-Hegel par excellence?
Gerade die Kritiken an Lacan bringen seine Schuld gegenüber Hegel zum Vorschein. Lacan wurde dafür kritisiert, ein Gefangener des Logophallozentrismus zu bleiben, angeblich wegen eines zugrunde liegenden Hegelianismus, der textuelle Dissemination innerhalb des teleologischen Kreises einschließe. Auf diese Kritik antworten Lacanianer, wie sie es tun werden, indem sie auf Lacans Bruch mit dem Hegelianismus aufmerksam machen, Lacan zu retten versuchen, indem sie betonen, dass er nicht und niemals ein Hegelianer war. Jetzt ist der Moment, diese Debatte auf neuartige Weise aufzunehmen, indem das Verhältnis zwischen Hegel und Lacan in einer beispiellosen Weise artikuliert wird. In meinen Augen war Lacan fundamental hegelianisch, aber er wusste es nicht. Sein Hegelianismus findet sich nicht dort, wo wir ihn erwarten würden, in seinen offenen Bezügen auf Hegel, sondern vielmehr in der letzten Phase seiner Lehre, in der Logik des pas-tout, in der Bedeutung, die er dem Realen, dem Mangel im Anderen beimaß. Und umgekehrt liefert uns eine Lektüre Hegels durch die Linse Lacans ein Bild Hegels, das radikal anders ist als die gemeinhin akzeptierte Sicht auf ihn als ‘Panlogizisten’. Sie wird einen Hegel der Logik des ‘Signifikanten’ hervortreten lassen, eines selbstreferenziellen Prozesses, der als wiederholte Positivierung eines zentralen Vakuums artikuliert ist.
Diese Lektüre verändert die eigentlichen Definitionen der beiden beteiligten Begriffe. Sie wäscht die Anschwemmungen des Panlogizismus und/oder Historismus weg und legt einen Hegel der Logik des Signifikanten frei. Auf der anderen Seite macht sie es möglich, das subversivste der Kernelemente der lacanianischen Doktrin zu isolieren, das des konstitutiven Mangels im Anderen. Darum ist dieses Buch in seinen Wurzeln dialogisch: Es ist unmöglich, eine positive Denklinie zu entwickeln, ohne die Thesen einzubeziehen, die ihr entgegengesetzt sind. In diesem Fall sind dies die bereits erwähnten Gemeinplätze über Hegel, die den Hegelianismus als das exemplarische Beispiel für den ‘Imperialismus der Vernunft’ ansehen, eine geschlossene Ökonomie, in der die Selbstbewegung des Begriffs alle Unterschiede und Zerstreuungen des materiellen Prozesses aufhebt. Ähnliche Gemeinplätze finden sich bei Lacan. Diese werden jedoch von einer anderen Auffassung Hegels begleitet, die sich nicht in Lacans direkten Bezügen auf Hegel findet
- Pas-tout wird oft als ‘nicht-alles’ oder ‘nicht-ganz’ übersetzt, und obwohl Letzteres näher kommt, erfasst es die Bedeutung des französischen Originals nicht ganz, das Elemente von beidem enthält.
4 Einleitung
– weshalb ich diese Bezüge größtenteils ignorieren werde. In meiner Lektüre ‘wusste Lacan nicht, wo er ein Hegelianer war’, weil seine Lektüre Hegels der Tradition von Kojève und Hyppolite folgte. Um daher die Verbindung zwischen der Logik der Dialektik und der des ‘Signifikanten’ zu artikulieren, müssen wir fürs Erste alle expliziten Bezüge Lacans auf Hegel beiseite lassen.
Es scheint, dass sich heute die Begriffe selbst der philosophischen Debatte verändert haben. Die Debatte stützt sich nicht mehr auf ‘poststrukturalistische’ Themen der Dezentrierung des Subjekts, sondern vielmehr auf eine Art Erneuerung des Politischen (Menschenrechte, Kritiken des Totalitarismus) durch eine theoretische Rückkehr zu einer Position, die allgemein, in ihren verschiedenen Formen (bis hin zu Habermas’ kommunikativer Ethik), als kantisch beschrieben werden kann. Diese Rückkehr zu Kant hat es ermöglicht, die Philosophie zu rehabilitieren, sie aus ‘symptomalen Lektüren’ zu retten, die sie auf einen ideologisch-imaginären Effekt reduziert hatten, und der philosophischen Reflexion eine neue Glaubwürdigkeit zu verleihen, während zugleich der ‘Totalitarismus der Vernunft’ (den sie mit dem nachkantischen Idealismus identifiziert) vermieden wird, das heißt, während der Horizont des historischen Fortschritts offen gehalten wird. So wird der zweite Teil dieser Arbeit einen impliziten Dialog mit diesem Standpunkt auf mehreren Ebenen entwickeln, durch Bezüge auf drei Felder der Philosophie.
Zunächst das kantische Feld selbst. Ausgehend von Lacan werde ich die Dimension Kants beschreiben, die in der Erneuerung seines Denkens keine Rolle gespielt hat: den Kant, dessen Wahrheit Sade ist, den Kant, dessen unmöglicher Über-Ich-Imperativ die Injektion zur jouissance* verbirgt, den Kant, der von Schelling in seiner Theorie des ursprünglichen Bösen radikalisiert wurde.
Zweitens ist Marx, aufgrund des Einflusses der Rückkehr zur kantischen Philosophie, weitgehend vergessen worden. Was können wir von Marx nach der Erfahrung des ‘Totalitarismus’ retten? Es bleibt der Mann, der das Symptom erfand (wie Lacan im Seminar ‘RSI’ argumentierte), der uns helfen kann, die grundsätzlich unbewusste Natur der Ideologie, das Verhältnis des Symptoms zur Phantasie und so weiter zu verstehen.
