Der erhabenste Hysteriker 12

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Der zweite Tod
Sades Idee eines absoluten, radikalen Verbrechens, das die schöpferischen Kräfte der Natur befreien würde, wurzelt in seiner Unterscheidung zwischen den zwei Toden, die er in der langen Rede des Papstes in Buch V von Juliette entwickelt. Es gibt den natürlichen Tod, der Teil des natürlichen Zyklus von Fortpflanzung und Verderbnis, Zersetzung und Wiederzusammensetzung ist und daher der unaufhörlichen Transformation der Natur. Dann gibt es den absoluten Tod, der die Zerstörung, die Vernichtung dieses Zyklus selbst ist, was die Natur von ihren eigenen Gesetzen befreien und so einen Raum für die Schöpfung neuer Lebensformen ex nihilo öffnen würde. Der Unterschied zwischen den zwei Toden hängt mit Sades Phantasien zusammen, weil in seinen Werken das Opfer in einem gewissen Sinn unzerstörbar ist. Er kann sie foltern und foltern, und sie erträgt alles, erleidet jede Qual, ohne ihre Schönheit zu verlieren. Es ist, als hätte sie jenseits ihres natürlichen, gewöhnlichen Körpers – der Teil des Zyklus von Fortpflanzung und Verderbnis ist – und damit jenseits des natürlichen Todes, noch einen anderen Körper, einen Körper aus einem besonderen Stoff, einen Körper, der vom Zyklus des Lebens ausgenommen ist – einen erhabenen Körper.
Heute können wir Beispiele für genau dieselbe Phantasie am Werk in verschiedenen Produkten der ‘Massenkultur’ finden. Nehmen wir zum Beispiel Cartoons. Tom und Jerry, die Katze und die Maus, sind ständig schrecklichen Schmerzen ausgesetzt. Die Katze wird erstochen oder das Dynamit in seiner Tasche explodiert oder er wird von einer Dampfwalze überfahren und wie ein Pfannkuchen plattgewalzt und so weiter. Aber in der nächsten Szene ist sein Körper wieder wie neu und das Spiel kann von vorn beginnen – als hätte er einen anderen Körper, einen, der unzerstörbar wäre.

Zwischen zwei Toden: Dritter und letzter
Versuch, ‘Totalitarismus’ zu definieren

176 Posthegelianische Sackgassen

Oder nehmen wir das Beispiel von Videospielen, in denen es einen buchstäblichen Unterschied zwischen den zwei Toden gibt. Normalerweise funktionieren diese Spiele so, dass der Spieler (oder, genauer, der Avatar, der den Spieler repräsentiert) mehrere Leben hat, oft drei. Er wird von irgendeiner Gefahr bedroht, etwa einem Monster, das ihn fressen will, und wenn das Monster ihn erwischt, verliert er ein Leben. Wenn er aber schnell genug sein Ziel erreicht, gewinnt er ein oder zwei Extraleben. Die gesamte Logik dieser Spiele gründet sich daher auf den Unterschied zwischen den zwei Toden: zwischen dem Tod, bei dem ich eines meiner Leben verliere, und dem endgültigen Tod, bei dem ich das Spiel selbst verliere.
Lacan verstand den Unterschied zwischen diesen zwei Toden als den Unterschied zwischen effektivem Tod und symbolischem Tod, dem ‘Begleichen der Rechnungen’, der Erfüllung des symbolischen Schicksals. Es ist möglich, dass zwischen den zwei Toden eine zeitliche Lücke besteht. Im Fall der Antigone zum Beispiel geht der symbolische Tod, der Ausschluss aus der symbolischen Gemeinschaft der Stadt, dem realen Tod voraus, und das ist es, was ihrer Person eine bestimmte Art erhabener Schönheit verleiht. Der Geist von Hamlets Vater hingegen ist ein Beispiel für das Gegenteil. In Hamlet haben wir einen Fall von realem Tod ohne symbolischen Tod, bevor die Rechnungen beglichen sind, und deshalb wird der Vater als erschreckende Erscheinung zurückkehren, bis sein Sohn die Schuld begleicht.
Dieser Raum ‘zwischen zwei Toden’ ist ein Ort erhabener Schönheit und erschreckender Monster; er ist der Ort von das Ding, dem Objekt-Ursache des Begehrens, dem real-traumatischen Kern im Herzen des Symbolischen. Er wird durch die Symbolisierung/Historisierung selbst eröffnet. Der Prozess der Historisierung enthält einen leeren Raum, einen ahistorischen Kern, um den sich das symbolische Netz artikuliert. Mit anderen Worten: Die menschliche Geschichte unterscheidet sich von der tierischen Evolution gerade dadurch, dass sie sich auf diesen ahistorischen, un-historisierbaren Raum bezieht, der das nachträgliche Produkt der Symbolisierung selbst ist. Sobald die Realität symbolisiert/historisiert ist, unterscheiden wir sie vom leeren Raum des Dings. Es ist diese Bezugnahme auf einen leeren Raum, die es uns ermöglicht, uns die Möglichkeit der totalen, vollständigen Vernichtung des signifikanten Netzes vorzustellen. Der ‘zweite Tod’, die radikale Auslöschung des natürlichen Zyklus, ist nur denkbar, wenn dieser Zyklus bereits symbolisiert/historisiert, in das symbolische Netz eingeschrieben ist. Unsere Vorstellung kann den absoluten Tod, die Zerstörung des Universums, nur als die Zerstörung des symbolischen Universums erfassen. Der ‘Todestrieb’ ist der freudsche Name für das, was Sade den ‘zweiten Tod’ nannte; er ist die Möglichkeit einer A-Geschichte, die durch den Prozess der Symbolisierung/Historisierung eröffnet wird.
In der gesamten Geschichte des Marxismus gab es wahrscheinlich nur einen einzigen Moment, in dem der ahistorische Charakter der Geschichte erblickt wurde,

Dritter und letzter Versuch, ‘Totalitarismus’ zu definieren 177

in dem historische Reflexion bis zu dem Punkt getrieben wurde, an dem der ‘Todestrieb’ zur Nullstunde der Geschichte wurde: Walter Benjamins letztes Werk, Über den Begriff der Geschichte. Außerdem war Benjamin genau die Person, die – und auch dies war einzigartig in der Geschichte des Marxismus – Geschichte als Text verstand, als eine Reihe von Ereignissen, die ‘geschehen sein werden’, das heißt deren Bedeutung nachträglich, durch ihre Einschreibung in das symbolische Netz, festgesetzt wird.

Benjamin: Revolution als Wiederholung
Benjamin war so außergewöhnlich gerade deshalb, weil er als Einziger daran dachte, die Energie der Revolution in der phantasmatischen Trägheit des Realen zu suchen. In der gesamten marxistischen Tradition – und ich schließe hier die ‘kritische Sozialtheorie’ ein – ist phantasmatische Trägheit immer als ein Hindernis gesehen worden, das die revolutionären Wünsche der Massen hemmte, indem es sich im ‘irrationalen’ Verhalten der Massen manifestierte und sie dazu brachte, ‘gegen ihre eigenen wahren Interessen’ zu handeln (zum Beispiel ein faschistischer Mob). Üblicherweise wird sie als etwas betrachtet, das unterdrückt werden muss – im Grunde als ein Symptom ‘reaktionärer’ jouissance, das durch eine nüchterne dialektische Analyse entwirrt werden muss.
Das bringt den radikalen Unterschied zwischen Benjamin und Adorno hervor, der der dialektische Denker schlechthin war, und hilft uns, die Position von Benjamins paradoxaler ‘innerer Äußerlichkeit’ in Bezug auf das Feld der ‘kritischen Sozialtheorie’ zu bestimmen. Auf der einen Seite haben wir Adorno, verstrickt in den interpretativen Sprung, in der ständigen Bewegung von Reflexion und Selbstreflexion, und auf der anderen Benjamin, konzentriert auf die Bildlichkeit der Phantasie. Doch seine Gedanken, enthalten in Über den Begriff der Geschichte, eingeschoben und fast so, als kämen sie aus einem anderen Feld, stehen nicht nur quer zur ‘kritischen Sozialtheorie’, sondern zur Entwicklung von Benjamins intellektuellem Werdegang selbst. Die traditionelle Erzählung darüber, wie sich Benjamins Denken entwickelte, lautet, dass er sich im Laufe der Zeit allmählich dem Marxismus annäherte. Über den Begriff der Geschichte markiert einen klaren Bruch mit jeder Darstellung dieser Art. Es wurde am äußersten Ende von Benjamins theoretischem Weg geschrieben, und erst in genau diesem Moment trat die theologische Problematik hervor. Der einzige Weg, wie der historische Materialismus den Sieg erringen kann, ist, wenn er ‘die Dienste der Theologie’ in Anspruch nimmt – hier ist Benjamins berühmte erste These:
Es ist bekannt, daß es einmal einen Automaten gegeben hat, der so konstruiert war, daß er jedem Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug begegnen und damit sich den Sieg im Spiel sichern konnte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Mund, saß vor dem Schachbrett, das auf einem breiten Tisch stand. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion geschaffen, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg, der ein Meister im Schachspiel war, im Innern und lenkte mit Schnüren die Hand der Puppe. Man kann sich ein entsprechendes Gegenstück zu diesem Apparat in der Philosophie vorstellen. Die Puppe namens ‘historischer Materialismus’ soll immer gewinnen. Sie kann das ohne weiteres gegen jeden Gegner, wenn sie die Dienste der Theologie in Anspruch nimmt, die bekanntlich klein und häßlich ist und sich nicht darf blicken lassen. (Benjamin 2009: 2)
Was hier vielleicht am auffälligsten ist, ist der Widerspruch zwischen der Allegorie, wie sie sich im ersten Teil der These zu lesen gibt, und der Interpretation, die Benjamin ihr im zweiten Teil der These gibt. In seiner Interpretation ist es der historische Materialismus, der ‘die Dienste’ der Theologie ‘in Anspruch nimmt’, während es in der Allegorie selbst die Theologie (der ‘bucklige Zwerg’) ist, die von innen die Fäden zieht, die die ‘Puppe’ des historischen Materialismus kontrolliert. Dieser Widerspruch ist natürlich nichts anderes als der Unterschied zwischen der allegorischen Figur und ihrer endgültigen Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat, wobei das Signifikat meint, es könne den Signifikanten als Werkzeug ‘benutzen’, durch dies aber selbst immer stärker in das Netz des Signifikanten verstrickt wird. In diesem Fall überlappen die beiden Ebenen; die formale Struktur von Benjamins Allegorie funktioniert nicht anders als ihr Inhalt – die Theologie in Beziehung zum historischen Materialismus, der meint, er könne die Theologie einfach benutzen, der aber in der Tat in ihrem Netz gefangen wird – weil diese ‘Theologie’, wenn ich mir dieses Vorlust erlauben darf, die Instanz des Signifikanten gut zu repräsentieren vermag.
Doch gehen wir Schritt für Schritt vor: Was war für Benjamin die theologische Dimension? Wenn das folgende Fragment aus Benjamins Papieren ein Hinweis ist, dann ist es eine völlig einzigartige Erfahrung: ‘Im Eingedenken entdecken wir die Erfahrung, die es uns verbietet, Geschichte als durchweg a-theologisch zu begreifen’ (Walter Benjamin zitiert in A.E. Benjamin und Osborne 1994: 105). Wir können dieses Eingedenken nicht als bloßes ‘Erinnern’ oder ‘Reminiszenz’ übersetzen. Eine literarischere Übersetzung, ‘ins Denken hineinversetzen in etwas’, funktioniert auch nicht. Selbst wenn es tatsächlich auf eine bestimmte Art von ‘Aneignung der Vergangenheit’ verweist, können wir Eingedenken nicht angemessen verstehen, wenn wir innerhalb des Rahmens der Hermeneutik bleiben. Benjamins Ziel ist das genaue Gegenteil des Grundaxioms hermeneutischen Verstehens: ‘Ein Text muß im gesamten Kontext seiner Zeit interpretiert werden.’ Für Benjamin geht es darum, ein Fragment der Vergangenheit aus dem Kontinuum der Geschichte herauszulösen, ‘so ein bestimmtes Leben aus der Epoche herauszusprengen oder ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk’ (A.E. Benjamin und Osborne 1994: 19), ein interpretatives Verfahren, dessen Kontrast zum hermeneutischen Prozess an Freuds Unterscheidung zwischen Interpretation en détail und Interpretation en masse erinnert (vgl. Freud 2010: 128).
Diese Zurückweisung der Hermeneutik ist kein Rückfall in vor-hermeneutische Naivität, es ist nicht die Frage, sich an die Vergangenheit ‘zu gewöhnen’, indem man versucht, die tatsächliche Position, von der aus man spricht, zu abstrahieren. Eingedenken ist eine ‘interessierte’ Aneignung seitens der unterdrückten Klasse. ‘Das Vergangene artikulieren heißt nicht, es erkennen ‘wie es eigentlich gewesen ist” (Benjamin 2009: 6). ‘Das Subjekt der historischen Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst’ (2009: 14). Es wäre jedoch auch ein Fehler zu glauben, er plädiere für eine Art nietzscheanischer Historiographie, in der die ‘Interpretation der Wille zur Macht’ ist, der Sieger das Recht hat, ‘seine eigene Geschichte zu schreiben’, seine eigene ‘Perspektive’ zu legitimieren; das heißt: Wenn wir versuchten, Benjamins Thesen als eine Art Aufruf zu einem Kampf zwischen den zwei Klassen, der herrschenden Klasse und der unteren Klasse, um die Frage zu lesen, ‘wer die Geschichte schreiben wird’. Das mag für die herrschende Klasse zutreffen, aber es trifft nicht für die Unterklasse zu; es gibt eine grundlegende Asymmetrie zwischen den beiden, die Benjamin durch den Verweis auf zwei Modi der Temporalität erklärt. Es gibt die leere, homogene und kontinuierliche Zeit (der dominanten Historiographie) und die erfüllte, diskontinuierliche Zeit (des historischen Materialismus). Die traditionelle historiographische Perspektive, die sich nur auf ‘das, was tatsächlich geschehen ist’ beschränkt, die Geschichte zu einem versiegelten, linearen, homogenen Verlauf macht, ist bereits a priori, in ihrer Form, die Perspektive ‘derer, die gewonnen haben’. Sie sieht Geschichte als das geschlossene Kontinuum des ‘Fortschritts’, das im bestehenden Herrschaftssystem resultierte, und abstrahiert dabei von dem, was in der Geschichte fehlt, von dem, was verleugnet werden musste, damit wir ‘das, was wirklich geschehen ist’ etablieren. Die dominante Historiographie schreibt eine ‘positive’ Geschichte großer Leistungen und glorreichen kulturellen Erbes, während für den historischen Materialisten gilt:
Was er als Kulturerbe überschaut, ist durch und durch Teil einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es verdankt seine Existenz nicht nur der Mühe der großen Genies, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fronarbeit seiner Zeitgenossen. Es hat nie ein Dokument der Kultur gegeben, das nicht zugleich ein solches der Barbarei wäre. (Benjamin 2009: 7)
Demgegenüber eignet sich die Unterklasse die Vergangenheit insofern an, als die Vergangenheit ‘offen’ ist, sofern sie bereits – durch gerade das, was gedämpft und erstickt worden ist – den Horizont der Zukunft, das ‘Streben nach Erlösung [Erloesung]’ enthält. ‘Der Vergangenheit ist ein geheimer Index mitgegeben, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird’ (2009: 2). Um uns die Dimension der Vergangenheit anzueignen, die erstickt worden ist – die Zukunft unseres eigenen revolutionären Handelns, die durch ihre Wiederholung die Vergangenheit nachträglich befreien wird – müssen wir mit dem kontinuierlichen Strom der historischen Entwicklung brechen, indem wir ‘den Tiger-Sprung in das Vergangene’ machen (2009: 16). Erst hier gelangen wir zur grundlegenden Asymmetrie zwischen dem historiographischen Evolutionismus, der Geschichte als kontinuierliche Vorwärtsbewegung beschreibt, und dem historischen Materialismus: ‘Der historische Materialist kann den Begriff einer Gegenwart nicht entbehren, die nicht Übergang ist, in welcher die Zeit zum Stillstand gekommen ist’ (2009: 18), und:
Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern auch ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen erfüllten Konstellation plötzlich innehält, da gibt es ihr einen Schock, durch den sie als Monad kristallisiert. Der historische Materialist nähert sich einem historischen Gegenstand einzig da, wo er ihm als Monade begegnet. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Nullstunde des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampf um die unterdrückte Vergangenheit. (2009: 19)
Dies ist die erste Überraschung: Für Benjamin ist das einzigartige Merkmal des historischen Materialismus – entgegen dem marxistischen Dogma – seine Fähigkeit, die Bewegung der Geschichte anzuhalten, ein Detail aus der Totalität der Geschichte zu isolieren. Gerade diese Kristallisation, dieses Verhärten der Bewegung zur Monade, markiert den Moment, in dem die Vergangenheit angeeignet worden ist. Die Monade ist ein gegebener Moment, an den sich die Vergangenheit unmittelbar – das heißt transversal zur kontinuierlichen Evolutionslinie – anheftet. Die Monade ist die wahre revolutionäre Situation, verstanden als die Wiederholung verpasster Gelegenheiten der Vergangenheit und die Möglichkeit, sie endlich durch revolutionäre Aktivität zu ‘erlösen’. Die Vergangenheit selbst ist ‘voll der Gegenwart’; wenn der Ausgang einer Revolution noch unklar ist, steht nicht nur ihr eigenes Schicksal auf dem Spiel, sondern das aller früheren versuchten Revolutionen: ‘Für den historischen Materialisten ist es eine Frage, an einem Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unvermutet eingestellt hat’ (2009: 6). Die Gefahr, die die Niederlage einer gegenwärtigen Revolution für die Vergangenheit darstellt, rührt daher, dass die bestehende revolutionäre Konstellation als Verdichtung vergangener verpasster revolutionärer Gelegenheiten fungiert, die durch sie wiederholt werden:

Dritter und letzter Versuch, ‘Totalitarismus’ zu definieren 181

Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht in der homogenen und leeren Zeit gebildet wird, sondern in der von Jetztzeit erfüllten. Für Robespierre war das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte herausgesprengt hat. Die Französische Revolution verstand sich als ein wiederkehrendes Rom. (2009: 16)

Für jeden, der mit Freuds Behauptung vertraut ist, dass ‘das Unbewusste außerhalb der Zeit gelegen ist’, ist hier bereits alles da. In dieser ‘vollen Zeit’, im ‘Tiger-Sprung’ der Gegenwart in die Vergangenheit, können wir die freudsche ‘Zwangswiederholung’ sehen. Das Anhalten der Bewegung, die Suspendierung des zeitlichen Kontinuums, von der Benjamin spricht, ist genau dieser ‘Kurzschluss’ zwischen alter Rede und gegenwärtiger Rede, in dem ‘die gegenwärtige Rede, wie die alte Rede, in eine Klammer der Zeit gestellt wird, in eine Form der Zeit, wenn ich so sagen darf. Die Modulation der Zeit ist identisch; die Rede des Analytikers [bei Benjamin: des historischen Materialisten] hat zufällig denselben Wert wie die alte Rede’ (Lacan 1991a: 243). In der Monade ‘steht die Zeit still’. Eine alte Konstellation legt sich der gegenwärtigen Konstellation auf, durch einen Prozess reiner Wiederholung. Die Monade ist ‘außerhalb der Zeit’, nicht im Sinn eines vor-logischen Archaismus, sondern im Sinn reiner synchroner Bedeutung. Wir sollten die Verbindung zwischen der alten Konstellation und der gegenwärtigen Konstellation nicht länger in der diachronen Linie suchen, sondern in einem unmittelbaren paradigmatischen Kurzschluss. Die Monade ist der Moment der Diskontinuität, des Bruchs, in dem der lineare Verlauf kristallisiert, einfriert, weil sie – transversal zur linearen Sukzession des ‘Marsches der Zeit’ – die direkten Echos einer Vergangenheit enthält, die verdrängt, aus der Kontinuitätslinie ausgeschlossen wurde, wie sie von der dominanten Historiographie diktiert wird. Dies ist der wahre Punkt der ‘Dialektik im Stillstand’, der reinen Wiederholung, in der historische Bewegung suspendiert, in Klammern gesetzt ist.
Eine Aneignung der Vergangenheit, in der sie durch die Gegenwart ‘befreit’ wird und so in gewisser Weise in sie aufgenommen, kann nur durch eine totale Suspendierung der Bewegung realisiert werden, in einem Moment der Äquivalenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart – in einer signifikanten Synchronie. Jetzt können wir sehen, was die Isolierung der Monade aus dem Kontinuum der Geschichte wirklich ist: ein Signifikant, der abstrahiert worden ist, der die Totalität der Bedeutung in Klammern setzt. Diese Einklammerung ist die notwendige Bedingung für den Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ihre Synchronisierung geschieht auf der Ebene der Autonomie des Signifikanten. Daher können wir nicht überrascht sein, wenn dieser ‘Einschluss [Einschluss] der Vergangenheit in die Textur der Gegenwart’ auf einer Textmetapher beruht, auf der Geschichte als Text:
Wenn man die Geschichte als einen Text ansieht, dann kann man von ihr sagen, was ein jüngerer Autor von literarischen Texten gesagt hat – nämlich, daß die Vergangenheit in ihnen Bilder hinterlassen hat, die mit denen vergleichbar sind, die von einer lichtempfindlichen Platte registriert werden. ‘Erst die Zukunft besitzt Entwickler, die stark genug sind, das Bild in allen seinen Details hervorzuholen. Viele Seiten bei Marivaux oder Rousseau enthalten einen geheimnisvollen Sinn, den die ersten Leser dieser Texte nicht vollständig hätten entziffern können.’ (Monglond; N15a,1) (Benjamin 2003: 405)
Hier müssen wir noch einmal zu Lacan zurückkehren, der – um die Wiederkehr des Verdrängten zu erklären – Wieners Metapher der Umkehrung der zeitlichen Dimension benutzte, in der wir zuerst das Quadrat sehen, wie es sich auslöscht, bevor wir es als vollständiges Quadrat zurückkehren sehen:
[W]as wir in der Wiederkehr des Verdrängten sehen, ist das ausgelöschte Signal von etwas, das seinen Wert erst in der Zukunft erhält, durch seine symbolische Realisierung, seine Integration in die Geschichte des Subjekts. Buchstäblich wird es nur je eine Sache sein, die im gegebenen Moment ihres Auftretens gewesen sein wird. (Lacan 1991a: 159)
Aus dieser Perspektive ist nicht die bestehende revolutionäre Konstellation die ‘Wiederkehr des Verdrängten’, ein ‘Symptom’, sondern vielmehr die verpassten Möglichkeiten der Vergangenheit, die in der dominanten Interpretation der Geschichte verloren gegangen sind. Die Konstellation ist ein Versuch, das Symptom zu entknoten, zu lösen, es zu ‘befreien’, das heißt im Symbolischen die verpassten Möglichkeiten der Vergangenheit zu realisieren, die ‘gewesen sein werden’ erst durch ihre Wiederholung, die sie nachträglich zu dem werden lässt, was sie waren. Wenden wir Lacans Formulierung auf Benjamins Thesen an: Die Revolution macht nicht den ‘Tiger-Sprung’ in die Vergangenheit, um einen Halt zu finden, sondern weil die Vergangenheit selbst, die von der Revolution wiederholt wird, ‘aus der Zukunft kommt’ – in ihr liegt der offene Horizont der Zukunft.