Drittens gilt nach der herrschenden Doxa die analytische Philosophie als das radikale Gegenteil Hegels. Ich werde jedoch argumentieren, dass dieses neue Verständnis des Kerns der hegelianischen Dialektik in bestimmten Strömungen der analytischen Philosophie (Kripkes Anti-Deskriptivismus etwa) präsenter ist als in den verschiedenen Versionen eines geradlinigen Hegelianismus.
- Obwohl es grob als Genuss übersetzt werden könnte, ist jouissance ein spezifischerer Begriff mit sexueller Konnotation. Für eine vertiefte Diskussion darüber, wie der Begriff zu übersetzen ist, siehe Dylan Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis (Routledge 2002), S. 150. Evans definiert jouissance als ‘eine exzessive Menge an Erregung, die das Lustprinzip zu verhindern versucht’.
Unmögliches absolutes Wissen 5
Ausgehend von diesem dreiteiligen Dialog wird der zweite Teil dieses Buches die Umrisse einer lacanianischen Theorie des politisch-ideologischen Feldes skizzieren, die es uns erlauben wird, das Phänomen zu diagnostizieren, das als ‘totalitär’ bezeichnet worden ist, während zugleich die grundsätzlich paradoxe Natur der Demokratie festgenagelt wird.
Die abschließende These dieses Buches lautet, dass die lacanianische Doktrin den Rahmen für eine Theorie des politisch-ideologischen Feldes enthält. Dieser Rahmen ist nicht vollständig ausgearbeitet worden, und dies ist eines der großen Rätsel des zeitgenössischen Denkens. Vielleicht fällt die Lösung dieses großen Rätsels mit der Lösung eines anderen zusammen: warum ist der wahre Charakter von Lacans Hegelianismus konsequent verkannt worden?*
Dieses Buch präsentiert den neu edierten Text der Doktorarbeit ‘Philosophie zwischen Symptom und Phantasie’, abgeschlossen unter der Leitung von Jacques-Alain Miller und verteidigt im November 1982 im Département de Psychanalyse der Université de Paris-VIII. Ich spreche Professor Miller und anderen Kollegen im freudianischen Feld meinen Dank aus, die diese Arbeit unterstützt haben.
- Ich habe méconnaissance (wörtlich Fehl-Wissen) im Allgemeinen als ‘Verkennung’ übersetzt und ein- oder zweimal auch als ‘Missverständnis’, je nach Kontext. Obwohl es oft unübersetzt bleibt, scheint es in der Übersetzung nichts Wesentliches zu verlieren. Für eine vertiefte Diskussion siehe Evans, An Introductory Dictionary, S. 112.
Hegel mit Lacan
Buch I
1
‘Der formale Aspekt’: Vernunft versus
Verstand
Die Geschichte eines Erscheinens
Die erste ‘materialistische Umkehrung Hegels’? Sie lässt sich genau verorten: Nürnbergs zentraler Platz, 2. Mai 1828. An diesem Datum erscheint ein eigentümlich gekleideter junger Mann in der Nürnberger Innenstadt. Sein Gesichtsausdruck und seine Gesten sind auffallend steif. Die einzigen Worte, die er kennt, sind einige Fragmente des Vaterunsers, die er auswendig gelernt hat, und ein rätselhafter – und leicht ungrammatischer – Satz: ‘Ich möchte ein Reiter sein, wie mein Vater war’, der erste Hinweis auf eine Identifikation mit einem Ich-Ideal. In seiner linken Hand hält er ein Papier, das seinen Namen – Kaspar Hauser – und die Adresse eines Kavalleriehauptmanns in Nürnberg trägt. Sobald er sprechen lernt, erzählt Kaspar seine Geschichte. Er hatte sein Leben allein in einem ‘dunklen Keller’ verbracht, wo ein ‘Mann in Schwarz’ ihm Essen und Wasser brachte, bis zu dem Tag, an dem dieser Mann ihn nach Nürnberg brachte und ihm unterwegs die wenigen Sätze beibrachte, die Kaspar kannte.
In die Obhut der Familie Daumer gegeben, wurde Kaspar rasch ‘humanisiert’, lernte ‘richtig’ zu sprechen und wurde eine Berühmtheit. Er war Gegenstand philosophischen, psychologischen, pädagogischen und medizinischen Interesses sowie Fokus politischer Spekulationen über seine Herkunft. Nach einigen Jahren ruhigen Lebens wurde er am Nachmittag des 14. Dezember 1833 mit einer tödlichen Stichwunde aufgefunden. Auf dem Sterbebett behauptete er, sein Angreifer sei der ‘Mann in Schwarz’ gewesen, der ihn nach Nürnberg gebracht hatte (siehe Hörisch 1979). Obwohl Kaspars plötzliches Auftauchen eine brutale Begegnung mit einer ‘unmöglichen Wirklichkeit’ provozierte, die den symbolischen Kreislauf von Ursache und Wirkung zerriss, war das Überraschendste, dass der Moment in einem gewissen Sinn auf ihn wartete. Als Überraschung ‘kam er genau zur rechten Zeit’. Kaspar war eine Inkarnation des uralten Mythos vom Kind königlicher Abstammung, das in der Wildnis ausgesetzt und dann als Jugendlicher gefunden wird, und bald verbreitete sich das Gerücht, er sei der Prinz von Baden. Dass die einzigen Gegenstände, an die er sich aus dem Keller erinnerte, einige aus Holz geschnitzte Spieltiere waren, war selbst eine ergreifende Wiederinszenierung des Mythos vom Helden, der von Tieren gerettet und gepflegt wird. Vor allem aber war gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts das Thema des außerhalb der menschlichen Gesellschaft lebenden Kindes zum Gegenstand einer stetig wachsenden Zahl literarischer und wissenschaftlicher Arbeiten geworden, als reine Verkörperung der Unterscheidung zwischen der ‘Natur’ und der ‘Kultur’ des Menschen.