Die ‘Perspektive des Jüngsten Gerichts’
An diesem Punkt gelangen wir zu einer ziemlich überraschenden Parallele zwischen Benjamin und dem stalinistischen Geschichtsverständnis. Sobald wir Geschichte als Text auffassen, als ‘ihre eigene Geschichte’, ihre eigene Erzählung, als etwas, das seine Bedeutung nachträglich erhält – und diese zeitliche Verzögerung und diese nachträgliche Wirkung sind in das Ereignis selbst eingeschrieben, das buchstäblich ‘nicht ist’, sondern ‘gewesen sein wird’ –, beginnen wir notwendigerweise, und zumindest implizit, den historischen Prozess aus der Perspektive eines ‘Jüngsten Gerichts’ zu verstehen, eines endgültigen Begleichens der Rechnungen, eines Endpunkts, in dem Symbolisierung/Historisierung vollzogen ist, des ‘Endes der Geschichte’, in dem jedes Ereignis zu seiner definitiven Bedeutung, seinem letzten Sinn gelangt. Die heutige Geschichte entfaltet sich sozusagen auf ‘Kredit’; spätere Entwicklungen müssen bestimmen, ob unsere gegenwärtige revolutionäre Gewalt vergeben wird oder ob sie uns wie Schuld um den Hals hängen wird, wie eine unbezahlte Schuld, die über den Köpfen der folgenden Generation hängt. Erinnern wir uns an Merleau-Ponty, der in Humanismus und Terror: Ein Essay zum kommunistischen Problem die stalinistischen Schauprozesse verteidigte, weil, obwohl die Opfer zweifellos unschuldig waren, ihr Opfer durch den späteren Fortschritt der Gesellschaft gerechtfertigt würde, den sie ermöglicht hatten. Die grundlegende Idee hinter der ‘Perspektive des Jüngsten Gerichts’ (der Ausdruck, den Lacan in seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse verwendet) ist, dass keine Handlung in der Geschichte völlig ins Leere fällt, dass es keinen reinen Abfall gibt; alles, was geschieht, ist irgendwo eingeschrieben, und selbst wenn diese Spur in der Gegenwart sinnlos erscheinen mag, wird sie im Moment des Jüngsten Gerichts in all ihrer Bedeutung enthüllt werden. Dies ist der Idealismus, der dem Stalinismus zugrunde liegt, der, obwohl er die Existenz der Person Gottes leugnet, dennoch an eine gewisse platonische Himmelsinstanz in der Form des großen Anderen glaubt, der die Geschichte aufteilt und sie in seinem Hauptbuch verbucht. Gäbe es diese Buchführung nicht, wären historische Ereignisse und Handlungen nicht im Hauptbuch des großen Anderen eingeschrieben, könnten wir zentrale Begriffe des stalinistischen Diskurses wie ‘objektive Schuld’ nicht verstehen, die genau Schuld vor dem großen Anderen der Geschichte ist.
Daher scheint es auf den ersten Blick, als seien Benjamin und der Stalinismus in der Frage der ‘Perspektive des Jüngsten Gerichts’ einig – doch diese scheinbare Ähnlichkeit ist in der Tat die eigentliche Grundlage ihres Dissenses. Der Grund, warum sie ähnlich wirken, liegt darin, dass Benjamin den wunden Punkt des stalinistischen symbolischen Gebäudes getroffen hat. Er war der einzige Denker, der die Idee des ‘Fortschritts’, die durch die Buchführung des historischen Anderen impliziert ist, radikal in Frage stellte und zeigte – und hierin war er ein Vorläufer Lacans, der bekanntlich sagte, Entwicklung sei ‘bloß eine Hypothese der Meisterschaft’ (Lacan 1998b: 55) – die ununterbrochene Verbindung zwischen Fortschritt und Herrschaft: ‘Der Begriff des Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist nicht zu trennen von dem Begriff seines Fortschreitens durch eine homogene und leere Zeit’ (Benjamin 2009: 15), die Temporalität der herrschenden Klasse.