Kaspars Auftauchen war aus ‘materieller’ Sicht das Ergebnis einer Reihe unerwarteter Zufälle. Vom formalen Standpunkt aus war es jedoch grundlegend notwendig; die Struktur des zeitgenössischen Wissens hatte einen Raum für ihn vorbereitet. Weil dieser leere Raum bereits konstruiert worden war, verursachte sein Auftreten eine Sensation, während es ein Jahrhundert früher oder später unbeachtet geblieben wäre. Diese Form zu erfassen, diesen leeren Raum, der dem Inhalt vorausgeht, der ihn füllen wird, ist die Arbeit der Vernunft im hegelianischen Sinn. Das heißt: Vernunft im Gegensatz zum Verstand, in dem die Form einen positiven und vorbestimmten Inhalt ausdrückt. Mit anderen Worten: Weit davon entfernt, von seinen ‘materialistischen Umkehrungen’ überholt zu werden, ist Hegel derjenige, der ihnen im Voraus ihren Sinn gab.
Wollen zu sagen und sagen
Nach orthodoxer Dialektik soll der Verstand Kategorien, begriffliche Bestimmtheiten, als abstrakte Momente behandeln, eingefroren und aus der lebendigen Totalität herausgenommen, auf die Spezifik ihrer festen Identität reduziert. Die Vernunft hingegen gehe über die Ebene des Verstandes hinaus, indem sie den lebendigen Prozess subjektiver (Selbst-)Vermittlung entfaltet, dessen ‘tote’ und starre abstrakte Momente, dessen ‘Objektivationen’, die Kategorien des Verstandes seien. Wo der Verstand nur starre Kategorien sieht, sieht die Vernunft die lebendige Bewegung, die sie erzeugt. Die Unterscheidung Verstand/Vernunft wird daher durch die bergsonsche Opposition zwischen der flexiblen, beweglichen, vitalen Kraft und der trägen Materie, die sie hervorbringt und die dem Verstand zugänglich ist, gesehen.
Eine solche Sicht verfehlt vollständig die wahre Bedeutung der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft. Die Vernunft ist nicht etwas, das ‘zusätzlich’ zum Verstand hinzukommt, eine Bewegung, ein lebendiger Prozess, der dem toten Skelett der Kategorien des Verstandes entkommt. Die Vernunft ist der Verstand selbst in dem Sinn, dass dem Verstand nichts fehlt, in dem Sinn, dass es nichts jenseits von ihm gibt. Sie ist die absolute Form, außerhalb derer es keinen Inhalt gibt. Wir bleiben auf der Ebene des Verstandes, solange wir denken, es gebe etwas ‘jenseits’ von ihm, eine Kraft, die dem Verstand entgeht, ein Unbekanntes, das den ‘starren Schemata’ der Kategorien des Verstandes unzugänglich ist – und solange wir diesem Jenseits den Namen ‘Vernunft’ geben! Indem wir diesen Schritt zur Vernunft machen, fügen wir dem Verstand nichts hinzu; vielmehr ziehen wir etwas von ihm ab (das Phantom des Objekts, das jenseits der Form fortbesteht). Wir reduzieren ihn auf seinen formalen Prozess. Wir ‘gehen über’ den Verstand hinaus, wenn wir erkennen, dass der Verstand bereits in sich die lebendige Bewegung der Selbstvermittlung ist, die wir außerhalb von ihm gesucht haben.
Schon dies kann uns helfen, ein Missverständnis der hegelianischen Kritik des ‘abstrakten Denkens’ zu korrigieren (vgl. Hegel 1966).
Was üblicherweise von dieser Kritik behalten wird, ist die Idee, dass der gesunde Menschenverstand, der Verstand, durch Abstraktion verfahre, indem er den ganzen Reichtum eines Objekts unter eine spezifische Bestimmung subsumiere. Ein Merkmal aus einem konkreten Geflecht wird aus der Fülle des Lebendigen herausgegriffen – ein Mensch etwa wird durch die Bestimmung ‘Dieb’ oder ‘Verräter’ identifiziert – und der dialektische Ansatz soll diesen Verlust kompensieren, indem er uns erlaubt, zum Reichtum der konkreten lebendigen Welt zurückzukehren. Aber, wie Gérard Lebrun (1972) gezeigt hat, ist das nicht der Fall: Sobald wir im Bereich des logos sind, ist der Verlust irreparabel – was verloren ist, ist verloren. Um Lacans Worte zu verwenden: Sobald wir gesprochen haben, ist die Kluft zwischen dem Realen und seiner Symbolisierung irreduzibel. Doch statt diesen Verlust zu beklagen, besteht Hegels grundlegender Zug darin, diese unglaubliche Macht des Verstandes zu preisen, diese Fähigkeit zu ‘abstrahieren’, die unmittelbare Einheit der lebendigen Welt zu zerteilen:
Die Tätigkeit, die Bestandteile zu trennen, ist die Ausübung der Kraft des Verstandes, der erstaunlichsten und größten aller Kräfte, oder vielmehr der absoluten Kraft. Der Kreis, der sich selbst einschließt und in Ruhe ist und, als Substanz, seine eigenen Momente in sich hält, ist eine unmittelbare Beziehung, die unmittelbare, kontinuierliche Beziehung der Elemente mit ihrer Einheit und erregt daher kein Staunen. Dass aber ein Akzidens als solches, losgelöst von seinem umschließenden Umfang, – dass das, was durch etwas anderes gebunden und gehalten ist und nur dadurch wirklich ist, dass es mit ihm verbunden ist, – ein Dasein für sich erlangen, Freiheit und Selbstständigkeit auf eigene Rechnung gewinnen soll – dies ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ich. (Hegel 1977: 23)
12 Hegel mit Lacan
Anders gesagt: Die Konkretheit des Denkens ist vollständig anders als die unmittelbare Konkretheit der Fülle des Lebendigen. Der ‘Fortschritt’ des dialektischen Denkens gegenüber dem Verstand ist in keiner Weise die Wiederaneignung dieses vorsprachelichen Reichtums; vielmehr lässt er sich auf die Erfahrung seiner grundlegenden Nichtigkeit reduzieren – der Reichtum, der durch Symbolisierung verloren geht, ist bereits in sich etwas Ephemeres. Der Fehler des Verstandes besteht nicht darin, dass er den Reichtum des Lebendigen auf die abstrakten Bestimmungen des Denkens reduzieren will. Sein großer Fehler ist die Opposition selbst zwischen dem Reichtum des Konkreten und der Abstraktheit des Netzes symbolischer Bestimmungen, der Glaube an eine ursprüngliche Fülle der konkreten lebendigen Welt, die angeblich dem Netz symbolischer Bestimmungen entkommt. Jene abgegriffenen Formeln, nach denen die Vernunft die starren Kategorien des Verstandes ‘in Bewegung’ setze und dialektische Dynamik einführe, führen zu einem Missverständnis: Weit davon entfernt, ‘über die Grenzen des Verstandes hinauszugehen’, markiert die Vernunft den Punkt der Reduktion, an dem der gesamte Inhalt des Denkens immanent im Verstand ist. Die Kategorien des Verstandes ‘werden flüssig’, und ‘dialektische Bewegung’ wird eingeführt, wenn wir nicht mehr an sie als eingefrorene Momente denken, als ‘Objektivationen’ eines lebendigen Prozesses, der sie stets überflutet – das heißt, wenn wir ihre Triebkraft in der Immanenz ihres eigenen Widerspruchs lokalisieren.
„Widerspruch als Agens der dialektischen Bewegung“ ist erneut zu einer Plattitüde geworden, die oft benutzt wird, um Bemühungen zu umgehen, diesem Widerspruch eine exakte Definition zu geben. Daher müssen wir fragen: Was ist, in strengem Sinne, der „Widerspruch“, der den dialektischen Prozess „vorantreibt“?
Ein erster Ansatz wäre zu sagen, dass es der Widerspruch der Universalität mit sich selbst ist, mit ihrem eigenen spezifischen Inhalt. Unter den spezifischen Elementen jeder universalen Totalität, die als These gesetzt wird, wird es notwendigerweise „mindestens eines“ geben, das das universale Merkmal negiert, das die betreffende Totalität definiert. Dies ist der „symptomale Punkt“, das Element, das innerhalb des Feldes dieser Universalität als ihr Außen dient, ein Punkt des Ausschlusses, von dem her das Feld sich etabliert. Daher vergleichen wir die Universalität einer These nicht mit einer Wahrheit-an-sich, der sie angeblich entspricht; wir vergleichen sie mit sich selbst, mit ihrem eigenen konkreten Inhalt. Die Erkundung des konkreten Inhalts einer universalen These untergräbt sie nachträglich, aus der strukturellen Notwendigkeit eines Elements heraus, das „herausgedrückt“ wird und als ihre konstitutive Ausnahme fungiert. Nehmen wir Marx’ Kapital: Eine Gesellschaft des Privateigentums, in der individuelle Produzenten selbst Eigentümer der Produktionsmittel sind, führt, wenn sie vollständig, bis zu ihrer radikalen Konsequenz entwickelt wird, zu ihrer immanenten Negation, dem Kapitalismus, der die Enteignung der Mehrheit der Produzenten impliziert, die gezwungen sind, ihre eigene Arbeit auf dem Markt zu verkaufen, statt die Frucht ihrer Arbeit; und dann liefert der Kapitalismus, bis zu seiner radikalen Konsequenz entwickelt, den Sozialismus (die Enteignung der Enteigner selbst).
Zweitens müssen wir den Charakter dieses Vergleichs der Universalität mit sich selbst, mit ihrem konkreten Inhalt, präzisieren. Letztlich handelt es sich um den Vergleich dessen, was das Subjekt, das eine universale These äußerte, sagen wollte, und dessen, was es wirklich gesagt hat. Man untergräbt eine universale These so, dass man dem Subjekt, das sie formuliert hat, zeigt, wie es durch seine eigene Formulierung etwas völlig anderes sagte als das, was es „sagen wollte“. Wie Hegel deutlich macht, ist das Schwierigste auf der Welt, auszusprechen, zu artikulieren, was man „wirklich gesagt“ hat, indem man einen Satz formulierte. Die elementarste Form dieser dialektischen Untergrabung eines Satzes durch Selbstreferenz – indem man den Satz in den Kontext seiner eigenen Formulierung stellt – lässt sich in Hegels Behandlung des Identitätssatzes sehen. Das Subjekt „will sagen“, dass Identität nichts mit Differenz zu tun hat, dass sie etwas radikal anderes als Differenz ist. Indem es dies tut, sagt es jedoch das genaue Gegenteil dessen, was es sagen wollte; es bestimmt Identität als radikal verschieden von Differenz. Infolgedessen wird Differenz in den Kern selbst, in die Identität selbst der Identität eingeschrieben:
So klammern sich diejenigen, die sie für etwas Wahres halten, an eine leere Identität, indem sie darauf bestehen, Identität sei nicht Differenz, sondern die beiden seien verschieden. Sie sehen nicht, dass sie, indem sie sagen: „Identität ist verschieden von Differenz“, damit bereits gesagt haben, dass Identität etwas Verschiedenes ist. (Hegel 2010: 358)
Darum steht für Hegel die Wahrheit stets auf der Seite dessen, was man sagt, und nicht dessen, was man „zu sagen beabsichtigte“. Bereits zu Beginn der Phänomenologie des Geistes, im Fall der „sinnlichen Gewissheit“, untergräbt die Wörtlichkeit des Gesprochenen die Absicht der Signifikation (das Bewusstsein „wollte sagen“ ein absolut spezifisches Hier-und-Jetzt, aber in der Tat sprach es die größte Abstraktion aus, irgendein Hier-und-Jetzt überhaupt). Hegel weiß, dass wir immer zu viel oder sonst zu wenig sagen, immer etwas anderes, im Gegensatz zu dem, was wir sagen wollten. Diese Dissonanz ist die Energie, die die dialektische Bewegung antreibt; es ist diese Dissonanz, die jeden Satz untergräbt.