Die stalinistische Perspektive ist die des Siegers, dessen endgültiger Triumph im Voraus durch ‘objektive historische Notwendigkeit’ garantiert ist. Deshalb bleibt die stalinistische Geschichtsauffassung – trotz all ihres Redens von Brüchen, Sprüngen und Revolutionen – von Anfang bis Ende evolutionistisch. Geschichte ist der kontinuierliche Austausch alter Herren durch neue; neue Sieger sind jeweils in ihrer eigenen Zeit alle ‘progressiv’, bevor die unvermeidliche Entwicklung der Geschichte sie in Ungnade fallen lässt. Gestern war es der Kapitalist, der im Einklang mit den Notwendigkeiten des Fortschritts handelte; heute sind seine Nachfolger an der Reihe. In der stalinistischen Buchführung wird ‘objektive Schuld’ vor einem Gericht der Entwicklungsgesetze bestimmt, der objektiven Notwendigkeit des historischen Fortschritts, der fortlaufenden Evolution hin zur endgültigen Verwirklichung des höchsten Guts (‘Kommunismus’). Für Benjamin hingegen ist die Perspektive des ‘Jüngsten Gerichts’ nur sinnvoll, wenn sie die Perspektive derer ist, die den Preis für die Reihe großer historischer Triumphe bezahlt haben, als die Perspektive dessen, was sein Ziel verfehlen musste, damit sich die Reihe großer historischer Akte verwirklichen konnte, als die Perspektive verlorener Hoffnungen, von allem, was im Text der Geschichte keine Spur hinterließ außer anonymen, sinnlosen Kritzeleien am Rand jener großen Akte, deren ‘historische Bedeutung’ durch die dominante Historiographie zugleich garantiert und auferlegt wird.
Deshalb ist für Benjamin die Revolution kein Phänomen, das in das Kontinuum der Revolution eingeschrieben ist, sondern vielmehr ein Moment der ‘Stasis’, in dem das Kontinuum gebrochen wird, indem die Textur der Geschichte bis zu diesem Punkt ausgelöscht wird, die Geschichte der Sieger. Alle gescheiterten Versuche der Vergangenheit, die im dominanten Text leere Zeichen gewesen waren, bedeutungslos, werden ‘befreit’ werden, werden ihre Bedeutung erhalten. In diesem Sinn ist Revolution ganz strikt ein Akt der Schöpfung. Sie kündigt die radikale Invasion des ‘Todestriebs’ an, der dominante Text wird vernichtet, ein neuer Text wird ex nihilo geschaffen, durch den die erstickte Vergangenheit ‘gewesen sein wird’. Wir können dies in Antigone am Werk sehen. Wenn die stalinistische Perspektive die des Kreon ist, des höchsten Guts, verkörpert durch das Gemeinwohl des Staates, ist Benjamins Perspektive die der Antigone. Für Benjamin ist Revolution eine Frage von Leben und Tod, und, genauer, des zweiten Todes, des symbolischen Todes. Revolution bietet die Möglichkeit einer Befreiung, die Momente aus dem ‘Mülleimer der Geschichte’ – um einen stalinistischen Ausdruck zu verwenden – retten würde, die den Dingen Sinn geben würde, die aus dem Kontinuum des Fortschritts ausgeschlossen worden waren, aber die Möglichkeit einer Apokalypse (der Niederlage der Revolution) eröffnet, in der die Toten erneut verloren gehen werden, indem sie ihren zweiten Tod sterben.
Daher ist der Gegensatz zwischen Benjamins Thesen und dem Stalinismus die Opposition zwischen schöpferischem Materialismus und evolutionärem Idealismus. Lacan betonte in seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse, dass Evolutionismus immer den Glauben an ein höchstes Gut impliziert, das Endziel der Evolution, das von Anfang an ihre Entwicklung geleitet hat. Deshalb enthält er stets eine verborgene – und ausdrücklich geleugnete – Teleologie. Während dagegen Materialismus immer schöpferisch ist, das heißt, dass er immer eine nachträgliche Bewegung einschließt. Im Materialismus ist das Ende nicht von Anfang an vorbestimmt; vielmehr erhalten die Dinge ihre Bedeutung nachträglich, die Schöpfung von Ordnung verleiht dem Chaos, das ihr vorausging, retroaktiv Bedeutung.
Zunächst scheint Benjamins Position radikal antihegelianisch. Ist die Dialektik nicht die raffinierteste Form des Evolutionismus, in der die Brüche selbst in das Kontinuum des Fortschritts, in seine unvermeidliche Logik, aufgenommen werden? So hat Benjamin selbst seine Position wahrscheinlich verstanden, da er auf den Punkt des Bruchs mit dem historischen Kontinuum als eine ‘Dialektik im Stillstand’ verweist und darin das Eindringen einer reinen Wiederholung sieht, die die progressive Bewegung der Aufhebung in Klammern setzt. Doch sollte ich erneut Hegels radikalen Antievolutionismus betonen. Die absolute Negativität, das ‘Nichts’, das die dialektische Bewegung vorantreibt, ist gerade der Eingriff des ‘Todestriebs’ als die radikal ahistorische ‘Nullstunde’ der Geschichte. Für Hegel befindet sich im Herzen der historischen Bewegung dieselbe ahistorische ‘absolute Negativität’. Mit anderen Worten: Die Suspendierung der Bewegung ist der Schlüsselmoment in der Bewegung der Dialektik. Angebliche ‘dialektische Entwicklung’ geschieht durch endlose Wiederholungen eines ex-nihilo-Anfangs, eine nachträgliche Streichung der vorausgesetzten Inhalte. Obwohl diese vulgäre Darstellung der ‘dialektischen Entwicklung’, die sie als einen kontinuierlichen Strom der Transformation sieht, in dem das Alte stirbt und durch das Neue ersetzt wird, in dem alles stets in fortwährender Bewegung ist und Natur ein dynamischer Prozess der Transformation ist, sich überall von Sade bis Stalin findet, hat sie absolut nichts mit dem hegelianischen Prozess im eigentlichen Sinn des Wortes zu tun. Doch diese quasi-‘dialektische’ Vision der Natur als ewiger Weg der Transformation ist nicht alles am Stalinismus – vergessen wir nicht die subjektive Position des Kommunisten selbst. Die Darstellungen der kommunistischen Figur, die wir in Stalins Schriften finden, die zunächst quasi-poetisch und pathetisch wirken, sind wörtlich zu nehmen. In seinen Schriften sind Kommunisten aus härterem Stoff, sie sind nicht anfällig für alltägliche Sorgen, für die Leidenschaften und Schwächen gewöhnlicher Menschen. Es ist, als besäßen sie jenseits ihres gewöhnlichen physischen Körpers einen erhabenen Körper, als bewohnten sie das Reich ‘zwischen den zwei Toden’, als seien sie, in einem gewissen Sinn, ‘lebende Tote’, noch lebendig und doch unbeeinflusst von Leidenschaften oder Rasereien. Kurz: dass sie die unmittelbare Verkörperung des großen Anderen der Geschichte sind. Der Stalinismus gründet daher auf einer cartoonhaften Phantasie: Hinter dieser Idee unzerstörbarer Kommunisten, die jedem Hindernis begegnen, nur um noch stärker daraus hervorzugehen, steht dieselbe Phantasie wie die der Katze, deren Kopf durch Dynamit abgesprengt wird, die aber in der aller nächsten Szene wieder unversehrt erscheint und ihre Verfolgung ihres ‘Klassenfeindes’, der Maus, fortsetzt. Dies ist der Schlüssel zur stalinistischen ‘Mystik der Kader’; die Kader sind ‘unser kostbarstes Kapital’ (Stalin), weil sie diese erhabenen Körper besitzen, angesiedelt im sakralen Reich zwischen den zwei Toden.

Der totalitäre Körper
Wenn Stalin zu Beginn seines ‘feierlichen Gelöbnisses der bolschewistischen Partei an ihren Führer Lenin’ sagt: ‘Wir Kommunisten sind Menschen von besonderem Schlag. Wir sind aus einem besonderen Stoff gemacht’ (Stalin 2013: 359), erkennen wir sofort, wie der lacanianische Name für diesen ‘besonderen Stoff’ lautet: das Objekt klein a. Stalins Bemerkungen erhalten ihr volles Gewicht, wenn man sie vor dem Hintergrund der fetischistischen Weise betrachtet, in der die stalinistische Partei operiert. Die Partei sieht sich selbst als die wunderbare, unmittelbare Verkörperung neutralen und objektiven Wissens, eine Position, auf die sie sich oft berief, wenn sie ihre Handlungen rechtfertigte – sie beanspruchte, die einzige Gruppe zu sein, die Zugang zum ‘Wissen um die objektiven Gesetze’ habe (vgl. Zizek 1983) – Marx sah Geld in Beziehung zu allen anderen Waren als das paradoxe Element, das in seiner Besonderheit selbst die Allgemeinheit eines ‘Ganzen’ unmittelbar verkörperte, das heißt eine ‘singuläre Realität, die alle existierenden Arten derselben Sache in sich enthält’:
Es ist, als gäbe es außerhalb von Tigern, Löwen, Hasen und all den anderen wirklichen Tieren, die zusammen die verschiedenen Rassen, Arten, Unterarten, Familien usw. des Tierreichs bilden, das Tier, die individuelle Inkarnation des gesamten Tierreichs. (Dognin 1977: 73)
Dies ist die Logik der Partei. Jenseits von Klassen, sozialen Gruppen und Untergruppen und ihren ökonomischen, politischen und ideologischen Organisationen, die zusammen die verschiedenen Teile des sozialhistorischen Universums bilden, das von den objektiven Entwicklungsgesetzen regiert wird, gibt es die Partei, die unmittelbare Inkarnation dieser objektiven Gesetze in der Form von Individuen. Sie ist ein Kurzschluss, eine paradoxe Schnittstelle zwischen subjektivem Willen und objektiven Gesetzen. Diese Inkarnation der ‘objektiven Vernunft der Geschichte’ ist der ‘besondere Stoff’, aus dem die Kommunisten gemacht sind. Dieser Stoff ist am Ende ihr Körper, und dieser Körper durchläuft eine wahre Transsubstantiation, er wird zum Träger eines anderen Körpers, des erhabenen Körpers. Es ist interessant, Lenins Briefe an Maxim Gorki, besonders jene aus dem Jahr 1913, die die Debatte über die ‘Gotteskonstruktion [bogograditel’stvo]’ berühren – eine Idee, die Gorki unterstützte – aus dieser Perspektive des erhabenen Körpers des Kommunisten erneut zu lesen. Das Erste, was dem Leser ins Auge springt, ist ein scheinbar unwichtiges Detail ohne theoretische Bedeutung: Lenin ist buchstäblich besessen von Gorkis Gesundheit. Hier sind die Schlüsse einiger seiner Briefe:
Gute Gesundheit! Ihr, Lenin
Nun, ich habe mehr als genug geplaudert. Schreiben Sie und erzählen Sie mir von Ihrer Gesundheit. Ihr, Lenin
Haben Sie meinen letzten Brief erhalten? Irgendwie haben wir schon lange keine Nachricht von Ihnen. Geht es Ihnen gut? Ihr, Lenin
Ich schüttle Ihnen herzlich die Hand und wünsche Ihnen viel Glück, und vor allem Gesundheit für die Reise. Also antworten Sie sofort! Ihr, Lenin. (Lenin 1971, Bd. 35)
Als Lenin im Herbst 1913 von Gorkis Lungenentzündung erfuhr, schrieb er ihm sofort:
Die Nachricht, dass Ihnen eine neue Art der Behandlung von ‘einem Bolschewiken’, selbst wenn einem ehemaligen, verordnet wird, hat mich wirklich beunruhigt. Die Heiligen bewahren uns vor Genosse-Ärzten im Allgemeinen und Bolschewiken-Ärzten im Besonderen! Wirklich und wahrhaftig sind in 99 Fällen von 100 die Genosse-Ärzte ‘Esel’, wie mir einmal ein guter Arzt sagte. Ich versichere Ihnen, dass Sie (außer bei kleinen Beschwerden) nur erstklassige Männer konsultieren sollten. Es ist schrecklich, an sich selbst die Erfindungen eines Bolschewiken auszuprobieren! Das einzig Beruhigende ist die Aufsicht von Professoren in Neapel, falls diese Professoren wirklich ihr Handwerk verstehen . . . Wissen Sie, wenn Sie im Winter fahren, dann rufen Sie auf jeden Fall einige erstklassige Ärzte in der Schweiz und in Wien auf – es wird keine Entschuldigung dafür geben, es nicht zu tun! Wie fühlen Sie sich jetzt? (Lenin 1971, Bd. 36: 265)
Lassen wir die Reaktion beiseite, die das Lesen von Lenins Rat im Rückblick unweigerlich hervorrufen muss (20 Jahre später würde Russland als Ganzes die Erfindungen eines gewissen Bolschewiken ausprobieren), und konzentrieren wir uns stattdessen auf die Frage des Bedeutungsfeldes von Lenins Sorge um Gorkis Wohlergehen. Zunächst mag es ziemlich offensichtlich und relativ unschuldig erscheinen: Gorki war ein wertvoller Verbündeter, und daher musste Lenin auf ihn achten. Doch der nächste Brief rückt die ganze Situation in ein neues Licht: Lenin ist alarmiert von Gorkis positiver Meinung zur ‘Gotteskonstruktion’, die Gorki meinte, müsse ‘vertagt’, fürs Erste beiseitegelegt werden, aber keineswegs verworfen. Solche Ansichten waren für Lenin unverständlich, er war äußerst unangenehm überrascht – vom Anfang und vom Ende des folgenden Briefes:
Lieber A. M., Was treiben Sie nur? Das ist einfach schrecklich, das ist es wirklich! / Warum tun Sie das? Es ist verdammt enttäuschend. Ihr, V. I. (Lenin 1971, Bd. 35: 121, 124)
Und hier das Postskriptum: ‘P.P.S. Lassen Sie sich bitte so gut wie möglich medizinisch behandeln, damit Sie im Winter reisen können, ohne Erkältungen (im Winter ist es gefährlich).’
Was tatsächlich vor sich geht, wird noch klarer im Schluss des darauf folgenden Briefes, der zur gleichen Zeit gesendet wurde:
Ich lege meinen gestrigen Brief bei: Seien Sie nicht böse, dass ich die Beherrschung verloren habe. Vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden? Vielleicht haben Sie ‘für eine Zeit’ als Scherz geschrieben? Vielleicht waren Sie mit dem Gott-Bauen auch nicht ernst? Ich beschwöre Sie, die bestmögliche Behandlung zu bekommen. (Lenin 1971, Bd. 36: 266)
Hier sagt Lenin es ausdrücklich und direkt: Letztlich hält er Gorkis ideologisches Schwanken und seine Verwirrung für Resultate seiner physischen Erschöpfung, seiner Krankheit. Deshalb nimmt er Gorkis Argumente nicht ernst: Seine letzte Antwort läuft darauf hinaus, dass er sagt: ‘Ruhen Sie sich aus, passen Sie besser auf sich auf . . . .’ Lenins Haltung entspringt nicht irgendeinem vulgären Materialismus, einer unmittelbaren Reduktion von Ideen auf physische Zustände. Im Gegenteil setzt sie diese Sicht des Kommunisten als eines Mannes ‘von besonderem Schlag’ voraus und impliziert sie. Wenn der Kommunist als Kommunist spricht und handelt, ist es die objektive Notwendigkeit der Geschichte selbst, die durch seinen Körper spricht und handelt. Mit anderen Worten: Der Geist eines wahren Kommunisten kann nicht abweichen, weil dieser Geist das unmittelbare Selbstbewusstsein der historischen Notwendigkeit ist. Folglich ist das Einzige, was ihn aus der Bahn werfen, ihn mit Unordnung und Abweichung infizieren könnte, sein eigener Körper, dieses fragile materielle Gefäß für den anderen Körper, den erhabenen Körper, der ‘aus einem besonderen Stoff gemacht’ ist. Dieses Motiv des erhabenen Körpers der Macht, der ‘Transsubstantiation’ des Körpers des Herrn, findet sich bereits bei La Boétie, der die berühmte Frage stellte:
Der, der so über euch herrscht, hat nur zwei Augen, nur zwei Hände, nur einen Körper, nicht mehr als der geringste Mensch unter den unendlichen Zahlen, die in euren Städten wohnen; er hat in der Tat nichts mehr als die Macht, die ihr ihm verleiht, um euch zu zerstören. Woher hat er genug Augen, um euch auszuspähen, wenn ihr sie ihm nicht selbst zur Verfügung stellt? Wie kann er so viele Arme haben, um euch zu schlagen, wenn er sie euch nicht leiht? Die Füße, die eure Städte niedertrampeln, woher bekommt er sie, wenn sie nicht eure eigenen sind? Wie hat er irgendeine Macht über euch außer durch euch? (2007: 52)
Die Antwort, die La Boétie gibt, ist im Wesentlichen dieselbe wie Pascals und Marx’; es ist das Subjekt selbst, das, indem es sich dem Herrn gegenüber so verhält, wie man sich einem Herrn gegenüber verhält, ihn zum Herrn macht. Das Geheimnis des Herrn, ‘was am Herrn mehr ist als der Herr’, das unbegreifliche X, das ihm seine charismatische Aura verleiht, ist nichts anderes als das umgekehrte Bild der ‘Gewohnheit’, des symbolischen Ritus seiner Untertanen. Deshalb sagt La Boétie, den Herrn loszuwerden sei das Einfachste der Welt; alles, was es braucht, ist aufzuhören, sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie man sich einem Herrn gegenüber verhält, und er wird automatisch aufhören, der Herr zu sein. Warum also bleibt das Subjekt in Knechtschaft? Warum verhält es sich weiterhin dem Herrn gegenüber so, dass es ihn zum Herrn macht? La Boétie verortet die grundlegende Quelle des Herrschaftsverhältnisses in der Aporie des Begehrens: ‘Freiheit ist die einzige Freude, auf die die Menschen nicht zu bestehen scheinen; denn sicher, wenn sie sie wirklich wollten, würden sie sie erhalten’ (2007: 51).
Freiheit ist der unmögliche Punkt reiner Performanz; um sie zu haben, darf man sie nicht begehren – eine solche unmittelbare Sättigung würde das Begehren vollständig blockieren. Die ‘Hypothese des Herrn’ ist ein möglicher Ausweg, der uns erlauben würde, das Begehren zu retten; wir ‘externalisieren’ die Blockierung, die immanente Aporie des Begehrens in eine ‘repressive’ Kraft, die unserem eigenen Willen äußerlich entgegentritt. Dieses Paradox wird noch deutlicher am Beispiel des Despoten als der ‘Laune des Anderen’. Um die lästige Tatsache zu vermeiden, dass der Andere selbst bereits durchlöchert, blockiert, von einer grundlegenden Unmöglichkeit gezeichnet ist, konstruieren wir die Figur eines Anderen, der uns befriedigen könnte, der uns ‘die Sache selbst’, ‘das’, geben könnte, es aber aus bloßer Laune nicht tut (vgl. Grosrichard 1998). Die Phantasie des Despoten ist insgesamt analog zur Strategie der höfischen Liebe. Man tut so, als wäre das sexuelle Verhältnis in der Tat möglich, als würden Hindernisse dagegen nur aus Launenhaftigkeit errichtet – es ist unmöglich, in der Dame nicht die Figur eines launischen Despoten zu sehen. ‘Was ist höfische Liebe? Sie ist eine höchst verfeinerte Weise, das Fehlen der sexuellen Beziehung zu kompensieren [suppléer à], indem man so tut, als seien wir es, die ein Hindernis dagegen errichten’ (Lacan 1998b: 69).
Wenn der erhabene Körper der Macht bereits in der Form des traditionellen, vorbürgerlichen Herrn präsent ist, was ist dann der Unterschied zwischen diesem und dem totalitären Führer? Die traditionelle Position des Herrn, der seine Macht als aus einer außer-sozialen Autorität kommend legitimiert, kann durch das Boétie-Pascal-Marx-Argument unterlaufen werden, wonach er nur ein Herr ist, weil wir uns ihm gegenüber so verhalten, als wäre er ein Herr. Doch der totalitäre Führer weiß, wie er dieses Argument umgehen kann: Um seine Macht zu legitimieren, anerkennt er selbst die pascalianisch-marxistische Argumentationslinie direkt. Er sagt nicht zum Volk: ‘Ihr müsst mir folgen, weil ich der Führer bin’; er sagt: ‘Ich bin nichts, ich beziehe all meine Macht von euch, dem Volk, von meiner Basis, ich bin nur die Inkarnation, der Vollstrecker, der Ausdruck eures Willens.’ Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki): Kurzer Lehrgang schließt mit einer Erinnerung daran, wie die Partei vom Volk abhängt, in einer Sprache, die unverkennbar inzestuös ist:
Ich denke, dass die Bolschewiki uns an den Helden der griechischen Mythologie, Antasus, erinnern. Sie sind, wie Antasus, stark, weil sie die Verbindung mit ihrer Mutter, den Massen, aufrechterhalten, die sie geboren, genährt und aufgezogen hat. Und solange sie die Verbindung mit ihrer Mutter, mit dem Volk, aufrechterhalten, haben sie jede Chance, unbesiegbar zu bleiben. (2013: 491)
Es ist, als wende sich der totalitäre Führer an seine Untertanen und sagte:
‘Ich bin nicht der Herr, weil ihr mich wie einen Herrn behandelt’, und enthülle damit ausdrücklich das Geheimnis des traditionellen Herrn. Wenn dann das Pascalianisch-Marxistische Argument, dass die Aura des Herrn aus den symbolischen Riten der Gemeinschaft stammt, nicht mehr gilt, wie können wir dann die Position des totalitären Führers unterlaufen? Seine Täuschung besteht darin, dass das Volk, aus dem er seine Legitimität zu ziehen behauptet, nicht existiert, oder, genauer, nur in seiner fetischistischen Repräsentation existiert, das heißt in der Partei und ihrem Führer. Auch hier haben wir eine Verkennung der performativen Dimension des Diskurses, aber in umgekehrter Richtung; es ist nicht mehr der Herr, der Herr ist, weil das Volk ihn wie einen Herrn behandelt, sondern das Volk ist nur das Volk, weil die Partei sich auf es als solches bezieht und behauptet, es zu verkörpern. Mit anderen Worten: Die Formel totalitärer Verkennung wäre: Die Partei glaubt, eine Partei zu sein, weil sie vom Volk unterstützt wird, weil sie dessen Willen ausdrückt und so weiter, während in Wahrheit das Volk nur das Volk ist, weil es von der Partei verkörpert wird. Wie dies funktioniert, sieht man an Sätzen wie: ‘Das Volk als Ganzes unterstützt die Partei.’ Hinter dem, was wie eine einfache Feststellung aussieht, steckt eine zirkuläre Definition des ‘Volkes’; ein wahrer Angehöriger des ‘Volkes’ ist, wer die Partei unterstützt, die den Willen des Volkes repräsentiert, während jeder, der die Partei bekämpft, sich damit aus dem Volk ausschließt. Deshalb ist der Satz ‘Das Volk als Ganzes unterstützt die Partei’ unwiderlegbar. Im Universum des Stalinismus ist ‘die Partei zu unterstützen’ das einzige Merkmal, das ‘das Volk’ definiert. Was wir haben, ist eine leicht morbide Variation des Witzes: ‘Meine Verlobte versetzt mich nie, denn wenn sie mich versetzte, wäre sie nicht mehr meine Verlobte.’ In diesem Fall wird daraus: ‘Das Volk unterstützt die Partei immer, denn sobald ein Mitglied des Volkes der Partei entgegentritt, ist es nicht mehr ein Mitglied des Volkes.’
Die letzte Unterscheidung zwischen Totalitarismus und dem, was Claude Lefort das ‘demokratische Projekt’ nennt, wäre daher, dass in den Augen des ‘demokratischen Projekts’ das Volk nicht existiert.