Diese entscheidende Unterscheidung zwischen dem, was das Subjekt „sagen will“, was es „meint [meint]“, und dem, was es „tatsächlich sagt“ – eine Unterscheidung, die Lacans Unterscheidung zwischen signification und signifiance† vollkommen entspricht – lässt sich in Bezug auf die Dialektik von Wesen und Erscheinung erklären. „Für uns“, für das dialektische Bewusstsein, das den Prozess nachträglich beobachtet, ist das Wesen die Erscheinung als Erscheinung [die Erscheinung als Erscheinung], das heißt die Bewegung der Selbsttranszendierung der Erscheinung, die Bewegung, durch die die Erscheinung als solche gesetzt wird, als etwas, das in der Tat „nur Erscheinung“ ist. „Für das Bewusstsein“ hingegen, für das Subjekt, das im Prozess gefangen ist, ist das Wesen etwas jenseits der Erscheinung, eine substanzielle Entität, die von trügerischen Erscheinungen verborgen wird. Die „Signifikation“ des Wesens, das, was das Subjekt „sagen will“, wenn es vom Wesen spricht, ist daher eine Entität, die die Erscheinung transzendiert. Doch das, was es „tatsächlich sagt“, die „signifiance“, lässt sich auf die Bewegung der Selbstaufhebung der Erscheinung reduzieren. Die Erscheinung hat keine eigene Substanz; sie ist eine chimärische Entität, die fortwährend dabei ist, sich selbst aufzulösen. Die „signifiance“ des Wesens lässt sich daher auf den vom Subjekt zurückgelegten Weg reduzieren, auf den Prozess, durch den die Erscheinung für es zur Erscheinung des Wesens wird.
Ein exemplarischer Fall dieser Dialektik lässt sich in der hegelianischen Interpretation der Aporien sehen, die Zenon von Elea zu verwenden versuchte, um die Nichtexistenz der Bewegung und des Vielen zu demonstrieren. Zenon „wollte sagen“, natürlich, dass Bewegung nicht existiert, dass alles, was existiert, das Eine ist, das Sein, das unveränderlich, unteilbar usw. ist. Doch was er in der Tat demonstrierte, war der widersprüchliche Charakter der Bewegung; Bewegung existiert nur durch Selbstauflösung, was nicht dasselbe ist wie zu sagen, es gebe keine Bewegung. Der entscheidende Punkt hier ist, den selbstreferenziellen Charakter der Bewegung zu erfassen. Bewegung fällt zusammen mit (der Bewegung) ihrer eigenen Auflösung. Das unendliche Eine, das unveränderliche Absolute, ist keine Entität, die die Vielheit des Endlichen transzendiert; vielmehr ist es die absolute, selbstreferenzielle Bewegung, die Bewegung selbst der Selbstauflösung des Endlichen, des Vielen.
Zenons Paradoxien
Die Paradoxien, derer sich Zenon in seinem Versuch bediente, die Hypothese der Bewegung und die Existenz des Vielen zu widerlegen – das heißt, die er benutzt, um die Existenz des Einen, des unveränderlichen Seins, durch die absurden Konsequenzen zu beweisen, die aus der Bejahung der Bewegung folgen – sind aus dem Blickwinkel unserer Argumentation besonders interessant. Jean-Claude Milners brillante „fiktive Detektivarbeit“ (Milner 1985) hat uns gezeigt, dass Zenons vier Argumente (Achilles und die Schildkröte, der fliegende Pfeil, die Dichotomie, das Stadion) nicht durch einen rein formal-logischen Zugang zustande kamen, sondern vielmehr durch eine Art literarischer Technik. Untersuchen wir die genaue Natur der literarischen Beispiele, die Zenon als Bezugspunkte dienten. Nehmen wir das berühmteste Paradoxon, das von Achilles, der vergeblich versucht, die Schildkröte (oder Hektor) einzuholen. Nach Milner stammt das Paradoxon aus der folgenden Passage der Ilias:
Wie einer im Traum, der es nicht vermag, einen anderen zu ergreifen, den er verfolgt – der eine kann nicht entkommen noch der andere einholen –, so vermochte auch weder Achilles Hektor einzuholen, noch Hektor sich von Achilles loszureißen. (Homer 1999: 264)
Wie könnten wir in der paradoxen Beziehung des Subjekts zum Objekt nicht den bekannten Traum erkennen, in dem man sich einem Objekt fortwährend nähert, das ewig außer Reichweite bleibt? Wie Lacan bereits hervorhob, ist das Objekt unzugänglich nicht, weil Achilles die Schildkröte nicht überholen kann (er kann die Schildkröte einholen und sie hinter sich lassen), sondern weil er sie nicht erreichen kann. Das Objekt ist eine Grenze, die niemals erreicht wird, verortet zwischen einem „zu früh“ und einem „zu spät“ – erinnernd an das bekannte Paradoxon des Glücks in Brechts Dreigroschenoper; indem wir dem Glück in zu glühender Weise nachjagen, überholen wir es und lassen es hinter uns. Die Topologie dieses Paradoxons ist die paradoxe Topologie des Objekts des Begehrens, das uns entgleitet, das sich bei unserer Annäherung gerade zurückzieht. Ähnliche literarische Kontexte lassen sich in Zenons anderen Paradoxien leicht finden. Für das Paradoxon des fliegenden Pfeils, der nicht in Bewegung sein kann, weil er in jedem Moment einen bestimmten Punkt im Raum einnimmt, findet Milner das Modell in dieser Beschreibung des Herakles in der Odyssee:
Er sah schwarz aus wie die Nacht, mit seinem blanken Bogen in den Händen und dem Pfeil auf der Sehne, ringsum starrend, als stünde er immer im Begriff, anzulegen . . . den blanken Bogen in seinem Griff, einen Pfeil, in die Bogensehne eingekerbt, wild um sich blickend, auf ewig bereit zu schießen. (Homer 2012: 178)
Herakles schießt, und der Pfeil fliegt, doch auf eine fortwährend wiederholte Weise, so dass er sein Bewegen ständig von Neuem beginnt und in diesem Sinn durch seine Bewegung selbst unbeweglich bleibt. Erneut können wir die Verbindung zu einer sehr verbreiteten Traumerfahrung nicht verfehlen – der des „unbeweglichen Bewegens“, in der du trotz deiner rasenden Aktivität in gewisser Weise blockiert bleibst, unbeweglich, festgeklebt an einem festen Punkt, wo du durch deine Bewegung selbst „dich nicht zu bewegen“ scheinst. Du wiederholst ständig dieselbe Geste, und obwohl die Handlung immer wieder vollzogen wird, wird ihre Wirkung aufgehoben. Wie Milner anmerkt, ist der Ort, an dem diese Episode stattfindet, nicht unbedeutend: Sie spielt in der Unterwelt, wo Odysseus einer ganzen Reihe berühmter gequälter Figuren begegnet, die dazu verdammt sind, dieselbe Handlung immer wieder zu wiederholen: Tantalus, Sisyphos usw. Fürs Erste können wir die Figur des Tantalus beiseite lassen, dessen Folter die physische Verkörperung der lacanianischen Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Anspruch ist (indem man sein Bedürfnis zu trinken befriedigt, befriedigt man nicht den Anspruch, der im Durst enthalten ist, und deshalb setzt sich der Durst ins Unendliche fort). Der „Fels des Sisyphos“ ist für unser Thema unmittelbar einschlägig:
Mit Händen und Füßen versuchte er, ihn bis zum Gipfel des Hügels hinaufzurollen; doch immer, kurz bevor er ihn über die andere Seite hinüberrollen konnte, wurde sein Gewicht ihm zu viel, und der erbarmungslose Stein donnerte wieder hinab in die Ebene. (Homer 2012: 177–8)
Dies ist der literarische Bezugspunkt für das dritte Paradoxon, die sogenannte „Dichotomie“: Man kann die Strecke X niemals durchqueren, weil man, bevor man dies tut, die Hälfte dieser Strecke zurücklegen muss usw., bis ins Unendliche. Das Ziel (im Fall des Sisyphos: der Gipfel des Hügels) rückt, sobald es erreicht ist, weiter weg und bewegt sich erneut; der ganze Weg, einmal zurückgelegt, erweist sich als nur die Hälfte von ihm. Das eigentliche Ziel von Sisyphos’ Tätigkeit ist der Weg selbst, die zirkuläre Bewegung, die darin besteht, den Fels bergauf zu schieben und ihn wieder zurückrollen zu lassen. Es ist klar, dass wir es hier mit dem grundlegenden Rahmen eines Triebs zu tun haben, mit seiner Pulsation und seiner Kreisbewegung. Das wahre Ziel eines Triebs ist nicht sein genanntes Ziel: Es ist nichts anderes als „die Rückkehr in den Triebkreislauf“ (Lacan 1998a: 178). Und das letzte Paradoxon:
zwei Reihen von Körpern, jede Reihe aus einer gleichen Anzahl von Körpern gleicher Größe bestehend, die einander auf einer Rennbahn passieren, während sie sich mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzte Richtungen bewegen, wobei die eine Reihe ursprünglich den Raum zwischen dem Ziel und dem Mittelpunkt der Bahn einnimmt und die andere den zwischen dem Mittelpunkt und dem Startpfosten . . . die Hälfte einer gegebenen Zeit ist gleich dem Doppelten dieser Zeit. (Aristoteles 2006: 87)
Oder, um Platons allgemeine Formulierung zu zitieren: „die Hälfte ist mehr wert als das Ganze“ (Platon 1992: 141). Wo können wir eine solche Erfahrung finden, in der der Einfluss eines Objekts verstärkt und erhöht wird, während es vermindert wird – je mehr es abnimmt, desto wichtiger wird der verbleibende Teil? Man betrachte die Weise, in der die Figur des Juden – das quintessentiale libidinöse Objekt – im NS-Diskurs funktionierte: „je mehr wir sie eliminieren und zerstören, desto gefährlicher wird der Rest. . . .“ Je mehr wir versuchen, das erschreckende Objekt des Begehrens abzuwehren, desto mehr ragt es, furchteinflößend, vor dem Subjekt auf.
Die allgemeine Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, ist, dass es einen Bereich gibt, in dem Zenons Paradoxien ihren vollen Wert annehmen, einen Bereich, der in vollkommen homologer Weise zu Zenons Bewegungsparadoxien selbst operiert. Dies ist der Bereich des Objekts des Begehrens, der „unmöglichen“ Beziehung des Subjekts zum Objekt-Ursache seines Begehrens und des Zwangs, der um dieses Objekt kreist. Die Topologie von Zenons Paradoxien ist die der Beziehung des Subjekts zum Objekt-Ursache seines Begehrens. Der Bereich, den Zenon als „unmöglich“ ausschließt – ich bin sogar versucht zu sagen: verwirft –, um die Herrschaft des Einen zu etablieren, ist das Reale des Zwangs und das Objekt, um das er kreist. Das Auslassen des Objekts a ist konstitutiv für das Feld der Philosophie als solcher: „das Objekt ist dasjenige, das in der philosophischen Betrachtung fehlt, um sich zu situieren, das heißt: um zu wissen, dass es nichts ist“ (Lacan 1987: 110). Darum sind die Paradoxien, deren sich Zenon bediente, um die Unmöglichkeit der Bewegung und von dort ihre Nichtexistenz zu beweisen, die andere Seite der Existenz des Einen, dessen, was Parmenides – der „erste Philosoph“ – das unveränderliche Sein nannte.
Das Objekt a ist zugleich der reinste Schein, eine Chimäre „ohne Substanz“, die fragile Positivierung des Nichts, und auch das Reale, der harte Kern, der Fels, an dem die Symbolisierung zerschellt. Dies erklärt das Paradoxon der Philosophie: Der Philosophie fehlt das Reale gerade wegen ihres Versuchs, das wahre Sein durch Ausschluss zu finden, durch das Aussondern falscher Erscheinung [Schein], das heißt, indem sie daran geht, die Trennlinie zwischen wahrem Sein und dem Schein zu ziehen. Der Mangel an Berücksichtigung des realen Kerns nimmt die paradoxe Form der Angst an, von falschen Erscheinungen getäuscht zu werden, der Macht des Scheins zu erliegen. Der reine Schein erscheint als unerquicklich, weil er ein Reales ankündigt, das die ontologische Konsistenz des Universums zu sprengen droht.
Zurück zu Hegel: Wir können seine Lektüre von Zenons Paradoxien auf folgende Weise neu formulieren: Zenons „Intention“ ist es, den paradoxen Zirkuit des Zwangs auszuschließen, den paradoxen Charakter des Objekts a, das durch seine eigene Verminderung wächst, das durch unsere Annäherung gerade Distanz hält. Was er jedoch „tatsächlich tut“, ist, auf sehr saubere und prägnante Weise die paradoxe Topologie des unmöglich-Realen Objekts zu definieren, die phantasmatische Beziehung des Subjekts zum Objekt-Ursache des Begehrens ($ ◊ a).
Wahrheit als Verlust des Objekts
Diese hegelianische Lektüre Zenons demonstriert den grundlegenden Fehler der Standardauffassung der Kategorie an-sich [An-sich]. Das An-sich wird normalerweise als der transzendente substanzielle Inhalt gedacht, der dem Bewusstsein entgeht und daher, nach dem kantischen Modell des Ding-an-sich, noch nicht von ihm „vermittelt“ worden ist. Um zu Zenon zurückzukehren: Was ist das An-sich seines Arguments? Zenon nimmt sein Argument als reductio-Beweis der Existenz des unveränderlichen Seins, das in sich selbst jenseits der irreführenden Erscheinung der Bewegung fortbesteht. Und so gibt es bereits „für das Bewusstsein“ (für Zenon selbst) eine Differenz zwischen dem, was nur „für es“, für das gewöhnliche Bewusstsein, ist, und dem, was „an sich“ existiert. Bewegung ist ein falscher Schein, der nur für das naive, vorphilosophische Bewusstsein existiert, während „an sich“ nur das einzigartige und unveränderliche Sein existiert. Dies ist die erste Korrektur, die wir an der genannten Standardauffassung vornehmen müssen: Die Differenz zwischen dem, was „für es (das Bewusstsein)“ ist, und dem, was „an sich“ existiert, ist eine Unterscheidung, die innerhalb des „naiven“ Bewusstseins selbst stattfindet. Die hegelianische Untergrabung besteht lediglich darin, diese Unterscheidung zu verlagern und zu zeigen, dass sie nicht dort ist, wo das „naive“ (oder „kritische“, was nichts anderes als die höchste Form der Naivität ist) Bewusstsein sie setzt.
„Für das Bewusstsein“, für Zenon, gibt es eine Unterscheidung zwischen dem widersprüchlichen, sich selbst auflösenden Schein der Bewegung und dem unveränderlichen Sein, einzigartig, mit sich selbst identisch, an sich existierend. Zenons „Wahrheit“, sein „An-sich-für-uns“, ist, dass der ganze Inhalt des unveränderlichen Seins, alles, was Zenon „tatsächlich sagt“, auf die Bewegung der Selbstaufhebung der Bewegung reduziert werden kann. Das unveränderliche Sein jenseits der Erscheinung ist der Prozess der Selbstauflösung der Bewegung durch Widerspruch. Dies ist der entscheidende Punkt: „für das Bewusstsein“, für Zenon, ist diese argumentative Vorgehensweise grundlegend äußerlich zur „Sache selbst“; sie ist nur unser Weg zum Einen, zum unveränderlichen Sein, das an sich fortbestehen soll, unbeeinflusst von unseren Methoden – um die bekannte Metapher zu benutzen, sie ist wie die Leiter, die wir, nachdem wir sie benutzt haben, wegstoßen. „Für uns“ hingegen liegt der ganze Inhalt des Seins im argumentativen Weg, der uns zu ihm gebracht hat; „für uns“ ist das unveränderliche Sein nur eine Objektivation, eine fixe Figuration der Methode, durch die wir dazu kamen, Bewegung als irreführenden Schein zu sehen. Der Übergang von dem, was nur „für das Bewusstsein“ ist, zum „an sich oder für uns“ ist daher in keiner Weise ein Übergang vom irreführenden, oberflächlichen Schein in das Jenseits, das an sich existiert. Im Gegenteil geht es darum zu erkennen, dass das, was das Bewusstsein als einen Weg zur Wahrheit nahm, der der Wahrheit äußerlich sei (etwa Zenons argumentative Vorgehensweise), bereits die Wahrheit selbst ist.