‘Das Volk existiert nicht’
Zunächst mag es so scheinen, als verschleiere das ‘demokratische Projekt’ die strukturelle Notwendigkeit von S1, des überschüssigen, ‘irrationalen’ Elements. Beruht die Demokratie nicht auf einem illusionären Glauben an die Möglichkeit ‘rationaler’ Regierung durch Amtsträger, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihres Know-hows gewählt werden? Doch wie Lefort (1985) zeigte, ist die ‘demokratische Erfindung’ tatsächlich noch paradoxer, als sie scheinen mag. In der vorbürgerlichen Gesellschaft wurde die Legitimität der Macht als auf einer Ebene jenseits jedes Zweifels existierend akzeptiert, gegründet in einem Moment jenseits der Gesellschaft, sei er göttlich und/oder natürlich (die göttliche Quelle der Macht, der erbliche Titel). Die Legitimität der Macht hing nicht vom Willen ihrer Untertanen ab; ihre einzige ernsthafte Sorge galt Usurpatoren (jemandem, der die Macht ohne das Recht dazu, durch Gewalt oder Betrug, an sich riss). Die ‘demokratische Erfindung’ untergräbt diese Legitimationsbasis vollständig, indem sie sagt, dass Macht letztlich ihre Legitimität aus dem Volk bezieht, das heißt aus dem gesamten Ensemble der Subjekte der Macht, und dass diese daher die letztendlichen Souveräne sind. Das Paradox hier ist analog zu dem der ‘natürlichen’ Sprache als der letzten Metasprache aller Metasprachen. Totalitarismus, und das ist es, was er mit der Demokratie gemeinsam hat, ist ebenfalls nur möglich, wenn das außer-gesellschaftliche Fundament der Macht zerstört worden ist. Er bezieht seine Legitimität nicht aus irgendeinem außer-gesellschaftlichen Körper, sondern dadurch, dass er einem Element der Gesellschaft selbst (Klasse, Rasse oder sogar Religion in der Form einer Kraft in der Gesellschaft) die Rolle der unmittelbaren Verkörperung der universellen Interessen der Gesellschaft zuweist.
Die oberflächliche Idee, der Übergang zur Demokratie habe nur eine kleine Veränderung im Kern desselben Grundrahmens beinhaltet (statt des Monarchen, der seine Legitimität aus einem außer-gesellschaftlichen Punkt zieht, ruht das letztendliche Fundament der Souveränität nun beim Volk), ist daher irreführend, weil sie die fundamental paradoxe Natur verfehlt, das Volk – das gesamte Ensemble der Subjekte der Macht – in die Rolle des Fundaments der Souveränität zu setzen. Weil das Volk nicht unmittelbar als seine eigene Macht fungieren kann, wird der Raum der Macht zu einem Ort, der grundlegend und irreduzibel leer ist:
Die Legitimität der Macht gründet auf dem Volk; aber das Bild der Volkssouveränität ist an das Bild eines leeren Platzes gebunden, der unmöglich zu besetzen ist, so dass diejenigen, die öffentliche Autorität ausüben, niemals behaupten können, ihn sich anzueignen. (Lefort 1985: 279)
Um Saint-Just zu zitieren – und darin erwies er sich zumindest als das genaue Gegenteil eines ‘Vorläufers des Totalitarismus’ – ‘Man kann nicht unschuldig herrschen’ [‘on ne peut point régner innocement’]. Dass niemand beanspruchen kann, das Recht zu haben, den Platz der Macht zu besetzen, ist in die Natur der Demokratie selbst eingelagert. Die Person, die am Ende diesen Platz besetzt, kann nicht mehr tun, als die Leere einer grundlegenden ‘Unmöglichkeit’ zu füllen; sie wird immer ein Platzhalter für den unmöglichen Souverän bleiben. Mit anderen Worten: Das Fundament der Demokratie ist, dass ‘das Volk nicht existiert’; es existiert nicht in der Form eines Volkes-als-Eines, als positive Totalität. Der einzige Moment, in dem ‘das Volk’ tatsächlich existiert, ist während einer Wahl, wenn sich das gesamte soziale Netzwerk auflöst und auf eine verstreute Sammlung von ‘Bürgern’ reduziert wird, von atomisierten Individuen. ‘Das Volk’ als Quelle der höchsten Souveränität ist in diesem Sinn eine rein negative Entität: Es erinnert die Person an der Macht daran, dass sie nur die leere Position des unmöglichen Souveräns besetzt. In einer Demokratie ist ‘das Volk’ nur eine Grenze, ein Rand, der die Person an der Macht daran hindert, sich mit dem Platz der Macht zu sehr zu identifizieren, während Totalitarismus als eine Art Wendepunkt definiert werden könnte, in dem das Volk Gestalt annimmt und zu einer positiven Entität wird – um den Preis natürlich, das ’empirische’ Volk in einem transzendenten Objekt zu verkörpern, im totalitären Objekt (zum Beispiel der Partei), das angeblich die ‘wahren Interessen des Volkes’ repräsentiert. Lefort bemerkte bereits den doppelten Charakter des substantiellen, einzigartigen, vollständig geformten Körpers des Volkes im Totalitarismus:
‘Die Bewegung hin zu reiner Innerlichkeit (eine substantielle Gesellschaft, ein Volk-als-Eines) wird begleitet von einer Bewegung hin zu reiner Äußerlichkeit (Macht, die von der Bevölkerung distanziert ist, der Träger der Macht-als-Eines)’ (Lefort 1981: 157). Dass wir die Länder, in denen realer Sozialismus existiert, ‘Volksdemokratien’ nennen, ist daher mehr als bloß eine Übung in Zynismus seitens der totalitären Autoritäten. In diesen Ländern wird Macht im Namen des Volkes als einer positiven, existierenden Entität ausgeübt, was bedeutet, dass die Person, die Macht ausübt, nicht länger eine notwendig leere Position besetzt – die Partei kann wieder ‘unschuldig herrschen’.
Das Verständnis der ‘Leere’ der Machtposition veranschaulicht den wahren Bruch, den die ‘Erfindung der Demokratie’ in der Geschichte der Institutionen darstellt. ‘Demokratische Gesellschaft’ kann als eine Gesellschaft definiert werden, die eine institutionelle Struktur hat, deren ‘normaler’, ‘regelmäßiger’ Reproduktionszyklus einen Moment einschließt, in dem symbolische Bindungen verschwinden, und daher in dem das Reale ausbricht: Wahlen. Lefort interpretiert Wahlen (oder zumindest die ‘bürgerlichen’ Wahlen, die in der ‘formalen Demokratie’ stattfinden) als den Akt der Auflösung des sozialen Gebäudes. Für ihn ist ihr Schlüsselmerkmal gerade das, was von zeitgenössischen marxistischen Kritiken angeprangert wird: die Tatsache, dass man an Wahlen nicht als Mitglied eines konkreten sozialen Organismus teilnimmt, sondern als abstrahiertes, atomisiertes Individuum, ein reines und unqualifiziertes Eins. In gewisser Weise ist im Moment einer Wahl das gesamte hierarchische Netz sozialer Beziehungen suspendiert, in Klammern gesetzt. ‘Gesellschaft’ als organische Einheit hört auf zu existieren und wird stattdessen zu einer kontingenten Sammlung von Individuen, von abstrakten Einheiten, und das Endergebnis läuft auf den rein quantitativen Mechanismus des Stimmenzählens hinaus, der oft auf das blöde Glück eines unvorhergesehenen (oder manipulierten) Ereignisses hinausläuft. Ein Skandal, der zum Beispiel einige Tage vor einer Wahl ausbricht, kann der einen Seite den entscheidenden ‘halben Prozentpunkt’ hinzufügen und damit die Ausrichtung eines Landes für Jahre bestimmen.
Es ist vergeblich, dass Gesellschaften versuchen, den fundamental ‘irrationalen’ Charakter der sogenannten ‘formalen Demokratie’ zu verbergen; wenn Wahlen stattfinden, wird die Gesellschaft in die Hände des reinen Zufalls gelegt. Demokratie ist nur möglich, wenn wir einwilligen, das Risiko einzugehen, die Gesellschaft in die Hände des ‘irrationalen’ Zufalls zu legen. So sollten wir Winston Churchills berühmtes Zitat verstehen, dass Demokratie die schlechteste Regierungsform sei, außer allen anderen, die ausprobiert worden sind. Es stimmt, dass Demokratie alle möglichen Manipulationen ermöglicht, aber sobald wir versuchen, die Möglichkeit dieser Aberrationen zu eliminieren, stellen wir fest, dass wir die Demokratie selbst verloren haben – ein schönes Beispiel für das wahrhaft hegelianische Paradox der Universalität, die sich nur in ihren diversen unreinen, korrupten, deformierten Iterationen verwirklichen kann. Wenn wir die Universalität in ihrer reinen Unversehrtheit erfassen wollen, enden wir bei ihrem genauen Gegenteil. Auch wenn es ‘in Wirklichkeit’ nur ‘Ausnahmen’ und ‘Deformationen’ gibt, ist die universale Idee der ‘Demokratie’ eine ‘notwendige Fiktion’, ein symbolischer Fakt, ohne den ‘effektive’ Demokratie in ihren vielen besonderen Formen sich nicht reproduzieren könnte. Hier landet Hegel paradoxerweise nahe bei Bentham, dessen Theory of Fictions von Lacan oft zitiert wird. Das hegelianische ‘Universale’ ist eine ‘Fiktion’, die ‘nirgends in der Realität existiert’ (es gibt nur Ausnahmen), die die ‘Realität’ jedoch dennoch benötigt, um ihre symbolische Konsistenz zu erreichen.
‘Wirksame Demokratie’ wird daher in Nicht-Demokratie umschlagen, wenn wir versuchen, die Möglichkeit irgendeiner ‘Manipulation’ auszuschließen. Wenn wir die Kandidaten präventiv ‘überprüfen’ oder eine Unterscheidung zwischen den ‘tatsächlichen Interessen des Volkes’ und der kontingenten öffentlichen Meinung ziehen, die der Demagogie und allerlei anderen Machenschaften ausgeliefert ist, enden wir bei der ‘organisierten Demokratie’ des ‘realen Sozialismus’, in der die ‘wahren Wahlen’ vor den Wahlen stattfinden und in der der Akt des Wählens nur den Wert eines Plebiszits hat. Das Schlüsselmerkmal der ‘organisierten Demokratie’ des ‘realen Sozialismus’ ist gerade die Tatsache, dass sie das Ausbrechen des Realen ausschließt, das für ‘bürgerliche’ Wahlen grundlegend ist, den Moment, in dem das soziale Gebäude in eine numerische Sammlung atomisierter Individuen ‘zerstreut’ wird.

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