In einem gewissen Sinn ist „alles im Bewusstsein“. Das wahre An-sich ist nicht in irgendeinem transzendenten Jenseits verborgen. Der Fehler des Bewusstseins besteht vollständig darin, nicht zu bemerken, dass das, was es für ein dem Objekt äußeres Verfahren hielt, bereits das Objekt selbst ist. Hier sehen wir das ganze Gewicht der Kategorie des „formalen Aspekts [das Formelle]“, die Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes einführt. Die Wahrheit eines Moments im dialektischen Prozess besteht in seiner Form selbst, im formalen Verfahren, im Weg, durch den das Bewusstsein zu ihm gelangte:
Der Inhalt jedoch dessen, was sich uns darbietet, existiert für es [für das Bewusstsein]; wir begreifen nur den formalen Aspekt dieses Inhalts, oder seine reine Entstehung. Für es existiert das so Entstandene nur als ein Gegenstand; für uns erscheint es zugleich als Bewegung und als ein Prozess des Werdens. (Hegel 1977: 56)
Entgegen der klassischen Vorstellung einer äußeren Form, die den wahren Inhalt angeblich verhüllt, fasst der dialektische Zugang den Inhalt selbst als „Fetisch“, als ein objektives Gegebenes, dessen träge Präsenz seine wahre Form verbirgt. Die Wahrheit des eleatischen Seins ist die formale Vorgehensweise, die die Inkonsistenz der Bewegung demonstrierte. Darum impliziert die hegelianische Dialektik die Erfahrung der grundlegenden Nichtigkeit des „Inhalts“ – gemeint ist dieses X, dieser Kern des An-sich, den wir angeblich durch das formale Verfahren annähern. Wir müssen in X einen verkehrten Effekt des formalen Prozesses selbst erkennen. Wenn Hegel Kant wegen seines Formalismus kritisierte, dann deshalb, weil er nicht „formalistisch“ genug war, das heißt, weil er das Postulat eines An-sich beibehielt, das der transzendentalen Form angeblich entgeht, ohne zu begreifen, dass dies in der Tat ein reines „Gedankending“ war.
Der dialektische Weg zur „Wahrheit“ eines Objekts impliziert daher die Erfahrung seines Verlusts. Das Objekt, seine starre Form, löst sich in das Netz der „Vermittlungen“, der formalen Verfahren, auf. Dass die dialektische „Wahrheit“ eines Objekts im Netz seiner Vermittlungen besteht, ist nichts Neues – doch in der Regel vergisst man die andere Seite des Übergangs der Unmittelbarkeit des Objekts in das Netz seiner Vermittlungen: den Verlust des Objekts. Indem wir die „Wahrheit“ des eleatischen Seins als die Bewegung selbst der Demonstration der Nichtexistenz, die Selbstauflösung der Bewegung, erfassen, verlieren wir „Sein“ als eine an sich existierende Entität. An die Stelle des Seins – eines festen Bezugspunkts, mit sich selbst identisch – tritt nur die schwindelerregende Bewegung des bodenlosen Strudels, die Selbstauflösung der Bewegung, ein Verfahren, das zunächst wie ein äußerer Weg zum Sein erschien. Dies ist Heraklit als die „Wahrheit“ des Parmenides (siehe Dolar 1986).
Und es war der Wahrheitsbegriff selbst, den Hegel bekanntlich umkehrte: Wahrheit besteht nicht in der Entsprechung unseres Denkens (des Satzes, des Begriffs) zur Sache (dem Objekt), sondern vielmehr in der Entsprechung des Objekts selbst zum Begriff. Heidegger (2002) erwiderte, diese Umkehrung bleibe im selben metaphysischen Rahmen der Wahrheit als Korrespondenz gefangen. Was Heideggers Kritik jedoch entging, war der radikal nicht-symmetrische Charakter der hegelianischen Umkehrung. Für Hegel haben wir es mit drei Elementen zu tun, nicht nur mit zweien. „Wissen“, die doppelte Beziehung zwischen „Denken“ und seinem „Objekt“, wird ersetzt durch das Dreieck aus (subjektivem) Denken, dem Objekt und dem Begriff, der keineswegs dasselbe ist wie das Denken. Man könnte sagen, dass der Begriff in der Tat die Form des Denkens ist, Form im streng dialektischen Sinn des „formalen Aspekts“ als der Wahrheit des „Inhalts“. Das in einem Denken „Ungedachte“ [impensé] ist kein transzendenter Überschuss, kein ungreifbares X seines gegenständlichen „Inhalts“, sondern seine Form selbst. Die Begegnung zwischen einem Objekt und seinem Begriff (Begriff im streng dialektischen Sinn, nicht irgendeine abstrakt-universale platonische Idee) ist daher notwendig eine verfehlte Begegnung. Das Objekt kann niemals seinem Begriff entsprechen, weil seine Existenz, seine Konsistenz selbst, von dieser Nicht-Entsprechung abhängt. „Das Objekt“ selbst, als fixer, träger Punkt, das heißt als eine nicht dialektisierte Präsenz, ist in gewissem Sinn inkarnierte Unwahrheit und verstopft als Punkt das Loch in der Wahrheit. Darum beinhaltet der Weg zur Wahrheit eines Objekts seinen Verlust, die Auflösung seiner ontologischen Konsistenz.
† Hier habe ich das französische Wort „significance“ in seiner ursprünglichen Form belassen, obwohl es auch als „signifierness“, „signifyingness“ oder „meaningfulness“ übersetzt worden ist. Für eine vertieftere Diskussion der verschiedenen Übersetzungen des Begriffs siehe Lacan 2006: 318.
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